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Leseprobe aus: Volker Wieprecht, Robert Skuppin Das erste Mal Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Das erste Mal - rowohlt · 2012-12-14 · auch das erste Mal richtig scheitern.) Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf jene biogra-phischen Debüts, an die wir uns perfekt erinnern

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Leseprobe aus:

Volker Wieprecht, Robert Skuppin

Das erste Mal

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Vorwort

Wir sagen es Ihnen lieber gleich: Das eine oder andere großeEreignis der Weltgeschichte wird in diesem Buch mög-licherweise nur angedeutet oder gar nicht erst erwähnt. Sieerfahren auch wenig Neues über die Identität jenes erstenHuhns, das das Ei legte, aus dem es zuvor selbst geschlüpftwar. Wir sahen uns gezwungen, dies alles stark zu vereinfa-chen, und haben sämtliche ersten Male auf das Minimum anErfahrungsweisheit eingedampft, das wir im Laufe unseresLebens zweifellos gewonnen haben: die Einsicht, dass wiralle Kinder unserer Zeit sind und keiner von uns etwas Be-sonderes darstellt. Das wiederum rechtfertigt hinreichend,dass wir in aller gebotenen Bescheidenheit bei uns selbst be-ginnen – und mit unseren eigenen Premieren, Debüts understen Malen aufwarten.

Auch in der Auswahl der Themen haben wir uns auf dasNotwendigste beschränkt. So erwähnen wir zum Beispielnicht, wie wir das erste Mal bei Rot über die Ampel gelaufensind oder wie einer von uns im Kindergarten eine Holzkugelmit zwei Zentimetern Durchmesser verschlungen hat, diedann beim Arzt mit Kontrastflüssigkeit sichtbar gemachtund anschließend unter konvulsivischen Mühen des Körpersverwiesen wurde (Volker). Genauso wenig werden Sie hören,dass einer der Autoren im Alter von drei Jahren wider Erwar-ten das erste Mal doch noch einmal in die Hose gemacht hat,obwohl er schon längst ohne Windeln unterwegs war (Ro-bert). Schließlich haben wir Ihnen auch jene Momente er-

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spart, in denen wir das erste Mal über einen eigenen Wurst-brötchenverleih oder eine eigene Kneipe nachdachten. (Diezweite dieser beiden phänomenalen Geschäftsideen habenwir sogar umgesetzt und können nun getrost davon abraten:Der Betrieb einer Kneipe macht zwar Spaß, ließ uns aberauch das erste Mal richtig scheitern.)

Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf jene biogra-phischen Debüts, an die wir uns perfekt erinnern können:an die Sinneseindrücke und Gefühle, an das Lachen und dieTränen. Es sind die kleinen und großen Tief-, Höhe- undWendepunkte unseres Lebens.

Tief- und Höhepunkte betreffend: Höher als viertausend-fünfhundert Meter (der erste Fallschirmsprung) beziehungs-weise tiefer als dreiundfünfzig Meter unter den Meeresspie-gel (das erste Mal tauchen) sind wir aus eigener Kraft nichtgekommen. Und doch haben wir genug von der Welt gese-hen, um zu wissen: Was Weltrekorde und Spitzenleistun-gen für Sportler, Abenteurer und Entdecker sind, sind füruns die hier beschriebenen ersten Male. Was wäre ohne dieseHerausforderungen auch aus uns geworden? Kinderlose,sexuell frustrierte Einzelgänger, die nicht mal Rad fahrenkönnen? Angsthasen, die ständig kneifen, weil sie nichtseinstecken können? Vielleicht nicht mal Verdientes? Vaterzu werden, zu küssen, zu lieben, Fahrrad fahren zu lernen,Todesangst auszustehen und bei Raufereien zu unterliegen:All das hat geholfen in dem Durcheinander, das wir Lebennennen.

Es erscheint uns sinnvoll, ein Buch zu lesen, bevor mandrüber spricht; genauso ist auch der klar im Vorteil, der seineeigenen Erfahrungen sammelt – und erkennt, welche Bedeu-tung er seinen Erlebnissen beimessen sollte. Triumph oderNiederlage: Ob etwas als sinnlos und bitter oder als lehrreich

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und befreiend erfahren wird, ist letztlich auch das Resultatbewusster Entscheidungen, die jeder für sich selbst trifft. Imschlimmsten Fall macht man aus einer Tragödie eben eineKomödie. Innerhalb dieses Spielraums sind die Geschichten,die wir hier erzählen, auch wahr. Manche unserer schlimme-ren Erfahrungen sind Ihnen hoffentlich erspart geblieben.Hier können Sie sich unterhaltsam und lehrreich davon er-zählen lassen. Bei der Lektüre der zum Glück zahlreicherenerfreulichen Episoden unseres Lebens werden Sie sich viel-leicht an Ihre eigenen Debüts erinnern.

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Kindheit – Extrem laut und unglaublich jung

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Der erste Kindergeburtstag

Mein siebter Geburtstag wartete mit einer Überraschungauf – sogar mit einer erfreulichen. Dabei hatte ich die Hoff-nung schon aufgegeben.

Die Gäste erschienen in einem Pulk pünktlich um15.00 Uhr und staksten steif und keuchend die Treppen zuunserer Wohnung hoch. Mutter rückte ihre Betonfrisur zu-recht und öffnete die Tür. Als Erste traten sich Oma und Opadie Füße auf der Matte ab, dann kam mein Patenonkel Hans.Ihre Polyesterkleidung knisterte, als sie die Jacken ablegten.Meine Wenigkeit trug die obligate Feiertagsuniform: dieGU TE Hose, das GU TE Hemd. Der Aufzug für besondereGelegenheiten. Ich stand brav mit den Händen auf dem Rü-cken und durchgedrückten Knien im Flur – «gespannt wieein Flitzebogen» sagte man damals – und prüfte die Lage:einmal Treffer, einmal Niete. Oma hatte ein Geschenk dabei,Onkel Hans wieder mal keins. Unwahrscheinlich, dass er inder Hosentasche eine goldene Kette für mich versteckt hielt.Oma überreichte mir ein Paket. Ein Buch, wie ich gleich ander Form erkannte. Onkel Hans schüttelte mir nur mit zufestem Griff die Hand. «Alles Gute zum Geburtstag, Junge!»Was für eine Party …

Mehr Besuch war nicht geladen. «Wenn du größer bist,feiern wir auch mal mit den anderen Kindern!», sagtenmeine Eltern im darauffolgenden Jahr. Ich glaube, sie hat-ten einfach nicht die Nerven für den sprichwörtlichen SackFlöhe. Und damit waren sie nicht allein. Ich kann an dieser

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Stelle versichern, dass ich in jungen Jahren nie eine selbst-gebastelte Einladung in Händen gehalten habe. Niemand inmeiner Grundschulklasse hat je seine Mitschüler zum Ge-burtstag gebeten. Mag sein, dass ich einem Ausbildungslagerfür asozial Veranlagte entstamme.

Kindergeburtstagsklassiker wie die «Geschenke-Torte-Verwüstung» oder «Bastelkurs im Museum – Pizza – Tanzen»gab es in meinem Leben nicht. Ich hatte keine Apo-Eltern, diefür Stimmung sorgten, und in einer Arbeiterfamilie war soetwas unvorstellbar. Auch in meiner Gymnasialzeit passiertewenig. Damals feierten die Eltern vor allem ihre eigene ver-meintliche Meisterleistung: Wir haben den Jungen gezeugt.Und er hält sich ganz ordentlich. Dafür darf er auch dabei sein.Das musste reichen. Zweifel hatten sie keine, weil es bei denanderen Familien genauso lief und sie es aus ihrer Kindheitselbst nicht anders kannten. 1946 wurden nur selten Kindereingeladen, um die Kohlsuppe am Geburtstag auf noch mehrTeller zu verteilen oder Eierlaufen mal anders zu spielen, in-dem man am Güterbahnhof über den Zaun kletterte und Koksvon den Waggons mopste. Sie hatten in ihrer Kindheit ge-darbt. Ich lebte aus ihrer Sicht schon in Saus und Braus.

Wir begannen also umgehend mit den verhaltenen Fei-erlichkeiten angelegentlich meines siebten Geburtstags undaßen wortkarg kalte Quarktorte mit Dosenmandarinen, dienach rostigem Blech schmeckten. Onkel Hans überreichtemir vor aller Augen jetzt doch noch zehn Mark, die mir Mut-ter dann abnahm, um sie, wie sie sagte, für mich aufzuheben.Das kannte ich schon. Bei ihr war das Geld wirklich sicher –vor allem vor mir. Dann wurde ich aufgefordert, in meinZimmer zu gehen, um in Ruhe mit meinen Geschenken zuspielen. Mir fiel auch nichts mehr ein, womit ich die Erwach-senen hätte unterhalten können. Ihre Bemühungen, mit mir

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ins Gespräch zu kommen, fruchteten auch nicht viel. Spä-ter lernte ich ihre Fragetechnik in Interviews zu vermeiden.«Ich habe gehört, du bist gut in der Schule … dann macht esdir sicherlich Spaß?» – man traut sich kaum, ein Fragezei-chen hinter so einen Satz zu setzen.

Ich trollte mich, lief in mein Zimmer und setzte mich aufsBett. Zuerst las ich in meinem Buch: «Kasimirs Weltreise».Kasimir hatte eine Nase wie ein Schwein, aber dafür einegute Frisur. Er kam ziemlich viel rum. Ich kam ganz gut klarmit dem Stoff, der vermutlich für Dreijährige gedacht war.Immerhin war ich dieses Mal nicht aufgefordert worden,mich noch ein zweites Mal bei Oma und Opa zu bedanken.Ich legte das Buch beiseite und spielte mit dem Baukran, denmir meine Eltern geschenkt hatten. Ein sensationelles Ge-schenk: Der Kran konnte kleinere Lasten mühelos dreißigZentimeter in die Höhe hieven, wenn man eine kleine Kur-bel betätigte. Ich klinkte den Haken des Krans in die Fenster-rahmen meiner Matchbox-Autos und ließ die Wagen hochund runter. Total realistisch, in echt kaum besser. Kontrolleauszuüben ist eine beruhigende Tätigkeit.

Meine Mutter lief währenddessen immer wieder über denFlur und holte neue Flaschen. Es war Medizin – so vielwusste ich. Erst braune, dann grüne, schlussendlich durch-sichtige Pullen. Bevor Letztere zum Einsatz kamen, war es imWohnzimmer bereits deutlich lauter geworden. Die Stim-mung war geradezu ausgelassen. Genau so, wie es auf einemKindergeburtstag sein sollte – nur im falschen Zimmer. Aberletztlich war ich froh, dass es den Erwachsenen mit die-sen Getränken offenbar gelungen war, die Symptome ihrerKrankheit zu lindern. Eine Krankheit, die sich, nüchternbetrachtet, in granteligem Schweigen äußerte. Oder, nochschlimmer, in Erwachsensein.

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Aus dem Wohnzimmer trällerte mittlerweile MireilleMathieu. Die Dame mit der Prinz-Eisenherz-Frisur arbei-tete sich an großen Brocken Deutsch ab: «Es geht mir gut,Merci, Chéri!» Ich stellte die Kranarbeiten ein und wagteeinen Blick in die Wohnstube. Vater legte die B-Seite derSingle auf und sah stolz zu, wie der elfenbeinfarbene Armdes Plattenspielers die Nadel in die Rille setzte. Eine Nord-mende Musiktruhe. Der letzte Schrei. Dann setzte er sichauf einen der beiden klobigen rotbraunen Sessel aus Leder-imitat. Sein Bruder lungerte im anderen herum. Die Dingerwaren viel zu groß für das Zimmer, aber zumindest modern.Oma und Opa hockten auf der gewaltigen Couch, Mutterdazwischen.

Meine Gäste starrten auf den Tisch, auf ihre Gläser, in dieLuft, dann sahen sie mich an. Opa hob sein Schnapsglas,nickte meiner Mutter zu, die ihm nachschenkte, und spracheinen Toast aus: «Auf den Jungen!» – «Auf den Jungen!»,wiederholten die anderen und hoben ebenfalls die Gläser.Ich fragte, ob ich mal probieren dürfe. «Hohohoho!», sag-ten da die Erwachsenen, und Opa winkte mich zu sich. DiePlatte war zu Ende, der Plattenarm rumpelte zurück in seineAusgangsstellung. Opa betupfte den Zeigefinger seinerRechten mit dem Bodensatz seines Schnapsglases undsteckte ihn mir in den Mund. Es war widerlich. Sein Fingerschmeckte nach Tabak, und es brannte beim Schlucken. Ichverzog keine Miene. «Lecker!», sagte ich.

Alle lachten, bis auf Mutter. «Geh jetzt mal wieder in deinZimmer. Schön spielen!» Langsam hatte ich genug. Jetztreichte es also schon nicht mehr, dass ich spielte. Ich sollteauch noch schön spielen. Gerade wollte ich die gelöste Stim-mung der Erwachsenen ausnutzen und frech werden, als et-was Unerhörtes passierte: Es klingelte an der Wohnungs-

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tür. Fünf Mal. Viel zu oft. Alle sahen sich an. «Wer kann dassein?», fragte Oma.

Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Jeder der Beteiligtenhatte sicher so seine eigenen, historisch bedingten Befürch-tungen, aber allen wird klar gewesen sein: Das Private mussstets vor der Öffentlichkeit geschützt werden. Ein Eindring-ling nahte, der das traute Beisammensein der Familie ge-fährdete. Ich begann zu hoffen. Mutter lief auf den Flur unddrückte den Türöffner. Wir wohnten im vierten Stock. Esdauerte eine Ewigkeit. Ich versuchte an den Geräuschen zuerraten, wer da kam. Jung, alt, dick, dünn, einer, zwei, viele?Es war nur einer, und er war jung. Er hielt sich am Geländerfest und zog sich, immer zwei Stufen auf einmal nehmend,die Treppe hoch. Schließlich kam er atemlos vor meiner Mut-ter an, die mittlerweile die Fäuste in die Hüften gestemmthatte. Ich stand hinter ihr.

Christian Brammberg. Der Sohn des Konditors. Sein Haarhatte mindestens sieben Wirbel. Einer der Wilden auf demSchulhof. Hatte immer Kuchen dabei. Manchmal gab er wasdavon ab. Nicht der Beste in Deutsch und Mathe, auch inSport keine Kanone. Aber immerhin.

«Guten Tag, ich wollte fragen, ob der Volker mit mir aufdem Hof spielen kann?» Er wohnte zwei Häuser weiter.Wenn jeder von uns über eine Mauer kletterte, konnten wirim gleichen Hof Fahrrad fahren oder mit Ästen fechten.«Volker hat Geburtstag», sagte meine Mutter, «und wir fei-ern gerade schön!» Ich fragte mich wirklich, wer hier bitte‹gerade schön feierte›. Aber dann geschah das Wunder.«Komm erst mal rein.» Christian trat sich übertriebengründlich die Füße ab. Als er nach einer gefühlten halbenStunde damit fertig war, nahm meine Mutter seine Jacke ent-gegen. «Wir haben noch Kuchen? Möchtest du ein Stück?»

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Es wurde dann doch noch ein schöner Nachmittag. DieErwachsenen bekämpften ihr düsteres Gemüt weiter erfolg-reich mit Stimmungsaufhellern und amüsierten sich wieverrückt, dass Christian es schaffte, sage und schreibe sechsStück Kuchen zu verdrücken. Von der leckeren Mandarinen-torte zwei und vier vom Marmorkuchen. Das Thema do-minierte das Tischgespräch über eine Stunde. Danach warChristian leider so sediert, dass das große Getobe auf demHof ausfallen musste.

Wir blieben also oben. Mein Baukran erfuhr ausreichendBewunderung, das Buch kam verständlicherweise nichtganz so gut an. Der Vollständigkeit halber berichtete ichChristian, dass ich auch noch zehn Mark geschenkt bekom-men hatte. Das konnte er locker überbieten: Er habe eineTante, meinte er, die ihm sogar mal zwanzig Mark geschenkthabe. Ich war beeindruckt. Dann setzten wir uns an den Mal-tisch und fingen an loszukritzeln. «Wer den besten Rittermalt!», sagte ich, und Christian fing auch gleich damit an.Er hielt sich sehr lange mit der Burg und ihren Türmen undZinnen auf. Ein Fehler. Ich ging den Kämpfer direkt an undversah ihn mit einer Menge Waffen: Morgenstern, Doppel-axt und zwei riesige Schwerter, in jeder Hand eins. Dazu eineRüstung, die ihn auf das Doppelte seiner Körpergröße auf-blähte. Als wir die Bilder verglichen, wurde schnell klar, dassich den mächtigeren Ritter gemalt hatte. «Das ist unfair»,beschwerte sich Christian, «die hatten immer nur einSchwert!» Mir war das völlig egal. Doppelt hält besser. DieZeit zu zweit war außerdem viel zu kostbar, um während-dessen auch noch andauernd zu verlieren.

Um kurz nach sechs musste Christian gehen. Er gab jedemErwachsenen zum Abschied die Hand. Mir hatte er dasDokument seiner Niederlage dagelassen. Wir aßen belegte

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Brote, und ich sollte mir nach dem Essen sofort die Zähneputzen. «Volker kommt dann noch mal im Schlafanzug undsagt uns allen gute Nacht!» – der Satz einer Generation. Ichweiß schon, warum ich auch heute noch am liebsten wortlosvon Partys verschwinde. V.W.

Das erste Haustier

«Oh Gott, sind die süß!», dachte ich und drückte mir dieNase an der Ladenscheibe platt. Weder Hamster nochMeerschweinchen, Hund, Katze oder Papagei interessiertenmich, mein Herz schlug allein für diese schwarz-weiß ge-fleckten putzigen Dinger. Meine Eltern waren strikt gegenein Haustier. Ich aber spürte, dass sie es nicht verhindernkonnten: Es würde der Tag kommen, an dem die japanischenTanzmäuse ihre Runden auch bei uns zu Hause drehten.

Japanische Tanzmäuse sind noch kleiner als weiße Mäuse,haben mittellange rosa Schwänzchen und passen sogar aufdie Handfläche kleiner Kinder. Eigentlich waren sie nichtmal richtig teuer: Eine Maus kostete zwölf Mark. Natürlichmusste man noch in Käfig, Ausstattung und Futter investie-ren.

«Die stinken!», sagte meine Mutter. Das brachte michzum Weinen. «Nein, nein, nein, du stinkst!», schlug ich zu-rück. Zugegeben, die Mäuse kackten tatsächlich ab und zu indas fein geschnittene Stroh in ihrem Käfig. Aber warum, inaller Welt, sollten diese Minimäuse-Häuflein stinken? «Dieschlafen tagsüber», meinte mein Vater, «und tanzen nurnachts, wenn du schläfst. Das macht doch keinen Sinn!» –«Ich werde die nicht schlafen lassen», parierte ich auch hier

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selbstbewusst, «ich wecke sie! Die tanzen den ganzen Tagnur für mich, und außerdem laufen sie hier im Laden dochauch tagsüber im Kreis!»

Allerdings hatte mein Vater damals recht: Japanische Tanz-mäuse schlafen tagsüber und werden erst in der Nacht aktiv.Für Kinder sind sie als Haustiere also eher ungeeignet. Mittler-weile sind die Zucht und der Verkauf in Deutschland sowiesoverboten. Die Mäuse haben einen angezüchteten Gendefekt.Eine hervorgerufene Schädigung des Innenohrs macht sie ge-hörlos und zerstört ihren Gleichgewichtssinn. Das verleitetsie, immerzu im Kreis zu laufen. In Deutschland gilt das mitt-lerweile als Tierquälerei. 1974 spielte es wohl noch keine Rolle.Hätte ich das alles gewusst, wäre es mir wahrscheinlich auchegal gewesen. Für mich waren die Mäuse einfach nur klein,süß und extrem lebendig.

Wochen vergingen, in denen ich am Schaufenster demTreiben der kleinen Nager zusah oder im Laden mit dem Ver-käufer über Pflege, Nahrung und Verhalten der Minimäusesprach. Ich besaß weder genügend Geld, um eine Maus, denKäfig und alles andere zu kaufen, noch hatte ich die Erlaub-nis meiner Eltern. Andere Kinder hatten Hamster, Meer-schweinchen, Kanarienvögel, Katzen oder sogar Hunde (dieeigentlichen Könige unter den Haustieren) – mir wurdenicht mal eine Tanzmaus gegönnt.

Eines Tages stand ich wieder allein vor dem Laden und sahden Tanzdarbietungen meiner kleinen Freunde zu, als plötz-lich eine ältere Dame neben mir stehen blieb. Dass jemandvor der Scheibe des Tiergeschäfts haltmachte, kam natürlichöfters vor. Aber diese Dame blieb erstaunlich lange dort ste-hen, beobachtete die Mäuse und zwischendurch auch immerwieder mich. Irgendwann sahen wir uns beide an. «Gefallendir die Mäuse?», fragte sie. Ich nickte und antwortete: «Die

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sind so süß. So eine will ich auch haben!» Die Frau lächelteverständnisvoll. «Ich habe bei einer Tombola einen Gut-schein für zwei Tanzmäuse mit Käfig gewonnen. Leider kannich mich nicht um die Mäuse kümmern. Möchtest du denGutschein haben?»

Was für eine Frage – natürlich wollte ich! Ich konnte meinGlück kaum fassen. Ich lief, ich sprang, ich tanzte und sang,bis ich zu Hause war, wo ich meinen Eltern freudestrahlendden Gutschein unter die Nase hielt. Die waren natürlich fas-sungslos – ihr Widerstand aber war gebrochen. Bereits amnächsten Tag zwang ich sie ins Tiergeschäft. Dort suchte ichmir zwei Tanzmäuse aus: Eine war fast weiß und hatte nurein paar schwarze Punkte auf dem Kopf, die andere hattezwei große, fast quadratische schwarze Flecken auf dem Rü-cken. Dazu bekam ich einen Käfig aus Plexiglas, der halb sogroß war wie ein Bierkasten. Außerdem kauften wir nochStreu, Futter und zwei kleine Porzellanfutterschälchen.

Wir transportierten die Mäuse in einer Pappschachtelnach Hause, die während der Autofahrt auf meinem Schoßruhte. Im Kinderzimmer ließ ich die beiden sofort frei. An-ders als erwartet tanzten sie nicht, sondern versteckten sichunter dem Kleiderschrank. Meine Mutter füllte derweil dieStreu in den Käfig, in die eine Futterschale Körner und in dieandere Wasser. «Ich mache das nur das erste Mal!», sagtesie streng und stellte den Käfig in mein Kinderzimmerregal.«Kein Problem, ich mache das gern!», antwortete ich, wäh-rend ich versuchte, die Mäuse wieder einzufangen, wasmir lange nicht gelang. Irgendwann eierten sie unter demSchrank hervor, sodass ich sie packen und in ihren Käfig set-zen konnte. Jetzt musste ich den zweien nur noch Namengeben. Feierlich trat ich vor den Käfig und sprach: «Hiermittaufe ich euch auf die Namen Max und Moritz!»

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Als es Zeit war, schlafen zu gehen, begannen die Mäuseplötzlich wie wahnsinnig in ihrem Käfig herumzurasen. Im-mer wieder drehten sie sich im Kreis und machten einenHöllenlärm. «Ihr müsst jetzt auch schlafen», ermahnte ichdie beiden, «morgen ist Schule!» Den Mäusen war offenbaregal, was ich sagte, denn sie setzten ihre Runden unbeirrtfort. Ich konnte nicht einschlafen. Schließlich beschloss ich,meine Eltern zu holen. Mein Vater kam ins Kinderzimmer,griff sich den Käfig und stellte ihn kurz entschlossen auf denBalkon. Jetzt war Ruhe.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lief ich gleichnach draußen zu den Mäusen. Max und Moritz lagen wie totnebeneinander im Käfig. Sie waren doch nicht etwa erfro-ren?! Es war gar nicht so kalt gewesen! Mir stockte der Atem.Aber ich beruhigte mich schnell wieder: Wenn man genauhinsah, konnte man die kleinen Herzen von Max und Mo-ritz schlagen sehen. Die Tiere schliefen tief, und das taten sieauch noch, als ich wieder aus der Schule kam. Ich versuchtesie zu wecken, aber sie streckten sich nur und liefen einmalim Kreis, bevor sie sich wieder hinlegten.

Gegen Abend wurden sie immer munterer und rasten baldwie irre im Kreis. In seltenen Pausen tranken und fraßen sieoder pinkelten und kackten ihren Käfig voll. Am darauffol-genden Morgen waren sie dann wieder wie tot. Nach einerWoche ödeten mich die beiden Gesellen nur noch an.

Eines Nachmittags besuchte ich einen Freund, der selbstMäuse hielt – allerdings keine japanischen Tanzmäuse, son-dern weiße Mäuse. Davon hatte er eine ganze Menge, imKeller des Hauses standen mehrere Käfige. Bereits in derSchule hatten wir einen tollen Plan ausgeheckt: Wir wolltenfür zwei der weißen Mäuse kleine Fallschirme aus Taschen-tüchern basteln und diese dann mit Raketen, die vom letzten

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Silvesterabend übrig geblieben waren, in die Luft schie-ßen. Die Mini-Fallschirmspringer sollten dann zur Erdezurücksegeln. Wir verknoteten die Tuchenden mit Nylon-fäden und knüpften Schlaufen, die wir den beiden umle-gen wollten.

Den Weg zur Abschussrampe legten die zwei Mäuse inder Transportschachtel meiner Tanzmäuse zurück. Wir fuh-ren mit unseren Fahrrädern zu einem abgelegenen Wald-stück mit einer großen Lichtung. Die Mäuse ahnten wohl,dass ein aufregendes Abenteuer auf sie wartete. Nachdemwir angekommen waren, sahen wir, dass sie sich diverseMale in der Schachtel erleichtert hatten.

Wir machten eine Rakete startklar und tauften die ersteAstronauten-Maus auf den Namen «Armstrong». Als wir ihrden Fallschirm anlegen wollten, wehrte sie sich und ver-suchte, die Fäden durchzubeißen. Erfolglos. Wir hängtendas Tuch mit dem zappelnden Armstrong an die Spitze derRakete, dann verabschiedeten wir den kleinen Astronauten:«Houston, Mission Control: zehn, neun, acht, sieben, sechs,fünf, vier, drei, zwei, eins, null!» Ich lief zur Rakete und hieltdas Feuerzeug unter die Zündschnur.

Es qualmte und zischte. Für kurze Zeit war kaum mehr et-was zu erkennen, dann verzog sich langsam der Rauch. Dort,wo eben noch die Rakete im Boden gesteckt hatte, konnteman eine Maus entdecken, die mühsam einen kleinen Fall-schirm hinter sich her zog. Offensichtlich hatte sie sich kurzvor dem Start der Rakete befreien können.

Entschlossen packte ich die zweite Rakete aus, meinFreund fing in der Zwischenzeit Armstrong ein. Der kleineAstronaut zitterte am ganzen Körper. Davon ungerührt dra-pierten wir den Fallschirm ein weiteres Mal an der Spitze derRakete. Wir salutierten und fingen an, den Startcountdown

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herunterzuzählen. Ich zündete die Zündschnur schon bei«fünf» und streichelte Armstrong noch mal zur Beruhigungüber den Rücken. Kurz vor «Null» startete die Rakete. Dies-mal blieb nichts auf dem Boden zurück. Die Mausmissionhatte begonnen – nur ein kleiner Schritt für uns, aber ein gro-ßer Schritt für die Mausheit.

Früher als erwartet kam etwas vom Himmel gefallen. DerFallschirm war offenbar nicht aufgegangen. Armstrong hattekeine weiche Landung, war aber auch nicht besonders tiefgefallen, ein paar Meter vielleicht. Er hatte überlebt. Ent-täuscht beendeten wir unser Projekt der Eroberung fremderWelten durch Mäuse und fuhren zurück nach Hause. Im-merhin, sicher hatte Armstrong den anderen Mäusen einigeszu erzählen.

Als wir wieder im Keller bei den Mäusen waren, fiel mir inden Käfigen weiße Watte auf. Mein Freund erklärte mir, dieMäuse würden sich darin zum Schlafen einrollen. Beim Ab-schied gab er mir für meine Tanzmäuse etwas davon mit. Ichhoffte, dass Max und Moritz darin besser schlafen könn-ten. Noch am gleichen Tag säuberte ich ihre Behausung undmachte ihnen neben ihrer Streu ein schönes Bett. Am nächs-ten Morgen lagen die beiden gemütlich eingerollt in der wei-ßen Mäusewatte.

In der Schule erwartete mich eine erschreckende Nach-richt: Armstrong hatte die Nacht nicht überlebt. Wahrschein-lich war er bei den missglückten Starts doch schwerer ver-letzt worden, als wir dachten. Nun lagen seine sterblichenÜberreste in einen Waschlappen gewickelt im Schulranzenmeines Freundes. Nach der Schule beerdigten wir ihn feier-lich in der Nähe der Raketenabschussrampe. Da wir keineandere Hymne kannten und nicht wussten, welcher Nationa-lität der tote Maustronaut Armstrong angehört hatte, summ-

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ten wir die amerikanische – oder das, was wir dafür hielten –,während wir ihn verscharrten.

Betrübt ging ich nach Hause. Wir hatten Armstrongnichts Böses antun wollen, aber irgendwie fühlte ich michfür seinen Tod verantwortlich. Zurück in meinem Zimmer,betrachtete ich den Käfig. Max und Moritz schliefen friedlichund fest in der neuen Watte.

Als sie am frühen Abend wieder begannen im Kreis zulaufen, fiel mir auf, dass Max Teile der Watte mit sich herum-schleppte. Ich nahm ihn aus dem Käfig und versuchte, dieWatte vom Mäusebein zu entfernen. Das ging auch ganz gut,bis auf einen ganz kleinen Teil, der sich durch das ständigeHerumlaufen sehr eng und fest um das Bein gelegt hatte. Ichbeließ es dabei, in diesem Augenblick schien mir das nicht sowichtig.

Erst am Abend darauf, als Max und Moritz wieder wie irredurch den Käfig flitzten, bemerkte ich, dass das Bein vonMax leicht angeschwollen war. Bei genauerer Betrachtungkonnte man sehen, dass die Watte das Bein abschnürte.Durch die Schwellung war es allerdings unmöglich, sie zuentfernen. Einen Tag später hatte Max bereits erkennbar Pro-bleme, die Kreisbahnen in hohem Tempo zu laufen. Daslinke Bein war nun im oberen Bereich fast so dick wie einkleiner Finger, unter der Abschnürung wirkte es dürr, farb-lich verändert und kraftlos. Er eierte eher um die Kurven. Ichging mit Tränen in den Augen schlafen. Erst vor kurzem hat-ten wir Armstrong getötet, und nun ging es Max schlecht.

Der nächste Abend war noch schrecklicher. Es tanzte nurMoritz, Max war zwar wach, konnte aber mit dem monströsangeschwollenen Bein nicht laufen. Der Stummel hatte in-zwischen eine dunkle, fast schwarze Färbung angenom-men und fühlte sich merkwürdig rau und trocken an. Beim

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Abendessen lobten mich meine Eltern dafür, wie gut ich fürMax und Moritz sorgte. «Wir waren nicht sicher, ob du dichwirklich um ein Tier kümmern würdest», gab meine Mutterzu. Ich sprang auf und lief zu den Mäusen. Meine Eltern soll-ten nicht sehen, wie sehr ich mich schämte.

Am nächsten Tag rannten beide wieder durch den Käfig,als sei nichts gewesen. An Max’ Bein war zwar die monströseSchwellung verschwunden, dafür war der untere Teil jetzttiefschwarz. Ich war kein Mediziner und auch kein Erwach-sener, aber ich traute mir eine Diagnose zu: Der untere Be-reich des Beins musste wohl abgestorben sein. Zum Glückwusste ich, was zu tun war: Ich ging ins Badezimmer, holtedie Nagelschere, nahm Max aus dem Käfig, hielt ihn fest undschnitt das kleine schwarze Stück, das einmal ein Unter-schenkel mit Fuß gewesen war, einfach ab. Das ging so ein-fach, als würde ich durch Papier schneiden, es blutete nicht,und es lief auch sonst nichts aus. Dann lief ich mit Max insBadezimmer und sprühte zur Desinfektion das Aftershavemeines Vaters auf den Beinstummel. In Abenteuerfilmenhatte ich gesehen, dass man Verletzungen auch ausbrennenkonnte, um Entzündungen zu verhindern, aber ich hätteAngst gehabt, Max dabei abzufackeln. Danach setzte ich ihnwieder in den Käfig.

Obwohl er gerade eine ambulante Amputation hinter sichgebracht hatte, fing er sofort wieder an, im Kreis zu laufen.Ich fühlte mich wesentlich besser und hoffte, dass Max nichtmehr zu viel leiden musste. Den abgeschnittenen Unter-schenkel wickelte ich in Klopapier und nahm ihn am nächs-ten Tag mit in die Schule. Zusammen mit meinem Freundbeerdigte ich das Bein neben Amstrongs Grab. Max ging esvon Tag zu Tag besser. Irgendwann lief er wieder so, als hätteer noch alle seine Extremitäten. Meine Eltern haben das feh-

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lende Bein nie bemerkt. Wenn man sich die kleine Mausnicht genau ansah, konnte man es auch kaum erkennen.

Max und Moritz wurden leider trotzdem nicht alt. Aneinem schönen Frühlingstag nahm ich sie mit zum Fußball-spielen und stellte den Käfig, der oben offen war, in denSchatten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Katzendurch die Gegend streunten – und kam zu spät. Moritz hattekeine Chance. Ich fand ihn mit durchgebissenem Nacken imKäfig. Max hätte wohl flüchten können, wäre er nicht ge-handicapt gewesen. Auch er lag tot im Gras. Mein Vaterhielt mir am Abend eine Gardinenpredigt darüber, was esheiße, Verantwortung zu übernehmen. Ich sagte nichts unddachte mir nur: «Wenn du wüsstest, wie ich in einer Not-operation um meine Maus gekämpft habe.» Erzählen wollteich ihm davon aber nicht. Wahrscheinlich hätte es Ärger ge-geben, weil ich seine Nagelschere und sein Aftershave dafürbenutzt hatte.

Wir hatten danach noch viele Haustiere, darunter sogareinen Hund. Ich habe allerdings nie wieder welche in die Luftgeschossen oder sie selbst operiert. R.S.

Das erste Mal Fahrrad fahren

Ich erinnere mich noch genau: Wir saßen zu viert am Tischund frühstückten. Monika, Dietmar, Peter und ich. Still kau-ten wir unsere mitgebrachten Brote. Alle aus Weißmehl,alle mit dick Butter und Wurst. Nur Monika hatte Käse. Ichwürgte an der Blutwurst rum, die ich nicht mochte, wegenihrer Farbe aber immerhin interessant fand. Bevor ich denGeschmack im Mund runterspülen konnte, musste ich erst

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einmal die runzlige Haut auf der warmen Milch beiseite-schieben. Kurzum: Ich hatte zu tun und war übel gelaunt.

Das Gespräch am Tisch war ohnehin versiegt, seit Monikabei uns war. Wo Monika war, war immer Ärger. Frau Loh-mann, unsere Kindergärtnerin, hatte es auf sie abgesehen.Und es kam noch schlimmer: Dietmar sprach mich auf meinFahrrad an. «Fährst du eigentlich noch mit Stützrädern?»Pause. Genüssliches Schmatzen. «Ich nämlich nicht!»

Verdammt, wie peinlich. Ich war ertappt und Dietmar ge-rade dabei, mich im großen Stil vorzuführen. Ich sagte, er seiein Stinkepups. Monika lachte laut und hämisch. Sofort standFrau Lohmann neben ihr. «Was habe ich gesagt, Monika?Was habe ich gesagt?» Sie griff Monika, die wie immer re-flexartig zu weinen begann, am Arm und zog sie in RichtungHeizungskeller. «Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass wirbeim Frühstück essen? Essen. Und nur essen. Wir regen unsnicht auf, wir lachen nicht. Wir beruhigen uns. Und du wirstdich jetzt im Heizungskeller beruhigen.» Beide verschwan-den im Gang, während Frau Lohmann in ihrer Kitteltaschenach dem Pflaster kramte, das sie Monika auf den Mund kle-ben würde. Tür zum Heizungskeller auf, Kind rein, Tür zu.

Alle kauten betroffen. Ich hatte doppeltes Glück: Ich saßnoch auf meinem Stühlchen und weinte nicht mit Pflaster vordem Mund im Dunkeln. Und, fast noch wichtiger, meine feh-lenden Radelkünste waren vom Tisch. Ich schwor mir trotz-dem, diesem Makel sofort abzuhelfen. Gleich am Nachmittagwollte ich meine Mutti bitten, die Stützräder zu entfernen. Je-der wusste, Fahrrad fahren mit Stützrädern ist kein richtigesFahrrad fahren, sondern eher so, als führe man einen Rolls-Royce, den ein Esel zieht. Allerdings scheint, wie ich bald ler-nen sollte, der Entwicklung jeder kulturellen Fertigkeit gro-ßes Leid vorauszugehen – im Großen wie im Kleinen.