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Störungen der Exekutivfunktionen Sandra Verena Müller Fortschritte der Neuropsychologie

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Störungen der Exekutivfunktionen

Sandra Verena Müller

Fortschritte der Neuropsychologieherausgegeben von

A. Thöne-Otto, H. Flor, S. Gauggel, S. Lautenbacher und H. Niemann

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ISBN 978-3-8017-1761-2

Die Exekutivfunktionen können infolge verschiedenster Hirnerkran-kungen, die insbesondere den präfrontalen Kortex betreffen, gestört sein. Störungen der Exekutivfunktionen werden trotz weitreichender

Auswirkungen auf den Rehabilitationserfolg bisher im diagnostischen und therapeutischen Prozess nicht ausreichend berücksichtigt. Dem soll der vor-liegende Band entgegenwirken.

In verständlicher Art und Weise wird eine Übersicht über die Bandbreite der exekutiven Dysfunktionen in Kognition und Verhalten und deren theore-tische Einordnung gegeben. Ein Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des diagnostischen Prozesses; neben testpsychologischen Instrumenten werden Fremd- und Selbstbeobachtungsbögen präsentiert. Einen zweiten Schwer-punkt bildet die Darstellung der Interventionsmöglichkeiten bei exekutiven Dysfunktionen. Neben kognitiv übenden Ansätzen, Methoden des Verhal-tensmanagements und den Therapieansätzen zur Modifikation der Umwelt wird auf die wichtige Rolle der Angehörigen verwiesen. Illustriert werden die unterschiedlichen Symptome und die verschiedenen Interventionsansätze anhand von Fallbeispielen.

Der vorliegende Band richtet sich an (Neuro-)Psychologen, Ärzte und Ergothe-rapeuten, die mit Patienten mit exekutiven Defiziten arbeiten und bietet eine kompakte Übersicht über das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei der Behandlung von Störungen der Exekutivfunktionen.

9 783801 717612

Störungen der Exekutivfunktionen

Fortschritte der NeuropsychologieBand 13Störungen der Exekutivfunktionenvon Prof. Dr. Sandra Verena Müller

Herausgeber der Reihe:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Dr. Hendrik Niemann

GöttinGen · Bern · Wien · Paris · OxfOrd PraG · tOrOntO · BOstOn · amsterdamKOPenhaGen · stOCKhOLm · fLOrenZ

von Sandra Verena Müller

Störungen der Exekutivfunktionen

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwor-tung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Prof. Dr. Sandra Verena Müller, geb. 1967. 1987–1993 Studium der Psychologie in Braun-schweig und Oldenburg. 1997 Promotion, anschließend klinische Tätigkeit in einer Rehabili-tationsklinik und an der Medizinischen Hochschule Hannover. 2000–2007 Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für klinische Neuropsychologie in Magdeburg. 2007 Habilitation. 2008–2009 Leiterin der Abteilung Neuropsychologie der Klinik für Neurologie des Universi-tätsklinikums Magdeburg. Seit 2010 Professorin an der Ostfalia-Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fakultät Soziale Arbeit. Forschungsschwerpunkte: Störungen der Exekutiv-funktionen, berufliche Rehabilitation, Demenz bei geistiger Behinderung.

http://www.hogrefe.de Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien

© 2013 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGGöttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag • Toronto • Boston Amsterdam • Kopenhagen • Stockholm • Florenz Merkelstraße 3, 37085 Göttingen

Umschlagbild: © Bildagentur Mauritius GmbHSatz: Meike Cichos, GöttingenFormat: PDF

ISBN 978-3-8409-1761-5

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Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materi-alien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

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Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus S. V. Müller: Störungen der Exekutivfunktionen (ISBN 9783840917615) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1 Exekutivfunktionen und ihre Störungen . . . . . . . . 21.1 Historische Begriffsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Exekutivfunktionen: Ein Regenschirmbegriff? . . . . . . . . 31.3 Epidemiologische Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.4 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.5 Assoziierte Störungen des Dysexekutiven Syndroms . . . 121.5.1 Fehlende oder mangelnde Krankheitseinsicht . . . . . . . . . 121.5.2 Störungen der Aktivitätsdefi zitsmodulation . . . . . . . . . . . 151.5.3 Störungen des Sozialverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.5.4 Veränderungen der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232.1 Schädelhirntrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242.2 Zerebrovaskuläre Schädigungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252.3 Extrapyramidale Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252.4 Entzündliche Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262.5 Demenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272.6 Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter . . . . 272.7 Andere Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

3 Neuropsychologische und neurobiologische Störungstheorien und -modelle . . . . . . . . . . . . . . . 29

3.1 Supervisory Attentional System (SAS) . . . . . . . . . . . . . . 293.2 Working Memory (WM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313.3 Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323.3.1 Goal Neglect (Zielvernachlässigung) . . . . . . . . . . . . . . . 343.4 Das Konzept der somatischen Marker von Damasio . . . . 343.5 Das faktorenanalytische Modell von Miyake. . . . . . . . . . 363.6 Theory of Mind (TOM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393.7 Theorien zu Motivation und Antrieb . . . . . . . . . . . . . . . . 41

4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424.1 Testpsychologische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444.2 Fragebögen und Ratingskalen zur Erfassung exekutiver

Dysfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564.3 Besonderheiten und Herausforderungen bei der

Diagnostik exekutiver Dysfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

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4.4 Diagnostik exekutiver Dysfunktionen bei Fahreignungs- untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

5 Die Behandlung von exekutiven Defi ziten – Therapiemethoden und ihre Wirkweise . . . . . . . . . 625.1 Darstellung der Therapiemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 625.1.1 Kognitiv übende Therapieansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635.1.1.1 PC-gestützte kognitiv übende Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . 695.1.2 Therapieansätze des Verhaltensmanagements . . . . . . . . . 725.1.2.1 Methoden des Verhaltensmanagements bei Antriebsmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775.1.3 Der Einsatz externer Reize oder Hilfsmittel. . . . . . . . . . . 805.1.4 Die Rolle der Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815.2 Wirkweise der Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865.3 Kombination der Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875.4 Effektivität und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885.4.1 Evaluierte Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895.5 Probleme bei der Durchführung der Therapie . . . . . . . . . 975.6 Berufl iche Wiedereingliederung und Selbstständigkeit im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

6 Zwei Patienten mit exekutiven Dysfunktionen – zwei Behandlungsverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

7 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057.1 Übungsmaterialien und Ratgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

8 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

9 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Tagesstrukturplan zur Aktivierung bei Antriebsmangel . . 118 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

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Vorwort

Wenn wir unseren Alltag erfolgreich bewältigen oder neue, unbekannte Aufgaben in Angriff nehmen wollen, erfolgt das mithilfe der sogenannten „Exekutiven Funktionen“. Sie koordinieren die Zwischenschritte unserer Handlungsplanung und zeigen uns Alternativen bei Komplikationen auf. So gesehen bezieht sich der Begriff „Exekutivfunktionen“ (EF) auf höher-geordnete mentale Kapazitäten, die von kognitiven Basisfunktionen wie Gedächtnis, Wahrnehmung oder sprachlichen Fähigkeiten und v. a. dem Arbeitsgedächtnis in hohem Maße abhängig sind, aber umgekehrt diese wiederum auch bedingen. Sie spielen dementsprechend für die selbststän-dige Lebensführung des Menschen eine außerordentlich zentrale Rolle. Das Konzept Exekutivfunktionen erfährt nach langer Vernachlässigung in jüngster Zeit eine enorme Popularität, weil gezeigt werden konnte, dass Rehabilitationserfolge von Patienten in großem Ausmaß von intakten exe-kutiven Komponenten abhängen (Stuss & Alexander, 2007; Miyake, 2000).

Die Exekutivfunktionen können infolge verschiedenster Hirnerkrankungen, die insbesondere das Frontalhirn und hier vornehmlich den präfrontalen Kortex mit seinen kortikalen und subkortikalen Verbindungen betreffen, gestört sein. Störungen der Exekutivfunktionen können weitreichende Aus-wirkungen auf den Rehabilitationserfolg und infolge dessen auf die Selbst-ständigkeit im Alltag sowie Einfl uss auf eine mögliche berufl iche Reinte-gration haben. Den Exekutivfunktionen sollte also im klinischen Alltag eine wichtige Rolle zugestanden werden. Dazu braucht es Neuropsychologen, die entsprechend in Diagnostik und Therapie exekutiver Dysfunktionen mit ihren kognitiven Defi ziten und Verhaltensauffälligkeiten ausgebildet sind. Dem soll der vorliegende Band dienen.

Schließlich möchte ich mich bei allen Patienten und deren Angehörigen, von denen ich viel lernen durfte, bedanken. Auch möchte ich mich bei folgenden Kollegen bedanken, die mir kritische und hilfreiche Rückmel-dungen gegeben haben, aber natürlich nicht für den Inhalt verantwortlich sind: Dipl.-Psych. Michael Brasse, Dipl.-Psych. Anja Fellbrich und M.A. Christian Wolff. Weiterhin gilt mein Dank für die sehr angenehme und konstruktive Zusammenarbeit Frau Dr. Angelika Thöne-Otto und Herrn Prof. Siegfried Gauggel, die vom Herausgeberteam „Fortschritte der Neu-ropsychologie“ meine Arbeit betreut haben, und Frau Dipl.-Psych. Kathrin Rothauge, die mir als Lektorin vom Hogrefe Verlag hilfreich zur Seite stand. Ebenso möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die mir häufi g den Rücken freigehalten haben und last but not least meinem Ehemann Eberhard Dolezal, der mich stets in meinen berufl ichen und wissenschaft-lichen Belangen unterstützt hat.

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Viele unter-schiedliche

Defi nitionen

Wortbedeutung: Steuerungs-

oder Leitungs-funktionen

1 Exekutivfunktionen und ihre Störungen

1.1 Historische Begriffsentwicklung

Kaum ein Konzept der Neuropsychologie erscheint so uneinheitlich und widersprüchlich wie das der Exekutivfunktionen (EF). Charakteristisch ist, dass Eslinger in einem Artikel von 1996 bereits über 33 verschiedene Defi nitionen berichtet. Nur wenige Störungen stellen die Neuropsycholo-gen bei Diagnostik, Therapie und gutachterlichen Tätigkeiten vor eine ver-gleichbar anspruchsvolle Aufgabe.

„Exekutivfunktion“ ist ein aus dem Englischen entliehener Begriff, der in der Regel mit Steuerungs- oder Leitungsfunktionen übersetzt wird. Der Begriff Steuerungs- oder Leitungsfunktion blickt auf eine lange Geschichte zurück. Im Bereich der Biologie war es von Uexküll (1920; zitiert nach Hassenstein & Hildebrandt, 1999), der von Steuerung sprach, wenn das zentrale Nerven-system oder – durch dessen Vermittlung – Sinnesreize bestimmen, welche Muskeln sich kontrahieren oder erschlaffen und welches Verhalten des Orga-nismus dadurch zustande kommt. In der Terminologie von Uexkülls verbindet der Steuerungsapparat die „Merkwelt eines Organismus mit seiner Wirkwelt“.

In der Psychologie spielt Steuerung zum einen im Sinne der Handlungs-steuerung in Bewusstseins- und Aufmerksamkeitstheorien eine zentrale Rolle und zum anderen als Vorläufer kybernetischer Theorien. Weiterhin spielt der Begriff in der kognitiven Psychologie in Bezug auf motorische Handlungsorganisation eine zentrale Rolle. So taucht der Begriff „con-trol“ im Sinne von Steuerung erstmals bei Baldwin auf (1889, zitiert nach Müller, 1999) und bedeutet Hemmung von Refl exen und automatisierten Handlungen sowie Unterbrechung von Instinkthandlungen. Einen spezifi -scheren Aspekt von Steuerung, nämlich die Verhaltenssteuerung betrach-tet Skinner (1938, zitiert nach Müller, 1999): Das Verhalten einer Person wird von der Genetik, von seiner umweltbedingten Geschichte und von der Person selbst gesteuert. Skinner war der Ansicht, dass wir kein Leben ohne Steuerung wählen, sondern lediglich die Steuerungsbedingungen ändern können. Auch der Psychoanalytiker Hartmann (1960, zitiert nach Müller, 1999) betrachtet Steuerung als Moment der Anpassung an die Umwelt. Er nimmt an, dass Ich-gesteuerte menschliche Handlungen die Beziehung zur Umwelt aktiv verbessern können. So entsteht mit zunehmender Verinnerli-chung ein zentraler Steuerungsfaktor, die Innenwelt oder das Ich. Als Vor-läufer der kybernetischen Theorie fi nden wir den Begriff Steuerung bei Karl Bühler, welcher stärker den kommunikativen Aspekt von Steuerung betont (1927, zit. nach Müller, 1999). Steuerung fi ndet bei ihm als zweckvolle ge-genseitige Beeinfl ussung des Verhaltens der Mitglieder einer Gemeinschaft statt. Im Rahmen des Problems der gegenstandsgerechten Reizverarbeitung

Handlungs-steuerung

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benutzt Norbert Bischof (1984, zit. nach Müller, 1999) den Begriff „Steue-rung“ im Sinne gerichteter Wirkung. In der Handlungstheorie bei Miller, Ga-lanter und Pribram (1969) wird der Begriff „Verhaltenssteuerung“ im Sinne einer Ablauffolge verwandt, die durch die innere Vorstellung des Organis-mus vom Universum gesteuert wird (vgl. auch Kap. 3.3).

In der kognitiven Psychologie sprechen Shiffrin und Schneider (1977) in ih-rer Zwei-Prozess-Theorie von automatischen und gesteuerten Prozessen. In neueren Theorien wie der Motorkontrolltheorie von Hughes und Stellmach (1965, zit. nach Müller, 1999) wird angenommen, dass Steuerung an meh-reren verteilten Orten stattfi ndet. Der Begriff Steuerung als Vorläufer des Begriffs Exekutivfunktionen basiert auf einer klassischen ingenieurswissen-schaftlichen Sichtweise, bei der von einer Trennung von Steuerungsgerät und Steuerungssystem ausgegangen wird. Biologische Systeme sind jedoch autonom und benötigen keine externe Steuerung. Autonome Steuerung be-fi ndet sich aufgrund seiner Selbstorganisation innerhalb des Systems.

In der Neuropsychologie werden Exekutivfunktionen als metakognitive Prozesse bezeichnet, die zum Erreichen eines defi nierten Ziels die fl exible Koordination mehrerer Subprozesse steuern bzw. ohne Vorliegen eines de-fi nierten Zieles an der Zielerarbeitung beteiligt sind. Exekutivfunktionen sind Regulations- und Kontrollmechanismen, die zielorientiertes und situ-ationsangepasstes Verhalten ermöglichen. Exekutivfunktionen regulieren top-down domänenspezifi sche Fähigkeiten und kommen ins Spiel, wenn die Situation ein Abweichen von eingeschliffenen Handlungsroutinen er-fordert (Baddeley, 1986; Norman & Shallice, 1980).

Im Folgenden werden die Begriffe Störungen der Exekutivfunktionen, Stö-rungen der exekutiven Funktionen und dysexekutives Syndrom synonym verwand.

Merke:

Der Begriff Exekutivfunktionen stammt ursprünglich aus dem Englischen und bedeutet Steuerungs- oder Leitungsfunktion.

1.2 Exekutivfunktionen: Ein Regenschirmbegriff?

Exekutivfunktionen (EF) stellen als höhere kognitive Leistungen eine sehr he-terogene Gruppe von Prozessen dar. Viele Autoren haben versucht den Begriff zu defi nieren, die meisten bleiben jedoch unvollständig und oberfl ächlich. So schreibt Lezak zutreffend (2004), „The most complex of behaviors, executive functions are intrinsic to the ability to respond in an adaptive manner to novel situations and are also the basis of many cognitive, emotional, and social skills (S. 611).“ Von Cramon und Schubotz (2005) setzen einen etwas anderen Fo-

Exekutiv-funktionen als metakognitive Prozesse

Heterogene Gruppe von Prozessen

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kus: „Exekutivfunktionen schaffen die Voraussetzung für die ‚Orchestrierung‘ komplexen Verhaltens, besonders dann, wenn zielgerichtetes Verhalten die Verarbeitung widersprüchlicher und interferierender Informationen verlangt (S. 189).“ Die Defi nition von Gazzaley und D’Esposito (2007) repräsentiert einen aktuellen Trend, anstelle einer Defi nition im engeren Sinne den Begriff durch die enthaltenen Prozesse zu beschreiben: „This label (EF) encompasses a diverce collection of processes, including divided and sustained attention, working memory, fl exibility of thoughts, set shifting, motor sequencing, pla-ning, and the regulation of goal directed behavior.“

Die meisten Autoren gehen letztlich davon aus, dass EF ein psycholo-gisches Konstrukt sind, welches verschiedene unabhängige Prozesse um-fasst, die selektiv gestört sein können. Die dabei auftretenden klinischen Symptome können sich neben den kognitiven Störungen auch in sehr un-terschiedlichen Verhaltensstörungen präsentieren (Abb. 1).

Lange wurde sich sowohl in der Forschung als auch im klinischen Kontext auf die kognitive Ebene der Exekutivfunktionen konzentriert, jedoch die motivationale, die emotionale und die affektive Ebene nur sehr unzurei-chend berücksichtigt.

Abbildung 1:Exekutivfunktionen – ein Regenschirmbegriff: Der Versuch einer Systematisierung der

Komponenten exekutiver Dysfunktionen (angelehnt an Müller, 2007, S. 11)

In der Literatur fi nden sich mannigfaltige Formen der Untergliederung von Komponenten exekutiver Funktionen und Dysfunktionen auf unterschied-lichem Differenzierungsniveau (z. B. Smith & Jonides, 1999; Müller et al., 2005; Matthes-von Cramon 2006; Drechsler, 2007). Für die theoriegeleitete

Klinische Symp-tome: kognitive und Verhaltens-

störungen

Vorausschau/Antizipation Planung Ausführung Selbstbeobach- tung/-kontrolle • Unrealistische Erwartungen • Stereotypie • Perseverationen • Zwanghaftigkeit • Reizabhängigkeit • Ablenkbarkeit • Intrusionen • Konfabulation • Sozial unpassendes • Impulsivität • Automatisiertes • Emotionale Un- Verhalten • Schlechte Verhalten kontrolliertheit • Unfähigkeit Konsequenzen Organisation • Abulie • Schlechte vorherzusehen • Vermindertes • Antriebsminderung Fehlererkennung, • Unfähigkeit zum intentionales • Unfähigkeit ein mangelnde abstrakten Denken Verhalten Regelwerk Fehlerkorrektur • Mangelnde Krankheits- aufrechtzuerhalten einsicht

Exekutivfunktionen und ihre Störungen

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Entwicklung von Interventionsmethoden ist neben dem Versuch einer kla-ren begriffl ichen Abgrenzung des Ausdrucks „Exekutivfunktionen“ auch eine klare Differenzierung in Symptome oder ihre Komponenten notwen-dig. Zwei bemerkenswerte Eigenschaften exekutiver Funktionen sind Fle-xibilität und Persistenz. Es müssen perzeptuelle, kognitive und motorische Systeme jederzeit wechselnden Aufgabenanforderungen angepasst werden können (Flexibilität). Gleichzeitig müssen bestimmte kognitive Konfi gura-tionen, sogenannte „Task-Sets“, über eine gewisse Zeit trotz Ablenkungen aufrechterhalten werden können (Persistenz). Dies erfordert eine dyna-mische Balance zwischen diesen gegensätzlichen Erfordernissen. Beim dysexekutiven Syndrom kann es dementsprechend zu Positiv- und Nega-tivsymptomen oder Plus- und Minussymptomatik kommen (Tab. 1), wobei in Abhängigkeit von Art und Ausprägung der Symptome unterschiedliche neuropsychologische Interventionen sinnvoll sind.

Tabelle 1:Darstellung der Unterteilung der Exekutivfunktionen in einzelne Komponenten bei Un-

tergliederung in Positiv- und Negativsymptome. Positivsymptome subsummieren ein „zu viel“ an Verhalten, Negativsymptome ein „zu wenig“ oder fehlendes Verhalten

Antizipation Planung Ausführung Selbst-beobachtung

Positiv-Symptome

– Überhöhte Erwartungen

– Sozial unpassendes Verhalten

– Erhöhte Ab-lenkbarkeit

– Stereotypien– Impulsivität

– Perseverati-onen

– Intrusionen– Automatisier-

tes Verhalten

– Konfabulation– fehlende

emotionale Kontrolle

Negativ-Symptome

– Mangelnde An-tizipation von Konsequenzen

– Anosognosie

– Schlechte Organisation

– Unaufmerk-samkeit

– Abulie– Antriebsmin-

derung– Mangelnde

Aufrechterhal-tung von Sets

– Schwierigkeit in der Aufga-benüberwa-chung

– Schwierigkeiten Feedback zu nutzen

In der aktuellen Literatur ist ein Trend zu beobachten, anstelle einer De-fi nition eine Aufzählung der subsummierten Funktionsbereiche zu geben. So unterscheiden beispielsweise Miyake und Mitarbeiter (2000) aufgrund einer Pfadanalyse drei Komponenten: Inhibition, Aktualisieren und Shif-ting, die unabhängig voneinander sein sollen.

Cicerone et al. (2006) schlagen eine Einteilung der Exekutivfunktionen in vier Bereiche vor, die sich durch ihre neuroanatomischen Grundlagen einigermaßen gut voneinander abgrenzen lassen:

Komponenten exekutiver Funktionen

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Kognitive exekutive Funktionen (dorsolateraler präfrontaler Kortex)

Im frontalen Kortex lassen sich zwei grundlegende Bereiche funktio-nell und anatomisch unterscheiden: der dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC) und der ventrale präfrontale Kortex (VPFC). Der DLPFC ist an räumlichen und konzeptuellen kognitiven Prozessen beteiligt. Die mei-sten Untersuchungen zu exekutiven Funktionsstörungen sind an Patienten durchgeführt worden, die Läsionen in diesem Bereich aufwiesen. Kogni-tive exekutive Funktionen sind an der Kontrolle und Ausrichtung (Planung, Überwachung, Aktivierung, Hemmung, Wechsel) von automatischen, wei-ter unten in der Hierarchie angesiedelten Prozessen beteiligt. Arbeitsge-dächtnis und Inhibitionsfunktionen können als grundlegende, exekutive Funktionen beeinfl ussende Prozesse angesehen werden.

Selbstregulation (ventrolateraler präfrontaler Kortex)

Der ventrolaterale präfrontale Kortex (VPFC) ist eng mit dem limbischen System verbunden, welches für die emotionale Verarbeitung von großer Bedeutung ist. Der VPFC ist wichtig für die Verarbeitung von Belohnung und das Treffen von Entscheidungen (Northoff et al., 2006), insbesonderein Situationen, in denen nicht ausreichend viele Informationen für eine „sichere Entscheidung“ vorliegen. Patienten mit Läsionen in dieser Hirn-struktur zeigen häufi g Schwierigkeiten mit dem Belohnungsaufschub und neigen zu impulsiven, auf lange Sicht oft schädigendem Verhalten.

Aktivierung (mediofrontaler Kortex)

Die Aktivierung spielt eine Schlüsselrolle bei der Selbstregulation, indem sie das Verhalten aktiviert und die notwendige Energie dafür zur Verfügung stellt. Fokussierte Läsionen im medialen frontalen Kortex führen häufi g zu mangelndem Antrieb, geringer Motivation, Apathie und Abulie. Pati-enten mit Störungen dieser Hirnstrukturen leiden unter mangelnder Ent-scheidungsfähigkeit oder Antriebsmangel bis hin zur völligen Antriebslo-sigkeit.

Metakognitive Prozesse (frontale Pole)

Die frontalen Pole, besonders der in der rechten Hirnhemisphäre, sind der evolutionär jüngste Teil des Frontallappens und scheinen eine wichtige Rolle bei der Integration von exekutiven kognitiven Funktionen und emo-tional bzw. motivational gesteuerten Inputs zu spielen. Sie sind in meta-kognitive Aspekte der menschlichen Verhaltenssteuerung involviert: Per-sönlichkeit, soziale Kognition, Selbstbewusstsein sowie Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. Hieraus resultiert die Unfähigkeit soziale Signale und Situationen richtig zu interpretieren.

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Andere Autoren wie etwa Grafman und Livan (1999) schlagen als eine pragmatische anatomische Interpretation sogenannter frontaler Symptome folgende Unterteilung vor: die ventromediale Hirnregion ist verantwortlich für das Sozialverhalten, die Hemmung von Reaktionen sowie die Motiva-tion und den Lustgewinn; die mediale Hirnregion ist zuständig für Auf-merksamkeit und Handlungsroutinen, die frontopolare Hirnregion für die Handlungsanpassung und die dorsolaterale Hirnregion für das Arbeitsge-dächtnis und das Problemlösende Denken.

Einen interessanten, aus dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Bereich kommenden Vorschlag zur Klassifi kation der Exekutivfunktionen unter-breitet Drechsler (2007), die vier Regulationsebenen unterscheidet: kogni-tive Regulation, Aktivitätsregulation, emotionale und soziale Regulation. Darüber hinaus führt sie zwei Komplexitätsebenen (basal, komplex) so-wie drei basale Prozesse (Initiieren, Hemmen, Wechseln) ein (Abb. 2). Sie betont dabei, dass die Entwicklung der Beschreibungsebenen heuristisch erfolgte und die Prozesse sich, anders bei Miyake wechselseitig beein-fl ussen. Anzumerken ist hier, dass z. B. motivationale Komponenten keine Berücksichtigung fi nden und die Art der Beziehung und Interaktion der einzelnen Ebenen und Prozesse nicht explizit erläutert wird. Damit wer-den auch die Grenzen dieses Ansatzes sichtbar, es soll und kann lediglich der Einordnung von klinisch und diagnostisch relevanten Prozessen dienen und wird dementsprechend von der Autorin bewusst nicht Modell, sondern Taxonomie genannt.

Abbildung 2:Beschreibungsebenen exekutiver Funktionen

(Schellig, Drechsler, Heinemann & Sturm, 2009)

Der Begriff Exekutivfunktion ist häufi g als paradox oder rätselhaft beschrie-ben worden. Basierend auf Läsionsstudien schlagen Stuss und Alexander (2007) drei distinkte Kategorien von Funktionen des Frontallappens vor,

Beschreibungs-ebenen der Exekutiv-funktionen

Regulationsebenen

Pro

zess

e

Komplexität

Initiieren

KognitionEm

otionAktivitätSozial

Kom

plex

Bas

al

Wechseln

Hemmen

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von denen die Exekutivfunktion eine ist. Es existieren jedoch keine Belege für die Existenz einer undifferenzierten Exekutive oder eines „Superviso-ry Systems“. Stuss und Alexander interpretieren ihre Ergebnisse als Schä-digungen in einer Kollektion von anatomisch und funktionell unabhän-gigen aber miteinander verbundenen Aufmerksamkeitskontrollprozessen. Sie fassen drei Prozesse und ihre grobe frontale Lokalisation zusammen: Aktivierung (superior medial), task setting (links lateral) und monitoring (rechts lateral). Diese Prozesse dienen der Überwachung und sind wichtig für übergeordnete Kontrollprozesse. Das System kann durch die fl exible Anordnung dieser Prozesse in Abhängigkeit von Kontext, Komplexität und Intention erklärt werden. Dennoch gibt es kein allumfassendes Supervi-sory System – keinen Geist in der Maschine – welches in der Hierarchie übergeordnet ist.

Zu der großen Anzahl der zu den Exekutivfunktionen zählenden Prozesse und Komponenten kommt hinzu, dass der Begriff Überlappungen zu an-deren Funktionsbereichen, wie Aufmerksamkeit, Sprache, Apraxie und der Theroy of Mind aufweißt. Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass die Exekutivfunktionen nicht unabhängig vom Intelligenzniveau sind.

Aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit im klinischen Alltag fa-vorisieren Müller et al. (2004) die Einteilung exekutiver Funktionen in lediglich drei kognitive Komponenten. Demnach lassen sich die meisten Schwierigkeiten der Patienten mit dysexekutivem Syndrom durch Stö-rungen a) des Arbeitsgedächtnisses und Monitoring b) der kognitiven Fle-xibilität und c) des planerischen und problemlösenden Denkens beschrei-ben (Müller & Münte, 2009; Müller et al., 2004).

Im Folgenden soll der Begriff der Exekutivfunktionen im Sinne folgender Defi nition verwandt werden: „Executive functions are a collection of pro-cesses that are responsible for guiding, directing, and managing cognitive, emotional and behavioural functions, particularly during active, novel pro-blem solving.“ (Gioia et al., 2000)

Für Patienten mit einem dysexekutiven Syndrom manifestiert sich dies im alltäglichen Leben folgendermaßen: Sie zeigen ein unangemessenes So-zialverhalten, sie haben Schwierigkeiten Entscheidungen zu fällen, ihnen fällt es schwer Plänen zu folgen oder auch Pläne zu ändern, sie haben Schwierigkeiten im planerischen Denken und Organisieren, sie sind sehr ablenkbar und haben Schwierigkeiten in mehrdeutigen Situationen.

Merke:

Das dysexekutive Syndrom ist ein Oberbegriff, der die Fehlfunktion verschie-denartiger kognitiver, emotionaler, affektiver und motivationaler Funktionen beschreibt. Um Unschärfen und Missverständnisse zu vermeiden, sollte der Begriff im klinischen Kontext unbedingt durch weitere Spezifi zierungen kon-kretisiert werden.

Häufi g Über-lappungen mit anderen Funk-

tionen

Folgen für das alltägliche

Leben

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1.3 Epidemiologische Daten

In der Literatur fi nden sich keine epidemiologischen Daten zum Vorliegen von Störungen der Exekutivfunktionen. Dies ist zum einen durch die Weite des Begriffs Exekutivfunktionen begründet und zum anderen dadurch, dass Störungen der Exekutivfunktionen bei verschiedensten neurologischen Er-krankungen auftreten und epidemiologische Angaben in der Regel nach Ätiologien unterschieden werden. Erschwerend hinzu kommt, dass eini-gen Krankheitsbildern ein einmaliges Ereignis zugrunde liegt, andere pro-grediente Erkrankungen sind, in deren Verlauf exekutive Defi zite auftreten können. Außerdem variieren viele dieser Erkrankungen im Schweregrad stark, wie beispielsweise das Schädelhirntrauma. Demzufolge differieren auch das Auftreten und die Ausprägung der Störungen der Exekutivfunk-tionen.

Störungen der Exekutivfunktionen nach Hirnschädigungen sind nicht sel-ten. Eine an Schlaganfallpatienten durchgeführte Studie (Prosiegl & Ehr-hardt, 1990) zeigte sogar bei 32 % der Patienten Störungen der Exeku-tivfunktionen. Unsere eigenen, ebenfalls in einer Rehabilitationsklinik an Patienten der Rehabilitationsphasen C und D erhobenen Daten ergaben, dass im Gegensatz zu dieser Häufi gkeit nur 8,5 % aller dort behandelten Patienten eine spezifi sche Gruppentherapie zur Verbesserung der Exeku-tivfunktionen erhielten (Müller et al., 1999).

Um sich trotz der unzureichenden Datenlage einen groben Überblick da-rüber verschaffen zu können, wie häufi g ein dysexekutives Syndrom ist, werden im Folgenden die Inzidenzraten der häufi gsten dem dysexekutiven Syndrom zugrunde liegenden neurologischen Grunderkrankungen darge-stellt (vgl. Kap. 2).

Ein leichtes Schädelhirntrauma (SHT) liegt vor, wenn der initiale Glasgow Coma Scale (GCS) Score 15 bis 13 beträgt. Die Inzidenz des leichten SHT wird in Deutschland auf ca. 180 Patienten pro 100.000 Einwohner pro Jahr geschätzt. Etwa 80 % der in eine Klinik überwiesenen SHT sind leicht-gradig, ca. 10 % mittelschwer und ca. 10 % schwer (Cassidy et al., 2004). Ein schweres SHT liegt vor, wenn der initiale Glasgow Coma Scale (GCS) Score 8 bis 3 beträgt bzw. die posttraumatische Bewusstseinsstörung län-ger als 24 Stunden andauert und/oder es zum Auftreten von Hirnstammzei-chen kommt. Die Inzidenz des schweren SHT wird in Deutschland auf ca. 15 bis 20 Patienten pro 100.000 Einwohner pro Jahr geschätzt (Teasdale & Jennett 1974).

Der Schlaganfall zählt zu den häufi gsten Erkrankungen in Deutschland und ist eine der führenden Ursachen von Morbidität und Mortalität welt-weit. Gemäß des Erlanger Schlaganfallregister erlagen 19,4 % aller Patien-tinnen und Patienten mit einem erstmaligen Schlaganfall innerhalb von 28 Tagen ihrem Leiden. Innerhalb von drei Monaten erhöhte sich der Anteil

Es liegen keine epidemiolo-gischen Daten vor

Störungen der Exekutivfunkti-onen treten häufi g nach Hirnschädi-gungen auf

Häufi gste Ursache: SHT

Weitere häufi ge Ursache: Schlaganfall

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auf 28,5 %, nach zwölf Monaten auf insgesamt 37,3 %. Rund jeder Dritte verstirbt also binnen eines Jahres nach einem Schlaganfall (Gesundheitsbe-richterstattung des Bundes, 2006). Die Inzidenz fl üchtiger Durchblutungs-störungen beträgt in Deutschland ca. 50 Patienten pro 100.000 Einwohner pro Jahr, für ischämische Schlaganfälle liegt sie bei 160 bis 240 Patienten pro 100.000 Einwohner. Die Inzidenz nimmt mit steigendem Lebensalter zu. Etwa die Hälfte der Schlaganfallpatienten ist über 70 Jahre alt. Die Prä-valenz zerebrovaskulärer Krankheiten wird auf 700 bis 800 Patienten pro 100.000 Einwohner geschätzt.

Die Inzidenz der nichttraumatischen Subarachnoidalblutung (SAB) be-trägt 6 bis 7 auf 100.000 Personenjahre in Mitteleuropa und den USA (ca. 20 auf 100.000 Personenjahre in Finnland und Japan). Davon sind ca. 85 % durch die Ruptur eines intrakraniellen arteriellen Aneurysmas bedingt. Der Häufi gkeitsgipfel liegt bei 50 Lebensjahren, mit etwas mehr betroffenen Frauen als Männern (van Gijn et al., 2007).

Das idiopathische Parkinson-Syndrom ist mit einer Prävalenz von 100 bis 200 Patienten pro 100.000 Einwohner in Deutschland eine der häufi gsten neurologischen Erkrankungen. Bei den über 65-Jährigen liegt die Präva-lenz bei 1.800 Patienten pro 100.000. Mit der Veränderung der Altersstruk-tur der Bevölkerung ist in Zukunft mit einer weiter steigenden Zahl an Patienten zu rechnen.

Die jährliche Inzidenz der Multiplen Sklerose (MS) liegt bei ca. 3,5 bis 5 Patienten pro 100.000 Einwohner und steigt nach Daten aus skandina-vischen Landesregistern an, mit einer bemerkenswerten Zunahme des An-teils an erkrankten Frauen. Frauen sind bei der schubförmig verlaufenden MS 2- bis 3-mal häufi ger betroffen als Männer. Der Erkrankungsgipfel liegt um das 30. Lebensjahr, wobei die MS immer häufi ger auch bereits bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert wird (Banwell et al., 2007).

Der Anteil der fronto-temporalen Demenz (FTD) an den Demenzen wird in den Memory-Kliniken auf 2 bis 5 % geschätzt (Binetti et al. 2000, zit. nach Ibach, 2005). Unter den degenerativen Demenzen mit frühem Krank-heitsbeginn wird die Prävalenz der FTD als identisch mit der Prävalenz der Demenz vom Alzheimertyp eingeschätzt (Rartnavalli 2002, zit. nach Ibach, 2005). Das typische Erkrankungsalter wird zwischen 45 und 60 Jahren angegeben. Die durchschnittliche Erkrankungsdauer wird mit 6 bis 8 Jah-ren angegeben (Neary et al, 1998, zit. nach Ibach, 2005).

Grunderkrankungen, in deren Folge Störungen der Exekutivfunktionen auftreten können, haben eine mittlere bis hohe Inzidenz. Störungen der Exekutivfunktionen treten dabei in Abhängigkeit der Läsionsorte auf. Ne-ben den hier exemplarisch vorgestellten wichtigsten neurologischen Er-krankungen werden in jüngerer Zeit auch zunehmend Störungen der EF bei psychischen Störungen beschrieben. Zu den prominentesten Erkran-

Störungen der Exekutivfunkti-onen auch bei

psychischen Störungen

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kungen in diesem Zusammenhang gehören die Schizophrenie (Überblick bei Exner, 2011) und Zwangserkrankungen (Überblick bei Karthmann, 2008).

Merke:

Gesicherte Daten, die explizit die Epidemiologie der Störung exekutiver Funktionen betreffen, liegen nicht vor, allerdings für die zugrundeliegenden Ätiologien.

1.4 Verlauf und Prognose

Zum Verlauf von Störungen der Exekutivfunktionen gibt es nur wenige Studien, die meisten betrachten – ähnlich wie in der Epidemiologie – dabei nur eine Ätiologie, am häufi gsten die Schädelhirntraumen. Dabei spielen die Exekutivfunktionen für die Erlangung der Selbstständigkeit im Alltag und bei einer berufl ichen Wiedereingliederung eine zentrale Rolle (Kreut-zer et al., 1999; Wehmann et al., 1995). Der Untersuchung der Remission und der Rehabilitation der exekutiven Dysfunktion kommt daher eine zen-trale Bedeutung zu.

Die Rehabilitation ist im Sozialrecht mit dem explizit formulierten Ziel der Integration verankert. Die berufl iche Wiedereingliederung gilt hierfür als ein objektiv feststellbares Kriterium. Viele Menschen brauchen beim Wie-dereingliederungsprozess in das Berufsleben aufgrund gesundheitlicher Schädigung und damit verbundener Leistungseinschränkung Hilfestellung (Brackhane, 2001). Eine Gruppe, die besondere Hilfen benötigt, stellen hirngeschädigte Patienten, insbesondere solche mit Störungen der Exeku-tivfunktionen dar. Die Wiedereingliederungsraten sind bei dieser Perso-nengruppe besonders niedrig (Kursave & Pössl, 2002), weisen Betroffene doch eine Vielzahl an Auffälligkeiten auf, die in Abhängigkeit von Größe, Art und Ausmaß der zerebralen Schädigung sowie dem Alter des Patienten zum Zeitpunkt der Läsion variieren (Wehmann et al., 1995). Kognitive und motorische Defi zite, affektive Beeinträchtigungen sowie daraus resultie-rende soziale Probleme können andauern und so die berufl iche Wiederein-gliederung (Tews et al., 2003; Vorländer & Fischer, 2000; Unverhau, 2005) behindern. Wehmann et al. (1995) stützen diese Annahme und nennen in einer Studie zur berufl ichen Reintegration von Schädelhirntrauma-Pati-enten neuropsychologische Defi zite als wesentlichen Einfl ussfaktor auf den Wiedereingliederungserfolg. Dabei reichen leichte kognitive Defi zite aus, die grundsätzlich testdiagnostisch schwer zu erfassen sind, um im All-tag und insbesondere bei der berufl ichen Wiedereingliederung zu Überfor-derungen zu führen (Göttert et al., 2002) und die Prognose ungünstig zu beeinfl ussen.

Wichtige Rolle bei der beruf-lichen Rehabili-tation

Bereits leichte Störungen ver-schlechtern die Prognose

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Grundsätzlich ist die Prognose für einen Patienten mit Störungen der Exe-kutivfunktionen jedoch nicht sehr positiv. Viele Patienten scheitern an der Selbstständigkeit im Alltag oder an der berufl ichen Wiedereingliederung, und zwar häufi ger an den oft nur minimalen Verhaltensauffälligkeiten oder den Persönlichkeitsveränderungen oder -akzentuierungen als an den ver-bleibenden kognitiven Defi ziten. Bei diesem Störungsbild ist von einem langen Erholungsprozess bzw. Rehabilitationsprozess auszugehen. Deshalb gilt es zwei Dinge zu beachten: erstens scheitern diese Patienten häufi g, weil die berufl iche Wiedereingliederung zu früh eingeleitet wird und zwei-tens können Verbesserungen der Symptomatik noch mehrere Jahre nach dem Ereignis auftreten. Hinzu kommt, dass nicht selten Partnerschaften aufgrund der hohen Belastung für den Angehörigen und der sozialen Auf-fälligkeiten des Patienten scheitern, und damit soziale Unterstützungssys-teme wegbrechen. Deshalb ist für diese Patientengruppe eine ambulante neuropsychologische Therapie und neuropsychologische Begleitung bei der berufl ichen Wiedereingliederung von zentraler Bedeutung.

Merke:

Es liegen keine Studiendaten explizit zu Verlauf und Prognose exekutiver Dysfunktionen ohne Behandlung vor, einige wenige jedoch zu einzelnen Ätiologien die häufi g zu exekutiven Defi ziten führen.

1.5 Assoziierte Störungen des Dysexekutiven Syndroms

Beim Vorliegen eines dysexekutiven Syndroms kommt es oft nicht nur zu kognitiven oder geistigen Veränderungen, sondern auch zu Verhaltensauf-fälligkeiten. Dies kann sich in einer Antriebsminderung oder Antriebslosig-keit äußern oder auch in mangelnder emotionaler Kontrolle, Impulsivität oder einer Enthemmung des Verhaltens. Auch zeigt sich auf der Verhaltens-ebene häufi g eine mangelnde Flexibilität und Anpassungsbereitschaft.

1.5.1 Fehlende oder mangelnde Krankheitseinsicht

Fehlende oder mangelnde Krankheitseinsicht wird mit den Fachbegriffen Anosognosie (griech. A – nicht, nosos – Krankheit, Gnosis – Erkenntnis) oder Unawareness bezeichnet und tritt häufi g in Abhängigkeit von der ge-nauen Lokalisation der Hirnschädigung bei Patienten mit Störungen der Exekutivfunktionen auf. Unter Anosognosie versteht man die Unfähigkeit eines Patienten, Beeinträchtigungen, die sich als Folge einer Hirnschä-digung ergeben, an sich selbst wahrzunehmen und die sich daraus erge-

Erholungs-prozess oft langwierig

Unawareness