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Wolfgang Cernoch Poppers Scheitern bei der Bestimmung der wissenschaftlichen Rationalität in der Situationslogik und die Mängel seines Verständnisses der Verhältnisse zwischen implizite und explizite interpretierter Theorie gegenüber Duhems Argument in der Logik der Forschung. Ein Vergleich der Positionen in der Logik der Forschung und in »Models, Instuments and Truth«

B. Poppers spätes Scheitern an Duhem in der Situationslogik

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MODERNE UND POSTMODERNE. Poppers Scheitern bei der Bestimmung der wissenschaftlichen Rationalität in der Situationslogik haben Gründe, die auf die Mängel seines Verständnisses der Verhältnisse zwischen implizite und explizite interpretierter Theorie gegenüber Duhems Argument in der Logik der Forschung zurückzuführen sind.

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Wolfgang Cernoch

Poppers Scheitern bei der Bestimmung der wissenschaftlichenRationalität in der Situationslogik und die Mängel seinesVerständnisses der Verhältnisse zwischen implizite und expliziteinterpretierter Theorie gegenüber Duhems Argument in derLogik der Forschung.

Ein Vergleich der Positionen in der Logik der Forschung und in »Models,Instuments and Truth«

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The Myth of the Framework 7. Instruments and truth: the falsity of socialtheories, in: Karl Raimund Popper und Mark Amadeus Notturno, The Myth ofthe Framework: In Defence of Science and Rationality, Routledge London1994, S. 171-172

Popper führt das Rationalitätsprinzip hier nicht als Konsequenz davon ein,das überhaupt irgend ein Bestand vorhanden ist, sodaß irgend ein status quoals Grund ausreicht, von der Rationalität eines Gleichgewichtssystems zusprechen. Letztere Vorgehensweise ist häufig das Hindernis, in einerSituationslogik mehrere Rationionalitätstypen zu koordinieren, oder gar eineVorstellung davon zu entwickeln, wie verschiedene Ansätze vonGesellschaftswissenschaften als komplementäre Theorien zu behandeln sind.Die komplementären Sprachen sind öffentlich (etwa: physikalisch,ökonomisch, rechtlich), deren Modelle füreinander wechselseitig alsUmgebung betrachtet werden können.

Das Rationalitätsprinzip, an welches Popper hier denkt, steht noch inähnlicher Abhängigkeit von der Position in der Logik der Forschung wie imAufsatz Poppers »Skizze einer evolutionären Erkenntnistheorie« (in:K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, Verlag Hoffmann u. Campe, Hamburg1973, p. 68 ff.), wo er in der Auflösung des wissenschaftlichenRationalitätstypus noch deutlich weiter geht, als im Aufsatz »Models,Instruments and Truth« (in: K. R. Popper, The Myth of the Framework,Routledge 1996). In beiden Aufsätzen beginnt sich Popper vom logischenPrinzip und dem axiomatischen Satzsystem, das mit impliziten und explizitenUniversalien interpretiert wird, um empirische (sachhaltige) Aussagen zutreffen, zu distanzieren.

Das wissenschaftliche oder logische Rationalitätsprinzip ist selbst nichtempirisch, psychologisch oder soziologisch ableitbar oder testbar. Hierinstimme ich Popper soweit zu. Das ist der bemerkenswerteste Unterschied zurBestimmung der Rationalität des Verfahrens anhand der Voraussetzung einesGleichgewichtstheorems oder eines Systems der inneren Zweckmäßigkeiteines gegebenen Systems für sich selbst als Modellcharakteristik.

Die Analyse dieses Rationalitätstypus besteht in der Untersuchung derFähigkeit, Logik und Mathematik und Naturwissenschaft betreiben zukönnen, bleibt aber darauf nicht beschränkt. Diese erste Schritt dieser Analyseläßt sich nicht als eine Reihe von einfachen Abstraktionsschritten einerkontinuierlichen empirischen Erfahrungsdimension oder als Modell

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darstellen, sondern hat bereits die Erfahrung im Umgang mit verschiedenenTheorien von verschiedenen Problemstellungen zum Gegenstand der Analyse.Das Allgemeine dieser Analyse bezieht sich nicht auf das Allgemeine, worüberausgesagt wird.

Die zweite Schritt dieser Analyse des wissenschaftlichen Rationalitätstypusversucht die formalen Regeln der Theoriebildung selbst axiomatisch zubegründen und wird nach dem Vorbild der Logik und der Mathematikformalwissenschaftlich. Das Allgemeine dieser Untersuchung bezieht sich aufden Zusammenhang von Logik, Sprache und Semantik in den möglichenModelle.

Was Popper unter dem Prinzip der Rationalität versteht, ist von der Logik derForschung her eindeutig identifizierbar. Im dritten Kapitel bezieht sich Popperauf das logische axiomatische Satzsystem als zu erzielende Gestalt einer jedenTheorie. Theorien entstehen durch Interpretation des logischen Gerüstes einesjeden logischen Satzsystems mit Universalien. Poppers erstesRationalitätsprinzp ist formal das der logischen Axiomatik. Erklärtes Ziel derUntersuchung Poppers in diesem Abschnitt ist, die logische Struktur deranalytischen impliziten Interpretation explizite zu machen. Für Popperbedeutet die explizite Interpretation die Ableitung empirischer Hypothesen,die etwas mehr aussagen als die allgemeinen Sätze der Theorie. »Empirisch«bedeutet in diesem Zusammenhang etwas mehr als Falsifizierbarkeit, eineempirische Aussage darf nicht nur analytisch abgeleitet sein.

Popper bestätigt im ersten und zweiten Absatz des gegebenen Zitats aus demhier diskutiertem Text die besondere Stellung des erstenRationalitätsprinzipes, schränkt diese aber grundsätzlich ein, während er imdritten Kapitel der Logik der Forschung die selbst nicht wahrheitsfähigeformale Logik explizit, d. h. als System von Hypothesen interpretiert. In derLogik der Forschung wird der Mangel der formalen Logik an semantischerBestimmtheit durch die implizite (analytische) Interpretation der Universalienersetzt, und der Mangel analytischer Satzsysteme gegenüber der Kontingenzder Empirie bloße Denkmöglichkeit zu bleiben, durch falsifizierbareHypothesen dargestellt.

Im siebten Kapitel von »Models, Instruments and Truth« vergleicht Popperzwei empirische Theorien, von denen die eine weniger adequat ist als dieandere, aber beide mit dem Rationalitätsprinzip operieren. An dieser Stelle derÜberlegung gleicht die Auffassung Poppers noch der Position, die er in der

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Logik der Forschung eingenommen hat. Die methodischen Schwierigkeitendes Adequanzprinzips habe ich bereits an anderen Stellen skizziert, undkönnte anhand des Falsifizierbarkeitsgrades des Satzsystems, der Anzahlableitbarer fruchtbarer empirischer Hypothesen und der Aussagegrenze imRückgriff auf die Logik der Forschung interpretiert werden.

Die grundsätzliche Schwierigkeit dieser Überlegung besteht darin, daß dieAdequanz zum nicht direkt zugänglichen Objektverhältnis anhand einesKriteriums zum Vergleich von konkurrierenden Theorien festgestellt werdensoll. Diese Schwierigkeit könnte nur dann einfach behoben werden, wenn sichdie konkurrenzierenden Theorien in einem Verhältnis des »crucicalexperiments«, also des wechselweisen Ausschlusses befinden. In diesemVerhältnis befinden sie sich aber nur durch die Reduktion der logischen undsemantischen Kohärenz auf den Vergleich der Leistung konkurrierenderTheorien anhand von Kriterien einer Theorie der Theorien, und bleibt formalimmanent.

Die Untersuchung des Kriteriums des Leistungsvergleiches vonkonkurrierenden Theorien bezieht sich im Rahmen der Logik der Forschungnicht direkt auf ein gemeinsames Modell, wovon die Situationslogik dieSemantik beziehen könnte. Im Anhang X der Logik der Forschung gestehtPopper zwar anhand der Naturgesetzlichkeit eine Strukturtheorie zu, derenunvollständiges und fraktales Modell der universiellen Naturgesetzlichkeitjeder konkurrierenden naturwissenschaftlichen Theorie vorausgesetzt seinmuß (unter anderem das Energieerhaltungsgesetz), trotzdem werden diekonkurrenzierenden Theorien nicht anhand der Referenz der Termini in denHypothesen oder den daraus zu ziehenden Schlußfolgerung verglichen,sondern am Falsifikationsgrad, Anzahl der falsifizierbaren Hypothesen, undder Eindeutigkeit der Aussagegrenzen.

Auch wenn für mich noch nicht eindeutig geklärt ist, ob Popper in diesemAufsatz unter Adequanz noch das gleiche versteht wie in der Logik derForschung, ist eines unverändert geblieben: Popper stellt die Situationzwischen konkurrierenden Theorien auch hier so dar, daß der entscheidendeGrund für das Abschneiden im Vergleich der Leistungsfähigkeit nicht in derlogischen Kohärenz der Satzsysteme selbst liegt. Diese ist vielmehr dieVoraussetzung M. a. W., Popper folgt in diesem Punkt der Auffassung Kantszum Wahrheitsproblem, daß die logisch folgerichtige Denkmöglichkeit selbstnicht der zureichende Grund der empirischen Wahrheit sein kann.

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Der Umstand, daß beide konkurrenzierenden Theorien logisch undmathematisch korrekt sein können, trifft nicht nur auf den LeistungsvergleichPoppers zu. Dieser Umstand trifft noch auf jedes idealistischesWahrheitskonzept zu, das auf ontologisch bedeutsame Identifikation einesKonzepts mit der Wirklichkeit hinausläuft. Gerade wenn der ontologischeSchein, der mit der Identifikation des Teilbegriffes (jede empirische Theorie)mit dem »möglichen ganzen Begriff« entsteht (Kant: Die Position destranszendentalen Realisten), nicht durchschaut wird, muß der Fall eintreten,daß von einer falschen Theorie und einer wahren Theorie, die in direkterKonkurrenz stehen, beide logisch und mathematisch korrekt sind, da ohnekorrekte formale Gestalt die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit einerempirischen Theorie gar nicht präzise gestellt werden könnte.

Popper verwechselt hier erstens die Kritik an der ontologisierendenIdentifikation von Konzepten und wirklichen Ereignisreihen mit derVorausgesetztheit der korrekten logischen Gestalt der Theorie. SeineSchlußfolgerung auf die Falschheit des Rationalitätsprinzipes ist nichtbegründbar und drückt nur den Mißverstand Poppers gegenüber Logik undMathematik aus, die sich auch an anderen Stellen zeigt (in der Logik derForschung hinsichtlich der Geometrie und der reinen Formalität desEnergieerhaltungssatzes). Die korrekte formale Gestalt der Theorie alsSatzsystem ist vielmehr die unbedingte Voraussetzung für Wahrheit undFalschheit einer jeden Theorie, völlig unabhängig davon, ob dieWahrheitstheorie idealistisch den Teilbegriff mit dem möglichen ganzenBegriff verwechselt und ontologisch wird, oder ob die Wahrheitstheorie denganzen Regressus des Erfahrungmachens zum Horizont hat, sodaß dieAnnäherung der Konzepte und die Verschiebungen der Fragestellungen imZuge des Wissenschaftsfortschrittes mit zur ganzen möglichen Definition derWahrheit genommen wird. Insofern ist das erste Prinzip derwissenschaftlichen Rationalität sowohl für die Wahrheit und Falschheit wiefür den Leistungsvergleich Poppers von Geltung a priori.

Allerding ist das Prinzip formaler Rationalität nicht selbst zureichend,Wahrheit respektive Falschheit festzustellen, oder eben auch nur denempirischen Leistungsvergleich zu entscheiden. Popper hat die logischen undmathematischen Voraussetzungen für naturwissenschaftliche axiomatischeSatzsysteme wegen dem Anspruch auf Apriorität verschiedentlich kritisiert,und schließlich in »Models, Instruments and Truth« mit seiner Kritik an derApriorität des theoretischen Rationalitätsprinzipes gleich mit verworfen. SeineKritik geht offensichtlich aus mehreren Gründen zu weit. Es muß inzwischen

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klar und deutlich geworden sein, daß Popper die formale Immanenz, die erzuerst mit dem Apriori richtig verbindet, auch mit dem Apriori empirischerGeltungsbehauptungen verbindet. Das ist einerseits ein Problem aus derKantschen Tradition, andererseits die Folge eines jeden positivistischenDeterminismus. Nach seiner Kritik zu urteilen, hat er, dem Einfluß Kantsentgegen, den nur unterstellten Anspruch des logisch immanenten Apriori,zugleich empirische Notwendigkeit nach sich zu ziehen, für bare Münzegenommen, anstatt die Logik zum Leitfaden zur Analyse desErfahrungmachens heranzuziehen. Dieses Mißverständnis der Logik, auch derMathematik und letztlich der Formalwissenschaften und deren Modelleninsgesamt gegenüber, kommt im siebten Kapitel von »Models, Instrumentsand Thruth« klar und deutlich zum Ausdruck.

Ich habe den Verdacht, daß sich Popper aus den Schwierigkeiten befreien will,die mit der Auffassung, die Theorie sei als axiomatisch aufgefaßten Systemvon Sätzen zu behandeln, verbunden sind, indem er, wie bereits in der Logikder Forschung anhand der Bestimmung der Basissätze vorbereitet, denHorizont der Theorie mit dem Horizont der Hypothese und ihrenRandbedingungen zusammenfallen läßt. Die eine Schwierigkeit, die mit derAuffassung, die Theorie sei als axiomatisches Satzsystem aufzufassen, läßt sichin diesem Zusammenhang daraufhin vereinfachen, daß Axiome für bestimmteSituationen nur verwerfbar sind, nicht aber falsifizierbar. Das gilt fürmathematische Satzsysteme aus anderen Gründen als fürnaturwissenschaftliche Satzsysteme, nach der Darstellung beider als einlogisches Axiomensystem ist die Konsequenz die nämliche.

Die zweite Schwierigkeit war für Popper nicht lösbar, weil gar nicht im vollemUmfang erfassbar: Es gibt auch Sätze, die Teil jeder mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorie sein müssen, die nicht verwerfbar sind, undüber deren Status metaphysische, transzendentale und schließlich formaleArgumentationen entscheiden, aber nicht die emprische Erfahrung. Dasklassische Beispiel für einen solchen Satz ist der Energieerhaltungssatz.

Der dritten Schwierigkeit, so meine zweite These zu Popper, will erausweichen: So wie logische Axiome, mathematische Axiome undsystemtheoretische Konzepte gegenüber einer Situation der Anwendungverwerfbar sind, können naturwissenschaftliche Axiome nicht verwerfbarsein, auch wenn sie nicht auf die gleiche Weise der notwendigenVorausgesetztheit für mathematisch-physikalische Satzsysteme rechtfertigbarsind wie der Energieerhaltungssatz. Obwohl sie aus der empirischen

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Erfahrung stammen, und erst anhand des mathematischen und desformalwissenschaftlichen (logischen) Leitfaden gewonnen werden, sollenbestimmte naturwissenschaftliche Überzeugungungen wie Axiome behandeltwerden. In Anbetracht des historisch und empirisch zu konstatierendenWissenschaftsfortschritts, kann es sich dabei nur um methodische Vorschriftenhandeln und nicht um systematisch zusammenhängende Aussagen einerempirischen Strukturtheorie, obwohl es keinen Grund für die Annahme gibt,auch letzteres für alle vorkommenden Fragestellungen erwiesenermaßen fürprinzipiell unmöglich zu halten.

Die vierte Schwierigkeit ist damit verbunden. Poppers Auffassung überTheorien schwankt auch hinsichtlich der Größe des Satzsystems schon seit derLogik der Forschung. Es ist ausreichend, die Randbedingungen derfalsifizierbaren Hypothesen formulieren zu können, um als Theorie zu gelten.Auch hier wird Duhems Kritik am Falsifikationsprinzip vor Popper relevant,weil nicht immer klar ist, daß der empirische Satz falsch sein muß, wenn dietheoretischen Schlußfolgerungen nicht zutreffen. Das wäre die Situation, inwelcher ein Prinzip oder eine Annahme der Randbedingungen auchverworfen werden könnte, wenn der empirische Satz an einer entscheidendenStelle des Erfahrungszusammenhangs steht, und der Annahme widerspricht.

Handelt es sich aber um eine gut bewährte Theorie, die nicht durch eineeinzige falsifizierte Hypothese selbst falsifiziert werden kann, auch wenndamit ein nicht erklärbares Problem mit dieser Theorie verbunden bleibt, sohat sie auch viele falsifizierbare Hypothesen abzuleiten erlaubt, die sichbewährt haben. Das ist dann eine große Theorie; zumeist die Theorie, die füreine Epoche auch für die Gegenargumente bestimmend bleibt. Hier greiftDuhems grundsätzliche Kritik an der Verbindung von allgemeinen Sätzen undempirischen Sätzen offenbar nicht mehr.

Allerdings: Die große Theorie, und im Anhang X der Logik der Forschungauch die »Strukturtheorie«, ist nicht nur aus methodischen Gründen, wie etwader Beschluß logisch und mathematisch vorzugehen, in dieser Abstraktheitähnlich unwiderlegbar wie der Energieerhaltungssatz, sondern beinhaltenauch allgemeine (universiell zu behauptende) Aussagen über den Gegenstandder naturwissenschaftlichen Theorie, die, zumindest in dieser Epoche, nichtwiderlegbar sind. Allgemeinstes Beispiel ist die Vorstellung von derNaturgesetztlichkeit der in kontingenten Ereignisreihen (Prozessen)vorkommenden Natur. Auch diese allgemeinste Aussage ist selbst nicht ausder Logik, der Mathematik oder sonst einer Formalwissenschaft wie

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Systemtheorie zu rechtfertigen. Trotzdem erscheinen in einer Epoche manchedieser allgemeinen Sätze einer naturwissenschaftlich zu nennenden Theorieunwiderleglich zu sein. Die nahezu abstrakte Vorstellung von derNaturgesetztlichkeit der Natur hingegen ist bei aller Interpretationswürdigkeiteiner daraus gefolgerten universiellen Behauptung der Determiniertheit einein mehrere Epochen der naturwissenschaftlichen Entwicklung relevanteVorstellung.

Das ist die vierte Schwierigkeit: Sind die naturwissenschaftlichen Theoriengroß genug, sind deren bewährten allgemeinsten Sätze eben nicht mehrfalsifizierbar. Allerdings können deren allgemeinsten Sätze auch nicht einfachverworfen werden wie die formalwissenschaftlichen Prinzipien der Logik undder Mathematik, wenn sie falsch angewendet werden. Das Verwerfen indiesem Falle bezieht sich nicht auf die Immanenz der Regelhaftigkeit vonLogik und Mathematik und deren Probleme: Die Axiomatik derFormalwissenschaft muß davon nicht berührt werden. Dieser Schwierigkeitwollte Popper schon in der Logik der Forschung mit der Reduktion desTheoriebegriffs auf die Randbedingungen der empirischen Hypotheseentgehen, gerät dabei aber in Reichweite der Duhemschen Kritik.

Wohl gilt auch für eine komplexe Theorie, daß man beim Versagen einerHypothese nicht wissen kann, welcher Satz falsch ist, den der Hypothese odereiner der allgemeinen Sätze der Theorie, doch sind in diesem Falle dieallgemeinen Sätze durch andere Hypothesen bewährt, worin das Problembesteht. Dem Argument Duhems liegt hingegen eine Konjunktion von Sätzenzu Grunde, von denen einer die Konjunktion falsch machen kann, egal ob esein abstrakter Satz oder ein empirischer Satz ist. Popper behandelt im viertenKapitel der Logik der Forschung ebenfalls die Konjunktion von Sätzen, ziehtdazu aber Bernard Bolzano heran. In der hier interessierenden Hinsichtunterscheidet sich der Ansatz von Duhem nicht von dem Bolzanos. Popperdiskutiert von da ausgehend die Länge der logischen Argumentation anhandder grundsätzlich beliebig weit gehenden Analysierbarkeit von Basissätzen zuneuen Basissätzen.

Das Problem sehe ich darin, daß eine Theorie ein axiomatisches Satzsystem ist,das ab einer gewissen Komplexität nicht mehr völlig linear als logischeKonjunktion darstellbar ist; und falls eine formale Operation existiert, die dieDarstellung des Satzsystems als Konjunktion geregelt möglich macht, damitwesentliche Charakteristika der Theorie verloren gehen. Die Darstellung alslogische Konjunktion kann den Sätzen nur einen einfachen Wahrheitswert

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zuordnen (w/f), während die allgemeinen Sätze einer Theorie nicht dengleichen Bewährungsgrad haben müssen. Das wird auch von Popper im Zugeder Ersetzung der Bewährung einer Theorie durch das benchmarking vonTheorien anhand des Erkärungswertes und der Sparsamkeit übersehen.Popper unterscheidet sich hier grundsätzlich von Quines Theorieholismus.

Der Grund der theorieinternen Schwankung der Bewährtheit allgemeinerSätze liegt darin, daß nicht alle Hypothesen gleich gut bewährt sein müssen.Die logische und semantische Kohärenz einer Theorie stellt erst einenunivoken modalen Begriff aus der Bewährtheit der allgemeinen Sätze her, dieanhand der Hypothesen jeweils festgestellt wird. Die Darstellung einerTheorie als logische Konjunktion, die Popper anhand Bolzano selbst diskutiert,steht aber im Widerspruch zu seinem architektonischen Aufriss im drittenKapitel, an welchem ich schon an anderer Stelle (Theorien der Theorien alsGrundlegung der Methodologie der Erkenntnislogik) die mangelndeBehandlung der analytischen Dartsellung einer naturwissenschaftlichenTheorie kritisiert habe. Popper hält die analytische Darstellung (Satzsystemmit impliziten Universalien interpretiert) für Metaphysik, und nur dieInterpretation mit expliziten Universalien für eine naturwissenschaftlicheTheorie. Diese Zuspitzung funktioniert, weil es Popper um den Aspekt derErfahrungswissenschaftlichkeit geht. Nur explizit interpretierte Satzsystemelassen sich falsifizieren.

Nun ist aber die Darstellung einer Theorie als logische Konjunktion im viertenKapitel zweifellos analytisch, und steht so mit dem »methodischen Beschluß«Poppers im dritten Kapitel in Widerspruch. Dieser Widerspruch besteht abernur gegenüber der Einseitigkeit Poppers ab dem dritten Kapitel; es reicht aberhier, diesen Widerspruch als Hinweis auf die in der logischen Konjunktionverloren gegangenen Charakteristik zu verstehen. Diese verloreneCharakteristik bezieht sich auf die Erfahrungswissenschaftlichkeit derNaturwissenschaft in expliziter Interpretation und auf die Falsifizierbarkeitder Basissätze.

Die Behauptung, daß ein empirischer Satz in einer Reihe der Sätze einerKonjunktion ausreicht, um aus der Konjunktion eine empirische Aussagemachen, impliziert nun keineswegs, daß der empirische Satz falsch sein muß,wenn die Aussage der Konjunktion falsch ist. Es ist allerdings noch etwas zubeachten: Wenn nun der empirische Satz falsch ist, muß er eine Hypothesesein, deren Basissatz falsifiziert worden ist. Die Falsifikation findet nicht imModus der analytischen Darstellung einer Theorie, also auch nicht in der

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logischen Konjunktion statt, die Falsifikation findet im Modus der explizitenDarstellung der Theorie statt.

Popper hat definitiv bereits in der Logik der Forschung übersehen, daß aucheine naturwissenschaftliche Theorie ein analytisches Gerüst besitzen muß,ansonsten die Rede von allgemeinen Sätzen einer naturwissenschaftlichenTheorie sinnlos wird. Diese allgemeinen Sätze einer naturwissenschaftlichenTheorie können sich nicht nur auf logische und mathematische Sätze beziehen,sie müssen sich auch sowohl explizite auf die Epistemologie der Empirie (derErfahrungsbedingungen) und implizite auf die Semantik des mathematisch-physikalisches Modells beziehen (vgl. meine Kritik an derIndispensibilitätsthese von Putnam und Quine).

Popper ist in mehreren Schwierigkeiten zugleich geraten; sein Hauptproblemist zweifellos, daß er die Zweckmäßigkeit der Zuspitzung auf die expliziteInterpretation einer Theorie zum Anlass nimmt, zu starke Abrenzungen vonder Analyzität allgemeiner Sätze einer Theorie vorzunehmen. Das ist anhandder Geometrie und des Satzes von der Erhaltung der Energie bereits von mirfestgestellt worden; ebenso hinsichtlich der im zweiten Kapitel skizzierten»empirisch-metaphysischen« Theorien. Zwischen Duhem auf der einen Seiteund der Nicht-Falsifizierbarkeit allgemeiner Sätze einer genügend komplexenTheorie auf der anderen Seite gerät Popper deshalb in die Verlegenheit, dieAussagegrenze der analytischen Darstellung auch in logischer Hinsicht nichtmehr bestimmen zu können, und so Duhems Argument naiv gegenüber zustehen.

Duhems Argument passt besser auf die Hypothese und der Menge der darausableitbaren Basissätze. Insofern müßte auch die Auffassung Bolzanos, eineAussage in Form einer logischen Konjunktion wäre bereits dann empirisch zunennen, wenn nur ein empirischer Satz enthalten wäre, die Popperübernimmt, überdacht werden. Sicherlich aber entspricht die Menge allermöglichen Basissätze besser der logischen Konjunktion als das axiomatisierteSatzsystem einer Theorie, wenn man die modallogische Homogenität derBasissätze mit der modallogischen Homogenität verschieden allgemeinerSätze eines axiomatisierten Satzsystems vergleicht. Letztere muß von Popperim X. Anhang erst hergestellt werden (»streng allgemeine Sätze«).

Es wäre zu untersuchen, inwieweit sich diese Vermutung befestigen lässt.Diese Befestigung einmal vorausgesetzt, ließe sich das Argument Duhems imSinne meiner These verstehen, daß der Gültigkeitsbereich seiner These (und

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auch Bolzanos Auffassung) auf Hypothese und Basissätze einzuschränken ist.Obwohl Popper sich schließlich diesen Schwierigkeiten mit dem Übergangzum Wissenschaftsfortschritt und dem benchmarking von empirischen Theorieentzieht, vermag er mit der maximalen Definition des Abgrenzungskriteriumsfür gut bewährte (also auch große) Theorien, in welchem er für eine die alteTheorie falsifzierende Hypothese eine gleich gut bewährte neue Theorieverlangt, Duhems Diktum zunächst zu entgehen. In dieser Frage ist wohl dieWandlung der Auffassung Poppers in »Models, Instruments and Truth« amdeutlichsten zu ersehen.

Mit dieser Kritik an Poppers Entwicklungsgang wird auch das mögliche Motivfür die Reduktion auf den Horizont der Situationslogik sichtbar: Er wolltevermutlich damit den Verwickeltheiten der nur formalen Aprioritätanalytischer Satzsysteme, die für die Aussage der mathematischenNaturwissenschaft nur notwendige Bedingung, aber nicht zureichenderGrund ist, und dem womöglich nicht durchgängig kritisierbare Scheinsynthetischen Apriorität in den allgemeinsten Sätzen einer empirischenTheorie den Rücken kehren. Popper hat allerdings übersehen, daß mit derStrategie der Reduktion der Theorie auf den Horizont der empirischenHypothese auch ein bestehendes wissenschaftstheoretisches Problemverbunden bleibt, das von Duhem aufgezeigt worden ist.

Popper drückt sich also aus Mißverstand und aus strategischen Gründen nursehr undeutlich aus, was er unter einem Prinzip a priori versteht. DieApriorität als Eigenschaft eines mathematischen und logischen Satzsystemsbleibt formal und analytisch, und hat selbst keine empirische Wahrheit an sichselbst. Seine Formulierung »Agents always act in a manner appropriate to thesituation in which they find themselves« kann nur mehr als Reduktionismusdes Positivismus verstanden werden. Diese Formulierung ist aber auch einerSituationslogik vorzuwerfen, die alle Bedingungen und Ursachen einerEntscheidung oder Handlung in der Situation findet. Das ist zwar für denHorizont der mechanischen Physik als eine Bedingung a priori anzusehen,ansonsten wir es unentwegt mit dem Problem der Unendlichkeit oder dervollständigen Determiniertheit des Kosmos zu tun bekommen wurden. Dasgeht bereits aus der Behandlung der dritten Kantschen Antinomie eindeutighervor. Für evolutionäre und für historische Strukturen ist dieseHorizontsdefinition von »Situation« allerdings ebenso zu eng wie für dieQuantenphysik.

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Da die Situationslogik eine Handlungslogik ist, ist sie insofern auchGegenstand der Soziologie. Das soll Gegenstand einer anderen Untersuchungder Entwicklung Poppers werden.