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Coburger Rückert-Preis 2016 SEMA KAYGUSUZ PR-Dossier

Coburger Rückert-Preis 2016 SEMA KAYGUSUZ · des Weinstocks an den Rispen eng zusammendrängt. Eiförmig, mit weißem Fruchtfleisch, die feuchte Schale rubinrot, die Kernchen paarweise;

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Coburger Rückert-Preis 2016 SEMA KAYGUSUZ

PR-Dossier

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INHALT Preisbegründung der Jury ................................................................................................. 2

Biografische Angaben ...................................................................................................... 4

Bibliografie ....................................................................................................................... 5

Romane und Erzählbände ............................................................................................. 5

Erzählbände in anderen Sprachen................................................................................. 6

Drehbuch ...................................................................................................................... 7

Essays ........................................................................................................................... 7

Medienresonanz ................................................................................................................ 8

Interview/Gespräch:...................................................................................................... 8

zu Barbarın Kahkahası (Das Lachen des Barbaren) 2015: ......................................... 8

zu Schwarze Galle (Matthes&Seitz 2013): ................................................................ 10

zu Yüzünde Bir Yer (Eine Stelle in deinem Gesicht) 2009: ........................................ 12

zu Wein und Gold (Suhrkamp 2008): ......................................................................... 14

Anhang 1: Textbeispiele ................................................................................................. 18

Abel, vom Raben begraben ..................................................................................... 18

A National Literature ............................................................................................. 20

Der Gott der Anderen ............................................................................................. 24

Multikulturalistische Reduktion .............................................................................. 25

La mémoire littéraire .............................................................................................. 27

Berlin - Pferdegefühl .............................................................................................. 31

Über Sema Kaygusuz ............................................................................................. 33

Interview mit Sema Kaygusuz ................................................................................ 34

Anhang 2: Bildmaterial .................................................................................................. 39

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Preisbegründung der Jury

Sema Kaygusuz gilt als eine herausragende Vertreterin der jüngeren türkischen Literatur und laut einer Umfrage der Zeitschrift Notos als „eine der größten schriftstellerischen Hoffnungen“ (Quelle: DAAD Künstlerprogramm). Sie machte sich früh einen Namen als Erzählerin in der Türkei, legte fünf Bände mit Kurzgeschichten und zwei Romane vor und ist im Augenblick vor allem mit Theaterarbeiten beschäftigt. Sema Kaygusuz hat alevitisch-kurdische und jüdische Wurzeln in der Familie und schreibt aus dem Bewusstsein dieser multikulturellen, zudem stark mystisch geprägten Tradition heraus. Mit den Religionen und ihren Ausprägungen geht Kaygusuz kritisch ins Gericht und vertritt stattdessen eine universelle Spiritualität. „Als eine Person, die das Leben aller Wesen auf Erden, ob Stein, Baum, Himmel, Vogel oder Meer, gleichermaßen schätzt und nichts heilig finden kann, um dessentwillen Blut vergossen wird, kann ich nur eine Erfahrung in Sachen Glauben anerkennen: Die unermessliche Tiefe im Empfinden des Mysteriums, das dem Menschen ein Gefühl unerschöpflichen Lebens schenkt.“, schreibt sie in einem Beitrag für die Zeitung „Der Tagesspiegel“. Ein anderer, aktueller Essay beschäftigt sich mit der Problematik des Völkermords an den Armeniern und dessen Verdrängung in der modernen Türkei („Abel, vom Raben begraben“). Sema Kaygusuz' Prosa ist musikalisch, eindringlich, bildhaft und dennoch gut verständlich. Die Schriftstellerin fühlt sich von der oralen Tradition gleich mehrerer türkischer Regionen inspiriert, aus Geschichten, Märchen und Legenden in verschiedenen Dialekten. „Meine Urgroßmutter war Erzählerin. Und ihre Tochter hat bei Hochzeiten Gedichte vorgetragen ... Ich schreibe alles auf, aber ich lese es mir dann laut vor. Wenn der Rhythmus nicht stimmt, ändere ich das. Ich arbeite mit den Worten, als wären es Musiknoten“, erklärte sie in einem Interview (Quelle: DAAD Künstlerprogramm). Auch in den Übersetzungen ins Deutsche durch verschiedene Übersetzer (Barbara und Hüseyin Yurtdas, Sabine Adatepe) kommt die klangvolle Sprache gut zum Ausdruck. Im Deutschen liegen bisher - neben Essays und einem Stadtportrait - zwei ihrer Bücher vor. „Wein und Gold“ ist ein heiterer, gut lesbarer Roman zu einem ernsten Thema: Die junge Bibliothekarin Leylan, die mit ihrem alkoholkranken Vater auf einer türkischen Insel in der nördlichen Ägäis lebt, deckt auf abenteuerliche Weise dunkle Familiengeheimnisse auf und erschafft aus ihnen einen neuen Mythos, der dem Leben des Vaters neuen Sinn schenkt und ihm zu einem guten Ende verhilft. „Schwarze Galle“, ein eher etwas schwerer lyrischer Skizzenband mit Erzählungen und Essays zum Themenbereich Melancholie und Schlaflosigkeit, stand 2014 auf der Litprom-Empfehlungsliste („Ein Buch von enormer poetischer Kraft, das an traurige Mythen und fröhliche Märchen rührt und dennoch so heutig ist, dass es teils sogar als politischer Kommentar gelesen werden kann.“ Katharina Borchardt) und auf der Shortlist für den LiBeratur-Preis. Zuletzt erschien auf Türkisch ihr Theaterstück „Sultan ve Şair“ (2013). Kurzbiographie: Sema Kaygusuz wurde 1972 in Samsun/türk. Schwarzmeerküste geboren. Als Tochter eines Soldaten, der oft versetzt wurde, lernte sie verschiedene Regionen der Türkei kennen. Sie studierte von 1990 bis 1994 Kommunikations-wissenschaften an der Gazi-Universität/Ankara, begann als Studentin zu schreiben, und befasste sich mit Hörspiel, Choreographie und Theater. Sie erhielt diverse Auszeichnungen für ihre Erzählungen in der Türkei. 2008 war sie Stadtschreiberin in Berlin im Rahmen des Austauschprogramms „Der nahe

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Blick“ von Goethe-Institut/literaturhaeuser.net; 2010 Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, sowie Gast bei diversen internationalen Programmen des Goethe-Instituts Istanbul. Auf Deutsch liegen vor: Wein und Gold. Roman. Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas und Hüseyin Yurtdas. Frankfurt: Suhrkamp 2008. Schwarze Galle. Geschichten. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. Berlin: Matthes&Seitz 2013. „Istanbulreigen“ (Stadtportrait), aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. In: Lettre International (88/2010). „Der Gott der anderen Leute“ (Essay). Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. In: Tagesspiegel/Berlin, 17.01.2011. http://www.tagesspiegel.de/kultur/tuerken-und-islam-der-gott-deranderen-leute/3705250.html „Eine Stelle in deinem Gesicht“ (Romanauszug), aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. In: SPRITZ Sprache im technischen Zeitalter (195/2010). http://www.spritz.de/index.php?module=Pagesetter&func=viewpub&tid=4&pid=74 „Abel, vom Raben begraben“. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. In: Lettre International Heft 108, Frühjahr 2015. https://www.lettre.de/beitrag/kaygusuz-sema_abel-vom-rabenbegraben. Textbeispiel: Ich bin keine Weinexpertin. Bis heute habe ich den Shiraz nicht gekostet. Ich habe keine Ahnung, wie die Sultaninentraube duftet, wie das Aroma des Muskatellers ist, und ob der Çalkarası wirklich leicht nach Honigmelone und Erdbeeren riecht. Ich bin nur mit den Weinsorten meiner Insel verwandt. Die Herbheit des dunklen Karasakız und den ins Bernsteinfarbene spielenden Vasilakis erkenne ich auf Anhieb an ihren unberechenbaren Aromen. Andererseits verfüge ich über eine Ethik, von der ich Weinfachleuten nichts sagen will. Um den Wert eines Weines zu schätzen, habe ich einen geheimen Tempel in meinem Inneren errichtet. Einen Tempel der Traube, der sich direkt in meinem Magen verbirgt… Immer wenn ich einen Schluck Wein trinke, erscheint in jenem ersten Gedanken, der meinen Mund erfüllt, die Traube. Das ist die Göttertraube, die alle Trauben der gesamten Insel einschließt. Es ist eine makellose ‹Idee›, die indirekt auf die einzelne Beere hinweist, die sich millionenfach zwischen den staubigen Blättern des Weinstocks an den Rispen eng zusammendrängt. Eiförmig, mit weißem Fruchtfleisch, die feuchte Schale rubinrot, die Kernchen paarweise; mit zwei Augen und in vielen Sprachen. In jeder Sprache kann sie von einer faszinierenden Vergangenheit erzählen. Beginnend mit der Bestäubung und Befruchtung, wird sie zum einen von der Sonne süß, andererseits durch den Widerstand gegen den Wind stark, und wenn der Mensch sie berührt, wird sie in ein Leben mit zwei verschiedenen Aspekten fortgetragen. Sie gerät sowohl in eine Tragödie als auch in ein Fest. Sie wird gequetscht, zerplatzt, quillt schäumend auf, ist selbst erstaunt über die eigene Herbheit; von der Farbe der Schale wird sie ein wenig blutig. Sie wird von der einen Konsistenz in eine andere gezwungen, die ihr ganzes Verlangen offenbart, und obwohl sie stirbt, bleibt ihre Seele erhalten. Aus dem Roman Wein und Gold in der Übersetzung von Barbara Yurtdas und Hüseyin Yurtdas.

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Biografische Angaben 1972 in Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste geboren (29.08.)

Primar- und Sekundarschulbildung aufgrund der häufigen Versetzungen des als Offizier tätigen Vaters in verschiedenen Regionen der Türkei, meist in ländlichen Gegenden und Kleinstädten, hier auch früh Bekanntschaft mit der Komplexität und kulturellen Diversität des Landes

1990-94 Studium der Kommunikationswissenschaften an der Gazi-Universität, Ankara

während des Studiums Beschäftigung und Erfahrungen mit Theater, Choreografie und Hörspiel, Veröffentlichung erste Erzählungen in den renommierten Literaturzeitschriften Kitap-lık, Adam Öykü, Varlık, Düşler Öyküler

1994 Umzug nach Istanbul, wo sie bis heute lebt 1995 Yaşar Nabi Nayır Nachwuchspreis für ihre erste Mappe mit Erzählungen (s.

Auszeichnungen) 1997 erscheint der erste Erzählband, seither erschienen drei Romane, fünf Erzählbände,

ein Filmdrehbuch, ein Theaterstück, ein Sachbuch (s. kommentierte Bibliografie) und zahlreiche Essays und Beiträge in Anthologien; der jüngste Roman Barbarın Kahkahası (Das Lachen des Barbaren) erschien im Frühjahr 2015

Writer in Residence: 2015 Paris, drei Monate, ausgewählt von der Stadt Paris und vom Institut Français. 2012 Norwich, sechs Wochen, ausgewählt von British Council und Writers’ Centre

Norwich. 2012 Wien, zwei Monate, ausgewählt von quartier21/MuseumsQuartier Wien. 2011 Wien, ein Monat, mit Milo-Dor-Stipendium, finanziert von Kultur Kontakt

Austria und Bank Austria. 2010 Berlin, ein Jahr, als Gast und Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des

DAAD. 2009 Saint-Jans-Cappel in der Marguerite-Yourcenar-Villa, zwei Monate, mit

Marguerite- Yourcenar-Stipendium. 2008 Berlin, ein Monat, Stadtschreiberin im Rahmen des Projekts „Der nahe

Blick/Yakın Bakış“ von Goethe-Institut und Literaturhäuser.net Auszeichnungen 2010 Französich-türkischer Preis für Yere Düşen Dualar (Wein und Gold) in

Frankreich. 2009 Ecrimed-Cultura Übersetzungspreis für Yere Düşen Dualar (Wein und Gold) in

Frankreich.

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2008 Balkanika-Preis für Yere Düşen Dualar (Wein und Gold), vergeben von sechs Balkan-Ländern (Albanien, Bulgarien, Griechenland, Rumänien, Serbien, Türkei).

2008 The Golden Shell Best Film Award beim Filmfestival San Sebastian für das Szenario zu Pandora’s Box.

2000 Cevdet-Kudret-Literatur-Preis, Türkei, für Sandık Lekesi (Truhenfleck). 1995 Preis der Gençlik-Buchhandlung für die zweite Auswahl Erzählungen. 1994 Yaşar-Nabi-Nayır-Nachwuchspreis für die erste Auswahl Erzählungen. Aktivitäten zu Frieden, Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Umweltschutz 2015 400 VideoPorträts gegen den Krieg, eine Friedenskampagne vor der

Wiederholung der Parlamentswahl in der Türkei im Oktober 2015 2014 „Ein Satz für Kobanê. Türkei, öffne den Korridor!“: gemeinsame Plattform

türkischer Schriftsteller für Frieden in der grenznahen kurdischen Stadt Kobanê, die unter Belagerung des IS stand.

2009 Vortrag über Schuld und Scham auf dem Symposium über das Massaker von Dersim vor dem Europarat in Brüssel, 2010 in Berlin

2005 Solidaritätskampagne für Orhan Pamuk u.a. nach Anklage wegen „Herabsetzung des Türkentums“ u.v.a.m.

Bibliografie

Romane und Erzählbände 2015 Barbarın Kahkahası (Das Lachen des Barbaren. Roman), Istanbul: Metis. Französische Übersetzung erscheint bei Actes Sud. Einige Tage in einem Motel an der Ägäis-Küste, die Urlauber werden aufgestört durch eine befremdliche Wende der Ereignisse. Ein gesellschaftskritischer Blick berührt hier die Themen Feminismus, Religion, Massaker, Qualen des Heranwachsens, Vorurteile, die Beziehung des Menschen zu Natur und Tieren. 2013 Sultan ve Şair (Der Sultan und der Dichter. Theaterstück), Istanbul: Metis. Ein Tag auf der Galata-Brücke in Istanbul, in Dialogen zwischen einem Angler alias der Dichter und einem Passanten alias der Sultan zieht das Stück den Zuschauer/Leser in eine brutale Auseinandersetzung zwischen Macht und Kunst, zwischen Künstler und Machthaber, zwischen Arroganz und Können, aber auch zwischen der Redefreiheit und Despotismus durch die Jahrhunderte. Ein universales Werk mit Lokalkolorid und historischem Hintergrund. 2012 Karaduygun (Schwarze Galle. Geschichten), Istanbul: Doğan Kitap.

> Schwarze Galle. Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. Berlin: Matthes&Seitz 2013 (übersetzt von Sabine Adatepe).

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Schmerz und Leid aus der Sicht einer Dichterin, eine Hommage und das Ausloten der Stimmungen und Umstände von Melancholie und Schlaflosigkeit. In sieben Geschichten beschreibt die Autorin die Beziehungen der Menschen untereinander und zur Natur mit Zivilisationskritik. Shortlist LiBeraturpreis 2014 Litprom-Bestenliste Winter 2013, Platz 4 2009 Yüzünde Bir Yer (Eine Stelle in deinem Gesicht. Roman). Istanbul: Doğan

Kitap. Übersetzungen ins Französische und Schwedische.

Das „literarische Guernica“ zum Massaker von Dersim 1938 in der Süd-Ost-Türkei, mit Referenzen aus Mythologien, Geschichte und Erzähltraditionen. Der Roman löste in der Türkei hitzige Debatten aus, da es an das Tabu des Dersim-Massakers rührte. Ein Romanauszug liegt in Übersetzung vor in: SPRITZ Sprache im technischen Zeitalter (195/2010). http://www.spritz.de/index.php?module=Pagesetter&func=viewpub&tid=4&pid=74 2006 Yere Düşen Dualar (Wein und Gold. Roman). Istanbul: Doğan Kitap.

> Wein und Gold. Frankfurt: Suhrkamp 2008 (übersetzt von Barbara und Hüseyin Yurtdas) Weitere Übersetzungen ins Schwedische, Französische, Norwegische.

Auf einer Ägäis-Insel bringt die junge Bibliothekarin Leylan ihren Vater, einen Trinker, zum „Ausspucken“ der Geschichten, an denen er zu ersticken droht, auf dieser Grundlage erfindet sie die Familiengeschichte neu. Ausgewählt unter die 10 besten Bücher der letzten 25 Jahre von der Zeitung Vatan.

2006 Öbür Yanım (Meine andere Seite. Dokumentation). Istanbul: Novartis. Resultat einer ausgedehnten Recherche über Kulte, Rituale und Volksglauben in der Türkei, ein Einblick in die Ressourcen, die die Autorin für ihre Literatur nutzt. Mit Fotos bekannter Fotografen, mit denen sie für dieses Projekt zusammenarbeitete. 2004 Esir Sözler Kuyusu (Der Brunnen gefangener Wörter. Erzählungen). Istanbul:

Doğan Kitap. 2002 Doyma Noktası (Sättigungspunkt. Erzählungen). Istanbul: Can. 2000 Sandık Lekesi (Der Truhenfleck. Erzählungen). Istanbul: Can. 1997 Ortadan Yarısından (Mitten durchs Herz. Erzählungen). Istanbul: Can. Weitere Erzählungen in Anthologien.

Erzählbände in anderen Sprachen

2015 The Well of Trapped Words (Der Brunnen gefangener Wörter), ausgewählte Erzählungen. Manchester: Comma Press.

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2008 Üşüyen/Efsiri (Der Frierende), ausgewählte Erzählungen in einer zweisprachig

kurdisch-türkischen Edition. Diyarbakır: Lis.

Drehbuch

2006 Pandora’nın Kutusu (Die Büchse der Pandora) mit der türkischen Regisseurin Yeşim Ustaoğlu, Spielfilm, ausgezeichnet auf dem Filmfestival San Sebastian 2008.

Essays (Auswahl auf Deutsch/Englisch/Französisch erschienener Essays und Reden)

2015 „Die Sprache der Feigen.“ (Original: İncir Lisanı). In: Lettre International (109/2015).

2015 „Abel, vom Raben begraben.“ (Original: Karganın Gömdüğü Habil) In: Lettre

International (108/2015) https://www.lettre.de/beitrag/kaygusuz-sema_abel-vom-raben-begraben (Auszug).

2014 „Mémoire de l’eau“ (Original: Suyun Hatırı). In: La Revue No. 2 de la Villa

Méditerranée (Oktober 2014). 2013 „A National Literature“ (Original: Ulusal Edebiyat). Festrede zur Edinburgh

World Writers’ Conference Izmir http://www.edinburghworldwritersconference.org/national-literature/kaygusuz-in-turkey-keynote-on-a-national-literature/

2011 „Der Gott der anderen Leute.“ (Original: Dilenci ve Allah) In:

Tagesspiegel/Berlin, 17.01.2011. http://www.tagesspiegel.de/kultur/tuerken-und-islam-der-gott-deranderen-leute/3705250.html

2011 „Multikulturalistische Reduktion.“ (Buradan Bakmak) In: Lettre International (92/2011).

2010 „Istanbulreigen“ (Original: Bir Istanbul Döngüsü) In: Lettre International

(88/2010). https://www.lettre.de/content/sema-kaygusuz_istanbulreigen (Auszug).

2010 „Zürich: Geben und Nehmen“. Im Blog-Projekt: Yollarda – Unterwegs / Cultural

Bridges vom Goethe-Institut Istanbul. 2009 „Mémoire Littéraire“ (Original: Edebî Bellek). Eröffnungsansprache zur Genfer

Buchmesse Salon International du Livre et de La Presse.

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Medienresonanz Sema Kaygusuz ist eine Autorin, der es gelungen ist, ihr eigenes literarisches Universum zu schaffen, die ihre Sprache und Motive nicht nur auf der Grundlage anatolischer Sagen und westlicher Mythologie, sondern auch im Rahmen einer ökofeministischen Perspektive zu gestalten, sie ist sich der Ästhetik der Literatur und der Tatsache, dass die Literatur mit ihrer Sprache, ihrem Aufbau, ihrer reichen Bilderwelt innerhalb einer Sprache geschaffen wird, überaus bewusst.

Hande Öğüt, K24

Interview/Gespräch: Arte "Europa und seine Schriftsteller" Türkei / 2013 http://www.arte.tv/guide/de/049815-000/europa-und-seine-schriftsteller-die-tuerkei-erzaehlt-von

zu Barbarın Kahkahası (Das Lachen des Barbaren) 2015:

Was Sema Kaygusuz uns hier in den Schoß legt, ist „der Moment, in dem die Welt zu leiden beginnt.“ Das Lachen des Barbaren ist der Roman des Moments, in dem die Wut explodiert, nicht mehr in einen passt, sondern heraussprudelt. …

In Zeiten, da die Türkei mörderische Zeiten durchläuft, da man sich anstrengen muss, zu Atem zu kommen von den Zeiten, da alles in der Türkei scheinbar zerschlagen wird, ist Sema Kaygusuz eine Autorin, die den Stachel im Fleisch spürt. Aus diesem Grund wird ihre Romanstimme immer lauter, nicht als Wehklage, sondern als Stimme des Zorns …

Das Lachen des Barbaren ist die Welt von Menschen, die einander bis zum Grad der Vernichtung verändern wollen, ein Text, in dem Menschen zur Sprache kommen, die ihre Unterschiede zuspitzen, aufrichten, erhöhen, schärfen, während sie andere dazu bringen wollen, die Welt aus ihrem eigenen Rahmen heraus zu betrachten, und damit einander verletzen. Das Lachen des Barbaren blutet wie eine ungeheure Wunde, die nie wieder heilen wird.

İpek Şahbenderoğlu, IstanbulArtNews IAN,

Es hat etwas Tragisches, etwas Erbärmliches, wenn Personen, die glauben, „das Leben bestünde aus ihren eigenen Geschichten“, einander quälend, manchmal auch um gegenseitiges Verständnis ringend, sich an die zarten Wurzeln des Lebens klammernd, sich um einen sehr alten Baum der Verzweiflung herum versammeln. Aber es hat auch etwas Heilendes. (…) Das Lachen des Barbaren ist ein gelungener Roman, in dem es neben dem Erzählen unterschiedlicher Geschichten um das Schreiben geht, darum, etwas zu einer Geschichte zu machen, zur richtigen Zeit zu erzählen, zu schweigen …

A Esra Yalazan, Zaman Kitap

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In ihrem jüngsten Roman „Das Lachen des Barbaren“ führt Sema Kaygusuz, ausgehend von Menschen, die in einem Hotel ihren Urlaub verbringen, dem Leser die Verwerfungen unseres Lebens, unsere kleinkarierten Berechnungen, Kindheit, Machtspiele in Zweierbeziehungen, das Unverständnis und mangelnde Gefühl des Menschen der Natur gegenüber, Vorurteile und Abscheu gegenüber Menschen, die anders sind, mit einem reichen Subtext vor Augen. (…) Ich glaube, wir können das unsere große Verschmutzung nennen, von der hier anhand eines Romans erzählt wird.

Emek Erez, Edebiyathaber

Sema Kaygusuz kredenzt uns Dutzende Portraits auf einmal. Manche lernen wir einzeln, manche als Paare kennen, doch zu guter letzt entsteht nicht das Portrait einer Person, sondern einer Gesellschaft. Das Portrait des Menschen im Zeitalter des Argwohns.

Asuman Kafaoğlu-Büke, Radikal Kitap

Das Lachen des Barbaren ist ein Roman der Gegensätze. Zugleich des Zusammenkommens und Auseinandergehens, des Vergiftet- und des Geheiltwerdens. (…) Voll der Suchen nach Übergängen von der Gesellschaft zum Sozialen, von der Menge zum Individuum, vom Individuum zur Existenz. Die literarischen Transitionen sind verwoben mit Fiktion, Narration, lyrischer Sprache und selbstverständlich mit Geschichte, Psychologie, Philosophie, Religion und Sage. Was die Erzählung erfordert, darauf stützt sich das Skelett. Die flüssige, vorantreibende Sprache vereinfacht sie auf der einen Seite, macht aber die eigentliche Sache im Subtext im Laufe der Seiten komplex. Gelingt das? Ja. Warum sollte nicht als gelungen bezeichnet werden, wenn ein literarischer Text die These, die er tief in sich trägt, nicht als Formel gestaltet und nicht zur Parole macht, während er sein Anliegend dem Gegenüber vermittelt?

Ömer Erdem, Radikal Kitap

… Die Sommerversion von Nuri Bilge Ceylans Film Winterschlaf. (…) Ein Buch, von dem man nie genug hat. …

Onur Baştürk, Hürriyet

Die Autorin schafft im Hotel Mavi Kumru ein kleines Modell unserer heutigen Türkei. (…) Sema Kaygusuz hat mit versteckten und offenen Verweisen einen unterschiedlichen Lesarten offen stehenden Text geschaffen, sie stellt zur Diskussion, wie die Grundprobleme der heutigen Türkei in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Alltag und in gewöhnlichen Lebensgeschichten ihre Reaktion finden.

Metin Celal, Cumhuriyet Kitap

Das Lachen des Barbaren ist nicht nur als Abrechnung verschiedener Personen miteinander zu verstehen. Es ist eigentlich das Panorama einer Gesellschaft in kleinem Maßstab. (…) Das Buch nimmt den Kampf auf, sich dem nie erwachsen werdenden Pubertierenden in uns zu stellen und führt uns (…) unsere eigenes Stecken in der Pubertät vor Augen. (…) Bis zur letzten Seite hält es die Spannung und zeigt, dass die

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eigentliche Spannung in unserem eigenen Leben steckt und wie nutzlos unser Pinkelwettbewerb ist. ...

Canan Hatipoğlu, Milliyet Kitap

Zu guter Letzt ist Das Lachen des Barbaren ein Roman, der verschiedene Beispiele für den Herrschafts- und Gewaltenmechanismus, der glaubt, Reife und Macht seien nur zu beweisen, indem man andere beherrscht. Manchmal bleibt einem da das Lachen im Halse stecken.

Ezgi Bilgin, Sanat Atak

zu Schwarze Galle (Matthes&Seitz 2013):

Scheherazade lebt. Offenbar hat sie sich in einem neuen Körper eingenistet. Heute trägt sie den Namen Sema Kaygusuz, ihre Geschichten sind komplexer geworden, aber immer noch so fesselnd wie die aus tausendundeiner Nacht. … Kaygusuz führt den Leser gleich zu Beginn an den mythischen Ursprung der Literatur, um von da aus acht parabelartige Erzählungen auszubreiten, in denen das Reale mit dem Fiktiven verschmilzt und das Archaische und die Gegenwart kraftvoll zusammenprallen. … Kaygusuz ist eine geborene Geschichtenerzählerin. … Sie kann erzählen. Und wie!

Tobias Schwartz, Tagesspiegel

Am eindrücklichsten sind die Geschichten dort, wo die Autorin fast ganz in ihren Protagonisten aufgeht, wie auch in denjenigen über zu viel und zu wenig essen oder der doppelten Charakterstudie von einer „Kesselflickerin“ und deren Kundin. Das Ende des Bandes ist dann ein Schock. Der bezaubernde Ton der Autorin hatte bis dahin vergessen lassen, wie bitter Galle eigentlich schmeckt.

Astrid Kaminski, Berliner Zeitung

In der Rahmenerzählung blickt Kaygusuz mit Birhan, die ihrer Erzählerin mehr als vertraut zu sein scheint, von außen auf die Melancholie und die Schlaflosigkeit, in den sieben Geschichten von innen. Hier Einsamkeit und Verlorenheit, dort ein Geschehen, in der sich beides dank der vorurteilslosen, empathischen, auch überraschenden Begegnung mit anderen Menschen verliert. "Schwarze Galle" ist, wer hätte das bei diesem Titel gedacht, ein stets überraschendes, poetisches Buch der Hoffnung und der Lebenskunst.

Jörg Plath, Deutschland Radio Kultur

Sema Kaygusuz lotet die Hölle des Wachseins aus, des Tags. Ihrem Weltbild nach steht das Natürliche als Paradiesisches, verkörpert durch den Schlaf, die Nacht, dem Tag gegenüber, der tödlichen Vernunft. Sie ist eine Vertreterin des Nichtrationalen, wenn nicht Irrationalen, allein durch ihre Kulturwertung, die aus ihren Geschichten herauslesbar ist: „Wissen ist etwas Entsetzliches. Verheerender noch ist die Qual, nicht ändern zu können, was geschieht.“ Es gilt also, den Schlaf zu suchen, das Nichtwissen,

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um dem Entsetzlichen zu entfliehen. … Geschichten aus den Zwischenbereichen, den surrealen Territorien zwischen Traum und Albtraum, zwischen nüchterner Bitternis und der eigentümlichen Freude am Verfremdeten … Alles in allem ein Band voll Geschichten, die scheinbar Alltägliches mit Entrücktem, Verrücktem, Surrealen so selbstverständlich verbinden, dass die Mischung eine köstliche Melange wird: kein türkischer Schwarzer, kein kleiner Brauner, kein Espresso, sondern etwas Herb-Bitteres, das den einen oder die andere an Galle erinnern mag, vielleicht sogar schwarze.

Louis Christian Wolff, Kultur-Online

Ein Buch von enormer poetischer Kraft, das an traurige Mythen und fröhliche Märchen rührt und dennoch so heutig ist, dass es teils sogar als politischer Kommentar gelesen werden kann.

Katharina Borchardt, Weltempfänger / Litprom-Bestenliste

Das Wesen der Schlaflosigkeit, die Ursachen und Wirkungen dieses mit unserer Vergänglichkeit hadernden Zustands, der die darin Befangenen ebenso überwach wie übermüdet wirken lässt und sie störanfällig macht oder sogar gereizt, sensibel bis zur Schwarzgalligkeit, auch Melancholie genannt, die, wenn sie nur lange genug vorhält, schon mal melancholische Züge annehmen kann, - all das ist, in allen möglichen Facetten, Sema Kaygusuz’ „Material“. Fast übergangslos, sich aber dennoch deutlich daraus hervorhebend, sind dem so entstandenen Stoff acht Erzählungen eingewebt, die Sema Kaygusuz’ Nach-, Mit- und Vorausdenken, ihrer traumwandlerisch präzisen Wirklichkeitswahrnehmung und Wahrheitssuche eine höchst eigenwillige literarische Struktur geben, eine, in der jede dieser Erzählungen eine Parabel ist und die jeweilige Geschichte im mindestens doppelten Sinne Geschichte. (…)

Alles miteinander und dazu Weisheit und Witz und Sema Kaygusuz’ seltsam wache Schlaflosigkeit und die, womöglich daher rührende, enorme Erzählenergie haben mir dieses Buch so lesenswert gemacht, dass ich putzmunter blieb, bis ich fertig war …

aus dem Nachwort von Katja Lange-Müller

Sema Kaygusuz nahm aus dem einem Spielfilm gleichenden Leben – sowohl aus dem von Birhan Keskin als auch aus ihrem eigenen – fotografische Bilder und schrieb Schwarze Galle. Sie wählte aus dem Bilderhaufen einige aus, legte unnötige beiseite, trug nur die zusammen, die dem Leser eine Vorstellung vermitteln, und leitete diese mit der ihr stets eigenen feinen, verspielten, reichen Sprache weiter. …

A. Ömer Türkeş, Sabitfikir

Die Geschichten jener, die mit ihren Herzen hören …

Ayşe Burak, Sabah

Unmöglich, nicht berührt zu werden und die Wirkung noch lange zu spüren. Es ist doch so: „Berühren wir eine Wesen, bleibt eine Spur auf unserer Haut zurück.“

Tekin Budakoğlu, Edebiyathaber

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„Ein vielstimmiges Buch“, hieß es, ich denke, es ist zugleich ein vieläugiges, vielherziges Buch … was die Zeit betrifft, tue ich mich schwer, denn die Geschichten sind mit zeitloser Wahrnehmung lärmend geschrieben. Keine aber scheint mir Radau zu machen.

Büşra Ersanlı, Bianet

zu Yüzünde Bir Yer (Eine Stelle in deinem Gesicht) 2009:

… Die Autorin nimmt ihre Ohnmacht und Unzulänglichkeit ernst und bezieht selbst Stellung, der Leser muss seine Vorstellungen über die Erzählstruktur eines Romans beiseite legen, man muss sich auf einen Strom von Bildern und Ideen einlassen, die keine Summe bilden, die keinem Spannungsbogen folgen. Stattdessen sind die Geschichten ineinander verwoben, Menschen stehen neben Engeln, Dschinnen und Propheten.

Elisabeth Hjorth, Svenska Dagblad

… ein exzentrischer Roman … ein Beispiel für die großen Wahrheiten, zu denen Fiktion Zugang schaffen kann. Ist er poetisch? Ja. Ist er politisch? Ja.

Blog Howsoftthisprisonis.blogspot.fr, Bernur (Schweden)

Jedes von Sema Kaygusuz’ Büchern ist eine Hymne auf das Leben und die Sinnlichkeit der Welt, aber immer schweben sie über den Schatten von Tod und den von der türkischen Geschichte skandierten Tragödien.

Marc Semo, Libération

Ein Roman, der uns sagt, geliebt zu werden, heißt, nie besiegt zu werden, egal was geschieht; und dass Poesie (…) „das Land dessen ist, das nicht mit Augen zu sehen ist.“

Auch ein Roman, wo die Erzählerin von Zeit zu Zeit auf den Auslöser ihrer Kamera drückt, um so viele ergreifende Szenen der Realität wie möglich einzufangen. (…) Meisterhaft.

Anne-Marie Mitchell, La Marseillaise

Sema Kaygusuz gibt mit ihrer Feder einen leuchtenden Bericht über Natur und Zeit, über das Göttliche, das noch immer eine große Anzahl der Menschen in ihrem Land prägt.

Jean-Christophe Ploquin, La Croix

Kaygusuz’ jüngster Roman Yüzünde Bir Yer (Eine Stelle in deinem Gesicht), stilistisch ebenso mitreißend wie außerordentlich ruhig, stellt einen Anschlag auf unsere Lesegewohnheiten dar. Über Jahrhunderte tradierte Legenden legt die Autorin hier neu

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auf, wagt Interpretationen, die das Gewohnte sprengen. Sie unterhöhlt zahlreiche im öffentlichen Bewusstsein positiv konnotierte Begriffe wie Heldentum, Opferbereitschaft und Barmherzigkeit und stellt damit eine tief in der Kultur und Geografie Anatoliens und Mesopotamiens verwurzelte moralische Perspektive zur Diskussion.

Sevengül Sönmez, Sprache im Technischen Zeitalter

… ein literarisches Guernica … Eine Stelle in deinem Gesicht ist ein Roman, der in vielerlei Hinsicht Gewohntes bricht, ein kostbarer Roman, der den Verstand öffnet, der seinem Leser einen eigenen literarischen Genuss verschafft, in ungewöhnlichem Stil, von unendlicher kulturellem Tiefgang, voller Vielfalt und mit Experimenten auf der literarischen Farbskala.

Pakize Barışta, Taraf

Der Roman speist sich aus der Hızır-Sage, vom Zwiegehörnten [Alexander der Große], aus Brudermord, von Belkıs und Elias, von Massaker und Plünderung der Natur, von den Geschichten des Munzur und Ceysûr, von Sırma, Zülfü und Huriye, von den heiligen und mythologischen Figuren in Ost und West, von Buddhisten und Schamanen, aus archaischen Geschichten, kurdischen Legenden und griechischen Sagen, aus Thora, Bibel und Koran, im Grunde aber ist er die Geschichte von Bese, der Dersim-Vertriebenen, und ihrer Enkeltochter. Das von der Großmutter auf die Enkelin übertragene weibliche Schweigen, die Kenntnis der bitteren Historie, der Prozess einer schmerzhaften Verwurzelung … Kaygusuz ist die Erzählerin der Ankunft im Zeitalter der Feige.

Hande Öğüt, Radikal Kitap

Die Worte in Kaygusuz’ Sprache, die das Massaker von Dersim bezeugen, tragen die Verantwortung von aufrichtigem, wahrem Leid. Da findet sich kein politischer Verweis, Aufruf oder Andeutung in dem Buch. So spaltet die Betonung der Wurzeln das Leid nicht, sondern macht es mehr uns allen zugehörig. Ohne Kapital aus dem Leid schlagen zu wollen, präsentiert Eine Stelle in deinem Gesicht uns das Geschehen von Dersim als Projektion der Wut und Angst, der Sorge und vor allem der Scham aller Massaker seit Alters her.

Doğan Ertuğrul, Star Açık Görüş

Dieser kleine legendenhafte Roman erzählt von der Scham der Überlebenden, von der Schande des Schweigens angesichts von Massakern, die von der Großmutter auf die Enkelin tradierte vielschichtige Geschichte des Feigenbaums, davon, wie banal es ist, die Welt mit sinnentleerten Begriffen in die Welt zu schauen, ohne die Realität zu sehen, wie verzweifelt notwendig, Geheimnisse preiszugeben, wie gut es tut, die innere Stimme mit eigenen Worten redlich zu vernehmen, und eigentlich noch viel mehr als dies alles.

A. Esra Yalazan, Taraf

Eine Stelle in deinem Gesicht ist eine schöne, wegweisende Quelle, die (…) erzählt, was geschehen kann, wenn Menschen ihre eigene Geschichte und ein Land sein Gedächtnis verlieren.

Pelin Dutlu, Günlük

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zu Wein und Gold (Suhrkamp 2008):

Sema Kaygusuz legt mit ihrem Debüt einen Roman vor, der sich vielleicht am weitesten von der modernen Linearität des türkischen Romans entfernt. Bei einer ersten Lektüre erscheint Wein und Gold irrational und mythopoetisch, tiefenpsychologisch und genderbeflissen, musikalisch und magisch, dunkel verborgen, aber auch poetisch berührend und dahinsprudelnd. …

Martin Zähringer, Frankfurter Rundschau

Sema Kaygusuz hat einen komplexen Roman über Selbstfindung und -erfindung und die Loslösung von den Eltern geschrieben …

Andreas Resch, taz

Sema Kaygusuz' Roman Wein und Gold zählt zu den Büchern, die man trotzdem liest … in diesem Fall durch ein Erzählexperiment, das Aufmerksamkeit verdient, und eine literarische Begabung, die passagenweise einen intensiven Schein durch das raue Gefüge des Romans schickt.

Angela Schader, NZZ

Wein und Gold greift zudem existenzielle Konzepte auf, um sie neu zu definieren: im Sterben umarmt sich die Fruchtbarkeit, im Alter lebt sie als Inbrunst fort. Bei Sema Kaygusuz sterben gequälte Körper nicht, sie vermodern, das heißt sie kennen kaum den Frieden des Todes. (…)

Die uns da erzählt, ist noch keine vierzig Jahre alt und doch beweist ihre Feder bereits überraschende Reife.

Aurélie Julia, Revue des deux mondes

Ihr Weg ist nicht mitteleuropäisch und männlich, sondern peripher und weiblich – und dennoch erinnert sie an Strauss’ Meisterwerk. So wie Strauss Mythen neu erfand und sie zum Strömen brachte gerade wie die originalen Mythen – mal schwer symbolisch und allegorisch, mal frei und leicht romantisierend -, so schwingt Kaygusuz sich über den grauen, dumpfen Alltag in eine Sphäre hinauf, wo die unbegrenzte Erzählung fähig ist, einmal mehr große Dinge zu erreichen. (…)

Ganz einfach, Sema Kaygusuz’ Wein und Gold sorgt für eine magische Lektüre. Nicht mehr und nicht weniger.

Jan Arnald, Dagens Nyheter

Sema Kaygusuz Debütroman Wein und Gold ist ein Narrativ, das herausschreit, wie unerzählbar die aus der tiefsten Tiefe kommenden Alpträume sind, das mit seinem Weg, mal steinig, mal uralt, mal still, mal unterirdisch, mal unter Wasser, anwächst. Am Ende

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dieser Reise, die einen beruhigt und zum Wachsen auffordert, erlangt der Leser Gnade. Die Autorin führ Bilder und Rhythmen à la Homer mit anatolischen Legenden zusammen, lässt sie selbst sumerische Sagen berühren und schafft sich selbst befreiende Mythen.

Lisbeth Koutchoumoff, Le Temps

Ein außergewöhnlich schön geschriebener Roman voller Poesie.

Arte TV

Im Herzen von Sema Kaygusuz’ erstem Roman stecken Erzählung, Märchen und lyrische Poesie, die die Schönheit und das Leid der Welt berühren. Als Debüt erstaunt Wein und Gold, lässt sich in keine Kategorie einordnen, ein Poem, das sowohl für das Leben und die Sensibilität wie auch für den Tod – den Tod als einzige Realität, die dem Menschen seine Existenz in ganzer Fülle spüren lässt – geschrieben ist.

Marc Semo, Libération

Die Autorin bringt mit großem Erzähltalent Mythos mit Poesie zusammen. Von den ersten Seiten des Debütromans Wein und Gold an fesselt den Leser die starke Stimme Leylans, die sich leidenschaftlich in Literatur und Träumen verliert. Diese so dichte wie fragile Romanheldin ist derart außergewöhnlich, dass man bedauert, nicht des Türkischen mächtig zu sein.

Nils Ahl, Le Monde

Wein und Gold ist ein verführerischer, sinnlicher, Schwindel erregender Roman, der den Leser in die Windungen einer literarischen Sprache hineinzieht, in der in jeder Zeile Märchen und Sagen nachhallen.

Gilles Heuré, Télérama

Die Route von Sema Kaygusuz ist eine Suche nach dem Menschen. Der erste Roman der Autorin weist enormes literarisches Talent auf. Er bietet den Genuss von tiefer Sensibilität und einer mit dem Wesen von Märchen gespeisten Erzählung.

Jean-Christophe Ploquin, La Croix

Sema Kaygusuz behandelt mit enorm starker literarischer Sprache die Wurzeln türkischer Narration. Wein und Gold ist ein Debütroman, der am Anfang einer glänzenden Schriftstellerkarriere steht.

Elle

Mitreißend, sehr stark, manchmal auch erschreckend, unbedingt lesenswert.

Karin Geidl, Lemeus

Der Autorin ist es gelungen, ihr starkes kulturelles Rüstzeug und ihre Lebensweisheit, über die sie trotz ihres jungen Alters verfügt, zu einem Text zu verweben, ohne dem

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Leser ihr Wissen aufzudringen und als Beckmesserin zu erscheinen, sie ist sich der neuen literarischen Ästhetik bewusst, weiß, dass die eigentliche Aufgabe des Literaten ist, „Bewusstsein zu schaffen“. Ich denke, Wein und Gold beweist die Geburt einer der besten Romanautorinnen der türkischen Literatur.

Yıldız Ecevit, Zaman Kitap

… ein wirklich außergewöhnlicher Roman, der sich gleich einer Krone des Stolzes auf unsere Literatur gesetzt hat. … Sema Kaygusuz hat wohl die schönste Romansprache der letzten Jahre geschaffen. … Beschränkte Lebensgeschichten mit dieser reich gestalteten literarischen Sprache und mit der Entschlossenheit, all die Möglichkeiten des Türkischen bis zum Letzten zu nutzen, zu erzählen, schenkt dem Text eine Tiefe, die diese Geschichten bis in ihre letzten Einzelheiten hinein ausleuchtet und zutage fördert, was noch in den tiefsten Wasser vorhanden ist. Wein und Gold gehört mit der Vielfalt und Dichte von Bedeutungen in der Reinheit und Tiefe des Ozeans zu den Romanen, von deren Sorte wir nur wenige lasen in den vergangenen Jahren.

Semih Gümüş, Radikal Kitap

Wein und Gold ist ein Buch, das noch den anspruchvollsten Romanleser in jeder Hinsicht zufriedenstellt. Und es ist ein weiterer Beleg für Kaygusuz’ ganz „besondere“ Schreibkunst.

Handan İnci, Cumhuriyet Kitap

Als Leserin, die sich nach wahrer Literatur verzehrt, möchte ich von Semas schneeweißer Herzensstimme sprechen, die mich immer wieder trifft und in Erstaunen versetzt. Ich wünsche mir, dass Romanautoren in diesen Zeiten, da das Genre des Romans so im Vordergrund steht und hoch gehandelt wird, sich ein wenig Sema Kaygusuz’ Sprache anschauen. Ich bin mir sicher, dass Wein und Gold, das als wahres literarisches Werk in diese Atmosphäre rasant Raum greifender technischer Autoren gesetzt ist, glänzen wird gleich einer Perle.

Birhan Keskin, Cumhuriyet Kitap

Wie sie über Orte, Personen, Geschichten, Natur, Tierwelt und Menschen bis in unsere Tage gelangt und den im Zeitalter der Märchen lyrisch gewordenen Kampf, die Tiefe und zugleich die Schlichtheit menschlicher Leidenschaften zeigt, hat Kaygusuz mit ihrem reichen Wortschatz eine eindrucksvolle Erzählweise geschaffen.

Ömer Türkeş, pandora.com

Degeneration von Umwelt und Natur wirken als Verfall in den Menschen weiter, da ist es das Anliegen der Erzählerin, eine Welt zu entwerfen, die kein Gott geschaffen hat, und die vom Unbehagen der Existenz aufgeriebenen Geister zu läutern.

M. Gökşen Buğra, Varlık

Zu den Besonderheiten des Romans gehört, dass Kaygusuz die Sprache, in die sie männliche Erfahrungen und Praktiken verpackt. Sie wirbelt männliche Sprache durcheinander beim Basteln ihrer Geschichte. So dramatisiert sie etwa eine gewöhnliche

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Bartrasur derart, dass die Einfachheit an der Spitze des Rasiermessers sich in Gewalt verwandelt. Die Beschreibung des Fürchterlichen in dieser dramatischen Szene, des Barbiers, der jeden Augenblick bereit scheint, jemanden zu erwürgen, und der Person, die ihm ihren Kopf anvertraut, erinnert an ein Opferritual. Eine ästhetische Rasierszene verwandelt sich von Genuss zu Gewalt. Wie das Echo einer Sprache der Gewalt. Eine weitere Praxis ist das Ringerturnier. Die Erzählerin dramatisiert drei Mal ein Ringerturnier in allen Einzelheiten und verwandelt die Sprache, die dabei extrem männlich sein müsste, in eine ausgesprochen feminine. Rohheit verbirgt sich in der Sprache in Weiblichkeit. Bei den Ringerszenen vermittelt die Erzählerin das genau entgegengesetzte Gefühl der Rasierszene. Die Sprache beim Bericht männlicher Erfahrungen wie Weinbau und Fischerei ist dann wiederum eine ganz andere.

Ahmet Sait Akçay, Hürriyet Gösteri

An Wein und Gold reizt die vielschichtige Struktur. Das Buch besteht aus den zwei Hauptkapiteln Wein und Gold, (…) beim Lesen und beim Sprechen darüber gilt es, einen Rhythmus entlang seiner Windungen zu finden. Zweifellos ist Wein und Gold aufgrund seines Aufbaus, der Verschiebungen von Orten und Zeiten und der Art, wie die Protagonisten behandelt sind, ein Roman, doch durch Stil und vorbehaltlose Reisen durch die Genres lässt es sich zugleich als Legende, Märchen und sogar als Sage bezeichnen.

Sema Aslan, Milliyet Sanat

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Anhang 1: Textbeispiele Lettre International Frühjahr 2015 Abel, vom Raben begraben Sema Kaygusuz

(…)

Vielleicht ist der einzige Grund für unseren permanenten Zweifel an Zivilisation und Kultur, daß wir unfähig sind, den einen Satz von höchstem ethischem Wert jemals zu kennen. Den Satz ohne jede Ethik, ohne jede Moral hingegen kennen wir alle aus der Genesis. Als Gott Kain fragt, wo sein Bruder Abel sei, antwortet dieser: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ 1 Eine Antwort, die bis heute Wiederholung erfährt und jeden Menschen schmerzt, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Welt zu verbessern. Kain beließ es nicht dabei, den Bruder zu erschlagen, vor der lebendigen Welt, die sein Verbrechen mitansah, wies er den Vorwurf zudem energisch zurück, verdrehte die Wahrheit und ersann eine niederträchtige Logik. (…)

Gräber sind bis auf wenige Ausnahmen im allgemeinen horizontal ausgerichtet. Leichname werden in die Erdkruste, ins Wasser, auf Berggipfel gelegt. Grabsteine dagegen stehen vertikal, desgleichen auch Denkmäler, Pyramiden, Berge, auf die Tote verbracht werden, auch die Flammen, die sich erheben, um Leichname zu verbrennen, die rituell in Flüssen verstreut werden. Das Gedenken an jene, die diese Welt durchschritten, ihre Namen und Daten werden mit ihren Verbindungen im Leben für jeden sichtbar erhöht vermerkt. Gräber schauen zum Himmel auf, Grabsteine dagegen den Menschen ins Gesicht. Um das stille innere Gespräch fortzuführen. Das Behauen von Stein ist ein Gestus von Kultur. Mag der Bestatter ein Rabe sein, es ist der Mensch, der einen Stein am Grab aufstellt. Die konzisen Grabinschriften besagen, solange es Barbaren auf der Welt gibt, kann dem Menschen das Leben genommen werden, um seinen Tod aber bringt ihn niemand. Die Lebenden lesen sie und entwickeln über das Gedenken an die Verstorbenen hinaus auch Ethiken zu ihrem Gedächtnis.

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was ein Land, das zum Gedenken an die 1915 in Anatolien ermordeten Armenier bis heute keinen einzigen Stein aufzustellen fähig war, in dem die grundlegendste zivilisatorische Handlung über ein Jahrhundert verweigert blieb, seinem Volk und den in alle Welt versprengten Armeniern bis heute vorenthält. Dabei weiß ich doch von zwei Gedenkstätten. Eine ist das Denkmal des 11. April. Es heißt, es sei am vierten Jahrestag des Völkermords auf dem armenischen Friedhof Surp Agop in Istanbul, der den osmanischen Armeniern gehörte, aufgestellt worden, um an die Katastrophe zu erinnern, die in der Nacht des 11. April 1915 ihren Ausgang nahm, als armenische Intellektuelle aus ihren Häusern geholt und nach Çankırı und Ayaş deportiert wurden, und im Völkermord endete. Was aus diesem anrührenden Denkmal wurde, das wir nur von Photos kennen, ist unbekannt. Der alte Friedhof von 85 Hektar wurde samt der auf dem Gelände befindlichen Surp-Krikor-Lusavoriç-Kirche enteignet und zerstört.3 Die Grabsteine der dort bestatteten Armenier wurden in den Treppen des Gezi-Parks, der durch die Proteste von 2013 weltberühmt wurde, und den Bürgersteigen der umliegenden Viertel verbaut. All dem Vernichtungswillen zum Trotz bargen die Steine noch das in sie gehauene Verlangen der alten Seelen, wie es in der Gedankenwolke friedlicher Rebellion, die sich mit Gezi über die ganze Türkei ausbreitete, zum Ausdruck kam. Denn Stein

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schweigt nicht. Beim Behauen wird ihm menschliches Wort eingehaucht und irgendwann kommt der Tag, da er lauter die Stimme erhebt noch als die Menschen. Er mißt den Menschen am Menschen mit dem Leid, das er in sich trägt. Jeder Grabstein, der die Ewigkeit der Wahrheit vermittelt, ist nicht nur ein Postament, ein vertikales Zeichen, sondern als alleiniger Repräsentant der Nähe zu den eigenen Toten darüber hinaus ein Mahnbrief an sein Land. Das bedeutet, wo nur ein einziger Grabstein fehlt, da geht die Operation des Gedächtnislöschens um. (…)

Mörtel des Schweigens

Zuallererst nehme jeder sich die eigenen Vorfahren vor. Zu einfach macht es sich, wer von der gesamten Menschheit spricht, ohne bereit zu sein, mit Rammböcken gegen die versteinerte Geisteshaltung seiner Vorfahren anzugehen, beim eigenen Vater angefangen. Wahre Ethik beginnt mit der Frage, ob mein Großvater human gelebt hat. Demzufolge, was hinter den Türen erzählt wird, hatten viele in Anatolien heldenhafte Großväter. Da heißt es, die Großväter hätten armenische Nachbarn im Keller versteckt oder Kinder aus den Karawanen der Deportierten in die eigene Kinderschar aufgenommen, um sie zu retten. Um die Heldengeschichten prinzipientreuer Großväter, die sich seinerzeit gegen die Autoritäten stellten, aufzudecken, gilt es allerdings zunächst, das niederschmetternde Grauen zu kennen, das die Umstände der Heldentaten bildete. Wollen wir Celal Bey, den Gouverneur von Konya, der bis zu seiner Entlassung die Deportation einer Vielzahl von Armeniern aus den umliegenden Provinzen in die syrischen Wüsten verhinderte, und Faik Ali Ozansoy, den Regierungspräsidenten von Kütahya, der deportierte Armenier unter seinen Schutz stellte, gebührend würdigen, dürfen wir die Ehrlosigkeit eines Bahaddin Şeker oder Dr. Nazım, Mitglied der zentralen Führung des damaligen Komitees für Einheit und Fortschritt, nicht ausblenden, welche blutrünstige Verbrecher in den Gefängnissen selektierten, zu Banden zusammenstellten und ausschickten, um Deportierte abzuschlachten. Jeder Held stammt aus einer Matrjoschka der Barbarei, ineinander verschachtelt stehen sie im Regal im selben historischen Abschnitt.

Die Väter schweigen. Sie beschweigen die Kapitulation ihrer eigenen Väter, die den Autoritäten Gehorsam leisteten und unter Befehl standen, ohne Falsch und Richtig zu hinterfragen. Sie beschweigen ihre Gründerväter, von denen sie Abstand nehmen müßten, sobald Reue ins Spiel kommt. Für die Väter erster Generation war Schuld ohnehin auf Tausende verteilt und damit bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Niemand vermochte sich zu erinnern, wer der Schuldige war. Eine Handvoll brutaler Befehlshaber, die den Beschluß zur Auslöschung eines Volkes faßten, brauchten Zehntausende Handlanger. Die einen verhafteten, andere legten in Ketten, wieder andere plünderten, die Brutalsten mordeten, wer nichts tat, schaute zu.

Schuld war in Komplizenschaft aufgeteilt, die Münder versiegelt, Verantwortungsgefühl mischte sich in den Mörtel des bleiernen Schweigens der angesichts der brutalen Gewalt entsetzten Untertanen und versteinerte. Auf dem Fundament des diesem Stein entströmenden Gedächtnisses aber leben die Enkel. (…)

Es wird der Tag kommen, da die Enkel um Verzeihung bitten werden, ohne auf Vergebung zu hoffen. Das Geheimnis, das wie Glut im Magma der Vergebung brennt, werden sie mit Vernunft und Anstand akzeptieren. Mit der Zeit wird der Satz „Wir sind verantwortlich“ an Bedeutung verlieren. Manche werden sagen, ich fühle mich mehr als andere verantwortlich, ich mag unter lauter Menschen vom Schlage Kains leben, der nicht wußte, wie mit dem Leichnam seines Bruders zu verfahren sei, doch ich bin hier, Ahparig.* Ich bin der Hüter meines Bruders.

aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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* Ahparig (armenisch): Bruder. Der Satz „Ich bin hier, Ahparig“ wurde zur verbreiteten Solidaritätsparole vor allem im Gedenken an den 2007 ermordeten Hrant Dink. (A.d.Ü.)

> Bei Interesse stellt die Redaktion der Zeitschrift Lettre International gern ein Heft mit dem vollständigen Essay zur Verfügung.

* * * A National Literature Keynote address given by Sema Kaygusuz First presented at the EWWC Izmir, Turkey 2013

‘Dignity first, then art…

This essay is but a short overview comparing people’s psychological nature with the structure of national literature. Nationalism and patriotism are designs of the state. During the Late Ottoman period and early Turkish Republic an ideological literature sprang up that served National Literature and the purpose of deliberately reassociating people with their Turkic roots. However, these movements benefited political aspirations and not literature itself. A person with a vocabulary can only make sense of their world when they are part of a dialogue. A person shares their language. And just as this language identifies them as a local, at the same time it makes them a citizen not just of their own country but of the world. The system at one time strove to separate populations from one another by way of nationalistic convictions, whereas now the capitalist concepts of a single culture and centralisation makes artists into local citizens in their own parts of the world. In this context the independence of the artist and the individuality of the piece of work can never be completely trustworthy. Just as the ideologically motivated writer may just be an office worker; so the writer of today who is reduced to being a local representative cannot progress further than being a parrot that repeats what is desired to be heard.

Probably one of the most striking moments in which a person becomes aware of themselves as a being with the power of speech is when they find themselves listening to or conversing with another person. When a person engages in conversation they not only create the words but also create time and space in a new dimension. What is heard and what is said is not just a result of having been in that place at that time but instead is stamped with the very words that were spoken in those moments.

The incomparable German poet Hölderlin puts it like this in his verse:

‘Man has learned much since morning, And has named many forms in the sky For we are a conversation and can listen to one another’ [Friedensfeier (1801-1803), third print, last stanza]

So what are these forms in the sky and what is this common source that induces us to hold ‘a conversation’? Our common spirituality or geography, civilisation, culture or our shared language? If it were up to me I would say that it is our common spirituality that makes us enter into conversation. I’m talking about a common spirituality that transcends all other uniting factors such as language or country.

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Whenever a person, as a being with the power of speech, becomes the object of a narrative they become, at the same time, the narrative’s metaphor and literature transforms not just the person but all things in the world into significant objects. Even if the object of the narrative is a stone, that stone ‘is by itself a stone representing everything’. Just as wherever a person looks they will see their own essence reflected, so every writer/narrator, at the same time, draws attention to a universal essence. What is more a person does not just speak with language but with their entire existence. They speak with their hands, their eyes, the motion of their body, with the rising and falling cadence of their voice and, most importantly, they speak with their memory.

Years ago I went to a night club on the beautiful Greek island of Rhodes. It was four o’clock in the morning, everyone in the club was drunk, dancing and enjoying themselves. At one point I went to the lavatory and met a woman crying at the sinks. As I was washing my hands at the sink our eyes met. The distress on the woman’s face was very familiar to me. With the meeting of our eyes the woman began to speak without drawing breath. As you know, words are at the same time lyrics. Whilst listening to that woman, I not only heard the drunken slurring of Greek words, instead I heard a musical story of rhyming ‘s’ sounds. And of course, I couldn’t understand a word. The woman spoke so quickly that I didn’t have an opportunity to tell her that I didn’t understand Greek. In any case within a few seconds I realised that all she wanted was to talk to a stranger, an ‘other’ person. The woman’s speech went on for minutes. During this few minutes’ remonstration with her voice full of bitterness, hurt and disillusionment I managed to make out, albeit falteringly, that her fiancée had bumped into his ex-girlfriend in the club and had lavished his attention on her and that the ex-girlfriend, sensing the opportunity had played up to this by flirting back. The thing that the Greek woman and I had in common was not language, but tone. Not words, but behaviour, the situation and the history of experience shared all up and down the Aegean coast, inked onto our bodies. Even if we had not had a real conversation we had had a meaningful coming together. Just like reading a very well translated literary text I was able to decipher her codes with my own cultural and linguistic codes.

The reason for my recounting this anecdote is to illustrate that translation is a natural act and before it became an intellectual effort it was a letting go, or a going ‘off-road’. I sometimes wonder, given that we have the skill to translate, whether there is a crumb of emotion left that in the world we haven’t translated from one language to another. As Hannah Arendt said, ‘The world is not human just because people came into existence, and it cannot be human simply because human voices echo within it; it only becomes human when it is the object of speech’ [H.Arendt, Men in dark Times, Harcourt Brace Jovanovich, San Diego, New York 1968 p.25]. Whilst this is the case which object of speech, be it an entreaty, a groan, a cry of delight, a curse or scream is still the same as it was at source? Which story that gives us the strength to push on towards the truth still remains connected exclusively with its source? As stories get translated again and again on their journey around the world it is our shared spirit that keeps them alive.

If the structure of National Literature can be understood from a shared language perspective, it occurs to me that no language can be defined by nationality. This is because language does not belong merely to those of the same race, but to communities. What is more, just as a language can contain repertories of borrowed words from other languages so can it play host to other languages that have melded into each other. For example, within the structure of Turkish there are reams of words borrowed from

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Arabic, Persian, Greek, Kurdish, French and English. On the other hand there is no intellectual benefit to be gained from hiding powerful literary texts away in the drawer marked ‘National Literature’. However, at this point I must take one precaution. I personally have no objection to the lyrical lexical composition of Turkish Literature being compared to Japanese Literature, which introduced incomparable literary genres to world literature; or to Chinese Literature, the first exponent of prose and essentially regarded at the progenitor of the novel. To the contrary, I see these characterisations as being the key to pluralism and diversity. What I do disagree with is the idea of a nation being incubated upon a literature as once literature is made into a vehicle the population begins to be drawn into social engineering.

Turkish Literature’s departure into Turkism is a prime example of the social engineering to which I have just referred. With the 1908 Constitutional movement of the late Ottoman period an out and out ‘National Literature’ movement was born which adopted as its principal the intention to take literature back to its early Turkic origin. This departure, which was ideologically motivated and based on the desire to return literature to its early national source, heralded the simplification of the language, the replacement of the aruz meter with the syllabic meter and tried to reflect local life in a nationalistic perspective. The literary efforts of this nationalistic movement were, paradoxically, influenced by French, Russian and English literature. Later on, alongside the social realist literature which highlighted the plight of certain communities there came, in the 1960s a departure towards Turkism led to the creation of Turkic-root oriented narratives recounting the angst felt concerning the population’s collective identity [For further information on this subject please read Murat Belge’s “Genesis-Büyük Ulusal Anlatı ve Türklerin Kökeni”]. This movement twisted historical events and wrote material brimming with native valour and disparaging to other countries. But despite its shallowness and transience, even in our times it is not hard to see the scars this movement left behind.

The highly motivated writers of this period surely contributed to the unprecedented hatred and xenophobia and the exclusionist attitude in language assumed towards those of minority religions or different ethnicity that is apparent in our country. They are also responsible for the attitude in our country that associated the Turk-Sunni coming together with an intellectual gene. Fortunately literature can only stay alive when it is authentic and unfettered. Despite all the intellectual assertions to the contrary, the fact that a strong Turkish literature has come into being today is due to the writers with intellectual dignity who have strengthened our literature. We are only able to speak of the respectable state of Turkish literature today thanks to the writers who have not been afraid to make their mark, who have contended with massacres, have turned their back on hardline sensitivities, made a stand against fascism, undermined culture, who have attacked the official version of history, have overthrown personal politics and who have put their guard up against all types of sexist, homophobic and heterosexist attitudes. If we are able today to write literary works with confidence and without apology it is only thanks to the efforts of our libertarian predecessors; writers who made writing into a an existential act.

If I were to have to talk personally of what drives my own writing I would quite naturally have to step outside the framework of national literature. In fact, all of the world’s writers are actually stateless. Like many of them, I too have a feeling of separation that cannot be alleviated, a deep feeling of exile and disquietude within

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stemming from feeling cut off from nature. I too feel the discord of not being able to conform to hierarchical time and the resulting sensation of innate fragmentation that comes from this. On the other hand, when, as a being endowed with memory, I try to create for myself an intellectual framework I find myself experiencing a narcissistically comforting feeling that comes from being an inhabitant of a geography that has deep historical roots spread from the Mediterranean basin to Mesopotamia and from the Middle East to Anatolia. In other words, thanks to something primeval I am able to confront the feeling of statelessness. This intellectual geography is, for me, made up of all the celestial religions, the Greek gods, the myths of Sumeria, the Persian poets and Arab philosophers, Jewish cabalists, Armenian legends, Kurdish dengbejs, Hellenic architecture, the horticultural skill of the early farmers of Rum who domesticated the vine, the traditional Shamanistic practices of the Turkmen tribes, Gypsy songs and the crafts and narratives of numerous peoples. But then the minute that I leave Turkey I am labelled absolutely and exclusively as a female writer who is Turkish and Muslim and I am only accepted by some literary circles if I bear these tags. The emphasis is always on these aspects. I am constantly subjected to questions about Islam. At the Ubud Festival in Indonesia they want me to talk about Sinbad, the great Arabian story teller. I get invited to debates on Islamophobia in Germany. In France, a country known for its secularity, I ended up having to discuss strong anti-secular stances from the viewpoint of a woman in a Muslim country for the newspaper Liberation. The issue here is not those particular subjects, but rather the fact that by way of these subjects I was reduced to no more than a ‘representative’. Whenever I managed to get past answering some of these questions I jumped at the chance of mentioning my own perspectives on literature with the agility of a cat pouncing upon its prey. It seems that, abroad, I have to cope with a false sense of Turkey fuelled by insufficient information and never-ending prejudice. As if the real issues in Turkey are not enough – the intellectual modelling, the language conventions forced upon us by nationalistic thinking, the simplistic attitudes induced by the power of mediocrity, the barbarity of popular culture, all the sexist attitudes I have to endure daily, the gulf that exists between writer and reader – is this not enough? I will say it, the fiction that is ‘country’ is to me an inner trouble and an outer burden that increases day by day. I do not want to be represented by it, or to be its representative. As a person who views all progress in this world as a result of people travelling and dicovering each other I still feel repulsed when I have to pass from the border of one country to the border of another.

At this very moment, when a writer may only enter another country with a passport and visa we should recognise that their freedom is being threatened and I feel that to respect that freedom is not just a simple matter of manners but is instead a moral stance. When we look through a framework of centralism and monoculture at an artist representing their work, that person is just a citizen. The lifestyle propounded by the postmodern capitalist society of today to all inhabitants of the world is nothing more than an institution made up of citizens. Therefore all the warm democracies the author encounters, such as publishing houses, cultural and artistic ideologists, editors and academicians do in fact have life-sustaining meaning.

We have to accept that all beautiful things we encounter are to be viewed with suspicion. The State is setting aside funds for literary translation, official ministries are supporting the cinema, international organisations are investing in enormous cultural projects and haute couture companies are opening art galleries. In this way all artistic endeavour is being taken under control. The artist who throws his lot in with the system

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as an allegiant citizen is being invited into a role as a conciliator who says what they want to hear. These artists…, who are not too badly behaved to make people feel uncomfortable, deluded enough to inspire sympathy and who are insane in an almost sane way… This hidden domestication is what really threatens our times. A domestication that begins with the nation and comes to fruition with citizenship. However, we have to remember that if artefacts plundered from Afghanistan are being displayed in an European museum this means that the shadow of international war has fallen on every treasure and will continue to do so. At this time the dignity of the creators of art are far more indispensable than the objective beauty of art. If we are to continue to name the celestial objects as Hölderlin entrusted us to, then first we must stand firm in our dignity and then we must, all of us together, be the very conversation itself.

Translated by Caroline Stockford

* * *

17.01.2011, Tagesspiegel Der Gott der Anderen Von Sema Kaygusuz

Als ich Gott das erste Mal sah, war ich acht. Er war ein hochgewachsener, verwahrloster Mann. Er öffnete das Gartentor so selbstverständlich, als käme er nach Hause, stand im Hof, schaute mir in die Augen und sagte: „Ich habe Hunger!“ Ich lief zu meiner Großmutter und berichtete ihr, ein Bettler frage nach Essen. Aufgeregt setzte sie ihm ein Gastmahl vor.

Zwischen meiner Großmutter und dem Bettler schien eine geheimnisvolle Welt zu existieren, von der ich nichts ahnte. Tief in mir spürte ich, dass zwischen einem hungrigen Mann und einer Frau, die ihm freigiebig ein Gastmahl vorsetzt, ein moralisches Gesetz herrscht, vermochte das Erlebte aber nicht vollständig zu begreifen. Als der Bettler aufgegessen hatte, ging er aus dem Haus, wiederum so, als verließe er sein eigenes Heim. Kaum war er fort, bestürmte ich Großmutter mit Fragen. Mit zitternder Stimme erklärte sie mir, jener Mann sei Gott höchstpersönlich gewesen. So ein Wesen also war Gott. In Gestalt eines bedürftigen Menschen, dem man sich fürsorglich zuwendete, den man sättigte.

Der Gott meiner Großmutter war ein heiliger Mann, der aus der antiken Welt vor dem Übergang zum Monotheismus stammte. Sein Name war Hizir. Er war durch die Epochen gewandert, durch verschiedene Sprachen und Kulturen, hatte neben der Fähigkeit, für Fruchtbarkeit zu sorgen und die Seeleute zu beschützen, noch weitere Qualitäten wie Weisheit, Leidensfähigkeit, handwerkliches Geschick hier erworben, dort verloren und war schließlich als Bettler vor meine Großmutter hingetreten. Er war ein Spiegelbild, entstanden lange vor dem Islam und anderen monotheistischen Religionen, das zeigt, wie alt die Mythologien der menschlichen Zivilisationen sind und wie vital zugleich die latent gemeinsame Kultur auf Erden geblieben ist.

(…) In einer bitteren Zeit, da Religion in Massenkultur verwandelt und Faschismus in der Massenkultur Knospen treibt, gilt es, daran zu erinnern, dass die meisten religiösen Elemente gar keine spezifischen Merkmale aufweisen. Wenn wir nicht vergessen, dass

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alle Religionen auf der Welt einem gemeinsamen Reservoir entspringen, bewahren wir uns vor dem Irrtum, religiöse Zugehörigkeit als starre Identität festzuschreiben.

(…) Den kulturellen Beitrag von Religion, nicht nur der des Islams, auf Philosophie und Zivilisation zu ignorieren und zu glauben, Religion verdumme die Menschen und vernichte die Zivilisation, mag zunächst wie leeres Geschwätz erscheinen. Treffen solche Worte aber auf die Ängste der Menschen, können sie zu einer mächtigen politischen Woge werden, der viele sich anschließen. Jede Anschauung, in deren Zentrum eine einzige Religion steht, degradiert Angehörige anderer Religionen notgedrungen zu Bürgern zweiter Klasse.

(…) Als eine Person, die das Leben aller Wesen auf Erden, ob Stein, Baum, Himmel, Vogel oder Meer, gleichermaßen schätzt und nichts heilig finden kann, um dessentwillen Blut vergossen wird, kann ich nur eine Erfahrung in Sachen Glauben anerkennen: Die unermessliche Tiefe im Empfinden des Mysteriums, das dem Menschen ein Gefühl unerschöpflichen Lebens schenkt. Diese Tiefe stellt sich ein, wenn man die Angehörigen anderer Religionen nicht als Masse wahrnimmt, sondern auf das Ich eines jeden Individuums neugierig ist. Sich auf diese Tiefe einzulassen, bedeutet auch, sich dem Ungewissen zu stellen. Die Tat meiner Großmutter ist also weder einer einzigen Religion zuzuordnen, noch hat sie etwas mit der Oberflächlichkeit unserer Zeit zu tun. Meine Großmutter schuf vielmehr ein Mysterium: Indem sie den Bettler an ihrer Tür als Gott behandelte.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

* * *

Lettre International 2011 Multikulturalistische Reduktion Sema Kaygusuz

(…) „In Sachen von großer Wichtigkeit ist Stil, nicht Aufrichtigkeit das Entscheidende“,

sagte Oscar Wilde. Was wir da Stil nennen, ist, wie Schneeflocken, deren nicht eine der anderen gleicht, ein derart geschichtsträchtiges Gebilde, dass er jede einzelne Station im Geist des Autors, des Erzählers passiert und reift, bevor aus geschliffen ins Leben purzelnden Wörtern und Worten ein Syntagma entsteht. Er speist sich aus zahllosen Quellen. Stil ist eine einzigartige Ausdrucksweise, die ihr Leben aus einem reichhaltigen Reservoir bezieht, von der Sprache der Eltern bis hin zum mündlichen Erbe der Ahnen, von kulturellen Eindrücken bis hin zur Frische gegenwärtiger Sprache, von mit Worten geknüpften musikalischen Beziehungen bis hin zur von Büchern gebildeten literarischen Tradition. Schreiben ist damit das Moment, in dem der Autor sein Selbst dem Anderen anvertraut. Zugleich bedeutet Schreiben, eine stetig kontinuierlich expandierende Beziehung zur Welt einzugehen und sich den Reduktionen wie auch Überinterpretationen zu stellen, denen die Bilder, die man in die Welt gesetzt hat, ausgesetzt sind. Auch ein Sich Hingeben ist das Schreiben. Darum ist es auch ein etwas mühseliges Unterfangen.

Vor einigen Jahren kam eine Journalistin aus Deutschland nach Istanbul, um eine Reihe von Interviews über die moderne türkische Literatur zu führen. Sie hatte meinen

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Roman Wein und Gold in deutscher Übersetzung gelesen und stellte mir einige Fragen dazu. Das Buch habe ihr gut gefallen, einige Stellen seien ihr aber schwer verständlich gewesen. Ob sie manche Passagen des Buches wohl aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Codes nicht ganz verstanden habe? Ich erinnere mich, diese Frage etwas übel genommen zu haben. Denn angesichts dieser Frage, die weder mit Ja noch mit Nein zu beantworten ist, überkam mich Verzweiflung. Plötzlich überwältigte mich der Gedanke, ich sei ihr durch meinen eigenen Text fremd geworden. Fremdheit ist eine beunruhigende Position, die bestenfalls das Gefühl weckt, Gast zu sein, schlimmstenfalls aber das des Provisorischen. (…) Bei dieser Begegnung, die weit über die gewohnte Leser-Autor-Beziehung hinausging, ertappte ich mich bei dem verzweifelten Versuch zu erklären, dass Kultur nur ein Instrument sei, um zueinander zu finden, dass Tod, Trauer, Verlassenwerden, Einsamkeit, Ausgrenzung, ödipale Wünsche, Wachstumsschmerzen, Armut und unendlich viel anderes Leid und Sorgen zum gemeinsamen Wesen der Menschheit gehören, dass die Art, wie dieses Wesen behandelt wird, sich aber in anderen Sprachen und Kulturen selbstverständlich in andere Stile hüllen könne. (…)

In meinem Land ist die Gesellschaft noch immer in Gemeinschaften organisiert, die Idee, der Bürger sei nicht für den Staat, sondern der Staat für den Bürger da, ist erst im Entstehen begriffen. Hier schmerzt es die Künstler weit mehr, dass noch immer nicht der Wille vorhanden ist, die eigenen Putschisten, Folterer und Plünderer vor Gericht zu stellen, und die Idee der Gleichberechtigung aller Bürger, wie die republikanische Umwälzung sie der Gesellschaft in der Türkei versprach, noch immer nicht installiert werden konnte. Zudem wird das vielschichtige Geflecht, das jeden Stein auf dem Boden der heutigen Türkei geprägt hat, angefangen von antiken Zivilisationen Anatoliens und Mesopotamiens wie Hethiter, Hellenen, Ionier oder Pontier bis hin zur türkischen Zivilisation, von Schamanismus und Naturglauben bis hin zu sämtlichen monotheistischen Religionen, von der römischen bis zur osmanischen Kultur, jetzt in einer sinnentleerten Form auf die türkisch-islamische Synthese reduziert dem Ausland serviert. Staatsräte für Kultur und angebliche Künstler, die von ersteren zu Beamten gemacht wurden, verwandeln authentische Werte in exotische Produkte entzückender, frohsinniger Art. Obendrein rühmen sich diese Kulturagenten noch der Fähigkeit, die eigenen, auf diese Art verkitschten Güter marktgängig gemacht zu haben, ohne sich darum zu scheren, wie sehr diese Werte dadurch vulgarisiert werden. Keine einzige der Aktivitäten, die auf internationalen, die Türkei als Ehrengast präsentierenden Events dargeboten werden, hat im eigentlichen Sinne mit Authentizität oder Kunst etwas zu tun. Die Kunst der Kalligraphie beispielsweise, deren Wurzeln ins 6. Jahrhundert zurückreichen, wird den Besuchern als kalligraphisches Handwerk präsentiert, das ihre Vor- und Familiennamen illustriert. Sich drehende Semah-Tänzer lassen phosphorisierende Gewänder wehen, sind in Wirklichkeit aber weder Sufis noch Derwische. Was Sie da sehen, ist die pasteurisierte, zum Varieté verkommene 800-jährige Tradition der Mystik, destilliert aus einer unvergleichlichen, in der menschlichen Seele Feuer entfachenden Philosophie. Was ich sagen will, ist, dass es zwischen dem Westen und der Türkei scheinbar ein bilaterales Abkommen gibt, was Kunst und Kultur betrifft. Während westliche Kunstliebhaber aus der Gewohnheit heraus, in bestimmten politischen und sozialen Kategorien zu denken, einer Autorin in ihrer eigenen Welt der Kunst einen beschränkten und leider an Bedingungen geknüpften Platz zuweisen, drängen die derzeit konservativen Kulturräte der Türkei die Künstlerin, die sie als artige Landestochter zu betrachten geneigt sind, dazu, hinreichend zahm und sittsam zu sein. (…)

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An diesem Punkt gilt es, den Diskurs des Multikulturalismus, der Grundphilosophie des Zusammenlebens in demokratischen, sich im Zuge der postmodernen Globalisierung neu strukturierenden Gesellschaften, unablässig zu zersetzen, ihn bei jeder Gelegenheit zu zerschlagen und zu diskutieren, in wie weit er der Entkonzentrierung von Kunst Vorschub leistet. Denn wir müssen eingestehen, dass Multikulturalismus kein Ideal ist, sondern eine Form würdevoller Trauer, die sich aufgrund der Tragödien im Verlauf der Menschheitsgeschichte eingestellt hat. Einige Gesellschaften versklavten andere, Majoritäten brachten Minderheiten um, eine Reihe von Mächten züchteten radikale Gruppen heran und setzten sie für Terror ein, gierige Industrielle zettelten Militärputsche in fernen Ländern an und plünderten die dortigen Energieressourcen. Menschen, die ihr Leben nicht länger am angestammten Ort fortführen konnten, wurden allein aufgrund des Lebenserhaltungstriebs zu Migranten, Exilanten oder zu Fremden. (…)

Der Unterschied zwischen Chronos und Kairos ähnelt dem zwischen Einfachheit und Schlichtheit. Chronos, der seine Söhne fraß, ist der Gott der Geschichte. Er reduziert sein Leben auf eine chronologische Dimension. Seine Geschichten stehen als Abfolgen auf einer linearen Ebene. Er schafft eine Sichtweise zugleich aber auch eine Form des Nichtsehens. Kairos dagegen, Zeus’ zweiter Sohn, begibt sich nicht in die Aktualität hinein. Er verknüpft den Zeitabschnitt, den wir als Moment bezeichnen, mit dem Urewigen. Der Moment ist der Pulsschlag im Hier. Er vereint Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in ein und demselben Herzen. Haken wir uns angesichts eines Textes bei Kairos unter, erlangen wir weit über historische und kulturelle Codes hinaus ein urewiges Wissen, das der gesamten Menschheit auf Erden gemein ist.

An dieser Stelle möchte ich von einer Erinnerung berichten. Als ich geboren wurde, pflanzte meine Großmutter in ihrem Garten einen Feigenbaum. Sechsjährig aß ich die erste Frucht der Feige und meine Großmutter erklärte mir, die Feige sei meine Schwester. Sie setzte mich mit dem Feigenbaum in Beziehung, vielleicht aufgrund ihres alevitischen Glaubens, der sich aus Schamanismus und Naturreligion speiste. Vielleicht auch nicht. Denn ich habe keine anderen alevitischen Großmütter getroffen, die sich in ähnlicher Weise verhielten. Bei ihr fiel der Glauben vermutlich mit einem besonderen Bewusstsein zusammen, für das Bäume und Menschen auf derselben Ebene standen. Möglicherweise waren die Dinge auch nur deshalb gleich für sie, weil sie in der Welt waren. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, aus Kairos’ Perspektive hatte meine Großmutter ein urewiges Gesetz vor mich hingestellt, demzufolge alle Dinge auf Erden von einem Wesen seien.

(…) aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

> Bei Interesse stellt die Redaktion der Zeitschrift Lettre International gern ein Heft mit dem vollständigen Essay zur Verfügung.

* * * La mémoire littéraire Sema Kaygusuz Je vais commencer par vous conter une histoire : Il existait autrefois un lieu sur terre appelé la Cité du consentement où l’argent n’avait pas cours et où la seule monnaie d’échange était le travail. Un voyageur qui passait par là, s’imaginant qu’il n’existait pas en ce monde de lieu plus captivant, décida de s’y installer et d’y fonder une famille. Il aborda aussitôt une femme. Celle-ci lui demanda : «

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Appartiens-tu au monde ? » « Oui », répondit-il à cette question étrange qu’il entendait pour la première fois. « Ne t’inquiète pas » lui dit-elle alors, « Je t’enseignerai la manière de vivre ici. » Cette phrase engageante de la femme offrait cordialement au voyageur de lui montrer comment vivre sans ressentir de privation ou d’excès, dans un système social où la propriété n’existait pas, où personne ne dominait quiconque et où la valeur des biens ne se mesurait pas en centimes. Le lendemain, tandis que le voyageur faisait route afin de retrouver la femme, il vit un arbre sur le bord du chemin, un grenadier. Il regarda tout autour de lui et, ne voyant personne, il grimpa prestement sur l’arbre. En véritable pilleur, il fourra dans sa sacoche la totalité des grenades et les offrit à la femme. Très en colère, celle-ci lui dit : « Comment oses-tu agir ainsi. J’ai des droits sur cet arbre. Comment peux-tu m’offrir des grenades sur lesquelles j’ai des droits ! ? » La première fois que j’ai lu ce conte dans un livre d’İmam Cafer-i Sadık, un savant de Médine ayant vécu au 8ème siècle, j’ai pensé à l’auteur d’Utopia, Thomas More, cet érudit du 16ème siècle. Avec leurs théories, ces deux penseurs se trouvaient aux deux extrémités d’un lien invisible qui reliait le présent et l’avenir. Il existe en ce monde des liens faits uniquement de mots. Chaque œuvre écrite qui, de par son existence absolue, crée son propre temps, est une parcelle de l’humanité. C’est la raison pour laquelle quand nous lisons nous nous sentons reliés au monde. Parce que les mots qui se tissent selon la géographie dans laquelle nous sommes ou la façon dont la vie s’écoule, selon les évolutions politiques ou l’inconscient sont des mailles serrées reliant au monde, d’une autre manière, tous les lecteurs de la terre. Détacher Saint Thomas d’Aquin d’Ibn-Sina, James Joyce d’Homère, Heidegger d’Ibn-i Arabi, Borges de John Milton, Dostoïevski qui dépeint le bouleversement intérieur en disant « Pourquoi n’ai-je même pas pu devenir un insecte » de Kafka qui décrit la souffrance profonde de devenir un insecte, Katherine Mansfield de Tchekhov et bien d’autres auteurs revient à diminuer la valeur des mots qui tissent leur toile dans l’espace mental de l’humanité. Même si tout grand écrivain, qui perçoit l’humanité d’un point de vue qualitatif et non quantitatif, recréée constamment le mot en ne l’utilisant pas dans son sens habituel, le lecteur révèle une aptitude à l’interprétation qui lui vient d’avoir véhiculé depuis longtemps ce mot dans son esprit. Cependant, la langue comporte toujours une frontière. Elle se propage dans des limites qui varient selon la syntaxe, le vocabulaire, les influences, l’ouverture ou la fermeture au monde du pays où elle est utilisée. Il peut arriver qu’elle se transforme en geôle pour l’écrivain qui se retrouve alors dans l’obligation de faire une description de la souffrance qu’il éprouve. Ce faisant, il doit parfois sacrifier l’essence du sentiment qui se révèle par trop abstrait. Ce que nous ressentons, nous ne pouvons le penser que dans la langue. Celle-ci s’avère alors être à la fois le maître et le serviteur de la pensée et elle poursuit son existence en tant qu’énigme à double inconnu. Pourtant la traduction est un flux, elle est l’infinité même. Une langue a beau être morte, quand on la traduit, il y a forcément une autre langue qui ressuscite. Dès que j’ai commencé à écrire, je sentais secrètement que chaque mot qui surgissait était la traduction de sentiments profonds, qu’il était une traduction d’un point de vue ontologique et je savais fondamentalement que l’imaginaire de la langue turque dans laquelle j’étais née pourrait parcourir le monde sous une lumière induite par les autres langues. Quand je parle de l’imaginaire de la langue turque, je parle du mien bien sûr. Si je présage de quoi se compose ma mémoire, le premier artiste qui me vient à l’esprit est Mehmet

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Siyah Kalem… Ce peintre mystérieux, dont on suppose qu’il a vécu au 14ème siècle, est l’artiste de la route de la soie, cet espace de transferts culturels. Siyah Kalem ne s’est pas contenté de ranimer les figures marquantes des récits anonymes transmis de génération en génération, il a mis en dessin dans un style incomparable la lente avancée entre l’Est et l’Ouest des gens ordinaires de culture asiatique. C’est un témoin mystérieux de la diversité et de la pluralité. Les nomades, les chamanes, les troubadours relatant les épopées archaïques, les missionnaires chrétiens, les manichéens, les commerçants mongols, ouïgours ou chinois étaient en quête d’un nouveau monde sous le regard de Mehmet Siyah Kalem. Le plus important chez lui vient de ce qu’il ait vu, au milieu des longues caravanes où étaient transportées la soie, le jade et les épices, les démons qui incarnent la part sombre de l’homme. C’est lui qui a eu le talent de faire en sorte que nous connaissions le corps du diable, le jumeau de chacun d’entre nous. Si le regard de Mehmet Siyah Kalem a apporté l’ensorcellement, le mythe et le présage à l’univers imagino-réaliste de mon turc, il y a eu aussi la voix des femmes. J’ai hérité des récits anonymes qu’elles ont immortalisés. Les enseignements à tirer des contes que narraient mes grand-mères m’ont permis de comprendre aisément un grand nombre d’écrivains et de penseurs dont j’allais lire les écrits par la suite. Comprendre et se souvenir découlent d’un processus identique. Par exemple, avant de lire les poètes préislamiques, j’ai appris de ces contes, qui m’introduisaient dans un monde païen, que l’homme était étranger à lui-même. Ces récits s’appuyaient non pas sur le savoir mais sur la sagesse. Pour le dire autrement, le savoir était la porte de la sagesse. Le fait que presque tous les philosophes du mysticisme musulman soient des poètes doit avoir pour origine la tradition du « bien dire ». Sultan Veled qui disait en substance « Surtout ne t’éloigne pas de mon regard, mes yeux sont ta demeure » était non seulement cet érudit du mysticisme musulman qui avait codifié la confrérie des Mevlevi au 13ème siècle, mais aussi un poète. Ces philosophes, qui interrogeaient la relation entre l’homme et l’être absolu, axaient leur poésie sur la question de la liberté de la volonté humaine. Leurs poèmes comportaient des instants. Des instants de sérénité totale, sans avant ni après, où résonnait la cyclicité qu’engendre l’homme de sagesse en quittant le monde, puis l’éternité pour enfin renoncer à quitter. La poésie du Divan, qualifiée de littérature d’élite, connut deux poètes hors du commun dont je ressens en permanence le souffle sur mon visage. L’une s’appelle Mihri Hatun et l’autre Yahya Efendi. Mihri Hatun a exprimé dans un style incomparable ses pensées et ses sentiments en tant que femme, en sachant se dégager des thèmes religieux et des opinions masculines souveraines de ce 15ème siècle durant lequel elle a vécu. C’était une poétesse douce mais enflammée. Je rends toujours grâce de l’existence de cette femme qui plutôt que de transmettre le mot l’a créé en prenant la plume. Quant à Yahya Efendi, il met au jour dans une langue malicieuse et avec un appétit sensuel inattendu de la part d’un homme de religion les désirs qui fermentent au fond de la personne humaine. Lors du sultanat de Murat IV, alors que des centaines de milliers de personnes étaient pendues dans les rues d’Istanbul pour avoir bu ou fumé ou encore s’être baladé la nuit ici ou là, Yahya Efendi a écrit des vers sur les tavernes plutôt que sur les monastères. Parce que dans l’univers des mots de Yahya Efendi, la mélancolie d’un ivrogne à la bouche tordue et aux yeux sanguinolents, dont la conscience se livrait et la foi devenait plus limpide à force de boire, était l’état le plus proche de la vérité.

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Je vous ai parlé de mon aventure personnelle jusqu’au 19ème siècle, période où l’occident fut pris pour centre de la littérature et où l’on a commencé à produire des œuvres qui ressemblaient à celles des Occidentaux. Cette aventure comporte aussi le voyage d’Ulysse, les augures des Hittites, les poèmes de Sapho, l’épopée de Gilgamesh, les chansons arméniennes, les élégies pontiques, les épopées kurdes, les cendres de la bibliothèque de l’empereur Julien sise à Constantinople. La raison pour laquelle j’intègre dans mon histoire personnelle ce temps durant lequel je n’ai pas vécu, c’est parce que je me suis approprié l’idée de Socrate qui stipulait qu’apprendre c’est se souvenir. La mémoire a sans aucun doute un aspect éthique et le fait de se souvenir est idéologique. Je dis cela en attestant que je suis une partie de ce dont je me souviens et le vide de ce que j’oublie. Je ne parle pas spécifiquement de la culture turque en ce lieu où la Turquie est l’invitée d’honneur car je pense que l’éloge d’une culture est une aberration. De même qu’aucune culture n’est vraiment au-dessus de l’autre, chacune d’elle comporte des faiblesses attristantes en raison de coutumes désastreuses. Sachant que l’éloge de la culture fait partie des responsabilités des conseillers culturels, mon rôle est de présenter une mémoire que j’ai recouvrée de la culture à laquelle j’appartiens. Le concept de culture me trouble parce qu’il met en avant la différence. Cette nouvelle politique que les idéologues actuels formulent en parlant d’« atteindre par le biais de la culture », comme si l’on venait de découvrir que les sociétés différaient les unes des autres, est devenue une manière détournée de nommer le malaise engendré par l’autre, par l’altérité. Alors qu’une « façon de voir » est en même temps une « façon de ne pas voir ». Le temps est venu s’il n’est déjà passé de mettre l’accent sur nos non-différences et non pas sur nos différences sur cette planète que nous avons tous ensemble anéantie. Alors que l’on sent encore l’odeur de sang de la guerre des Balkans, que les massacres du Darfour ne sont pas terminés, qu’un million d’enfants restés orphelins à cause de la guerre d’Irak grandissent tout seuls, que le conflit Israélo-palestinien perdure, que des millions d’êtres humains ont faim, une voie d’échapper à cette illusion d’innocence est dans les mots, même s’ils sont une traduction d’une traduction. Tant que durera l’attachement narcissique de l’humanité envers elle-même, nous serons esclave de nos illusions. Ce monde a vu passer Copernic qui a prouvé que la terre n’était pas le centre de l’univers, Darwin qui a révélé que l’homme n’était plus au centre de la vie, Freud qui a expliqué que l’homme n’était pas maître de son propre esprit. Le premier étranger que nous avons rencontré sur cette terre, le premier autre dont le malheur nous trouble, c’est nous-même. Mehmet Siyah Kalem nous a dévoilé cela des siècles auparavant. A l’heure actuelle, nous vivons entourés de livres. Nous sommes dans un espace de conscience psychique au milieu des mots qui nous enseignent que notre personnalité ne pourra pas se cristalliser. N’oublions pas qu’il n’y a pas de pouvoir absolu, de moi ou de toi total, d’autre total. Il y a notre aventure vers notre devenir avec nos désirs et nos douleurs. J’espère que chaque livre que vous lirez de mon turc vous rappellera un autre livre et que nous serons ainsi reliés les uns les autres. Ces livres ne sont pas une offre, un cadeau, ce sont des mots que vous possédez depuis longtemps. Parce que comme je l’ai dit les grenades sur lesquelles on a des droits ne peuvent être offertes. Discours prononcé le 22 avril 2009 lors de l’ouverture du salon du livre de Genève où la Turquie est l’invitée d’honneur. Traduction de Noémi Cingöz.

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* * * Web-Tagebuch im Rahmen des Projektes Der Nahe Blick / Yakın Bakış Samstag, 25. Oktober 2008 Berlin - Pferdegefühl Könige sitzen stets auf Pferden. Keiner sieht gebeugt, entmutigt oder müde aus. Gemeinsam mit ihren Pferden, auf denen sie einen perfekten Sitz eingenommen haben, sind sie mittlerweile von Kopf bis Fuß zu Bronze geworden. Wenn auch die Epauletten, die sorgfältig aufgereihten Goldkordeln und das mit silbernen Knöpfen geschmückte Gewand des Königs durch Oxidation angefangen haben, grün zu werden, so funkeln dennoch die Sporen an seinen Stiefeln. Der schweißnasse Körper des Pferdes glänzt und spürt seinen König erst auf dem Rücken, dann in den Flanken. Ich schreibe Dir all das, um Dir zu sagen, dass ein Pferdegefühl zu spüren ist, wo immer es eine Königsstatue auf Stadtplätzen oder auf den marmornen Giebelreliefs prächtiger Paläste gibt. Was für eine Art von Gefühl das ist, oder was ein König für ein Pferd, außer den Sporen, die in seine Flanken stoßen, bedeutet, weiß ich nicht. Sag mir, Liebling… Ich kann doch nicht ein Gefühl empfinden, dass es nie gegeben hat? Als ich in Berlin war, erwachte ein solches Pferdegefühl in mir. Ich stand vor der Alten Nationalgalerie und betrachtete lange den Kummer des Pferdes Friedrich Wilhelms des IV. Ich sah die versteckten Qualen, die bisher noch kein Schöpfer eines Helden zu Ross bildhauerisch hat dargestellen können. Zwischen prunkvollen Säulen hatte Friedrich Wilhelm IV sein Pferd bestiegen und blickte auf sein Preußen. Er schaute auf die Stadt mit einer Ruhe, die uns in gewisser Weise stets an den Aufruhr der Menschen erinnert, die nach der industriellen Revolution rapide verarmten, an die Katastrophe, die die in ganz Europa herrschende Kartoffelkrankheit verursachte, an Aufstände, Besetzungen, Kriege, Niederlagen und Siege, die sich in der Zeit des Kommunistischen Manifests zutrugen. Sein Pferd dagegen hatte kein Gedächtnis. Es war nur eine Figur, die weder der Vergangenheit noch der Zukunft angehörte, die von der Gegenwart umfasst war und deren Geburt und Tod längst in Vergessenheit geraten waren. Wenn es um einen König ging, so waren alle Pferde der Welt bloß einzelne lebende Sockel, die die Könige in die Gegenwart trugen. Das war, glaube ich, der Kummer, der dem Pferd nicht eingemeißelt war. Als ich im Gebäude über die Wendeltreppe nach oben stieg, sah ich noch etwas anderes. Ich stand genau hinter Friedrich Wilhelm IV. Wilhelm und sein mit dem Schweif schlagendes Pferd wirkten derart lebendig, als würden sie sich jeden Moment entfernen. Diesmal allerdings wie ein halb menschlicher, halb tierischer Mythos… Natürlich war das eine Illusion. Als der Rücken des Königs und die Kruppe des Pferdes zu einer Einheit verschmolzen, stand dort ein archaisches Wesen; weder war Wilhelm Wilhelm, noch war das Pferd Pferd. Ein den Kentauren ähnliches Etwas, das ich aus Legenden kannte. Ich meine eines dieser mythischen Wesen, deren Kopf, Brust und Arme menschlich sind, und die vom Bauch abwärts Pferd sind… Phantasten, die in vergangenen Epochen gelebt haben, müssen, inspiriert durch berittene Krieger, die Kentauren erschaffen haben. Welch verzaubernde Idee, diese dünne Linie zwischen Tier und Mensch zum Leben zu erwecken, indem man diese beiden Körper miteinander verbindet. Der Mensch ist ein krankes Tier, sagte Rousseau. Ich wiederum konnte, während ich den an einen Kentauren erinnernden Wilhelm von hinten betrachtete, nicht umhin, den Menschen als ein Lebewesen zu sehen, dem seine Animalität abhanden gekommen ist. Wie schrecklich es ist, das Tier in sich zu verlieren. Es zum Schweigen zu bringen, einzuschüchtern, sogar als etwas außerhalb des Ichs Existierendes zu bezeichnen, aber

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dennoch ab und an zu wagen, sich tierisch zu verhalten; all die Wolllust, die Befriedigung und die Verblüffung der eigenen Tierhaftigkeit, die wir nach außen gedrängt haben, sich anzutun und dabei zu versuchen, sie weitestgehend zu domestizieren, dabei gleichzeitig zu leugnen, dass alle Tiere einzelne irdische Wesen sind und ihnen das Wissen um den Schmerz abzusprechen – all das stellt einen großen Verlust dar. Biologischer Chauvinismus und das Wagnis der Poesielosigkeit setzen der Verzauberung ein Ende. Welch schreckliche Blindheit ist es doch, wenn die Zivilisation, die in Nachahmung des Vogels Flugzeuge baut und den Vogel auf ein schlichtes Emblem, ein Symbol reduziert, übersieht, dass die aus dem Ei schlüpfende Schwalbe bereits im Moment der Befruchtung ihre Zugstrecke gelernt hat und dieses Gedächtnis in einem Kosmos entstanden ist, dessen Geheimnis wir noch nicht entschlüsseln konnten. Aus diesem Grund mag ich keine Tierparks. Als ich durch den Berliner Zoo spazierte, beobachtete ich eher die Menschen, wie sie mit großer Neugier und Wissbegierde ihr in der Natur existierendes Anderes betrachteten. Mit missbilligender Miene drückte ich mich schnell an den Käfigen vorbei und erblickte den grausamen Appetit, mit dem Jugendliche auf den Boden stampften, um den in seinem gläsernen Gehege unruhig umherlaufenden Löwen zum Brüllen zu bringen. Ich befand mich also gleichzeitig in einem Menschenpark. Zwischen all denen, die vor Glasgehegen und Zäunen, Wasserkanälen und Käfigen standen und sich von den Tieren beobachten ließen… Auch wenn das hier der schönste Tiergarten nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt sein mochte, so war er doch ein schrecklicher Ort wie alle anderen. Er war nämlich wie die künstliche Höhle eines seiner Höhle entrissenen Bären, eine von Eindringlingen besetzte Intimität. Bleibt etwas vom Wesen eines Bären übrig, dessen Höhle man eingenommen hat, als das man ihn anschaut und von ihm verzaubert werden könnte? Und was soll man zu den gepanzerten Nilpferden sagen? Während sie sich in ihrem engen künstlichen See ununterbrochen aneinander vorbeizwängen, sind sie sich nicht bewußt, dass ihre dicke Lederhaut an Kampfgewänder erinnert und schnauben unaufhörlich vor sich hin. Wenn auch Du nicht wie ein Mensch, sondern mit Deiner tierischen Seite genau zugehört hättest, so hättest du das leidvolle und wütende chaotische Brummen all jenes Gezwitschers, Gebrülls und Geblökes durch die Luft dringen hören. Als ich den strengen Kotgestank wahrnahm, der durch die Käfige wehte, dachte ich unweigerlich, dass dieser Geruch auch das Tier anekeln könnte, der Ekel sogar eine der vorherrschenden Empfindungen war, die wir von unseren tierischen Vorfahren übernommen haben. Jene tiefe Begeisterung für die Tiere verwandelt sich dort in etwas anderes. Tiergärten sind eine zivilisatorische Tragödie, die die gesprenkelten Konturfedern der Fasane, die Verspieltheit der Affen, die Schaudern erregende Schönheit der Raben vereinnahmt haben. Der Zoo in Berlin war die in das Heute hinüber gespiegelte Welt der Sultane, die sich in den orientalischen Märchen im Garten ihrer Paläste Giraffen hielten, der babylonischen Könige, die aus allen Teilen der Welt Wildtiere herbeibringen ließen, um vor ihren Gästen mit ihnen zu protzen, der Artviner Jäger, die mit Falken, angekettet an ihre Handgelenke, herumspazierten, der Frauen, die mit ihren im Garten herumstolzierenden Pfauen die Metapher ihrer eigenen Schönheit mit Würmern fütterten, des karthagischen Feldherrn Hannibal, der auf Elefanten schneebedeckte Berge überwand, und Timurs, der auf den Höckern seiner Kamele Gestrüpp in Brand setzte und die Tiere dann ins Feindeslager trieb. Später dann dachte ich, dass der Mensch dem Tier eigentlich die gleiche Behandlung angedeihen läßt wie sich selbst. Gläserne Gehege, Futter mit genau berechnetem Nährwert, angemessene Klimabedingungen und künstliche geografische Formen waren nichts anderes als die Voraussetzung, damit man einen aus Alaska herübergeschafften wilden Wolf aus treuen Hundeaugen betrachten konnte. Es stellte die moderne Methode dar, jene große Hoffnung zu beenden, zum Tier werden zu können, ohne das Menschsein einzubüßen. Genau an diesem Punkt hat Tolstoi recht, der

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sagte: “Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.” Wer früher behinderte Menschen als Monster ansah und sie im Zirkus zur Schau stellte, steckte nun einhörnige Nashörner in Käfige. Im Zoologischen Garten stach jeder Atemzug in meine Brust, Liebling. Wenn ich die Bären, mit denen ich in meinen Träumen gerungen hatte, die Wölfe, mit denen ich gespielt hatte, die Hunde, deren Rudel ich mich angeschlossen hatte und die Ziegen, an deren Zitzen ich gesaugt hatte, hinter einer Grenzlinie sah, befiel mich die Panik, dass ich niemanden außer mir von den in mir schlummernden Bildern der Tiere werde überzeugen können. Nur Du allein kannst nun verstehen, dass ich alle wilden Gefühle frei von Verstand und Moral mit meiner tierischen Seite fühle. Barmherzigkeit, Zärtlichkeit, Loyalität und Spiel lernte ich von Geschöpfen mit spitzen Zähnen, phosphoreszierenden Augen, mit Klauen und Beuteln, lange bevor meine Mutter mich all das lehrte. Wenn ich mich nach dir ausstrecke, so sei Dir gewiss, dass ich, so wie ich ein Kind, einen Mann, eine Frau, einen Baum, einen Lapislazulifelsen berühre, auch Dein Fell und Deinen Schweif berühre, sich Dein Körper, wenn ich Deinen Duft verspüre, in einen wilden Raum verwandelt, auf das auch Du mein Pferdegefühl nicht vergisst.

Aus dem Türkischen von Monika Demirel

Über Sema Kaygusuz von Sevengül Sönmez

Seit ihre erste Erzählung erschien, ist es Sema Kaygusuz gelungen, sich mit jedem Werk zu erneuern und in jeden ihrer Texte ein Stück ihrer selbst und der Kultur, in der sie lebt, einfließen zu lassen. Die Städte, Stimmen und Legenden ihrer Kindheit sind von maßgeblichem Einfluss auf ihr Verhältnis zu den Wörtern und die Herausbildung ihrer Identität als Schriftstellerin. In ihrer Sprache lassen sich sämtliche Orte Anatoliens ebenso wie alle möglichen menschlichen Zustände wiederfinden, besonders aber die Schwingungen aller ihr bekannten Geschöpfe.

Kaygusuz’ jüngster Roman Yüzünde Bir Yer (Eine Stelle in deinem Gesicht), stilistisch ebenso mitreißend wie außerordentlich ruhig, stellt einen Anschlag auf unsere Lesegewohnheiten dar. Über Jahrhunderte tradierte Legenden legt die Autorin hier neu auf, wagt Interpretationen, die das Gewohnte sprengen. Sie unterhöhlt zahlreiche im öffentlichen Bewusstsein positiv konnotierte Begriffe wie Heldentum, Opferbereitschaft und Barmherzigkeit und stellt damit eine tief in der Kultur und Geografie Anatoliens und Mesopotamiens verwurzelte moralische Perspektive zur Diskussion.

(…) Sema Kaygusuz legt Texte vor, die im Hinblick auf das gesellschaftliche

Unbewusste und seine Neugestaltung im Kopf der Autorin aufmerksam gelesen werden sollten. Literarische Geografie und Zeit ist in ihren Werken alles, was sich äußern kann. Diese „poetische“ Herangehensweise macht ihre Werke zeitlos und sorgt für einen Diskurs, der allen Zeiten und Orten eigen sein kann. Die Autorin achtet in ihren Romanen und Erzählungen sorgfältig darauf, den Anschein kultureller Überlegenheit zu vermeiden. Eine humanozentrische Erzählsprache lehnt sie ab und stellt sich mit scharfer Zivilisationskritik gegen jede Hierarchie. „In den Gegenstand der Betrachtung hineinzuschlüpfen, ist ein ebenso künstlerisches wie ethisches Vorgehen“, sagt die Autorin. Stein, Baum, Wolke und Mensch stehen für sie auf ein und demselben Niveau. Sie erschüttert den Leser, packt ihn, hinterfragt ihn, zermürbt ihn und fördert seinen Reifungsprozess.

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Wein und Gold (Yere Düşen Dualar, 2006), der Debütroman der Autorin, führt zwei ineinander verschlungene Erzählstränge raffiniert zusammen, womit er dem Lesepublikum neue literarische Kost darbietet. „Ein Roman, der die türkische Literatur krönt“, urteilte der renommierte Literaturkritiker Semih Gümüş. Ein zutreffendes Urteil über Wein und Gold, wie das Interesse insbesondere der französischen Leserschaft und wichtiger Kritiker sowie zwei Auszeichnungen deutlich machen. Die Kritiker hatten Schwierigkeiten, Wein und Gold einzuordnen. Der Roman wurde für seinen ungewöhnlichen Aufbau, für die Verknüpfung vielfältiger Elemente von Homer bis zu anatolischen Legenden und sumerischer Mythologie wie auch für seine kristallklare, poetische Sprache gelobt. Über den Text hieß es, er sei ursprünglich, mythisch-poetisch, lyrisch und magisch, tiefenpsychologisch und genderkritisch.

Ihr Wille, keine von Popularität geleitete Schriftstellerin zu sein, stammt, denke ich, aus ihrem Verständnis von Sprache. In ihrer Sprache findet sich unerwartete Brutalität, für ihre Helden hegt sie weder übermäßige Zärtlichkeit noch unpassendes Mitgefühl. Oberflächlichkeit ist ihr ein Gräuel. Sie lädt den Leser zu einer Gratwanderung zwischen Einfachheit und Klarheit ein. Ihre Sprache ist voller Leben und Begeisterung und lässt es nicht an der nötigen Achtung vor den Geschöpfen mangeln. Sensorische Wahrnehmung ist das herausragendste Merkmal von Kaygusuz’ Sprache. Wenn sie Feigen beschreibt, speist sie den Leser gleichsam mit der Frucht. Mit Wein, wie sie ihn beschreibt, macht sie den Leser trunken. Die zeitlichen, assoziativen und fragmentarischen Dimensionen der weiblichen Welt strukturiert sie auf maskuline Art. In Grenzsituationen von Angst und Schrecken oder Verblüffung macht sie sich die Ästhetik des Primitiven zunutze und setzt mit sprachlichen Mitteln nicht formulierbares Geheule, lauthalses Fluchen und animalische Schreie ein. Diese sensorische Sprache speist sich aus Primitivität und Triebhaftigkeit und mag manche Leser verschrecken, von anderen wird sie beträchtlich geschätzt. Diese Sprache hat eine zahme und eine wilde Seite, wie ein Flussbett, in dem Hyperrealismus und fantastischer Realismus ineinander fließen.

(…) In der Eröffnungsansprache der Genfer Buchmesse sagte Kaygusuz, Wörter seien in

ontologischer Hinsicht eine Übersetzung, und was da in andere Sprachen übersetzt werde, sei Imagination. Die Fantasie eines einzelnen gehört der ganzen Welt. So lautet, denke ich, das Gesetz, das ihr eine derartige Unabhängigkeit erlaubt. Sema Kaygusuz hat sich in der türkischsprachigen Literatur einen Rang von Bedeutung erschrieben. Sollte sie als die „Dichterin des Romans“ in Erinnerung bleiben, würde mich das nicht wundern.

aus dem Türkischen von Sabine Adatepe In: Sprache im technischen Zeitalter SPRITZ, (195/September 2010)

Interview mit Sema Kaygusuz Milliyet Sanat, Figen Şakacı, Oktober 2009 Dieser Roman erlöste mich von dem in mich gesäten Schweigen Mit jedem ihrer Texte regt Sema Kaygusuz den literarischen Appetit ihrer Leser an, ihr zweiter Roman Eine Stelle in deinem Gesicht konfrontiert uns mit der Scham des Menschseins. (…) Seit fünfzehn Jahren, zunächst mit Erzählungen, dann mit Romanen, bewegt sich Kaygusuz auf dem Weg der Literatur, ohne sich je als „Schriftstellerin“ darzustellen. Als ihr erster Roman Wein und Gold ins Französische übersetzt und mit

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stehenden Ovationen begrüßt wurde, staunte sie ebenso wie ihre Leser. Als jene, die die deutsche Ausgabe zur Hand nahmen, bewundernd fragten: „Wer ist diese Autorin?“, horchte sie auf. Hier findet sich ihr Verhältnis zum Schreiben schon wunderbar beschrieben. Schreiben findet seinen Sinn in ihren Texten erst dann, wenn es aus jenem bekannten Schmerz im Bauch, aus dem sensiblen Herzen heraus sich in Worte ergießt. Daher kommt es, dass jeder Text von Kaygusuz den literarischen Appetit ihrer Leser anregt und ihm verdeutlicht, dass Schreiben vor allem Empfinden bedeutet. Nun ist es ihr zweiter Roman Eine Stelle in deinem Gesicht, der uns mit der Scham des Menschseins konfrontiert.

(…) Der Einfluss Ihrer Großmutter auf diesen Roman ist eindeutig… Selbstverständlich, die Quelle für diese ganze Geschichte ist die Mutter meines

Vaters. Wie sie gegen das Leid ankämpfte, das sie erlebt hat, ihre Spiritualität, ihre Weisheit, ihre Beziehung zur Natur wie auch ihre unmotivierten Wutausbrüche haben mich seit eh und je interessiert.

Sie verweisen ja stets, wenn nach den Quellen gefragt wird, aus denen Ihre Poetik sich speist, auf Ihre Großmutter. In diesem Roman spielt sie aber zum ersten Mal die Rolle einer heimlichen Heldin. Was für eine innere Zeit haben Sie abgewartet, um die „Menschen, die du in sich selbst hineingestoßen hast“, so Ihre Worte, hervorzuholen?

Als ich vor drei Jahren an dem Roman zu arbeiten begann, ging es mir nur um Hızır. Ich hatte Dutzende von mythologischen, religiösen und anthropologischen Büchern über Hızır gelesen. Als ich dann begann, den Roman zu entwerfen, fragte ich mich, warum ich gerade Hızır ausgesucht hatte. Welche Position hatte diese unsterbliche Figur, die unerwartet auftauchte, in meiner Gefühlswelt? Ich zog mich dann allein in das Landhaus eines Freundes zurück. Dort wurde mir klar, dass Hızır nichts war, was ich mir ausgesucht hatte, sondern dass er eine Gottheit war, der meine Großmutter ein Mahl vorgesetzt hatte. Er schien mein Schicksal zu sein. Allmählich kam die Erinnerung an all die Geschichten über Hızır zurück, die ich in der Kindheit von meiner Großmutter gehört hatte. Man stelle sich vor, diese Frau war vertrieben worden, hatte eine ganze Reihe Angehörige verloren, war gezwungen, ihr Alevitentum zu verheimlichen, um nicht diskriminiert zu werden, sie hatte Hunger, Krankheit, Massaker und Armut erlebt, mir aber hatte sie ausschließlich von Hızır erzählt. Warum? Warum hatte sie nicht von ihrem Leben, sondern von ihrem Imam erzählt? Warum nur hatte sie sich hinter Hızır verborgen? So begann mein Roman, Gestalt anzunehmen. Ich wendete mich der geheimnisvollen Seite von Literatur zu.

Sie sprechen von den Ereignissen, bei denen 1938 in Dersim nach inoffiziellen Angaben über 80.000 kurdische Aleviten den Tod fanden und 7.000 Menschen vertrieben wurden. Trotzdem ist es schwierig, ja, wäre es sogar falsch, „Eine Stelle in deinem Gesicht“ als politischen Roman zu bezeichnen. Auf was für einem Grat haben Sie sich da bewegt?

Da haben Sie ganz Recht, es ist kein politischer, sondern ein ideologischer Roman. Ich habe mich bemüht, das Unbewusste eines Individuums, das eine solch entsetzliche Erfahrung macht, sein unausgesprochenes Innenleben zu beleuchten. Ich habe versucht, meine Romanfiguren über Ethik, Kunst, Philosophie, Geschichte und das Wesen des Heiligen zu begreifen. Über die Geschichte von Dersim gibt es Dutzende von Büchern. Wer sich dafür interessiert, kann die Geschehnisse in den Originalquellen oder in Dokumentationen im Internet nachlesen. Mir fiel es zu, mich um das Schweigen zu kümmern, das eine Überlebende des Massakers den nachfolgenden Generationen hinterlassen hatte.

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In dieser Region kämpft der Multikulturalismus noch immer um sein Recht auf Leben. Wie sehen Sie die Schritte, die unter der Bezeichnung Öffnung unternommen wurden? Wird es Ihres Erachtens zu einer Verbesserung kommen, erhoffen Sie sich etwas von der Politik?

Ich wäre gern optimistisch. Es ist schon trostreich, dass das Wort Multikulturalismus überhaupt ausgesprochen wird. Andererseits wird dieser Diskurs arg missbraucht und ausgehöhlt. Dieser Reichtum, der seit eh und je besteht, wird immer nur als Teil eines großen Problems behandelt. Denken Sie einmal nach, kommen zwei Personen zusammen, ist nicht einer ein Fremder, sondern beide sind Fremde und die begegnen einander natürlicherweise mit ihren Kulturen. Der eine kocht eine Speise, wie er sie kennt, der andere singt ein ihm bekanntes Lied. Sich über die Kultur kennenzulernen, ist eine ganz normale Beziehungsform.

Der Multikulturalismusdiskurs ist der Diskurs eines Eingeständnisses, der aufkam, weil diese Beziehung beschädigt ist. Wenn der Nationalstaat unfähig ist, die Rechte seiner Bürger unter egalitären Bedingungen zu gewährleisten, wenn er sich stattdessen auf die Eigenschaften türkisch und sunnitisch als Grundfesten stützt, bleiben viele Menschen außen vor. Das Gefühl, der Andere zu sein, wird noch geschürt. Diese Art, außerhalb des Staats zu sein, bedeutet, etwas zu entbehren. Die AKP [Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung] entwickelt jetzt heroische Diskurse. Das kommt mir wenig glaubhaft vor. Das sind keine Demokraten, es sind Islamisten neuer Generation im Anzug, Calvinisten, die wissen, was die aktuelle Konjunktur erfordert. Sie sagen so Dinge wie: Mutterschaft hat keine Ideologie. Dabei hat Mutterschaft sehr wohl eine Ideologie. Wenn das Leid einer Mutter dem einer anderen ähnelt, dann ist das Trauer. Und erst Reden wie: Kurden und wir sind unzertrennliche Freunde, ärgern mich. Geschwisterschaft kann eine zerstörerische Beziehung sein. Der erste Mord im gemeinsamen Gedächtnis der Menschheit ist der von Kain. Zunächst muss man sich von der Wahrnehmung lösen, Kurden seien jene, die keine Türken sind. Es muss eine Beziehung hergestellt werden, die stärker ist als die von Geschwistern, eher so etwas wie Freundschaft oder Liebe. Mir gefällt diese kurdische Initiative nicht besonders, ich habe einen ganz anderen Traum für die Türkei.

Wie sieht denn Ihr Traum für die Türkei aus? Gerechtigkeit. Was nicht vergeben werden kann, muss benannt werden. Wenn diese

Gesellschaft wachsen will, muss sie sich zunächst erwachsen verhalten und das Schuldgefühl annehmen. Sie muss preisgeben, wer schuldig ist, muss begreifen, dass sie mitschuldig ist an Verbrechen, denen sie unbeteiligt zugeschaut hat. Die Verantwortlichen für die Massaker von Dersim und Maraş, für den seit dreißig Jahren andauernden Bürgerkrieg, den Brand von Sivas, die Gazi-Ereignisse, den Putsch vom 12. September, den Überfall auf Başbağlar, die ermordeten Journalisten und diverse weitere Verbrechen an der Menschlichkeit müssen mit Tat und Namen in die offizielle Geschichte eingehen. Das muss geschehen, damit wir uns von der Unmoral läutern, dass Schuld verschleiert und Menschen ermordet werden könnten.

In „Gold und Wein“ hatten Sie die Spur von Reben und Wein verfolgt. Im neuen Roman sind Sie im „Zeitalter der Feige“. Mit der Sprache der Feigen, von der im Roman die Rede ist, spiegeln Sie auch die Ontologie des Frauseins, nutzen sogar unbeschwert die Möglichkeiten der Erotik.

Wenn es jetzt Erotik heißt, werden manche an Nacktszenen denken, wir wollen ihnen nicht vergebens Hoffnung machen. Sensibilität ist wohl ein passenderes Wort. Ich habe mich im Roman darum bemüht, Geschmack, Düfte und Emotionales nicht zu kurz kommen zu lassen. Mit der Feige hatte ich eine ironische Kritik der Zivilisation im Sinn, die die weibliche Existenz zum „Anderen“ macht. Die Feige ist, wie Sie wissen,

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als Frucht sowohl erotisch als auch heilig. Die Bedeutungen, mit denen sie befrachtet wird, sind fast dieselben diskriminierenden Zuschreibungen, mit denen im Laufe der Geschichte auch die Frau belegt wurde. Heilend und tötend, bezaubernd und vernichtend, da finden sich sämtliche Dualismen. Dabei gibt es bei uns den Ausdruck „Verstand einer Feige“, damit ist etwas ganz anderes gemeint als der genderfixierte Verstand, der uns zugeschrieben wird, nämlich ein natürlicher Verstand, der nichts ist als er selbst. Über einen solchen Verstand verfügen wir noch nicht.

Ist es Ihrer Meinung nach ein befreiender Diskurs, von Bäumen zu reden? Es reicht nicht, von Bäumen zu reden. Um die Zerstörung der Frau zu verstehen,

reicht ein Blick auf den Erdboden. Die Zivilisation hat sich der Frau gegenüber ebenso verhalten wie gegenüber der Natur. Sie hat sie der Disziplin unterworfen, mit Opferbereitschaft betraut, ausgebeutet und, wenn sie nicht tat, was sie sollte, verachtet. Die Auswirkungen erleben wir jetzt. Heute können wir weder von Frauen-, noch von Kinder-, noch von Menschenrechten sprechen, ohne für die Rechte der Bäume, der Tiere, der Steine und des Erdbodens einzutreten. Wenn wir nicht in der Lage sind, uns unserer Heimstatt anzunehmen, können wir uns auch nicht einander annehmen.

Andererseits kehren Sie als Frau in dem Roman dem Heim, der Gebärmutter den Rücken. „Bedeutet gebären womöglich, der vollkommenen Seele etwas zu nehmen?“, fragen Sie. Wir haben es hier mit einer Erzählerin zu tun, die übel nimmt, geboren zu sein.

Mir ist bewusst, dass es Unsinn und anomal ist, das Nichtgebären zu erhöhen. Wenn man sich aber fürchtet, möglicherweise sein Kind umzubringen, dann erscheint mir das wie eine willentliche Unfruchtbarkeit. Zudem können wir ja keine Regel aufstellen, nach der jede Frau gebären müsse. Akzeptierten wir das, stellten sich noch andere Ministerpräsidenten hin und bestellten drei Kinder pro Frau. Niemand außer der Frau selbst kann über ihre Gebärmutter bestimmen. Sie kann sie, wenn sie das möchte, auch entfernen lassen. Sie kann nicht zur Mutterschaft verpflichtet werden, nur weil sie die natürliche Gabe dazu hat. Dazu kommt, dass Mutterschaft eine Qualifikation erfordert.

Das sagen Sie, dennoch strahlt Ihre Sprache mütterliche Milde aus. Der Roman macht sich Koranverse und Märchen zunutze und baut auf Assoziationen. Hatten Sie das vor dem Schreiben so geplant?

Weiblichkeit hat eine zeitliche Dimension. Mit jeder Assoziation springe ich von einer Zeit zur anderen. In diesem Sinne hat die Sprache in Bezug auf Milde, Ratschläge und Märchenhaftigkeit durchaus etwas Mütterliches. Das maskuline Denken dagegen ist räumlich, betrifft also die Architektur des Romans. Als ich den Text plante, habe ich von Anfang an drei Handlungsstränge festgelegt. Der erste ist Bese, die aus Dersim Vertriebene, der zweite Hızır und der dritte die Feige. Diese drei Thematiken habe ich miteinander verknüpft. Da habe ich also auch ein wenig wie ein Vater gehandelt.

Hızır, der uns durch den ganzen Roman hindurch wie ein Gewissen oder auch wie ein Schatten begleitet, ist ja so etwas wie eine Vaterfigur, die Sie behandeln, ohne der Allegorie zu schmeicheln.

Ja, er ist wie ein Vater. Schwer verständlich, abstrakt und fern. Hızır ist so interessant, so urewig, dass ich selbst staunte, je mehr ich über ihn erfuhr. Er geht bis auf die Sumerer, auf die alten Inder zurück. Ziehen Sie vom nahöstlichen Längengrad eine Linie, in der halben Welt finden Sie Hızır. Dieselbe Erscheinung unter unterschiedlichen Namen. Ein Freund, eine Gottheit, ein Engel, ein Heiliger, ein Meister und vieles andere mehr. Sie kommen alle vor, ich will hier nicht alle wiederholen.

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Im Roman wechseln Sehende und Gesehenes mit Hilfe eines Fotografen ständig ab. Wir sind mit einer Autorin konfrontiert, die geradezu die Moral des Auges hinterfragt, ja, die sogar der Kultivierung des Auges zürnt. Was ist Ihr Problem mit dem Sehen?

Sehen ist eine Haltung. Manche sehen sogar nur, was sie wissen. Mancher spannt, mancher starrt, mancher beobachtet, mancher ist auch selbst das, was er betrachtet. Die Kultivierung des Auges bedeutet in meiner Gefühlswelt, dass die „künstlerische Persönlichkeit“ die Menschheit u.a. ihrer Leiden und ihrer interessanten Aspekte beraubt. Gegen diesen räuberischen Blick wollte ich mich nach Kräften wehren.

(…) Sie haben bisher weder in Ihren Büchern noch in Interviews Ihre alevitische

Herkunft betont. Mit den Ereignissen von Dersim [im aktuellen Roman] rühren Sie nicht nur tief an Ihre eigenen Erinnerungen, sondern an das Gedächtnis unserer Gesellschaft. Können wir sagen, dass Sie an dem Punkt, an dem Sie heute stehen, eine Selbstzensur überwunden haben?

Meine persönliche Beziehung zu Identität und Kultur bewegt sich auf der Ebene von Interesse und Verstehen. Mein Alevitentum habe ich nicht betont, weil ich das nicht für nötig hielt. Ich habe weder versucht, damit Aufmerksamkeit zu erregen, noch es zu verbergen. Solche Dinge finde ich ungehörig. Sich der Kultur zu rühmen, in die man hineingeboren und ein Teil derer man ist, damit aufzutreten, ist chauvinistisch. Wertvoller als eine solche Identität ist es, eine sorgfältige Schriftstellerin, eine gute Ärztin, ein geschickter Tischler zu sein. Außerdem mag ich keine korporativen Beziehungen. Allein aufgrund meiner alevitischen Herkunft Sympathie zu wecken, verletzt mich ebenso sehr, wie Antipathie aus demselben Grund. Es reicht, wenn jene, die ich mag, auch mich mögen. Auch war in meinem Elternhaus der Sozialismus vorrangig. Nach Kultur, Konfession, Familienname wurde nicht gefragt. Geachtet dagegen waren Können, Recht und Gerechtigkeit. Außerdem stammt die Familie meiner Mutter aus Saloniki. Damit geht ein Zweig meiner Familie vielleicht auch auf jüdische Konvertiten zurück. Soll ich jetzt als Alevitin dieser Tradition den Rücken kehren oder als Jüdin dem Alevitentum?

Ich habe mir ein eigenes Zugehörigkeitsmodel geschneidert. Einem Dogma folge ich nicht, ich bin nicht an monotheistische Religionen gebunden, mein Verstand ist agnostisch, wenn ich schreibe, bin ich Deistin, so bin ich also alles zusammen und zugleich nichts davon. Eine Stelle in deinem Gesicht ist mein persönlicher Befreiungsmythos. Das Buch habe ich geschrieben, weil ich in meine Feigenepoche eingetreten bin. Der Roman hat dafür gesorgt, dass ich das in mich gesäte Schweigen ablegen konnte.

(…) Denken Sie, dass es einen Mehrwert für seine literarische Welt bedeutet, wenn ein

Autor populär wird? Nein, die literarische Welt ist unabhängig von Aktualität. Ich denke aber, obwohl

das Verlagswesen mittlerweile hoch entwickelt ist, findet Literatur noch nicht ausreichend Verbreitung. Ganz im Gegenteil, sie hat an Boden verloren. Sie sehen es an den Fernsehserien, da werden, einmal abgesehen von Hanımın Çiftliği [Orhan Kemal], literarische Werke verhunzt. In meiner Kindheit erschienen die Romane von Yaşar Kemal als Fortsetzungen in den Zeitungen. Das staatliche Fernsehen TRT brachte kinoreife Adaptionen, Radios sendeten Lesungen. Die Leute mischten Zitate von ihren Lieblingsautoren ein, wenn sie sprachen. Vielleicht leben wir jetzt in einer Übergangsphase. Ich will nicht nostalgisch werden. Es werden sehr schöne Bücher veröffentlicht, darauf kommt es an. (…)

aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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Anhang 2: Bildmaterial

Foto: Muhsin Akgün

Foto: Muhsin Akgün * Zusammengestellt von Yeşim Vesper und Sabine Adatepe

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