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Bewegung und Beweglichkeit 4 Dezember | 2017 CO.med Von der Kampfkunst zur integrativen Körper- und Bewegungstherapie Die Lehre des Taijiquan | Dr. Wilfried Schmidt Taijiquan nimmt eine zentrale Position in der chinesischen Medizin ein und geht auf eine jahrhundertealte Tradition zu- rück. Es ist eine Mischung aus Kampf- kunst und Bewegungstherapie und ba- siert auf der Annahme, dass Körper, Geist und Seele nicht trennbar sind. Im folgenden Artikel wird auf die Hinter- gründe, die Wirkung und wo Taijiquan seine Anwendung findet eingegangen. Schon früh morgens, kurz nach Sonnen- aufgang, wimmelt es in vielen chinesi- schen Städten bereits von Leben. Auf dem Markt kaufen Frauen Hühner für die Hauptmahlzeit an diesem Tag, in den Garküchen wird Suppe für das Frühstück bereitet und in den Parkanlagen um die Ecke haben sich Menschen zusammenge- funden, um die Energie des anbrechenden Tages für ihre Taijiquan-Übungen zu nutzen. Doch die Idylle trügt. Leider hat auch in China der moderne Lebensstil mit seiner Hektik und Missachtung der natürlichen Ressourcen Einzug gehalten: Die Men- schen nehmen ihre Lebenswelt als Raum der Einschränkungen wahr. Verbote, War- nungen und körperliche Restriktionen be- engen ihre Bewegungsfreiheit. Unter den Praktizierenden des Taijiquan finden sich eher Menschen in fortge- schrittenem Alter, die es noch in seiner ursprünglichen Form erlernt haben und um die gesundheitsfördernde Wirkung wissen. Was ist Taijiquan? Taijiquan hat seinen Ursprung in Chenjia- gou, einem Dorf in der chinesischen Pro- vinz Henan. Es wurde von Chen Wangting, einem Nachkommen in der neunten Gene- ration des Chen Clans, am Ende der Ming- Dynastie (1368 – 1644), auf der Grundla- ge der alten Kampfkunst, die innerhalb seiner Familie weitergegeben wurde, ent- wickelt. Er perfektionierte diese Kampf- und Bewegungskunst. Chen Xin (1849 – 1929), als Vertreter der 16. Generation, erforschte die dem Chen- Taijiquan eigene Körpermechanik und wies auf die Bedeutung der klassischen chinesischen Medizin sowie der Philoso- phie von Yin und Yang, wie sie im Yijing, dem „Klassiker der Wandlungen“ umfas- send beschrieben ist, als Basis für das Tai- jiquan hin. Im Yijing wurden nicht nur Erkenntnisse zu den beobachteten Veränderungen und Bewegungen in der Natur und damit auch im menschlichen Körper erfasst, sondern auch der gesellschaftliche Wandel mit sei- nen fördernden oder hemmenden Auswir- kungen menschlichen Handelns. Taijiquan umfasst deshalb nicht den As- pekt der Kampfkunst alleine, sondern bein- haltet in seinem Wesen auch gesundheits- fördernde sowie persönlichkeitsentwi- ckelnde Aspekte. Hintergründe zur Entstehung und den di- versen Aspekten finden sich in Chen Xins Monumentalwerk „Grafische Erläuterun- gen zum Taijiquan des Chen Clans“. Taiji- quan in seiner vollen Breite lässt sich so- mit nur erfahren, wenn man die prakti- schen Übungen mit den Theorien aus klassischer chinesischer Medizin und Yi- jing-Philosophie verbindet. Auf diese Weise wurde ein in sich komplet- tes System erschaffen, aus dem sich in ei- nem über drei Jahrhunderte andauernden Prozess der Entwicklung weitere Stile wie Yang, Wu (Jianquan), Wu (Yuxiang), Sun und Zhaobao aus dem Chen-Stil-Taijiquan abgeleitet haben. Innerhalb des Systems des Chen-Stil-Taijiquan, ist der „Kleine Rahmen“ (Xiao Jia) die traditionellste Übungsmethode, die heute zuerst von Chen Peishan und Chen Peiju als direkte Nachfahren sowie von Dietmar Stuben- baum im deutschsprachigen Raum vertre- ten wird. Taijiquan als zentrale Säule der chinesischen Medizin Taijiquan nimmt neben Qigong eine zen- trale Position im Gebäude der chinesi- schen Medizin ein (s. Abb. 1). Zentral des- halb, weil es sowohl äußere (Körperhal- tung, Körperbewegung, Selbstmassage) als auch innere Aspekte (Atmung, Schu- lung der Vorstellungskraft, Gedankenlen- kung, psychische Eu-Regulation) in sich vereint. Mit seinen äußeren Aspekten hat Taiji- quan eine enge Beziehung zur manuellen Therapie Tuina und zur Akupunktur, mit den inneren zur Psychotherapie und zur Diätetik sowie Arzneimitteltherapie. Tai- jiquan hat also zwei Bedeutungsebenen: Zum einen umfasst es ein Methodenset, das sowohl physio- also auch psychothe- Abb. 1: Das Gebäude der Traditionellen Chi- nesischen Medizin: Taijiquan ist die zen- trale Säule. Abb. 2: Das Bild zeigt die Position „Peit- sche – danbian“ mit dem zugehörigen Energiefluss durch den Körper.

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Page 1: Bewegung und Beweglichkeit Von der Kampfkunst zur

Bewegung und Beweglichkeit

4 Dezember | 2017 CO.med

Von der Kampfkunst zurintegrativen Körper- und BewegungstherapieDie Lehre des Taijiquan | Dr. Wilfried Schmidt

Taijiquan nimmt eine zentrale Positionin der chinesischen Medizin ein und gehtauf eine jahrhundertealte Tradition zu-rück. Es ist eine Mischung aus Kampf-kunst und Bewegungstherapie und ba-siert auf der Annahme, dass Körper,Geist und Seele nicht trennbar sind. Imfolgenden Artikel wird auf die Hinter-gründe, die Wirkung und wo Taijiquanseine Anwendung findet eingegangen.

Schon früh morgens, kurz nach Sonnen-aufgang, wimmelt es in vielen chinesi-schen Städten bereits von Leben. Auf demMarkt kaufen Frauen Hühner für die

Hauptmahlzeit an diesem Tag, in denGarküchen wird Suppe für das Frühstückbereitet und in den Parkanlagen um dieEcke haben sich Menschen zusammenge-funden, um die Energie des anbrechendenTages für ihre Taijiquan-Übungen zunutzen.Doch die Idylle trügt. Leider hat auch inChina der moderne Lebensstil mit seinerHektik und Missachtung der natürlichenRessourcen Einzug gehalten: Die Men-schen nehmen ihre Lebenswelt als Raumder Einschränkungen wahr. Verbote, War-nungen und körperliche Restriktionen be-engen ihre Bewegungsfreiheit.Unter den Praktizierenden des Taijiquanfinden sich eher Menschen in fortge-schrittenem Alter, die es noch in seinerursprünglichen Form erlernt haben undum die gesundheitsfördernde Wirkungwissen.

Was ist Taijiquan?

Taijiquan hat seinen Ursprung in Chenjia-gou, einem Dorf in der chinesischen Pro-vinz Henan. Es wurde von Chen Wangting,einem Nachkommen in der neunten Gene-ration des Chen Clans, am Ende der Ming-Dynastie (1368 – 1644), auf der Grundla-ge der alten Kampfkunst, die innerhalbseiner Familie weitergegeben wurde, ent-wickelt. Er perfektionierte diese Kampf-und Bewegungskunst.Chen Xin (1849 – 1929), als Vertreter der16. Generation, erforschte die dem Chen-Taijiquan eigene Körpermechanik undwies auf die Bedeutung der klassischenchinesischen Medizin sowie der Philoso-phie von Yin und Yang, wie sie im Yijing,dem „Klassiker der Wandlungen“ umfas-send beschrieben ist, als Basis für das Tai-jiquan hin.Im Yijing wurden nicht nur Erkenntnissezu den beobachteten Veränderungen undBewegungen in der Natur und damit auchim menschlichen Körper erfasst, sondernauch der gesellschaftliche Wandel mit sei-nen fördernden oder hemmenden Auswir-kungen menschlichen Handelns.

Taijiquan umfasst deshalb nicht den As-pekt der Kampfkunst alleine, sondern bein-haltet in seinem Wesen auch gesundheits-fördernde sowie persönlichkeitsentwi-ckelnde Aspekte.

Hintergründe zur Entstehung und den di-versen Aspekten finden sich in Chen XinsMonumentalwerk „Grafische Erläuterun-gen zum Taijiquan des Chen Clans“. Taiji-quan in seiner vollen Breite lässt sich so-mit nur erfahren, wenn man die prakti-schen Übungen mit den Theorien ausklassischer chinesischer Medizin und Yi-jing-Philosophie verbindet.Auf diese Weise wurde ein in sich komplet-tes System erschaffen, aus dem sich in ei-nem über drei Jahrhunderte andauerndenProzess der Entwicklung weitere Stile wieYang, Wu (Jianquan), Wu (Yuxiang), Sunund Zhaobao aus dem Chen-Stil-Taijiquanabgeleitet haben. Innerhalb des Systemsdes Chen-Stil-Taijiquan, ist der „KleineRahmen“ (Xiao Jia) die traditionellsteÜbungsmethode, die heute zuerst vonChen Peishan und Chen Peiju als direkteNachfahren sowie von Dietmar Stuben-baum im deutschsprachigen Raum vertre-ten wird.

Taijiquan als zentrale Säuleder chinesischen Medizin

Taijiquan nimmt neben Qigong eine zen-trale Position im Gebäude der chinesi-schen Medizin ein (s. Abb. 1). Zentral des-halb, weil es sowohl äußere (Körperhal-tung, Körperbewegung, Selbstmassage)als auch innere Aspekte (Atmung, Schu-lung der Vorstellungskraft, Gedankenlen-kung, psychische Eu-Regulation) in sichvereint.Mit seinen äußeren Aspekten hat Taiji-quan eine enge Beziehung zur manuellenTherapie Tuina und zur Akupunktur, mitden inneren zur Psychotherapie und zurDiätetik sowie Arzneimitteltherapie. Tai-jiquan hat also zwei Bedeutungsebenen:Zum einen umfasst es ein Methodenset,das sowohl physio- also auch psychothe-

Abb. 1: Das Gebäude der Traditionellen Chi-nesischen Medizin: Taijiquan ist die zen-trale Säule.

Abb. 2: Das Bild zeigt die Position „Peit-sche – danbian“ mit dem zugehörigenEnergiefluss durch den Körper.

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rapeutisch eingesetzt werden kann, zumanderen kann das regelmäßige Praktizie-ren von Taijiquan sowohl bei funktionell-körperlichen als auch bei psychisch-emo-tionalen Dysfunktionen seine Wirksam-keit zeigen.Damit weist Taijiquan Parallelen zu mo-dernen ganzheitlichen Therapieformenauf, wie in dem Essay „Die Wandlung desSelbst durch die Phänomenalität des Taiji-quan – eine gesundheitsphilosophischeund vergleichende Analyse zum Taijiquan“beschrieben, und kann durchaus als klas-sisch-chinesische Form der Körperpsy-chotherapie betrachtet werden.

Die Besonderheiten

Chen Peishan vergleicht das menschlicheLeben gerne mit einer Seereise, bei derunser Körper wie das Boot ist. Taijiquan,und hier besonders die Sizheng Form(Form der vier Hauptrichtungen; eine vonChen Peishan auf den traditionellenGrundlagen entwickelte moderne Kurz-form), ist eine Methode, das eigene Bootzu schützen und immer wieder zu erneu-ern.Heutzutage arbeiten viele Menschen imSitzen vor dem Computer. Dadurch be-kommen sie Probleme mit dem Rücken,mit Schultern und Nacken, die Augen er-müden leicht, sie leiden an Übergewicht,Unausgeglichenheit und Stress. SizhengTaijiquan ist eine Bewegungsmethode,die genau für solche Herausforderungendes täglichen Lebens geschaffen wurde.

Sie umfasst große kreisförmige Bewegun-gen, unterschiedlich hohe und breiteStände sowie viele bewegte Schritte. Dievom Körperzentrum ausgehenden, sichnach außen entfaltenden Bewegungen,sind eine Wohltat für Körper und Geist,öffnen und befreien die Gelenke und ent-wickeln einen starken und geschmeidigenKörper.Die Besonderheit des Chen Taijiquan istdie Bewegung im Inneren und aus dem In-neren des Körpers heraus, das heißt dieBewegungen entspringen unterhalb desNabels im „Dantian“ und setzen sich dannin einer fließenden, spiralförmigen Bewe-gung durch Bauch, Nieren, Leber,Darm, Herz und Lunge weiter über dieSchultern, die Ellenbogen bis hin zu denHänden fort. Für die unteren Extremitätengilt das gleiche. Hier fließt die Bewegungdurch das Becken über Hüften, Kniege-lenke und Sprunggelenke bis zu denZehen (s. Abb. 2, S. 4).Sizheng Taijiquan verwendet die vierHauptleitbahnen (Mi, Lu, Dü, Bl; deshalbder Name „Vier Hauptrichtungen“) und re-guliert das Verhältnis von Yin und Yang imKörper. Die speziellen Bewegungen der in-neren Organe und die Bauchatmung för-dern die Verdauung und regen den Blut-fluss an, erhöhen den Stoffwechsel undharmonisieren die Muskulatur durch Lö-sen von Verspannungen im Körper. Regel-mäßiges Üben unter Anleitung eines er-fahrenen Lehrers oder Therapeuten ver-bessert so die Körperstruktur und dieBeweglichkeit, Beweglichkeit sowohl kör-perlicher als auch geistiger Art.

Die geistige Beweglichkeit wird durch dasErlernen der Bewegungsbilder, ihre koor-dinierte Abfolge, die anwendungsspezifi-schen Ausformungen der einzelnen Bildersowie die Schulung der Achtsamkeit undVorstellungskraft gefördert. Die Wirkungkann nicht nur von Patienten erlebt wer-den, sondern wurde auch in verschiede-nen Studien nachgewiesen. Leider wirdder kämpferische Aspekt heutzutage ver-nachlässigt. Erst durch ihn entfaltet sichfür den Praktizierenden die volle Wirkkraftdes Taijiquan. Denn nur so lassen sich inspeziellen Partnerübungen die korrekteKörperhaltung und -dynamik überprüfenund werden für den Patienten spürbar.Moderne Körperpsychotherapie spiegeltexakt diese Anwendungsform, die auf dieFörderung der verkörperten Selbstwahr-nehmung (Embodiment) zielt. Es wird aufKörperstatik und -bewegung, das Festhal-ten der Muskulatur in ihren Mustern undAnspannungen, und auf Bewegungsein-schränkungen der Patienten geachtet undaufmerksam gemacht (s. Tab., S. 8). Zu-sätzlich achtet der Patient auf die At-mung, auf Körperrhythmen, sowie aufEmotionen und Empfindungen.

Wie entfaltet Taijiquanseine Wirkung?

Körperpsychotherapie und Taijiquan ba-sieren auf der Annahme, dass Körper,Geist und Seele nicht trennbar sind. Allegeistigen, emotionalen und körperlichenProzesse des menschlichen Organismus

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unterstehen der Ganzheit des Selbst undsind untrennbar miteinander verbunden.Als systemische Therapieform nimmtdie Körperpsychotherapie Einfluss aufKörper und Seele in gleichem Maße. DerTherapeut findet Zugang zur Seele des Pa-tienten über den Körper, seelische Leidenwerden über den Körper ebenso thera-piert, wie körperliche Leiden über die Sta-bilisierung der Emotionalität und das Wie-derherstellen des seelischen Wohlbefin-dens.

Hier schließt sich der Kreis: körperliche so-wie psychisch-emotionale Leiden werdengleichzeitig und sich gegenseitig beeinflus-send über Körper und Geist behandelt. Yinund Yang ergänzen und bedingen sich ge-genseitig.

Taijiquan besteht aus Atem- und Bewe-gungsübungen, die mit einem Zustand„gefühlter Aufmerksamkeit“ zur Lenkungdes Bewusstseins und der eigenen Absichteinhergehen. Dabei spielt die Schulung

der gelenkten vegetativen Propriozeptioneine zentrale Rolle (s. Abb. 3). Die Ver-besserung der Propriozeption eröffnetneue Möglichkeiten der funktionellenKorrektur und fördert die Entwicklung ei-nes emotional ausgeglichenen Lebens-stils.Bei therapeutischer beziehungsweise sa-lutogener Anwendung werden sowohl dieHerstellung als auch die Erhaltung der Or-thopathie, der „Geradläufigkeit“ der Le-bensenergie (qi), angestrebt, ein Zustandder vegetativen Euregulation. Der wirdbei längerem Üben des Taijiquan neurolo-gisch gebahnt und synaptisch ausge-formt. Im chinesischen Verständnis wirddieser Zustand der Orthopathie als innererZustand erworben und zu einem Bestand-teil der eigenen Struktur, des „yin“, ge-macht.Das ermöglicht die Anwendung des Taiji-quan im Rahmen der Prävention, um dys-funktionale vegetative Zustände aktiv zuvermeiden, insbesondere bei Krankheits-prädispositionen, bei denen das Vegetati-vum eine zentrale Rolle in der Pathogene-se spielt. Darüber hinaus wird durch dasbeständige Üben von Taijiquan ein im In-neren fühlbarer, emotional wie vegetativausgeglichener Zustand erzeugt. Der hatpsychotherapeutische Bedeutung bei derStabilisierung der Emotionalität, zumBeispiel zur Vermeidung depressiver Zu-stände.Ein dritter Gesichtspunkt ist die allmähli-che Relativierung der psychisch-menta-len negativen Besetzung von Konflikt-konstellationen (z. B. Burn-out), die zursomatopsychischen Neubewertung imRahmen eines therapeutischen Prozessesbeiträgt. Schließlich wird die Orthopathieoptimiert, das heißt der qi-Fluss zweckge-richtet gestaltet und damit die Leistungs-fähigkeit gesteigert, im psychisch-physi-schen Sinne, bei der Kampfkunstanwen-dung des Taijiquan selbst und zurVerbesserung der Erkenntnis- und Erle-bensfähigkeit.

Aus der Praxis

Fallbeispiel 1Gisela F. (55) leidet seit Jahren unter an-derem unter rezidivierender Depression.Neben Akupunktur und chinesischer Arz-neitherapie wird sie mit Taijiquan-Übun-gen therapiert.Der depressive Zustand der Patientin führtzu einem „Hängenbleiben“ in der Wand-lungsphase „Metall“ – das pulmonale qi,

Abb. 3: Die beiden Bilder zeigen die gezielte Lenkung der Energie (qi) in den Positionen„Zurückholen – chushou„ (links) und „Lange Robe am Bund befestigen – lanzhayi“.

Wir kennen "Yin und Yang" aus der chinesischen Philosophie. Besonders bekannt ist das weitverbreitete Symbol des Prinzips Taijitu. In diesem schwarz-weißen Kreis mit den beidenPunkten und der wellenartigen Trennung steht das weiße Yang für hell, hart, heiß, männlich,aktiv und Bewegung, während das schwarze Yin für dunkel, weich, kalt, weiblich, passiv undRuhe dargestellt wird. Ähnlich dieses Konzepts soll Taijiquan die Balance zwischen Körper,Seele und Geist finden und herstellen. Foto: Fotolia - krissikunterbunt

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Literaturhinweis

das den Rhythmus vorgibt, ist zu schwachausgeprägt und reicht nicht aus, um diePatientin aus ihrer Depression herauszu-bewegen.

TherapieDie Taijiquan-Übungen, die das qi in derpulmonalen Leitbahn zum Fließen brin-gen, werden mit Atemtechniken, die dasEinatmen betonen, um somit das hepati-sche qi (Holz) zu aktivieren, kombiniert.Darüber hinaus werden Vorstellungskraftund Absicht (yi) trainiert, um die dysfunk-tionalen Kognitionen und Gefühle der Pa-tientin in Richtung einer sanften Um-strukturierung zu lenken.Beim Taijiquan geht der Blick normaler-weise zu den Händen. Die Anweisungenfür die Bewegungen gehen vom Bewusst-sein aus und die Hände folgen dement-sprechend. Die Augen erfassen diese In-formationen und leiten sie ans Gehirnweiter. So bilden Bewusstsein und Bewe-gung eine Einheit. Gefühle und Vorstel-lungen werden über den Körper ausge-drückt. Man betritt die Welt seines eige-nen Geistes und stellt sich die Szenerievon Bewegungen und Anwendungen vor.

ErgebnisDie Patientin fühlt sich jetzt deutlich ak-tiver und hat wieder mehr Lebensmut.Auch ihre anderen Beschwerdebilder ha-ben sich gebessert. Sie berichtet, dass ihrdie Taijiquan-Übungen ein Werkzeug andie Hand geben, mit dem sie selbst inter-venieren kann, sobald sich wieder negati-ve Gefühle einstellen. Diese verschwindendann auch rasch wieder.

Fallbeispiel 2Ian O. (45), IT-Fachmann und Mitgliedunserer Taijiquan Übungsgruppe, litt seitJahren an Rücken- und Knieschmerzen.Selbst eine Knie-OP brachte keine Linde-rung.

Therapie und ErgebnisErst die Korrektur einer Fehlhaltung, diesich seit Jahren eingeschlichen hatte undals natürlich empfunden wurde, ließ so-wohl die Rückenschmerzen als auch dieKnieschmerzen verschwinden.Das regelmäßige Üben der Taijiquan Formunter Anleitung eines erfahrenen Lehrersund wiederholter Überprüfung der einzel-nen Bilder in Bewegung und Körperstruk-tur auf ihre korrekte Ausführung hin,konnte das dysfunktionale Muster durch-brechen, das unbewusste Festhalten derMuskulatur lösen und so durch gelenkte

Propriozeption und sensomotorischeRückmeldung die Orthopathie dauerhaftherstellen.

Fazit

Viele klinische Studien belegen mittler-weile die positive Wirkung des Taijiquan.Exemplarisch soll hier nur hingewiesenwerden auf die Verbesserung des Gleich-gewichtsgefühls bei älteren Menschen,die Verbesserung der Koordination, derBeweglichkeit und des Depressionssynd-roms bei Patienten mit Multipler Skleroseund Morbus Parkinson, die Verbesserungkörperlicher, mentaler und kognitiverFunktionen, die emotional positive Wir-kung bei Krebspatienten, die Steigerungder Leistungsfähigkeit bei COPD-Patien-ten, und vieles mehr.Der gesundheitsfördernde Effekt des Taiji-quan liegt in der inneren und äußeren Be-wegung. Taijiquan erhält und verbessertdie körperliche und geistige Beweglich-keit, reguliert die E-motio, die Heraus-Be-wegtheit und fördert damit die psychi-sche Stabilität des Übenden. $

Seit mehr als 30 Jahren ist Dr. rer. nat.Wilfried Schmidt für die Gesundheit tä-tig – in Forschung, Lehre, Industrie undPraxis. Als TCM-Therapeut, Coach undTaijiquan-Lehrkraft der GCT (Gesell-schaft zur Erforschung und Praxis desKleinen Rahmens Chen Clan Taijiquane. V.) und ISCT (International Society ofChen Taijiquan) widmet er sich in be-sonderem Maße der Erforschung saluto-gener und therapeutischer Grundlagensowie Anwendungen des Taijiquan alsintegrative, das heißt senso-motori-sche und psycho-vegetative Körper-und Bewegungstherapie.

Kontakt:Dr. Wilfried SchmidtHambacher Str. 1267125 Dannstadtwww.qimed.de

Dr. rer. nat. Wilfried Schmidt

Chen, Peiju / Qiao, Fenglie: “Kommentare zu den grafi-schen Erläuterungen zum Taijiquan des Chen Clans„, Ver-lag Dietmar Stubenbaum, 2016Chen, Peishan: “Sizheng Taijiquan – Essentielle Einfüh-rung in das Taijiquan der vier Hauptrichtungen„, DVD,2015 [zu beziehen über “Die Pagode„ www.die-pago-de.de]Porkert, Manfred: “Die theoretischen Grundlagen der chi-nesischen Medizin„, Acta Medicinae Sinensis, 1991Schmidt, Wilfried: “Die Wandlung des Selbst durch diePhänomenalität des Taijiquan – Eine gesundheitsphiloso-phische und vergleichende Analyse zum Taijiquan, 2017[Essay kann über den Autor oder die Gesellschaft zur Erfor-schung und Praxis des Kleinen Rahmens Chen Clan Taiji-quan e.V. angefordert werden]Wilhelm, Richard: „I GING (Yijing) - Das Buch der Wand-lungen“, Diederichs gelbe Reihe, 2001

Yang-Typ Yin-Typ

Vorderfußbelastung Belastung der Ferseverstärkte Lordose in LWS/HWS

Kyphose in LWS/HWS

Tonuserhöhung der Rückenmuskulatur

Tonuserhöhung der Bauchmuskulatur

Becken in anteriorer Rotation

Becken in posteriorer Rotation

Flexion der Hüfte Extension der HüfteHyperextension der Knie

Flexion der Knie

Tiefstand des Zwerchfells Atmung erschwertdurch Einatemstellung

Hochstand des Zwerchfells Atmung erschwertdurch Ausatemstellung

Absenken aller Bauch­organe durch Dehnung und Erschlaffung der Bauchmuskulatur

Kyphose der LWS bewirkt Hypertension der Nackenmuskulatur und Degeneration der LW­Muskulatur

Belastung im hinteren Teil der Wirbelsäule

Belastung im vorderen Teil der Wirbelsäule

Regulation über posteriore Muskelkette (yang­Leitbahnen)

Regulation über anteriore Muskelkette (yin­Leitbahnen)

Tab.: Yin- beziehungsweise Yang-Musterbei Dysbalance