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Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Elfte Sitzung 12.1.2010)

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Christian Thies

Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

Vorlesungan der Philosophischen Fakultät

der Universität Passauim Wintersemester 2009/10

(Elfte Sitzung 12.1.2010)

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12.1.2010 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10

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Ankündigung

Donnerstag, 21.1.2010, 19:00 Uhr s.t.

Seminarraum 26 im WIWI-Gebäude

Vortrag von Frau Ingrid Gaudlitz-Liebl:

„Moralische Schuld als soziales Konstrukt?

Ethische Aspekte der Resozialisierung von Straftätern“

im Rahmen des Seminars „Rationalität, Willensfreiheit,

Verantwortung“ von Birgit Beck

Gäste sind willkommen!

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Elfter Termin (12.1.2010)

(1) Wo stehen wir jetzt? Zwischenbilanz

(2) Jacob BURCKHARDT

(3) Friedrich NIETZSCHE

(4) Ausblick auf den nächsten Termin

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Geschichtsphilosophie

Hintergrund: Gesamtdeutung einer kollektiven

Gegenwart ( Sozialphilosophie) auf der Grundlage empirisch bewährter Erkenntnisse

im Vergleich zu vergangenen Epochen

und im Vorgriff auf die Zukunft (zumindest mit

Aussagen über gegenwärtige Tendenzen)

Für die Bewertung sind normative Maßstäbe nötig.

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Klassische (deutsche) Geschichtsphilosophie

• KANT POPPER: wir können die Geschichte so betrachten, als ob es in ihr einen Fortschritt zu demokratischen Institutionen gibt – und dann sollten wir entsprechend handeln

• HEGEL FUKUYAMA: wir sind am „Ende der Geschichte“ angelangt, weil es keine besseren normativ-politischen Ideen mehr gibt

• MARX WALLERSTEIN: die krisenhaft verlaufende Geschichte ist weiterhin geprägt durch soziale Antagonismen

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Fortschrittsskepsis

• KANT: Das Leben ist so elend und mühselig, dass es keiner ein zweites Mal leben möchte.

• HEGEL: Die Perioden des Glücks sind in der Geschichte leere Blätter; die Geschichte ist eine Schlachtbank und eine Schädelstätte.

• MARX: Die Geschichte ist eine Abfolge von Entfremdung, Ausbeutung, Gewalt und Kampf.

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Zwei wichtige Defizite

in den Geschichtsphilosophien von Kant, Hegel und Marx sowie ihren Nachfolgern

(1) Fortschritt• Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Totalitarismus• Grenzen des Wachstums und ökologische Krise• generell Berücksichtigung der Kosten des Fortschritts

(2) Eurozentrismus• andere „Kulturkreise“• von der nationalen zur globalen Demokratie?• Begründung der normativen Maßstäbe

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Das weitere Programm

12.1. Fortschrittsskepsis: Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche

19.1. Die Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno, Walter Benjamin, evtl. noch Habermas)

26.1. Kulturkreislehren: Oswald Spengler und Arnold Toynbee

2.2. Der „Kampf der Kulturen“ (Huntington und die Folgen)

9.2. Versuch eines Fazits – Offene Fragen – Veranstaltungskritik

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Arthur SCHOPENHAUER (1788-1860)(„Die Welt als Wille und Vorstellung“, I § 51/II Kap. 38)

• Geschichtsschreibung ist keine Wissenschaft (vgl. Aristoteles)

• „Die Devise der Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter. Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt.“

• Geschichte ist bloß ein Oberflächenphänomen, „der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit“.

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Jacob BURCKHARDT

1818 geboren in Basel

1839-43 Studium in Berlin

u.a. bei Ranke und Droysen

1855 Professor für Kunstge- schichte an der ETH Zürich

1858-93 Professor in Basel

(1872 Ablehnung eines Rufs nach Berlin)

Bekanntschaft mit Nietzsche

immer konservativer und melancholischer werdend

1897 in Basel gestorben

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Die wichtigsten Werke Burckhardts

• Die Zeit Constantins des Großen (1853)• Cicerone (1855)• Die Cultur der Renaissance in Italien (1860)

danach fast nichts mehr veröffentlicht!

aber um 1870 frei gehaltene Vorlesungen „Über Studium

der Geschichte“ und öffentliche Vorträge, die sein Neffe

1905 herausgibt unter dem Titel „Weltgeschichtliche

Betrachtungen“

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Burckhardts Schlüsselerlebnisse

(1) Der Wert der Kunst

Die unübertroffene Schönheit

der Kunstwerke der

Renaissance in Italien,

vor allem RAFFAEL

(nicht Michelangelo)

später noch RUBENS

(nicht Rembrandt)

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Burckhardts Schlüsselerlebnisse

(2) Gegenwartskritik

Die negative Einschätzung der

Französischen Revolution und

ihrer Folgen

alteuropäische Kritik an der Moderne

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Burckhardts Ansatz

• Ablehnung jeder Geschichtsphilosophiekeine Subordination, sondern Koordination der Fakten

• faktengesättigt und empathisch vorgehend, interessiert am Großen und am Kleinen„Kulturgeschichte“, nicht Gesellschaftsgeschichte oder Geschichte

der Haupt- und Staatsaktionen

• alles im Dienst der Erkenntnis, und zwar der sinnlichen Erkenntnis („Anschauung“), nicht der Praxis

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Was treibt die Geschichte voran?

Die Lehre von den drei Potenzen:• Staat• Religion • Kultur

Bedingtheiten, keine Abhängigkeiten

Der dynamische Faktor ist die Kultur.

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Inhaltliche Grundlage

• Ausgangspunkt: der Mensch (WB 5f.)

• Unzulänglichkeit der Menschen„Die ‚Verwirklichung des Sittlichen auf Erden’ durch den Staat müßte tausendmal scheitern an der innern Unzulänglichkeit der Menschennatur überhaupt und auch der der Besten insbesondere.“ (WB 38)

• anthropologischer Optimismus Fortschrittsidee(Kritik an Rousseau, vgl. WB 67)

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Fortschrittskritik

• Fortschritt an Glück?„Wir müßten überhaupt suchen, den Ausdruck ‚Glück‘ aus demVölkerleben loszuwerden …“ (WB 260)

• Fortschritt an Freiheit?ja, als Zugewinn an Optionen, aber mit hohen Kosten (Sekuritätsbedürfnis)

• Fortschritt im Sittlichen?Egoismus und Altruismus (Aufopferung für Andere)

• Fortschritt im Intellektuellen?Spezialisierung und Überblick

Fortschritt: „der lächerlichste Dünkel“ (WB 256, vgl. 66, 253 u.ö.)

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Macht und Gewalt

• zeitgleich mit der Renaissance-Kunst äußerste Gewalttätigkeit (von der sich Burckhardt aus moralischen Gründen distanziert)

• Macht ist „an sich böse“ (WB 36, 97, vgl. 237 u. 242)

• ehrenvolle Kriege sind besser als Friedenszeiten

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Friedrich NIETZSCHE

1844 geboren1869 Professor in Basel (bis 1879)

wichtigste Einflüsse u.a.:• Schopenhauer• Richard Wagner

wichtigste Werke u.a.:1872 „Die Geburt der Tragödie …“1882 „Die fröhliche Wissenschaft“1883 „Also sprach Zarathustra“1888 „Der Antichrist“

Jahreswende 1888/89 Zusammen- bruch und geistige Umnachtung

1900 gestorben

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Geschichte bei Nietzsche

• „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874)

• „Zur Genealogie der Moral“ (1887)• Geschichte des (europäischen Nihilismus)• die Lehre von der „ewigen Wiederkunft“ des

Gleichen

überhaupt kein systematisches Werk

keine systematische Beschäftigung mit Geschichte

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Drei Arten der Geschichtsschreibung

(a) monumentalistisch

(b) antiquarisch

(c) kritisch

insgesamt Kritik an der historischen Bildung und am

„historischen Sinn“

Maßstab: „Leben“

(„Gesundheit“, „Leiden“, natürliche Ungleichheiten, „Wille zum Leben“ und „Wille zur Macht“)

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Elemente einer Geschichtsphilosophie

Dialektisches Drei-Phasen-Modell:

1. heroische Zeiten vor der griechischen Klassik (vgl. Heidegger, L. Klages u.a.)

2. „Dekadenz“1. Platon

2. Christentum

3. Demokratie (und Sozialismus)

• kommende Zeiten„große Politik“, „große Gesundheit“, „Übermensch“ u.a.

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Weitere Aspekte

• Geschichte des Nihilismus1. Christentum als Nihilismus, weil die Werte des Lebens nicht

mehr zählen

2. „müder Nihilismus“ der Gegenwart, dem nichts mehr wichtig ist

3. zerstörerischer Nihilismus, der die hemmenden Kräfte vernichtet

4. künftiger Nihilismus

• Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Grausamkeit. Gegenwärtig ist die Grausamkeit nur verdrängt und verinnerlicht.

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Kosten des Fortschritts(aus Sicht der „Kulturkritik“)

• materielle Fortschrittein und durch Ökonomie und Technik

Auf der anderen Seite aber „Verluste“ und „Rückschritte“:• Bildung

Erfahrungsverlust

• MoralKonformismus und Egoismus

• GlückAbnahme der subjektiven Zufriedenheit, „Pseudoglück“Verdringen der „niederen“ Bedürfnisse