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  • ClarkGeschrieben von: Harald Loch

    Christopher Clark: Die Schlafwandler Wer mit den vielen fragwrdigen Gewissheiten ber die Ursachen des Ersten Weltkriegsaufrumt, schafft zwangslufig neue. Christopher Clark, 1960 in Australien geborener Professorfr Neuere Europische Geschichte in Cambridge, hat das internationale Publikum mit seinergegen die gngigen Vorurteile geschriebenen Geschichte Preuens und mit seiner ebensogegen den Strich gebrsteten Biographie Wilhelms II. bereits hinlnglich berrascht. In seinemneuesten Coup gegen die Interpretation der Geschehnisse vor 100 Jahren zertrmmert er diemonokausalen Erklrungen mehrerer Generationen von Historikern. Ging es denen hufig umSchuld oder Abwehr von Schuldzuweisungen, spter um die Korrektur der mit solchenAbsichten verfassten Geschichtsschreibungen, zeichnet Clark das Bild einer komplexen Welt, indenen imperialistische Interessen und grobe Managementfehler im Juli 1914 zu einer von denAkteuren nicht mehr beherrschbaren Situation fhrten. Die Warnung an gegenwrtige undzuknftige Verantwortliche ist unberhrbar Clark braucht sie nirgends ausdrcklichausgesprochen zu werden. Der Konflikt um Syrien ist jedenfalls hnlich unbersichtlich. Bei der Lektre man will das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, so interessant,aufregend und wohlformuliert ist es bei der Lektre fllt zunchst das Gewicht auf, das derAutor der Situation auf dem Balkan beimisst. Natrlich: der Mord von Sarajewo an ErzherzogFranz Ferdinand, des reformfreudigen Thronfolgers der sterreich-ungarischenDoppelmonarchie, war der Funke, das wissen alle. Aber der Znder, der damit losging, ist indem Jahrzehnt zuvor auf dem Balkan geschrft worden. Der Niedergang des OsmanischenReiches rief die Gromchte in Petersburg und Wien auf den Plan und lie eine Reihe vonRegionalmchten entstehen, die wegen bergeordneter Interessen auch von anderen,geographisch eigentlich nicht involvierten Gromchten umworben wurden. Clark beschreibtminutis, wie es im Fall von Serbien dazu kam, dass der ursprngliche Darlehensgebersterreich-Ungarn durch Frankreich ersetzt wurde. Die seit der Niederlage von 1871 aufRevanche sinnende Grande Nation gewhrte Serbien grozgige Kredite, mit denen daskaum zahlungsfhige Land ein fr seine Verhltnisse schlagkrftiges Heer aufstellen und mitmodernen Waffen von Scheider-Creusot und nicht mehr von koda ausrsten konnte.Kapitalinteressen und strategische Partnerschaft gingen eine verhngnisvolle Liaison ein, dieein Baustein in dem Ursachengeflecht bildete. Clark untersucht Land fr Land und findet eineVielzahl von weiteren Bausteinen. Manche erscheinen ganz harmlos wie die Errichtung vonSchutzzllen auf Agrarprodukte. Andere Teilursachen macht er in der manchmaljahrzehntelangen Bekanntschaft der entscheidenden Akteure aus, die in den verschiedenenkleineren und greren Krisen persnlich aneinander geraten waren, sich bei Lgen ertappthatten, misstrauisch waren.

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  • ClarkGeschrieben von: Harald Loch

    In allen Lndern gab es Falken und Tauben. Die verworrenen politischenEntscheidungsprozesse in den Hauptstdten machten verantwortungsvolles und rationalesHandeln schwer. Die Geheimdiplomatie zwischen den Gromchten funktionierte im Licht einerimmer hhere Ansprche stellenden ffentlichkeit nicht mehr reibungslos. Ein rotes Telefonhtte eine Konferenzschaltung zu ein paar Dutzend Herrschern, Prsidenten, Ministern undOberbefehlshabern erfordert. In einer eindrucksvollen Gegenberstellung der Bndnisse von1887 und 1907 wird das ganze Fiasko der deutschen Politik nach Bismarck deutlich.Andererseits weist Clark auch auf Tendenzen zur Auflockerung innerhalb der Bndnisse hin:zwischen Frankreich, Russland und Grobritannien gab es nach wie vor erheblicheInteressengegenstze und gewichtige kulturelle Unterschiede. Die von Berlin nie ganzverstandene undurchsichtige Situation auf dem Balkan hatte auch zu Zweifeln innerhalb desDreibundes gefhrt, von dem sich Italien in Geheimabkommen mit Frankreich ohnehin so gutwie losgesagt hatte. Die Zertrmmerung der Legende von der Unvermeidbarkeit, derAlternativlosigkeit des Ersten Weltkrieges ist vielleicht das wichtigste Ergebnis diesesgroartigen Buches. Die Akteure waren blind fr die Zerstrungskraft der angehuftenMilitrpotenziale und folgten mitunter irrationalen, ihrer Persnlichkeitsstruktur geschuldetenHandlungsmotivationen. Christopher Clark sttzt seine Neubewertung der Gesamtzusammenhnge, die den Ausbruchdes Ersten Weltkriegs nicht verhindert haben, auf eine Vielzahl von Quellen und selbstabgelegene wissenschaftliche Untersuchungen. Wenn er die gngige Meinung zu einemTeilbereich dargestellt hat, fragt er unvermittelt Aber stimmt das auch? und relativiert mitbeeindruckender Urteilskraft manche zum geflgelten Wort gewordene Gewissheit. Mit allenheute noch relevanten Urteilen setzt er sich anhand der mittlerweile erforschten Faktenauseinander. Wenn dabei im Ergebnis eine neue Bewertung entsteht, lsst sie sich kurzzusammenfassen: Der Erste Weltkrieg war nicht unvermeidlich. Die Vorgeschichte zu 1914 wardie bislang komplexeste politische Situation, fr deren Beherrschung kein internationalesManagement und kein Personal zur Verfgung stand, das den Herausforderungen gewachsengewesen wre. Im Vorfeld wurde die Atmosphre durch Interessen vergiftet, die aufGebietserwerb und wirtschaftliche Vorteile zu Lasten anderer gerichtet waren. UnbersichtlicheEntscheidungsstrukturen verhinderten den Sieg der Vernunft: So gesehen waren dieProtagonisten von 1914 Schlafwandler wachsam aber blind, von Albtrumen geplagt, aberunfhig, die Realitt der Gruel zu erkennen, die sie in Krze in die Welt setzen sollten. Harald Loch

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  • ClarkGeschrieben von: Harald Loch

    Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) Mnchen 2013 895 Seiten mit 36 s/w Abb. 39,99 Euro

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