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Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Erste Sitzung 20.10.2009)

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Christian Thies

Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

Vorlesungan der Philosophischen Fakultät

der Universität Passauim Wintersemester 2009/10(Erste Sitzung 20.10.2009)

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Erster Termin (20.10.2009)

1. Eigene Vorstellung

2. Vorstellung der Teilnehmer(innen)Vorwissen, Erwartungen, Fragen

3. Überblick zum geplanten Programm

4. Thema heute: Die Grundbegriffe(I) Kultur(II) Gesellschaft (III) Geschichte

5. Ausblick auf den nächsten Termin

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Inhaltlicher Überblick

(a) Grundbegriffe(I) Kultur

(II) Gesellschaft

(III) Geschichte

(b) Zum Verhältnis der drei philosophischen Disziplinen

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(I) Was ist „Kultur“?

1. Vorbemerkung: Wort – Begriff – Terminus

2. Vorbemerkung:„Kultur“ ist einer der unklarsten Begriffe überhaupthilfreich ist die Orientierung an(a) „Gegenbegriffen“ (die man üblicherweise abwertend

gebraucht)(b) „Konkurrenzbegriffen“ (die „Kultur“ ihren Rang als

Grundbegriff streitig machen, nämlich „Gesellschaft“ und „Geschichte“)

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Begriffsgeschichte

lat. colere = drehen, wenden, bebauen cultura = Ackerbau

CICERO 45 v.u.Z. („Gespräche in Tusculum“ II 11): cultura animi (= Pflege des Geistes)

Christliches Denken: cultura Christi

Samuel PUFENDORF 1686: zum ersten Mal „Kultur“ ohne Genitiv

durchgesetzt seit Johann Gottfried HERDER, „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791)

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Der Begriff „Kultur“

Vorschlag einer Typologie:

• Kultur1 – Gegenbegriff „Natur“ KULTUR

• Kultur2 – Gegenbegriff „Barbarei“ Kulturraum

• Kultur3 – Gegenbegriff „Zivilisation“ kultureller Sektor

• Kultur4 – Gegenbegriff „Unterhaltung“ ästhetische Kultur

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(1) „KULTUR“

• Gegenbegriff „Natur“als das, was ohne beständiges Zutun des Menschen ist

• Gegenstand: allgemein-menschliche, nicht durch innere Natur (Gene) oder äußere Natur (Umwelt) determinierte Eigenschaften

• Beispiele: Vernunft, Sprache (allgemein), Sozialität, Technik, Religiosität, Kunst …

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(2) „Kulturraum“

• Gegenbegriff: früher „Barbarei“, heute ein anderer Kulturraum oder „Kulturkreis“

• Gegenstand: die ursprünglich geographisch gebundene Kombination von bestimmten lebensrelevanten Merkmalen (eine bestimmte Sprache, Sittlichkeit, Religion, Wirtschaft, Politik …)

• Beispiele: Westen – islamische Kultur – (Größeres) China usw.in der Regel größer als staatlich verfasste Gesellschaften

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(3) „kultureller Sektor“

• Gegenbegriff: „Zivilisation“, heute „Wirtschaft“, „Politik“ u.a.als ein Teil einer (staatlich verfassten) Gesellschaft, also kleiner als

diese

• Zwei Gegenstandsbestimmungen (mit Beispielen)(a) systemtheoretisch i.w.S.

– „Ideologie“ (Marxismus)– „kulturelles System“ (Strukturfunktionalismus)

(b) institutionentheoretisch– Schul- und Bildungswesen– Kirchen– Massenmedien

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(4) „Ästhetische Kultur“

• Gegenbegriff: früher „Unterhaltung“, „Volkskunst“ oder „Kulturindustrie“

• Gegenstand: Hoch-, Volks- und Subkulturen; E- und U-Kultur

• Beispiele: Wagner-Opern – Jazz – Hip-Hop

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Gibt es allgemeine Merkmale?

• geschaffen, nicht gewachsen• durch gemeinsame Anstrengung, nicht allein

kulturelle „Muster“ (Regeln, Werte u.a.)

• zum großen Teil implizitdie explizit werden durch die Begegnung mit anderen

• dynamisch, nicht statisch• positiv, wertvoll, bewahrenswert

– Kultur als politischer Kampfbegriff– normative und deskriptive Verwendungsweise

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Was ist „Kulturphilosophie“?

(1) „KULTUR“ (universale) Kulturanthropologie

(2) „Kulturraum“ vergleichende Kulturtheorie (und „interkulturelle Philosophie“)

(3) „kultureller Sektor“ sozialphilosophische Kulturtheorie

(4) „ästhetische Kultur“ allgemeine Ästhetik (inkl. Medientheorie)

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Das Wort „kulturphilosophisch“

Gottfried SEMPER 1803 Hamburg – 1879 Rom

berühmte Bauten: Oper und Gemäldegalerie in Dresden, ETH in Zürich, Kaiserforum in Wien

Brief von der Weltausstellung 1851 in London:

Die Künste, die Industrie, die Wissenschaften seien herausgefor-

dert, sich den „kulturphilosophischen Fragen“ zu stellen, wofür es

sich nämlich rechtfertige, „so gewaltige und kostspielige Mittel in

Bewegung gesetzt zu haben“.

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Crystal Palace in London (1851)

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„Kulturphilosophie“

• erster Beleg: Ludwig STEIN (1859-1930), „An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie“ (1899)

• viele andere deutsch-sprachige Autoren greifen den Begriff in den nächsten Jahren auf (u.a. Rudolf EUCKEN 1904, Ernst KRIECK 1910, Albert SCHWEITZER 1923)

• manchmal mit der Philosophie insgesamt gleichgesetzt

• ca. 1960 faktisch am Ende, eigentlich schon 1933

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Was ist „Kulturwissenschaft“?

(a) Deutsches Kaiserreich: spezielle deutsche Strömung, entstanden aus dem Neukantianismus und dessen Kulturphilosophie

(b) USA: Ethnographie cultural anthropology

(c) DDR: seit 1964 als interdisziplinäres Fach für „Kulturschaffende“

(d) Großbritannien: genaues Studium lokaler Praktiken („cultural studies“ seit den 1970er Jahren)

(e) heute: Alternative zu den Geistes- und Sozialwissenschaften

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Abfolge von „Mode-Paradigmen“in der deutsch-sprachigen Philosophie

1900 bis 1933 „Kultur“

1933 bis 1945 „Volk“ (oder sogar „Rasse“)bereits seit Herder, spätestens seit Nietzsche vorbereitet

Vorläufer einer „rassisch-völkischen Kulturphilosophie“ sind Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain

1945 bis 1960 „Mensch“

„Philosophische Anthropologie“ seit 1928

1960 bis 1985 „Gesellschaft“ (und „Geschichte“)

„Frankfurter Schule“ seit 1930, dann Exil, dominant seit 1965

seit 1985 „Kultur“

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(II) „Sozialphilosophie“

• erster Beleg: 1843 bei Moses Heß (1812-1875)• nicht bei Marx und Engels• Ende des 19. Jahrhunderts bei Georg Simmel und Rudolf

Stammler (1894) sowie Ludwig Stein (1897) • Streit mit der sich etablierenden Soziologie

(1910 Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“)

• 1931 Max Horkheimer („Frankfurter Schule“):

Sozialphilosophie (= kritische Gesellschaftstheorie)• 1958 scharfe Polemik von René König gegen philosophische

Elemente in der Soziologie („Fischer-Lexikon Soziologie“)

• seit 1985 Niedergang der Sozialphilosophie und Abkopplung der Soziologie von der Philosophie

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Was ist „Gesellschaft“?

nicht gemeinte Wortbedeutungen:• konkret-räumliches Zusammen-sein von zwei oder

mehr Menschen (Etymologie: ahd. sal = Raum Wohnung; Geselligkeit, Geselle, „da bist du aber in guter Gesellschaft …“)

• institutionalisierte Form einer menschlichen Vereinigung („Aktiengesellschaft“, „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, „Deutsche Gesellschaft für Philosophie“ u.a.)

• eine spezifisch historische Erscheinungsform, nämlich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft (im Unterschied zu „Volk“/„Nation“ und „Staat“)

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Was ist nicht „Gesellschaft“?

• nicht das Territorium, auf dem eine Menschenmenge lebtim Unterschied zu Staaten brauchen Gesellschaften überhaupt

kein (festes) Territorium (Nomaden, Internet-Gemeinschaften)

• nicht die Summe der Individuen sondern „das „Zwischen“ (Martin Buber), „das Soziale“ (Leopold

von Wiese), die zwischenmenschlichen Beziehungen

• nicht die Institutionen oder Verbände, in denen die Individuen mehr oder weniger freiwillig Mitglied sindinsbesondere nicht der Staat oder die Bürgerschaft (nicht civitas,

sondern societas)

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Soziologische Grundbegriffe

Der Grundgegensatz:• Gemeinschaft – Gesellschaft (seit Ferdinand TÖNNIES

1887: Die Gemeinschaft bestimmt das Individuum und dieses bedient sich der Gesellschaft)

Weitere Grundbegriffe:• die Masse (Gustave Le Bon, „Psychologie der Massen“, frz. 1895)

• die Gruppe (Charles H. Cooley, „Social Organisation“, 1909: Primär- vs. Sekundärgruppen)

• der Bund (Hermann Schmalenbach, 1922)

• der Verband (Max Weber, „Wirtschaft und Gesellschaft“, § 12)

• die Institution

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Max WEBER

nach „Wirtschaft und Gesellschaft“ § 9• Vergemeinschaftung

eine soziale Beziehung, die auf subjektiv gefühlter (affektueller

oder traditionaler) Zusammengehörigkeit beruht

• Vergesellschaftungeine soziale Beziehung, die auf (wertrational oder zweckrational

bedingten) Interessen beruht

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Niklas LUHMANN: Systeme

• Maschinen

• Organismen

• psychische Systeme

• soziale Systeme(a) Interaktionen („mikro-sozial“)

(b) Organisationen („meso-sozial“)

(c) Gesellschaften („makro-sozial“) nur eine Gesellschaft, die Weltgesellschaft?

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Jürgen HABERMAS

• soziale Integration LebensweltTeilnehmerperspektivesymbolische Koordination aus dem Horizont der Handelnden selbst(gemeinsame Situationsdeutungen, akzeptierte Normen)

• systemische IntegrationBeobachterperspektivefunktionale Koordination über die Effekte der Handlungen mit Hilfe „symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien“ (Geld, Macht)

Gesellschaften als „systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“ (Habermas, TdKH II: 228)

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Ein berühmter Einwand

Margaret THATCHER (*1925, 1979-1990 GB-Premierministerin)

„They are casting their problems at society. And, you

know, there's no such thing as society. There are

individual men and women and there are families.“(Interview vom 23.9.1987, veröffentlicht in „Woman‘s Own“ am

31.10.1987)

Das Zitat geht folgendermaßen weiter: „And no government can do anything

except through people, and people must look after themselves first. It is our

duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours.“

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Was ist denn jetzt „Gesellschaft“?

• dynamische soziale Strukturen bzw. Strukturgefüge• verselbständigt gegenüber den Intentionen der

Individuen („Entfremdung“)• bestimmend für die historischen Tendenzen einer

Lebenswelt • heute nicht mehr monolithisch, sondern

polyzentrisch (verschiedene Teilsysteme)Ökonomie, Politik/Verwaltung, Technik, Massenmedien …

• heute nicht mehr (national-)staatlich verfasst

Tendenz zur „Weltgesellschaft“

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Drei Entdeckungen

1. Sophistenvor allem ANTIPHON (5. Jh. v.u.Z.)Unterschied Natur (physis) – Kultur (thesis, nomos)

2. Ibn Chaldun (1332-1406)„Zusammengehörigkeitsgefühl“ (asabiyya) „kollektive Identität“

3. Schottische Sozialtheoretiker„result of human action, but not of human design“ (Adam FERGUSON 1767) „unsichtbare Hand“ (Adam Smith“) „spontane Ordnung“ (F.A. v. Hayek) oder „autopoietisches System“ (Luhmann)

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(III) Was ist „Geschichte“?

1. Grundunterscheidung• Geschichten (Plural)• die Geschichte (als Kollektivsingular)

2. Grundunterscheidung• res gestae = wörtlich: die ausgeführten Dinge; die

Dinge, die geschehen sind• historia rerum gestarum = das Wissen von den

Dingen, die geschehen sind

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Stufen der Erkenntnis (1)

1. res gestaealles, was geschehen ist (Vergangenheit)die objektive Ereignisfolge als historisches „Ding an sich“

2. memoria rerum gestarumalles, was vom Geschehen übriggeblieben ist (materiell oder ideell) geschichtliche Tatsachen die zur Vergegenwärtigung des Vergangenen führen Geschichtserinnerung und Geschichtsbewusstsein

3. historia rerum gestarumdas Wissen um das Geschehene historische Tatsachenals symbolisch vermittelte Rekonstruktion der Erinnerung

(nach Relevanzkriterien und meist in narrativer Organisation)von der mündlichen Erzählung zur schriftlichen Darstellung

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Stufen der Erkenntnis (2)

4. Geschichtswissenschaft

wissenschaftliche Bearbeitung und kritische Prüfung dieser symbolischen Rekonstruktionen („Historio-logie“)

ähnlich dem Übergang Ethnographie Ethnologie

5. Geschichtsphilosophie

(a) formal: Meta-Theorie der Geschichtswissenschaft

(b) material: „philosophische Sinndeutung der Geschichte“ (Iring Fetscher)

als Abschluss, aber auch als Grundlage der früheren Stufen

(„Theoriebeladenheit der Beobachtung“, implizite Werturteile)

Zirkel bzw. Dreieck Empirie/Theorie/Wertung

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„Geschichtsphilosophie“(oder „Philosophie der Geschichte“)

geprägt von VOLTAIRE 1764 in einer Rezension von HUMEs „History of Great Britain“ (1752-1758)

gegen eine rein theologische und eine rein empirische Darstellung der Menschheitsgeschichte

in Deutschland verbreitet seit Johann Gottfried HERDER, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774)

ihm folgen die „großen Drei“ KANT – HEGEL – MARX

parallel zur Entstehung der Geschichtswissenschaft (im Zeitalter des Historismus)

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Merkmale der Geschichtsphilosophie

im Unterschied zur Geschichtswissenschaft• holistisch (auf das Ganze gerichtet, zumindest

implizit), insofern Bezug zur „Universalgeschichte“

• evaluativ (mit Werturteilen, die begründet werden)

• praxisbezogen (Deutung der Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart mit Perspektive auf die Zukunft) – insofern nicht ablösbar von einer „Zeitdiagnose“

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Geschichtsbilder

These: Jeder Mensch hat ein Geschichtsbild.

also eine Auffassung von Wesen und Richtungssinn der Geschichte

das gilt auch für Denker, die keine eigene Geschichtsphilosophie vorgelegt haben (Platon, Aristoteles, Hobbes, …), in besonderem Maße für Politiker (Bismarck, Churchill)

Diese Geschichtsbilder sind Teil umfassender Weltbilder, die auch

Selbst- und Menschenbilder enthalten.

In der Philosophie werden solche „Bilder“ „rationalisiert“, d.h., in

eine diskursiv überprüfbare Form gebracht. Es bleiben bestenfalls

„Modelle“.

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Ein enger Zusammenhang

• Alle realen Gebilde haben eine Geschichte. In der Geschichtsphilosophie geht es um die Geschichte der Menschheit bzw. um die Geschichte von Gesellschaften und Kulturräumen im Rahmen der Menschheitsgeschichte.

• Wenn wir Menschen keine KULTUR hätten, würden sich zeitliche Veränderungen im Rahmen der biologischen Evolution (bzw. der Naturgeschichte) abspielen.

• Welche Rolle spielt der kulturelle Sektor in Gesellschaften und damit in der Geschichte?

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Weitere wichtige Fragen

• Wie kam es zur Herausbildung von KULTUR und Kulturräumen?

• Welche Faktoren (Triebkräfte) bestimmen gesellschaftliche Entwicklungen und damit die Geschichte?

• Wie lässt sich die Geschichte periodisieren? (Zäsuren, „Kulturschwellen“)

• An welchen Maßstäben bewerten wir Kultur, Gesellschaft und Geschichte?

• Welchen Richtungssinn hat der historische Verlauf? Gibt es Fortschritt? Was darf ich hoffen?

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Philosophie

• formale, reflexive und normative Disziplinen – Logik– Semantik (Sprachphilosophie)– Erkenntnistheorie Wissenschaftstheorie– Ethik Rechtsphilosophie

• historisch-hermeneutische Ausrichtung Philosophiegeschichte

• interpretativ-integrative Disziplinen(a) Naturphilosophie(b) (philosophische) Anthropologie(c) Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

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Denken und Forschen

• Immanuel KANT: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV A 51/B 75)

Es gibt zwar Kultur-, Sozial- und Geschichtswissen- schaft ohne Philosophie, aber diese sind „blind“! Ebenso wären aber auch Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie ohne Bezug auf die entsprechenden empirischen Wissenschaften „leer“!