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    Einleitung: Wozu Gefhle?

    Dirk Baecker

    Soziologie der Emotion. Soziale Systeme: Zeitschrift

    fr soziologische Theorie 10, Heft 1 (2004)

    ZUSAMMENFASSUNG: Obwohl Talcott Parsons die Vermutung formuliert hat, dass Gefhlezusammen mit Intelligenz und Einflu Austauschmedien im Handlungssystem sind, die in ihrer

    Bedeutung fr die Motivation und Selektion von Handlung in der modernen Gesellschaft an dieStelle, immerhin, der sozialen Schichtung getreten sind, gibt es keine soziologisch prominenteTheorie der Gefhle. Erst in jngerer Zeit wird der Gegenstand wieder entdeckt und etwa unterdem Gesichtspunkt des emotion work, der Kompetenz des sozial dosierten Umgangs mitGefhlen, des Nheren erforscht. In dieser Einleitung in das Themenschwerpunktheft Sozio-logie der Emotion werden einige Aspekte einer Soziologie der Gefhle vorgestellt. Im Zentrumsteht die Frage, welche Perspektiven die Theorie sozialer Systeme in der Fassung, die NiklasLuhmann erarbeitet hat, fr eine Soziologie der Gefhle bereithlt. Dabei stellt sich heraus, dassdie Soziologie der Gefhle bei Luhmann ebenfalls keinen prominenten Stellenwert hat, mit derTheorie ihrer Funktion bei der normativen Amplifikation von Erwartungen zu Ansprchen undals Immunsystems des Bewusstseins jedoch weiterfhrende Hinweise vorgelegt hat. Die Ein-leitung stellt die verschiedenen Beitrge des Heftes vor und konzentriert sich dabei auf eineTheorie der Attributionsambivalenz der Gefhle.

    ABSTRACT: Talcott Parsons once proposed the idea that affects together with intelligence andinfluence might be considered as exchange media of the action system, which in modern societyare as important for the motivation and selection of action as once has been social stratification.There is nevertheless no prominent sociological theory of emotions. Only recently the issue isrediscovered. Sociological research emphasizes aspects of a so-called emotion work, which re-lates to the social competence to measure affects and feeling according to the situation. Thisintroduction to a special issue of the journal on the sociology of emotions introduces to sev-eral aspects of a sociology of feelings. The introduction as well as the following papers dealspecifically with the question, how Niklas Luhmanns theory of social systems addresses thesociology of emotions. In Luhmanns theory feelings do not have a prominent place either, yethis theory of emotions as normative amplifications of expectations and as immune systems of

    the consciousness offer fruitful perspectives for further research. The introduction presents thedifferent papers of the issue and deals with them under the perspectives of a attributional am-bivalence theory of emotion and of the distinction between psychic and social systems.

    I.

    Wer emotional reagiert, stellt den Beobachter vor ein Attributionsproblem, das zu einer intellek-

    tuellen Reaktion herausfordert, wenn man nicht in der Pflege des Problems selbst die attraktivere

    Alternative sieht. Mit der emotionalen Reaktion macht der Handelnde ebenso zweifelsfrei auf

    seine Person aufmerksam, wie er gleichzeitig diese Person als Medium einer Situation darstellt,

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    in der die Emotion nicht gewhlt, sondern Ausdruck der Situation selber ist. Wer eine Emotion

    beschreiben will, wei daher typischerweise nicht, ob er es mit der emotionalen Empfindlichkeit

    einer Person oder mit der Qualitt der Situation selber zu tun hat.

    Hier hilft daher nur die Aufforderung zur intellektuellen Division. Wer seine Emotionen in-

    tellektuell beherrscht, unterscheidet zwischen seiner Person und der Situation, in der er steckt,

    und lst damit das Attributionsproblem eines Beobachters, der er selber sein kann. Intellektuell

    zu reagieren, bedeutet, Beschreibungen von seiner Person und von seiner Situation anzufertigen

    und anzubieten, die vor die Wahl stellen, anschlieende Handlungen entweder auf die Person

    oder die Situation zu beziehen. Wer sich angesichts dieser intellektuell prparierten Wahl nicht

    entscheiden kann, kann wiederum nur emotional reagieren.

    Die Soziologie hat der Attraktivitt einer nicht kritischen, sondern affirmativen Reaktion aufEmotionen zwar immer wieder eine gewisse, aber sicherlich keine besonders groe Aufmerk-

    samkeit geschenkt (siehe den berblick bei Barbalet 2002). Das mu man bedauern, weil damit

    nicht nur einem wichtigen Phnomenbereich, den Emotionen, sondern darber hinaus den Attri-

    butionszumutungen verschiedener sozialer Systeme inklusive alternativer Formen des Umgangs

    mit ihnen zu wenig Interesse entgegengebracht wurde. Eine Soziologie der Emotion htte daher

    einen zentralen Stellenwert in jeder Handlungs- und Kommunikationstheorie. Bezeichnender-

    weise waren die Klassiker der Soziologie bis hin zu Erving Goffman und Talcott Parsons fr

    diese Problemstellung wesentlich aufgeschlossener als es der Forschungsbetrieb der Soziologieheute ist. Vermutlich hngt auch dies mit einem zu raschen Theorieverzicht zusammen, von Fra-

    gen der Sensibilitt fr empirische Fragestellungen zu schweigen.

    Solange man die Soziologie nicht zurate zieht, neigt man dazu, Attributionsambivalenzen fr

    das Ergebnis von Gefhlslagen zu halten. Wenn man die Soziologie zurate zieht, kann man um-

    gekehrt vermuten, da Gefhle das Ergebnis von Attributionsambivalenzen sind. Das wrde

    nicht zuletzt dazu fhren, Gefhlen ihre eigene Intelligenz zu lassen und zuzurechnen. Denn

    zuweilen ist es klger, die Zurechnung von Handlung und Kommunikation in der Schwebe zu

    lassen.

    II.

    Talcott Parsons hat angesichts seiner Beobachtung der Studentenbewegung der 1960er Jahre

    die Vermutung formuliert, da Affekten in der modernen Gesellschaft eine zunehmende Be-

    deutung zukommt. Zusammen mit anderen Medien des Handlungssystems, vor allem Einflu

    und Intelligenz, springen sie dort ein, wo auf sozialer Schichtung basierende Strukturen der Ge-

    sellschaft an Bedeutung verlieren (Parsons 1977a: 220 ff.). Whrend sich jedoch im Medium

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    des Einflusses Einflugruppen (Politiker, Geschftsleute, Akademiker, Professionelle, Knstler,

    soziale Bewegungen) konstituieren, die wiederum eine gewisse, wenn auch funktional sensible

    Hierarchisierung der Gesellschaft befrdern, und im Medium der Intelligenz vor allem Probleme

    der Ausbildung (inklusive Erziehung und Reflexion) von Verhaltenskompetenzen behandelt

    werden, knnen im Medium der Affekte Integrationsprobleme der Gesellschaft gelst werden.

    Letzteres geschieht vor allem dadurch, da alle Arten von Assoziationen affektuell attraktiv wer-

    den, die auf egalitren Strukturen beruhen. Diese Assoziationen treten laut Parsons (1977b: 247

    ff.) als Integrationsformen der Gesellschaft in Konkurrenz zu Verwandtschaft, peer groups und

    Mrkten. Assoziationen beruhen auf Solidaritt und Wechselseitigkeit und werden in Affekten

    begrndet und abgesichert, in denen jedes einzelne Individuum seinen Bezug auf das jeweilige

    Kollektiv erlebt und besttigt sieht. Man stellt sich diese Assoziationen wohl am besten alsStrukturen vor, die Cliquen, Teams, Professionen, Genossenschaften und sozialen Bewegungen

    zugrundeliegen, ohne mit ihnen identisch zu sein. Es geht um ein assoziatives Prinzip, das zu

    integrativen Zwecken je nach Bedarf von Handlungssystemen aller Art in Anspruch genommen,

    aber auch wieder eingeklammert und mit Blick auf wechselnde Kontexte relativiert werden kann.

    Parsons (1977b: 247) berichtet, da er zunchst dazu geneigt htte, Affekte fr ein Medium

    des Persnlichkeitssystems des allgemeinen Handlungssystems zu halten und Anerkennung

    (recognition) als Medium des Sozialsystems zu beschreiben. Gefhle wren dann eine Angele-

    genheit des Managements der Differenz zwischen den Zielsetzungen, den Anpassungsproble-men, der Identittsstiftung und der Wertorientierung der individuellen Person, verstanden als

    Element des Handlungssystems gewesen. Und Anerkennung beziehungsweise die Auseinan-

    dersetzung um sie wre im hegelschen Sinne (Honneth 1992) ein Medium der sozialen Integra-

    tion. Es sei jedoch gerade umgekehrt, Anerkennung sei das Medium des Persnlichkeitssystems

    und Gefhle seien ein Medium des Sozialsystems. Denn Anerkennung wirke spezifisch und

    partikular und binde damit die Zielsetzungen einer Persnlichkeit in das Handlungssystem ein,

    whrend Affekte diffus und universell wirken und daher fr die Integrationsprobleme des Sozi-

    alsystems in Anspruch genommen werden knnten.

    Aus der Problemfassung folgt, da Affekte, Gefhle oder Emotionen eine prominente Stelle

    innerhalb der soziologischen Theorie besitzen mten, weil sie ebenso wie andere Medien des

    allgemeinen Handlungssystems und wie die Medien des Sozialsystems nach Parsons Hypo-

    these genau dort Selektions- und Motivationsprobleme der Handlung adressieren, wo dies die

    alten Strukturen der sozialen Schichtung nicht mehr tun. Gefhle gewinnen an Bedeutung, wo

    Ungleichheiten nicht mehr hinreichend orientieren.

    Dennoch gibt es erst seit wenigen Jahren ein intensiveres Interesse an einer Soziologie der

    Emotion (siehe magebend Kemper 1978 und Hochschild 1979; ferner Gerhards 1988, Vester

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    1991, Barbalet 1998, Flam 2002). Und selbst dadurch konnten gewisse Berhrungsngste noch

    nicht wirklich behoben werden. Diese Bedenken gegenber der Welt der Gefhle knnen je-

    doch nicht weiter berraschen, wenn man sich genauer anschaut, worauf nach Parsons Mei-

    nung die Fhigkeit der Affekte beruht, solidarische Beziehungen zu stiften und als egalitr ge-

    wertete Assoziationen zu begrnden. Diese Fhigkeit besitzen Affekte deswegen, weil sie

    Handlungen auf Handlungen beziehen und zu diesem Zweck auf Moral zurckgreifen. Assozi-

    ationen haben, so Parsons (1977b: 253), the capacity to command, through moral assertion,

    affective response. Das ist schon merkwrdig: Man wird moralisch angesprochen und reagiert

    mit Gefhl. Deswegen kann Parsons (1977a: 219) definieren: Affect we conceive to be the

    medium through which the stabilities essential to the moral order of a social system are adjusted

    to the ranges of variation that occur in the more concrete social environment in which the indivi-dual acts. Affekte erlauben es, Handlungen durch den Aufbau von moralischem Druck so auf

    Handlungen zu beziehen, da Anpassungen an die soziale Umwelt vorgenommen werden kn-

    nen, ohne dabei, denn darauf kommt es ja an, die Integration der jeweiligen Gruppe zu riskieren.

    Man hat den Eindruck, da Affekte es schaffen, ihre Adressaten (inklusive der Absender) so-

    wohl zu Handlungen und Kommunikationen zu motivieren, zu denen sie andernfalls nicht bereit

    wren, undihr Selbstbild dem Umstand anzupassen, da sie zu etwas bereit sind, wozu sie an-

    dernfalls nicht bereit wren. Gefhle, mit Goffman (1952) formuliert, markieren ihr Opfer

    und khlen es zugleich wieder aus.Wenn man sich streng an die analytischen Unterscheidungen von Parsons hlt, und dies

    macht fr den Aufbau einer hinreichend differenzierten Hypothese zunchst einmal Sinn, dann

    fllt auf, da seine Beschreibung der Affekte dasselbe Problem adressiert wie Luhmanns Be-

    schreibung der Macht. Auch die Macht, verstanden als Handlungs- beziehungsweise Kommu-

    nikationsmedium, bezieht Handlung auf Handlung (Luhmann 1997: 336 und 355 ff.). Die

    Macht unterscheidet sich damit von anderen Medien, die Handlung auf Erleben beziehen und es

    damit offen lassen, welche Handlungen anschlieend vorgenommen werden. Im Medium der

    Macht werden Handlungen kommuniziert, die darauf zielen, da anschlieend, motiviert durch

    den Wunsch der Vermeidung angedrohter Alternativen, auf ganz bestimmte Weise, nmlich

    gehorsam, gehandelt wird. Und genau das leisten nach Parsons (der allerdings nicht in der glei-

    chen Weise wie Luhmann zwischen Handlung und Erleben differenziert) auch die Affekte. Im

    Medium der Affekte werden Handlungen kommuniziert, die darauf zielen, da anschlieend,

    motiviert durch den Aufbau moralischen Drucks, auf ganz bestimmte Weise, nmlich solida-

    risch, gehandelt wird.

    Wenn diese Beschreibung der Parallele zwischen Macht und Affekt auf der Ebene von

    Handlungs- beziehungsweise Kommunikationsmedien zutrifft, liegen die Bedenken der Sozio-

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    logie gegenber Emotionen auf der Hand. Emotionen geben die ebenso individuelle wie intel-

    lektuelle Kontrolle darber, welche Handlungen zu welchen Handlungen motivieren, an ein -

    berdies reichlich unbestimmtes Kollektiv aus der Hand und besitzen dabei noch nicht einmal

    den Vorteil der Macht, dies immerhin attributional eindeutig zu tun. Wenn emotional zu Hand-

    lungen motiviert wird, fllt die Zurechnung auf die Selektion von Handlungen, die diese Motiva-

    tionswirkung haben, ungleich schwerer als im Fall der Macht. Genau deswegen spricht Parsons

    ja von der diffusen und generellen Wirkung von Affekten. Andererseits jedoch haben Emotio-

    nen durch ihren Bezug von Handlung auf Handlung in der Konstitution und Adressierung von

    Willkr auf beiden Seiten dieselbe Wirkung wie die Macht, die nach Luhmann (1997: 355 f.)

    sowohl auf Seiten des Machthabers wie auf Seiten des Machtunterworfenen vor die Qual der

    Wahl stellt und in dieser Struktur vermutlich ausschlaggebend fr die Konstitution von Willkrberhaupt ist.

    Man mu deswegen wohl annehmen, da Emotionen genau dort mit der Macht konkurrieren,

    wo es in der Gesellschaft darum geht, inmitten je nach Theoriegeschmack (vgl. Bachelard 1987:

    146 ff.) entweder unterdeterminierten oder berdeterminierten Situationen Handlungsoptionen

    zu konstruieren, die kein anderes Motiv haben als das der Handlung selbst. Das jedoch mu

    einer brgerlichen Gesellschaft und ihrer Soziologie widerstreben, die die Willkr zwar zum

    einen zum Inbegriff ihres Freiheitsverstndnisses gemacht hat, ihr jedoch zum anderen dadurch

    enge Grenzen gesteckt hat, da Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst zwar aufder politischen Vorgabe von Freiheit beruhen, ihrerseits jedoch nicht nach Magaben der Will-

    kr funktionieren. Emotionen unterlaufen einer Gesellschaft, deren Machtkritik dem Problem

    der Willkr ungleich besser gewachsen ist als ihr Mitrauen gegenber Gefhlen. Das Problem

    der Willkr ist auf der Ebene des politischen Systems, mit Parsons gesprochen, zum Gegens-

    tand eines eigenen Kalkls geworden. Auf der Ebene des bergeordneten Sozialsystems jedoch

    scheint es nach wie vor frei zu flottieren.

    III.

    Die Herausgeber dieser Zeitschrift haben daher den Vorschlag von Luc Ciompi, die Rolle der

    Emotion in der soziologischen Theorie im allgemeinen und in der soziologisch-

    systemtheoretischen Literatur und hier insbesondere bei Niklas Luhmann im besonderen einer

    kritischen Prfung zu unterziehen, aufgegriffen. Wir haben die hier versammelten Autoren dar-

    um gebeten, sich mit Blick auf die kritischen berlegungen und positiven Vorschlge Ciompis

    mit den Mglichkeiten einer Soziologie und Systemtheorie der Emotion auseinanderzusetzen.

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    In der Tat spielen Emotionen im Gesamtwerk von Niklas Luhmann keine sehr prominente

    Rolle. Luhmann hat zwar die Stelle markiert, an der seines Erachtens eine Theorie der Gefhle

    von seiner Theorie sozialer Systeme abzweigen beziehungsweise an diese Theorie angedockt

    werden knnte, doch hat er dem Phnomen der Gefhle nie die Aufmerksamkeit geschenkt, die

    etwa Ciompi angesichts der nicht nur psychischen, sondern auch sozialen Prominenz des Ph-

    nomens fr geboten hlt. Gefhle, so hatte Luhmann (1984: 370 ff.) festgestellt, erleichtern die

    Autopoiesis des Bewutseins: Sie springen als eine Art Immunsystem des Bewutseins ein,

    wenn das Bewutsein mit sich selbst intellektuell nicht weiter kommt, und klingen wieder ab,

    sobald das Bewutsein seine Orientierung wiedergefunden hat. Ausdrcklich hlt Luhmann

    jedoch fest, da diese Theorie der Gefhle mit Blick auf eine Theorie des Bewutseins formu-

    liert ist und mglicherweise den Ausgangspunkt dafr liefern kann, dessen strukturelle Kopp-lung mit dem Organismus, in dem das Bewutsein sich vorfindet, zu beschreiben, jedoch nicht

    mit Blick auf eine Kommunikation von Gefhlen. Nur diese Kommunikation von Gefhlen

    knne Thema der Soziologie sein, nicht jedoch die Gefhle selbst (Luhmann 1984: 370, Fn.

    39). Dabei jedoch bleibt es. Die Mglichkeit, Gefhle hnlich wie Werte als ein Verbin-

    dungsmedium (Luhmann 1997: 408 f.) zu beschreiben, wird zwar genannt (Luhmann 1984:

    302 f.), aber nicht ausgearbeitet. Die ambivalente Rolle der Gefhle beim Management der Er-

    fllung und Enttuschung von zu Ansprchen verdichteten Erwartungen wird ebenfalls genannt

    (Luhmann 1984: 363 f.) und nicht ausgearbeitet. Wir kommen auf diesen Aspekt zurck.Diese Abstinenz gegenber dem Phnomen der Gefhle hat bei Luhmann Grnde, die etwas

    mit seinem Theoriestil zu tun haben, der wiederum seine zeithistorischen Motive hat. Wer eine

    Theorie entwirft, der es um Differenzierung im Umgang mit der Komplexitt der Gesellschaft

    geht und die nicht zuletzt in der mangelnden Differenzierung Einfallstore fr fundamentalisti-

    sche und im Extremfall faschistische Gesellschaftsvorstellungen sieht, der wird sich nicht unbe-

    dingt mit Phnomenen beschftigen, deren Funktion mglicherweise gerade darin besteht, Diffe-

    renzierungen hochselektiv und problemgenau aufzuheben oder zumindest zu verwischen. Genau

    deswegen ist es ja so bemerkenswert, da Luhmann diese Haltung in seinem Sptwerk lockert

    und sich ein Verbindungsmedium Werte berhaupt vorstellen kann. Der Schritt von hier zu

    einer Untersuchung der sozialen Funktion von Gefhlen ist jedoch noch weit und offensichtlich

    waren Parsons berlegungen zu Medien, die das allgemeine Sozialsystem adressieren, fr

    Luhmann nicht anschlufhig. In seinem Nachruf auf Parsons hlt Luhmann zwar fest, da

    es sich lohnen wrde, die Theorie des Handlungssystems mit den Mitteln des Formkalkls von

    G. Spencer-Brown (1972), der hnlich wie Parsons auf die Randvariablen Zeit und Sys-

    tem/Umwelt-Differenz abstelle, zu rekonstruieren (Luhmann 1980: 14), doch bleibt dieses Pro-

    gramm uneingelst, weil es zunchst darum ging, den Autopoiesisbegriff in die Theorie sozialer

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    Systeme einzubauen (Luhmann 1984), und dann darum, die Gesellschaftstheorie zum Abschlu

    zu bringen (Luhmann 1997). Niemand wei, wie Luhmann mit der Mglichkeit einer Rekon-

    struktion des Parsonsschen Theorieprogramms mit den Mitteln des Spencer-Brownschen Kal-

    kls umgegangen wre, wenn er die Zeit gehabt htte, sich mit dieser Mglichkeit zu beschfti-

    gen.

    Das soll natrlich keine Entschuldigung fr die Gefhlslcke im Werk Luhmanns sein. Aber

    es soll andeuten, da er Anregungen gegeben hat, die man nutzen kann, um diese Lcke zu

    schlieen.

    IV.

    Die in diesem Heft versammelten Beitrge zu einer Soziologie der Emotion widmen sich zum

    Teil bereits der Arbeit an der Schlieung dieser Lcke, beschftigen sich jedoch andererseits erst

    einmal der Bestandsaufnahme verschiedener Problemstellungen, die von einer Soziologie und

    Systemtheorie der Emotion adressiert werden knnten beziehungsweise mten. Allen Beitr-

    gen ist bewut, da das Thema der Affekte, Emotionen und Gefhle in den vergangenen Jahren

    eine Prominenz gewonnen oder wiedergewonnen hat, die es in den Jahren zuvor lange Zeit nicht

    gehabt hat. Und alle Beitrge teilen mehr oder minder bestimmt den Eindruck, da die allgemei-

    ne Systemtheorie ebenso wie die soziologische Systemtheorie auf diesem Feld eine wichtige

    Rolle der Formulierung von Fragestellungen spielen knnte, die verschiedene Forschungsfelder

    bergreift und aufeinander bezieht. In diesem Sinne htte es durchaus Aussichten, die Theorie

    der Emotion neben etwa der Theorie der Intelligenz zu einem Fokus der sich immer deutlicher

    herausschlenden Kognitionswissenschaften zu machen, in denen die Soziologie, wie man wei,

    bislang kaum eine angemessene Rolle spielt.

    Der die Diskussion auslsende Beitrag von Luc Ciompi (siehe auch Ciompi 2002) verweist

    am Beispiel der Gefhle auf eine bemerkenswerte Lcke der Forschung nicht nur im Werk von

    Luhmann, sondern darber hinaus der Systemtheorie im allgemeinen. Fasziniert vom Begriffder Autopoiesis und von dem in diesem Begriff mitgedachten Konzept der operationalen und

    damit informationalen Geschlossenheit selbstreferentieller Systeme (Ashby 1974: 18 f.; Matu-

    rana/Varela 1980), hat diese Theorie die Beobachtung und Erforschung energetischer und kau-

    saler Kopplungen zwischen den Systemen und ihren Umwelten weitgehend vernachlssigt. Die-

    se Vernachlssigung wurde im darauf reagierenden Konzept der strukturellen Kopplung

    zwar immerhin festgestellt (Luhmann 1995), aber nicht wirklich korrigiert. Natrlich ist die Ver-

    nachlssigung nicht nur gut begrndet, sondern sogar explizit das Programm der Systemtheorie,

    da die Beobachtung von energetischer und kausaler Kopplung mit einer Komplexitt von Ph-

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    nomenen konfrontiert, die den Beobachter berfordert und zur Umstellung von Verstehen

    auf Kontrolle (das heit: Gedchtnis) zwingt (Morin 1972; Ashby 1958). Aber genau das

    erspart es weder der Systemtheorie noch einer Soziologie, die mit deren Mitteln gearbeitet ist,

    Formen des Gedchtnisses in sozialen Systemen zu erforschen, die eher ber das Prparieren

    von Emotionen laufen als ber intellektuelle Kontrolle. Denn nur dann knnte man die Frage

    untersuchen, ber welche Mglichkeiten Systeme verfgen, komplexe kausale und energetische

    Bezge sowohl zu berwachen als auch zu nutzen. Vermutlich sind Emotionen nur eine der hier

    einschlgigen Managementtechniken.

    Tatschlich ist eine Gedchtnis- und Kontrolltheorie beziehungsweise, aber das luft auf das-

    selbe hinaus (Luhmann 1997: 586 ff.), eine Kulturtheorie der Emotionen einer der gegenwrtig

    vielversprechendsten Forschungsstrategien der Soziologie in diesem Feld (vgl. etwa Barbalet1998; Shilling 2002). In einem Konzept wie dem des emotion work (Hochschild 1979) wird

    dabei durchaus mitgedacht, was bei jedem Versuch der Kontrolle kybernetisch zu bedenken ist

    (Glanville 1987): nmlich da man nur kontrollieren kann, wovon man sich seinerseits kontrol-

    lieren lt.

    Der Beitrag von Manfred Wimmer setzt sich mit dieser mglichen Kontrollfunktion von E-

    motionen auseinander, indem er eine Unterscheidung zwischen Emotionen und Affekten formu-

    liert, in der erstere auf ein gestrtes Gleichgewicht eines Systems (Organismus, Psyche, viel-

    leicht auch Kommunikation) hinweisen und letztere eine Befindlichkeit markieren, die das Sys-tem zugunsten einer Korrektur dieser Strung zu einer bestimmten Aktivitt motivieren. Das

    kann man zum Beispiel so verstehen, da Emotionen passiv erlebt und mithilfe von Affekten

    aktiv beantwortet werden, so da hier eine kognitive Differenzierung greift, die einerseits eine

    Selbstpositionierung des Systems ermglicht, andererseits jedoch die Zurechnungsambivalenz

    mit der Unterscheidung von Emotion und Affekt eher markiert als bereits auflst. Fr Wimmer

    ist darber hinaus interessant, da die Unterscheidung von Emotion und Affekt den (menschli-

    chen) Organismus fr zustzliche, nmlich symbolische, in der sozialen Umwelt auftretende

    Reize empfnglich macht, die zum einen als Direktiven fr die Kontrollwirkung von Affekten

    wirken, zum anderen jedoch neue und mglicherweise unkontrollierbare Emotionen auslsen.

    Affektkontrolle hat es immer auch mit dem Adressieren von Affekten zu tun, und niemand

    wei, welche Emotionen dies hervorruft. Die Soziologie der Emotion stellt diese Unvorherseh-

    barkeit und Unberechenbarkeit von Emotionen in Rechnung, indem sie sie als Phnomene be-

    schreibt, in denen die verschiedene Systemebenen des Organismus, des Bewutseins und der

    Kommunikation aufeinandertreffen, ohne da man genau wte, wie sich diese Systeme ausdif-

    ferenzieren und wie sie miteinander gekoppelt sind (Gerhards 1988). Ob diese Unvorherseh-

    barkeit und Unberechenbarkeit allerdings so weit geht, da man die Beobachtung und Beschrei-

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    bung von Emotionen nicht mehr nur an den Systemreferenzen Organismus, Bewutsein und

    Kommunikation orientiert, sondern ihnen eine eigene Systemebene zuspricht, das heit sie

    selbst als lebendes System versteht (Vester 1991), mag hier offen bleiben. Mir scheint diese

    Frage nicht entscheidbar zu sein, solange die Theorie der Emotion so schwach ausgearbeitet ist,

    wie dies gegenwrtig der Fall ist.

    Da intellektuelle Kognitionen Sachverhalte eher strukturieren, emotionale Kognitionen sie

    eher bewerten, ist eine Annahme, die zum Traditionsbestand kognitionswissenschaftlicher For-

    schung gehrt. Jean Piaget (1947) zum Beispiel bezog die emotionale Bewertung auf Fragen

    des Energieaustauschs und die intellektuelle Strukturierung auf Fragen des Lernens, Verstehens

    und Nachdenkens. Und Norbert Wiener (2003: 82 f.; vgl. Schttpelz, im Druck) unterschied

    zwischen dem Informationsaustausch durch neuronale Aktivitt und sogenannten to whom itmay concern-messages im Rahmen einer Aktivitt, die er als eine emotionale verstand und

    deren Wirkung in der Vernderung des humoralen Milieus der neuronalen Aktivitt besteht. Es

    mag nicht berflssig sein, darauf hinzuweisen, da damit differenzierende und vereinheitli-

    chende Aktivitten (Wiener sprach von Kommunikationen) innerhalb des menschlichen

    Krpers einander gegenbergestellt werden. Die Differenzierung schafft Anschlumglichkei-

    ten fr Beobachtungen, die Vereinheitlichung fr Handlung. Erstere hlt offen, worum es an-

    schlieend gehen kann, letztere verdichtet eine Situationseinschtzung auf einen Ausgangspunkt

    hin, der Orientierung schafft. Das pat zu Gotthard Gnthers (1979) Unterscheidung zwischencognition und volition.

    Und es mag ebenfalls nicht berflssig sein, darauf hinzuweisen, da to whom it may con-

    cern-messages offenbar den Vorteil haben, eher die Situation als den Absender zu bezeichnen,

    so da sie weniger kommunikatives Mitrauen wecken und statt dessen als Weltsachverhalte

    hingenommen werden knnen.

    Doch wie immer diese Vermutungen und Beschreibungen im einzelnen sortiert werden m-

    gen: interessant ist, da die Kognitionsforschung im Wechsel zwischen der Beobachtung ihrer

    Ausgangsannahmen auf der einen Seite und der Beobachtung der empirischen Wirklichkeit auf

    der anderen Seite dazu neigt, die Beschreibung intellektueller und kognitiver Akte und Kommu-

    nikationen durch die Beschreibung emotionaler und volitiver Akte und Kommunikationen ge-

    genzubalancieren sowie Strukturen gegen Werte, Differenzen gegen Einheit und die Pflege von

    Rckfragen gegen die Setzung von Prmissen zu stellen, um auf diese Art und Weise die refle-

    xiven wie die nicht nur spontanen, sondern vor allem aktiven Komponenten eines Systems

    (Organismus, Bewutsein, Kommunikation) beschreiben zu knnen. Fast zwangslufig landet

    die Emotion dabei immer wieder auf der aktiven, der reflexiven gegenberliegenden Seite, so als

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    behalte sich der Forscher wie die Gesellschaft, in der er arbeitet, vor, zur Emotion sowohl aufru-

    fen wie sie zu Reflexion auffordern, zur Raison rufen zu knnen.

    Der Beitrag von Hinderk M. Emrich mitraut seinerseits diesem Hang der Kognitionsfor-

    schung, dem Mitrauen gegenber Emotionen nachzugeben und sie in eine Differenzstellung zu

    bringen, die sie in einer Intellektualitt prferierenden Gesellschaft immer das Nachsehen haben

    lt. Wie wre es denn, so fragt Emrich, wenn man die emotionale Bewertung gerade umgekehrt

    als das Ergebnis von Reflexionsprozessen beschreibt, von denen man schon deswegen nichts

    wei, weil auf ihnen die Herstellung jener Bindung der hochverteilten neuronalen Aktivitten

    beruht, dank derer wir berhaupt von kognitiven Einheiten sprechen knnen? Das Bewutsein

    kme dann gegenber dem Gefhl immer schon zu spt und knnte mit seiner Reflexion nur in

    Frage stellen, was durch keine Frage mehr zu erreichen ist. Und wie wre es, so fragt Emrichweiter, wenn auch fr dieses nachtrgliche Bewutsein weniger die Funktion der intellektuellen

    berwachung der eigenen Gefhlswelt prgend wre, die es sich selbst so gerne zugute hlt,

    sondern vielmehr die Funktion des Managements einer durch und durch sozialen Mimesis, in

    die es sich ebenso eingebunden sieht wie in seine eigene Gefhlswelt? Dann mte man an-

    nehmen, da Emotionen dazu dienen, zu sozialen Bindungen sowohl zu motivieren (Mimesis)

    wie auch in ihnen manvrier- und optionsfhig zu werden, ohne deswegen aus ihnen aussteigen

    zu mssen oder auch nur zu knnen (Rivalitt). Dann htte man es mit einem Bewutsein zu

    tun, das mit Mhe und Not und nie wirklich erfolgreich ein Interface zwischen den neuronalenBindungen des Gehirns und den sozialen Bindungen der Gesellschaft aufrechterhlt, ohne sich

    auf etwas anderes als zum Beispiel die Schrift verlassen zu knnen, die es in dieser Eigenstn-

    digkeit absichert. Der Gegenstand einer Soziologie der Emotion wren dann jene Phnomene,

    die dem Bewutsein zu einer Distanz- und damit Selbstgewinnung dienen, von denen es gleich

    anschlieend feststellen mu, da sie immer schon verspielt sind.

    Angesichts dieser Funktion, deren Beschreibung bei Emrich ihrerseits aus einer Verdichtung

    von Traditionsbestnden der Gefhlsforschung einerseits und der Skepsis gegenber den Kon-

    zepten der Kognitionsforschung andererseits gewonnen ist, kann es nicht weiter berraschen,

    wenn die Soziologie die Vorteile entdeckt, die darin liegen, die Gefhle eher diffus zu halten.

    So formuliert Peter Fuchs in seinem Beitrag, in dem es darum geht, wiederum eher die Kommu-

    nikation der Gefhle als diese selbst zu beschreiben. Die Kommunikation der Gefhle gewinnt

    daraus, da Gefhle weder intellektuell noch emotional festzulegen sind, die Mglichkeit, un-

    deutliche Wahrnehmungen zu kommunizieren, die andernfalls an der Rckfrage, worum es denn

    geht, scheitern wrden. Wer etwas fhlt, mu es eben noch nicht wissen. Und wer es wei, fhlt

    es dann mglicherweise schon nicht mehr.

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    Wie eine solche differentielle Analyse von Emotionen aussehen knnte, zeigt abschlieend

    der Beitrag von Paul Stenner. Er knpft sowohl psychologisch als auch soziologisch an Vor-

    schlgen von Luhmann an und betont eine Dimension, die bisher unterbelichtet geblieben ist,

    jedoch fr die von Wimmer beschriebene Zweitfassung von Emotionen als Affekte wichtig sein

    knnte. Stenner zeigt, da Individuen Gefhle nicht nur haben und zeigen, sondern in

    diese Gefhle regelrecht investieren, und zwar nicht zuletzt: sich selbst investieren. Gefhle

    stellen sich ein, so formuliert er im Anschlu an Luhmann (1984: 363 f.), wenn Erwartungen auf

    Ansprche zugespitzt und dann entweder enttuscht oder besttigt werden. Ansprche dienen

    dazu, die Individualitt zu markieren, die sich als Korrelat von Erwartungen ergibt, die man so

    leicht nicht aufzugeben bereit ist.

    Nur wer nicht lernt, mte man dann mit Blick auf die Unterscheidung normativer von kog-nitiven Erwartungen (Luhmann 1984: 436 ff.) formulieren, hat eine Chance, Individuum zu wer-

    den, bezahlt dafr jedoch mit Gefhlen, die sich dort bilden, wo diese Ansprche erfllt oder

    enttuscht werden. In Erfllungsgefhlen bearbeitet man die Differenz zwischen dem, was man

    erwartet hat, und dem, was man bekommen hat, in Enttuschungsgefhlen die Differenz zwi-

    schen der Erwartung und ihrer Nichteinlsung. Es kann nicht berraschen, da die Enttu-

    schungsgefhle strker sind, weil es hier nichts ber die Erwartung beziehungsweise den An-

    spruch zu lernen gibt. Und es kann auch nicht berraschen, da die Erfllungsgefhle nur dort

    stark sind, wo sie diese Lerneffekte zu kompensieren haben, da heit die Enttuschung ange-sichts der Erfllung dissimulieren mssen.

    Stenner nutzt diesen Ansatz, um eine sozialpsychologische Fragestellung auszuarbeiten, in

    der es darum geht, die Varianz von Emotionen im Anschlu an die gesellschaftliche Entwicklung

    und insbesondere den Wechsel der Differenzierungsformen der Gesellschaft zu beschreiben. Je

    nachdem, welche Anforderungen die gesellschaftliche Differenzierung (Stmme, Schichtung,

    Funktionssysteme, Netzwerke) an die Differenz von Individuum und Gesellschaft stellt, wird

    man mit unterschiedlichen Leidenschaften und Emotionen zu rechnen haben, die zum einen die

    individuelle Verarbeitung von Erwartungen und Ansprchen ermglichen, ihnen jedoch zugleich

    und zum anderen Formen aufprgen, die ihrerseits wiederum mit der Gesellschaft und mit der

    Kommunikation von Erwartungen und Ansprchen und deren Erfllung und Enttuschung

    kompatibel sind.

    Man wird feststellen, da alle Diskussionsbeitrge eine Bewertung der Hauptthese von Luc

    Ciompi, da kollektive Emotionen als Ursachen anderer sozialer Phnomene beschrieben wer-

    den knnen, eher vermeiden. Zum einen hngt dies damit zusammen, da es der Systemtheorie

    schwer fllt, kausale Beziehungen dieser Art einzuschtzen. Es gibt zu viele Ursachen und zu

    viele Wirkungen, deren Verhltnis zueinander man bewerten knnen mte, ohne da man

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    wte, aus welcher Systemperspektive die Selektion einzelner Ursachen und Wirkungen denn

    nachvollzogen werden soll. Deswegen interessiert zum anderen die Schrfung des Blickwinkels

    auf die einzelnen Systemperspektiven. Wie gelingt es einem System, seine Systemreproduktion

    gegenber den Kausalitten, die ihm unterlaufen, indifferent beziehungsweise selektionsfhig zu

    halten? Und wie gelingt das organischen, psychischen und sozialen Systemen je unterschied-

    lich?

    Mit anderen Worten, diese Hauptthese von Ciompi wird im folgenden weder widerlegt noch

    besttigt. Statt dessen wird an der Theoriearchitektur, an empirischen Fragestellungen und an

    Begrifflichkeiten gearbeitet, in deren Konsequenz, so wird man erwarten drfen, die These selbst

    an Interesse verliert und statt dessen die Mechanismen beleuchtet werden, dank derer Krper,

    Bewutsein und Kommunikation emotional abhngig und unabhngig voneinander agierenknnen. Ansteckungseffekte mehr oder minder weitreichender Art sollen also gerade nicht ge-

    leugnet werden. Aber es interessiert auch, da es eben nicht immer und auch nicht immer in

    vorhersehbarer Art zu Ansteckungen kommt. Kollektive Emotionen, um bei diesem Begriff

    zu bleiben, kommen dann zustande, wenn Krper, Bewutsein und Kommunikation ihre je eige-

    nen Grnde haben, sich anstecken zu lassen. Nach diesen Grnden, die auf Emergenz, Autopoi-

    esis, Eigendynamik und Irritabilitt (strukturelle Kopplung) verweisen und nicht auf Kausalitt

    (dazu sind die Verhltnisse zu komplex), wird im folgenden gesucht.

    V.

    Jeder der in diesem Heft vorgelegten Beitrge zu einer Soziologie und Systemtheorie der Emo-

    tion versteht sich als Versuch in einem schwierigen und unbersichtlichen Feld. Bereits die Pa-

    lette an Phnomenen, die Luc Ciompis Beitrag nennt, macht deutlich, wieviel Arbeit dieser Theo-

    rie und Soziologie noch bevorsteht. Vermutlich werden die empirische und die theoretische Ar-

    beit auch hier Hand in Hand gehen.

    Das vorliegende Heft erhebt nur den Anspruch, die Theorieschwelle zu markieren, die ge-nommen werden mu, wenn den Emotionen die Aufmerksamkeit zuteil werden soll, die sie kog-

    nitionswissenschaftlich schon lngst haben. Einfacher gesagt, behauptet dieses Heft, da eine

    Soziologie der Emotion nicht als Einwand gegen die soziologische Systemtheorie, sondern als

    ihre Weiterentwicklung formuliert werden sollte. Sowohl bei Parsons als auch bei Luhmann

    liegen differenziertere Anstze vor, als es die Kritik zumeist wahrhaben will. Damit soll nicht in

    Abrede gestellt werden, da diese beiden Autoren das Thema gefhlsmig anders behandelt

    haben, als man es sich heute vielleicht vorstellt. Auch untereinander sind sie denkbar unter-

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    schiedlich gestimmt, denkt man nur an die bei Parsons immer mitlaufende Referenz auf das

    Werk von Sigmund Freud, das bei Luhmann fast berhaupt keine Rolle spielt.

    Wichtig ist mir, da man Ciompis Kritik und seine Vorschlge aufgreifen kann, um nach ei-

    nem synthetischen Beitrag der soziologischen Systemtheorie zu einer kognitionswissenschaft-

    lich begrndeten Theorie der Emotion zu fragen. Diese Theorie wird sich zum einen systemthe-

    oretisch mit der Frage beschftigen mssen, wie die Systemreferenzen auf Krper, Bewutsein

    und Kommunikation unterschieden werden knnen, die von Affekten, Gefhlen und Emotionen

    so eindrucksvoll berbrckt werden, und sie wird sich zum anderen soziologisch der Frage

    widmen mssen, welcher Typ einer attributionsindifferenten Vernetzung von Handlungen und

    Kommunikationen durch Emotionen realisiert wird, wenn sich dieser Typ so auffllig von Ver-

    netzungen unterscheidet, die umgekehrt Wert darauf legen, die Attributionsmglichkeiten zuunterscheiden, um fr Anschluhandlungen und Kommunikationen jeweils unterschiedliche und

    intellektuell bearbeitbare Optionen zur Verfgung zu haben. Die erste Frage wird sich nur kog-

    nitionswissenschaftlich, das heit im Rahmen eines Austauschs physiologischer, psychologi-

    scher und soziologischer Einsichten verfolgen lassen. Die zweite Frage adressiert ein umfang-

    reiches soziologisches Forschungsprogramm, das an Mikrophnomenen der interaktiven Ver-

    netzung von Kommunikationen ebenso Interesse hat wie an Makrophnomenen der Formatie-

    rung von Emotionen fr die Zwecke der Reproduktion von Organisationen, Kulturen oder gan-

    zen Gesellschaften.Wenn Kommunikation nach einer Formulierung von Gregrory Bateson (1972: 406 f.) im

    wesentlichen die Sicherstellung von Redundanz ist, wird man sich nicht darber wundern dr-

    fen, wenn eine Gesellschaft nicht darauf verzichten wird, diese Redundanz auch auf der Ebene

    der Bndelung von situativen Anlssen, persnlichen Dispositionen, krperlichen Verfassungen

    und Handlungspotentialen zu suchen. Sie wird nie darauf verzichten, dieser Synthese Mglich-

    keiten der Analyse zur Seite zu stellen, wie immer marginal oder zentral die Positionen sein m-

    gen, von denen aus in der Gesellschaft Emotionen als solche benannt und in ihrer Reichweite

    kontrolliert werden. Aber das heit umgekehrt nicht, da diese Beobachtung von Emotionen so

    weit getrieben werden sollte, da ihre Syntheseleistungen ganz aus den Augen verloren werden.

    Einstweilen bleibt es dabei, da wir immer dann von Emotionen sprechen, wenn die Span-

    nung steigt, und immer dann von Bewutsein, wenn sie sinkt. Mglicherweise handelt es sich

    dabei um nicht mehr als die Unterscheidung zwischen der Attraktion von Aufmerksamkeit auf

    der einen Seite und ihrer Distraktion auf der anderen Seite. Dann allerdings wre die bisherigen

    Bedenken der Gesellschaft und ihrer Soziologie gegenber den Gefhlen nicht viel mehr als ein

    Korrekturmoment, das die Attraktivitt der Emotionen zu reduzieren erlaubt und sicherstellt, da

    wir das Bewutsein nicht ganz aus den Augen verlieren.

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