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Das große Barriere-Riff, Fred McMason

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1. Seit vier Tagen hatte der Südostpassat die �Isabella VIII� nun schon hart im Griff und sie brauste durch das Wasser, als wolle sie jeden Rekord im Segeln brechen. Sie lief auf Südostkurs platt vor dem Wind, hob und senkte sich wild und benahm sich, als würde dort vorn die Hölle auf sie warten und sie in diese Hölle hineinjagen. Erst an diesem Abend wurde aus dem Fauchen und Brüllen des Passatwindes ein spürbar leichterer Wind, der die �Isabella� nicht mehr so hart vor sich hertrieb. Mit dem Abflauen des Passats geschah aber noch etwas anderes, und das wurde an Bord zunächst mit Unglauben und etwas später mit leichtem Entsetzen registriert. Das Meer war so pechschwarz wie der Himmel. Der Mond war hinter schnell dahinjagenden Wolken verschwunden, und im Schlund der Finsternis blinkte nur ein einzelner heller Stern. Ben Brighton stand am Ruder, neben ihm der Seewolf. Im Hintergrund lehnte Carberrys mächtige Gestalt schweigend am Schott. Das Ruderhaus wurde nur durch eine kleine Öllampe erhellt, die ihr trübes Licht auf das Kompaßgehäuse und die Sanduhr warf. In zwei Strich Backbord voraus hatte der Ausguck vor einigen Minuten einen hellen Fleck in der See gemeldet, bei dieser absoluten Finsternis normalerweise ein Unding. Aber es gab diesen leuchtenden, merkwürdigen Fleck, er existierte und ließ sich nicht wegleugnen. Zum Glück war der alte O'Flynn nicht anwesend, sonst hätten alle längst die gewünschte Erklärung gehabt. Daß dieser helle Fleck nämlich die Schwefellampe des Teufels sei, der sich gerade anschickte den Weg von der Hölle zur Erde zu erklimmen. Zumindest wäre dieser Fleck für ein paar tote Seelen längst Ertrunkener gut gewesen. Hier aber betrachteten ihn die Männer nüchterner, denn die lange Erfahrung hatte gelehrt, daß es für fast alles doch eine einleuchtende Erklärung gab.

Philip Hasard Killigrew sah zu dem blinkenden Stern, der wie ein Dämonenauge auf das Wasser blickte, dann sah er wieder ins Wasser, aber die Spiegelung stimmte nicht überein. �Soll ich einen Strich nach Backbord abfallen?� fragte Ben. �Wir segeln sonst fast genau darauf zu.� �Ja, etwas Steuerbord�, erwiderte der Seewolf. Hinter ihnen räusperte sich der Profos, der bis dahin fast bewegungslos am Schott gelehnt hatte. �Vielleicht ist das ein kleines Korallenriff�, sagte er, um wenigstens eine Erklärung zu finden. �Dann würde es schäumen, Ed�, erwiderte Hasard. �Aber man sieht keinen Wasserwirbel. Und das Licht wäre nicht so hell.� Der Profos schob die mächtige Brust raus und gähnte. �Von dem lausigen Glotzauge da oben ist es jedenfalls nicht�, stellte er fest. �Das würde nicht mal Donegal glauben, und der glaubt ja fast alles. Ich werde den Ausguck noch mal fragen.� Er öffnete das Schott und blickte zum Großmars hoch. Aber es war so dunkel, daß er nicht einmal den Mast sah. Vor seiner Donnerstimme kuschte sogar der Wind, als er losbrüllte: �He, Bill, du abgebrochene Seenadel! Was ist das für ein Ding, was, wie? Was siehst du genau?� Bill, der jüngste Mann an Bord der �Isabella�, lehnte sich weit über die Segeltuchverspannung, obwohl er den Profos nicht sah. �Es leuchtet im Wasser!� schrie er zurück. �Mehr läßt sich nicht erkennen. Tut mir leid.� Ed ging brummig zurück und donnerte das Schott hinter sich zu, als ihn Ben Brightons fragender Blick traf. �Es leuchtet im Wasser�, sagte er lahm. Der untersetzte stämmige Ben Brighton grinste. �Das sind ja umwerfende Neuigkeiten�, sagte er dann. �Es leuchtet also im Wasser. Wie schön!�

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�Kann ich das vielleicht ändern?� murrte der Profos. �Wir werden schon sehen, was das ist, wenn wir näher heran sind.� Selbst als Hasard es mit dem Spektiv versuchte, löste sich das Rätsel nicht. �Es ist eine leuchtende Wolke, die durchs Wasser schwebt. Sie verändert sich aber unmerklich, zieht sich zusammen, dehnt sich wieder aus, wird dichter und dann wieder dünner.� �Am Horizont ist noch eine�, sagte Ed. �Fast auf unserem Kurs. Da soll mich doch gleich der Meermann küssen.� �Ich glaube, er würde erschrecken, wenn er dich sähe�, sagte Ben grinsend. �Außerdem hat er soviel barbusige Nixen, daß er darauf gern verzichten wird.� Die Flachserei überdeckte ein wenig das leichte Unbehagen, das sich auszubreiten begann und auch auf den Seewolf übergriff. Für ihn war es aber mehr die Sorge um Männer und Schiff, denn der unerforschte Erdball hatte ständig neue schreckliche und schöne Sachen aufzuweisen, und so manch einer war ahnungslos in eine Falle gelaufen, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Diese unnatürliche Erscheinungsform beängstigte ihn daher auch nicht, sie ließ ihn nur vorsichtiger handeln. �Noch einen Strich weiter, Ben�, sagte er. �Das Leuchten dehnt sich ebenfalls aus.� Jetzt schwebte es wie eine Wolke im Wasser und wanderte gemächlich nach Steuerbord, als wolle es den Kurs der �Isabella� kreuzen. Das Farbenspiel war grünlich, dann wieder mit hellblauen Tönen durchsetzt, die immer milchiger wurden. Bis die Sanduhr einmal abgelaufen war, würden sie das Zentrum des Leuchtens erreicht haben. �Purr die Männer hoch, Ed�, sagte der Seewolf. �Ich tue es zwar nicht gern, aber vorsorglich sollen alle auf Stationen gehen. Wir wissen nicht, was sich uns nähert. Außerdem scheint sich immer mehr davon zu entwickeln. Mag sein, daß es eine ganz harmlose Erklärung dafür gibt, das wird sich ja herausstellen.�

Carberry ging ins Logis und sah auf die schlafenden Männer. Einige lagen auch an Deck und schliefen, aber die meisten hatte es doch ins Quartier gezogen. Auch hier blakte nur eine trübe Lampe, die im Rhythmus des Schiffes am Deckenbalken schaukelte und mal kurze, mal lange tanzende Schatten warf. Der Profos konnte nichts für seine rauhbautzige Art, und es wäre ihm nie eingefallen, einen Mann sanft zu wecken. Das gehörte sich einfach nicht, sonst hätte der ihn ja nicht hören können oder es für ein Mißverständnis gehalten. Daher weckte er so wie immer und wie er es auch von anderen erwartete. �Reise, Reise!� brüllte er mit seiner Donnerstimme auf die Schläfer ein, die verstört zusammenzuckten. �Hoffentlich seid ihr lausigen Kanalratten bald voll aufgebraßt! übers Wasser läuft der Teufel persönlich mit seiner Schwefellampe. Der Kahn säuft uns unterm Hintern ab, und ihr tranäugigen Miesmuscheln pennt! Wer nicht gleich an Deck ist, dem ziehe ich persönlich die Haut in Streifen von ...� Smoky winkte gähnend ab. �Affenarsch und so weiter�, sagte er, �ich weiß. Was ist denn passiert?� �Das werdet ihr an Deck schon merken. Los, hopp auf!� Die Müdigkeit war schlagartig verflogen. Jeder aus der Crew wußte zwar, daß der Profos mitunter gern übertrieb, aber es mußte schon etwas Besonderes sein, sonst hätte er sie nicht geweckt. Innerhalb kürzester Zeit waren sie alle an Deck. Das Leuchten war mittlerweile so hell geworden, daß niemand eine Erklärung brauchte. Der Anblick der Wasserfläche sprach für sich, und so standen sie am Schanzkleid und blickten zuerst wortlos auf das rätselhafte Schauspiel. Die Wolke im Wasser hatte sich weiter ausgedehnt, war noch intensiver in ihrem Licht geworden und verstrahlte ihre milchige Helligkeit bis weit in die Tiefe. Noch zweimal wurde auf der �Isabella� der Kurs geändert, doch inzwischen hatte sich das Licht immer weiter ausgebreitet. An den Rändern war es dünn und flatterig wie

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ein zerfetzter Vorhang. Im Zentrum dagegen konzentrierte es sich, und es sah tatsächlich so aus, als triebe eine gigantische Schwefelwolke umher. �Verdammt, was ist das nur?� fragte der Decksälteste Smoky laut. Niemand wußte es, er erhielt auch keine Antwort, denn die anderen starrten wie gebannt auf diese geisterhafte Erscheinung. �Es scheint harmlos zu sein�, sagte Ferris Tucker, �denn Riffe sind darunter nicht zu sehen.� �Harmlos?� spottete Luke Morgan. �Das kann genauso gut ein unterseeischer Vulkan sein, und an der Stelle ist das Wasser so siedend heiß, daß sich unsere Planken auflösen.� �Du hirnloser Stint�, sagte Ed grollend. �Ein leuchtender Vulkan unter Wasser, was wie? Und unser Schiff zerkocht darin wie der Kohl in der Suppe vom Kutscher.� �Himmel�, sagte der Kutscher indigniert. �Ihr habt vielleicht eigenartige Vergleiche!� Er nahm eine Pütz, schwang sie über Bord, zog sie wieder hoch und hielt die Hand prüfend in das Wasser. Dann grinste er, hob die Pütz hoch und goß sie Luke Morgan über den Schädel. �Da hast du dein siedendes Wasser�, sagte er zu dem verdatterten Luke, von dessen Schädel das Seewasser auf die Planken troff, und der vor Verblüffung nicht einmal jähzornig reagierte, wie das sonst immer der Fall war. Jedenfalls war das Wasser von ganz normaler Temperatur, daran gab es keinen Zweifel. Langsam segelte die �Isabella� jetzt in die ersten Ausläufer dieser milchiggrünen Wolke hinein. Fast jeder beugte sich vor, den Mund vor Staunen geöffnet, die Hände um den Handlauf des Schanzkleides gekrallt. Und die meisten erwarteten jetzt etwas. Aber es geschah nichts. Im Wasser tanzten fluoreszierende Wirbel, ganze Klumpen feiner leuchtender Materie ballten sich zusammen, strebten wieder auseinander, wanderten gemächlich in die Tiefe oder stiegen langsam zur Oberfläche.

�Sieht wie Gelee aus�, stellte Smoky fest. �Das muß Tang sein oder etwas Ähnliches.� Die Massen bewegten sich zumeist träge in der Dünung. Das Licht, das noch weiter unten strahlte, wurde davon allerdings nicht berührt, und so schaukelte nur der obere Teil, der sein Leuchten zu den Rändern hin allmählich verlor, bis das Meer an den Ausläufern wieder pechschwarz wurde. Es war ein eigenartiges und unheimliches Phänomen. Die Wolke vermittelte tatsächlich den Eindruck, als würden unbekannte Geister sich anschicken, die Oberfläche zu erklimmen. Der einzige, der zum Erstaunen aller diesmal kein Wort sagte und auch keinen Kommentar gab, war der alte O'Flynn. Sein pergamentartiges Gesicht war undeutbar verzogen, und niemand wußte, was er sich bei diesem Vorgang dachte. Aber auch er blickte angestrengt ins Wasser, und mitunter schüttelte er den Kopf. Als der Seewolf sah, daß sie die leuchtende Wolke im Wasser ungehindert passieren konnten, verschwand auch seine anfängliche Besorgnis. Aus einem ihm völlig unerfindlichen Grund leuchtete das Meer, aber es war ein kaltes Leuchten, und es hatte mit irgendeiner Vulkantätigkeit nicht das geringste zu tun. Tief unter sich sah er den Rumpf der �Isabella�, sah im Leuchten des Wassers klar und deutlich den schwachen Bewuchs am Schiffsrumpf, die kleinen Muscheln und den Tang, der sich angesetzt hatte. Pete Ballie löste gerade Ben Brighton ab, und so gingen er und Hasard auf die Kuhl, um das Phänomen genauer zu betrachten. �Smoky�, sagte Hasard zu dem Decksältesten. �Laß in den großen Holzzuber ein paar Pützen Wasser hineinschütten. Nimm das Wasser dort vorn aus der leuchtenden Wolke.� �Aye, Sir�, sagte Smoky und angelte nach der Pütz.

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�Das Wasser ist nicht heiß. Sir�, sagte Luke Morgan. �Wir haben es schon ausprobiert.� �Das nehme ich auch nicht an, es ist wahrscheinlich ein anderer Vorgang, den ich mir nicht erklären kann.� Smoky schleuderte die Pütz in das helle Leuchten hinein, zog sie hoch und wollte sie in den Zuber leeren. Doch als die Pütz sich an Deck befand, war das Leuchten erloschen, und das Wasser sah genauso aus, wie es immer aussah. Das begriff erst recht niemand. Eben hatte es noch geleuchtet, und jetzt, als der Ledereimer auf der Kuhl stand, war das Licht erloschen. Smoky kratzte sich verblüfft den Schädel, leerte die Pütz in den Zuber und holte neues Wasser. Obwohl er diesmal ausschließlich in der hellen Wolke pützte, wiederholte sich der Vorgang. �Und jetzt?� fragte er verdattert. �Jetzt lassen wir den Zuber einfach an Deck stehen�, erklärte Hasard. �Bei Tageslicht werden wir uns den Inhalt mal etwas genauer ansehen.� Hinter ihnen blieb die leuchtende Wolke zurück, und weit vor ihnen tauchte eine neue auf, nicht so stark konzentriert wie die erste. Ab und zu tummelte sich in dem Leuchten ein großer Fisch, oder sie sahen den Schatten eines Hais, der durch die leuchtende Wolke jagte, sich wie wild um sich selbst drehte und dann verschwand. Als der Zuber fast gefüllt war, kehrten Ben und der Seewolf wieder auf das Achterdeck zurück. �Ihr könnt weiterpennen�, sagte der Profos. �Das war nicht mehr als eine harmlose Naturerscheinung.� Die meisten folgten der Aufforderung jedoch nicht, denn das Erlebnis an sich war es, was ihre Nerven kitzelte, und so standen sie noch lange herum und diskutierten das Meeresleuchten. Zwei Stunden später, die meisten hatten sich wieder unter Deck verzogen, meldete der Ausguck ein Riff Steuerbord querab. Es war nur ein kleines Riff, über dem sich schäumend die Wasserwirbel brachen, aber

bald darauf wurde das nächste gesichtet und an Deck gemeldet. Das Meeresleuchten war jetzt nur noch ganz schwach am achteren Horizont zu erkennen. Schließlich hörte es auf. Dafür tauchten jetzt immer mehr Riffe auf, an denen sich Schaumwirbel brachen, die weiß herüberleuchteten. Im Schein der trüben Lampe studierte Hasard die Seekarten, die sie von den Polynesiern hatten, und auch die Karte, die sie Don Maria José de Larra abgenommen hatten, aber diese Karten gaben keinen Aufschluß über das tiefer im Süden vermutete �Südland�, jenen sagenhaften Kontinent, der nur Gerüchten nach existierte. Einmal drehte der Seewolf sich zu Ben Brighton um und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. �Ich weiß nicht�, sagte er langsam und überlegend, �aber ich habe das dumme Gefühl, als segelten wir mitten in einen riesigen Schlauch hinein.� Brighton schluckte nur. Darauf wußte er keine Antwort.

2. Das Gefühl hatte den Seewolf nicht getrogen. Seit der Südostpassat die �Isabella� nicht mehr im Griff hatte, veränderte sich einiges, und das ließ den Schluß zu, als würden sie sich jetzt tatsächlich dem sagenhaften Südland nähern, einem, den Gerüchten und Vermutungen nach, riesigen phantastischen Kontinent. Die ersten Anzeichen deuteten einwandfrei darauf hin. Riffe! Es wurden immer mehr, die schäumend und von hoher Brandung umtost aus dem Meer ragten. Seit einiger Zeit waren sie auf beiden Seiten des Schiffes zu sehen. Manche waren hoch, Korallentürme aus dunkler Tiefe senkrecht emporsteigend wie kleine Berge. Andere wieder lagen wie hingeduckt im schwarzen Wasser, und nur die zarte Brandung verriet ihre Anwesenheit.

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Seit einer Stunde wurde pausenlos Tiefe gelotet, aber das Lot fand keinen Grund. Dafür wurde das Gefühl, in einen finsteren langen Schlauch ohne Ende zu segeln, immer ausgeprägter. Zudem bestand die Möglichkeit, daß die �Isabella� unversehens aufbrummte. Was das auf einem Korallenriff bedeutete, das wußte jeder an Bord, und jeden graute bei dem bloßen Gedanken daran. �Laß den anderen Ausguck auch noch besetzen, Ben�, sagte Hasard. �Vier Augen sehen mehr als zwei. Und laß auch zwei Segel ins Gei hängen, unsere Geschwindigkeit ist zu groß. Wir müssen uns hier vorsichtig hindurchtasten.� Ben verließ das Achterdeck und gab den Befehl an den Profos weiter, der wieder ein paar Männer aus dem Schlaf purrte. Brighton blieb auch gleich da und half mit. �Wir hängen Fock und Großsegel ins Gei, Ed�, sagte Ben Brighton. �Wir segeln dann nur mit Vormars- und Großmarssegel und Lateiner.� �Und die Blinde?� fragte der Profos. �Auch weg damit! Dann haben wir vom Achterdeck aus einwandfreie Sicht voraus.� �An die Schoten, ihr backgebraßten Pfeffersäcke!� donnerte Eds Stimme gleich darauf über Deck. �Fock und Großsegel auftuchen, weg mit der Blinde! Schlaft nicht ein, sonst schlitzen die Korallen euch eure Affenärsche bis zum Kragen auf!� Jeder sah, daß sich etwas verändert hatte und überall in der See tückische Augen aufleuchteten, manche nur durch einen silbrigen Schein erkennbar, andere von tosenden Wasserwirbeln berannt, die hoch aufgischteten und dann zerstäubten. Mit ungeheurer Wucht rannte das Meer gegen sie an, das Meer, das wie ein schwarzes Ungeheuer aussah, das in seiner Gesamtheit den ganzen Erdball mit tausend Armen umschlang, die alles Land zu sich in die Tiefe ziehen wollten. Trotz der Dunkelheit ließ sich das alles gut erkennen. Die Atolle, die Atolle, nicht sah, verrieten sich durch brausende Töne, donnerndes Klatschen und hohles Geplätscher, das pausenlos durch die

Dunkelheit klang. Ab und zu erschien ein blinkendes Auge am Himmel, etwas später tauchte auch der Mond auf und schleuderte unwirklich aussehende Strahlen auf die Riffe. Die �Isabella� lief nun merklich langsamer durch die See. Im Ausguck befanden sich jetzt Jeff Bowie und der Herkules aus Gambia, der riesenhafte Batuti. Pausenlos achteten sie darauf, daß das Schiff nicht auf eine unverhofft aus dem Wasser auftauchende Korallenbarriere lief. Daher mußte immer wieder der Kurs korrigiert werden. Endlich zog die Dämmerung herauf, der Himmel wurde grau, die Wolkenformationen zogen zum Horizont, und über das Meer krochen wie blutrote Geisterfinger die ersten Sonnenstrahlen hoch, tasteten den Horizont ab und ergriffen schließlich vom Meer Besitz. Hasard hatte in dieser Nacht nicht geschlafen, er empfand auch jetzt nicht die geringste Müdigkeit. Der Kutscher, immer einer der ersten an Deck, brachte ihm Tee mit Kandiszucker und einem Schuß Rum. Auf dem Achterdeck sah der hagere Mann sich um und nickte, als hätte er genau diesen Anblick und nichts anderes erwartet. �Das sieht aus, als liefen wir in eine Falle, Sir�, sagte er. �Dort vorn scheint es immer enger zu werden, und nach Backbord- oder Steuerbord können wir nicht mehr ausweichen.� �Da hast du recht, Kutscher. Und zurück können wir auch nicht mehr. Ich will es jedenfalls nicht�, verbesserte sich Hasard. �Anscheinend verläuft hier in südöstlicher Richtung ein gewaltiges Riff, und das hier sind erst die Ausläufer davon, in die wir hineingeraten sind. Wir werden auch wieder herausfinden.� �In der Nähe ist Land�, sagte der Kutscher, ein Mann, der an Bord der �Isabella� keinen anderen Namen hatte. �Woher willst du das so genau wissen, oder vermutest du das nur?�

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�Ich weiß es, Sir.� Der Kutscher winkelte den Daumen ab und deutete in den jetzt immer klarer werdenden Himmel. �Dort oben kreist seit mehr als einer halben Stunde ein Vogel. Er kreist senkrecht über der �Isabella�, ich beobachte ihn schon eine ganze Weile. Das könnte bedeuten�, sagte er vorsichtig, �daß wir uns diesem sogenannten Südland nähern, denn wo Vögel sind, ist auch das Land nicht weit. Sieh nur genau nach oben, Sir!� Tatsächlich sah Hasard einen winzigen Punkt am Himmel, der weite Kreise zog, sich mal noch höher in den Himmel schraubte und dann wieder sanft nach unten glitt. Und er zog seine Spiralen haargenau über dem Schiff. Hasard suchte mit dem Kieker den Horizont ab, doch er konnte nirgendwo auch nur den Strich einer Küste sehen. An Backbord lag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Land, also mußte man es an Steuerbord suchen. Doch auch da gab es nichts anderes als die Riffkette, die immer beängstigender anschwoll und an ein Gebirge erinnerte, dessen oberer Teil aus dem Meer wuchs wie der gepanzerte Rücken eines Ungeheuers. �Ganz sicher gibt es Land�, sagte er zu dem Kutscher, der es liebte, auf dem Achterdeck mit dem Seewolf ab und zu ein Schwätzchen zu halten, bevor er wieder in seiner Kombüse verschwand. �Aber ob es dieser sagenhafte Kontinent ist, muß sich erst noch herausstellen. Später werde ich diese Riffe in die Karte einzeichnen, natürlich nur in groben Umrissen, anders ist das nicht möglich.� �Weißt du, Sir�, sagte der Kutscher. �Ich bin sicher, daß deine selbst angefertigten Karten eine Menge dazu beitragen, um die Welt besser kennen zu lernen. Sie sind exakter und genauer als die spanischen Roteiros. Eigentlich sind sie mehr wert als eine Schiffsladung voller Gold.� Als Hasard nickte, beugte sich der Kutscher über die Karten und begutachtete sie. Er verstand nicht viel von Navigation, aber er hatte einen scharfen und logischen Verstand, und er erkannte den Wert dieser

Karten vielleicht besser als jeder andere Mann an Bord. So banal sich das auch anhören mochte, aber auf diese Karten konnten sie alle stolz sein, denn noch war die Erde größtenteils unerforscht, und es gab auf den meisten Karten mehr weiße Flecken und Fragezeichen als umgekehrt. Als der Kutscher wieder nach vorn ging, balgten der Schimpanse Arwenack und der Papagei Sir John sich wieder einmal. Hasard schenkte dem Gezeter und Gekeife keine Aufmerksamkeit, denn daß die beiden aneinander gerieten, geschah jeden Tag. Der Affe versuchte meist, Sir John eine seiner bunten Federn auszureißen, und Sir John ließ keine Gelegenheit aus, um Arwenack mit seinem gekrümmten Schnabel einen ordentlichen Hieb beizubringen. Sonst aber vertrugen sie sich einwandfrei, und in bedrohlichen Situationen hielten die unterschiedlichen Tiere sogar zusammen. Der Affe hatte Sir John gerade bis in den Topp des Fockmastes gescheucht, da geschah es ganz überraschend und unter den Augen aller Männer. Der Vogel, der eben noch seine einsamen Kreise in großer Höhe gezogen hatte, fiel wie ein Stein vom Himmel. Dabei wurde er immer größer. Seine Flügel lagen eng am Körper an, und sein rasender Sturz ähnelte dem Fall einer Kugel, wenn ihre Flugbahn beendet war. Es sah aus, als würde er sich mit unvorstellbarer Wucht in die Planken der �Isabella� einbohren. In der Luft lag ein leises Rauschen. Dann breiteten sich große Schwingen blitzartig aus, um den jähen Sturz abzubremsen. Gleichzeitig schossen die scharfen Fänge vor. Sir John bemerkte die Gefahr erst jetzt. Bisher hatte er meist sehr sorglos gelebt, denn natürliche Feinde gab es an Bord für ihn nicht mehr, und das hatte sich in den Jahren ausgewirkt, seit er an Bord war. Sein Instinkt vor drohenden Gefahren war jedenfalls nicht mehr so ausgeprägt wie früher.

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Als die Fänge vorzuckten, stieß er einen grellen Schrei aus. Seine Federn sträubten sich, und dem ersten Schrei folgte ein zweiter, so herzzerreißend und angstvoll, wie nur ein Mensch in höchster Todesangst kreischen konnte. Die scharfen Fänge sausten über seinen Rücken. Eine Wolke von Federn stob hoch. Sir John fiel kreischend auf die Rah, hakte sich mit seinem Schnabel fest und hing zeternd und kreischend nur noch an dem Schnabel. Gleichzeitig aber war der Schimpanse heran, der ihn vorher bis an die Rah verfolgt hatte. Arwenack stieß ein Fauchen aus bleckte das starke Gebiß. Während er sich mit einem Arm an die Rah klammerte, eingehüllt in eine Wolke kleiner Federn, wischte sein anderer Arm blitzschnell durch die Luft. Er kriegte den gerade wieder im Abflug begriffenen Raubvogel zu fassen, packte seine Schwinge und schleuderte ihn wild durch die Luft. Dann mußte er loslassen, und der Vogel flog auf das Deck zu, fing vor den Köpfen der wie erstarrt dastehenden Männer gerade noch seinen Sturz ab, sauste dicht am Segel vorbei, flog irritiert weiter nach achtern, zog die Fänge wieder ein und schwirrte so dicht über Hasards Kopf dahin, daß der Seewolf in die Knie ging, sonst wäre der Raubvogel direkt in seinem Gesicht gelandet. Dann hatte er sich gefangen und flog erbost über Steuerbord dem großen Korallenriff entgegen. Sir John aber stürzte zerzaust an Deck, stieß immer wieder einen schrillen Schrei aus und spazierte über die Planken, bis der Profos sich bückte und ihn aufhob. �Das war ja ein tolles Ding�, sagte Carberry. Er war genauso verdutzt wie die anderen auch. Dann betrachtete er den zitternden Papagei, der seine Krallen um seine Finger geschlossen hatte und nicht mehr losließ. Sir John war gerupft worden und hatte Federn gelassen. Eine ziemlich kahle Stelle zierte seinen Rücken, aber er hatte Glück gehabt. Seine Haut war nur leicht

angekratzt, und ein kleiner Blutstropfen hatte sich gebildet. �Junge, Junge�, murmelte der Profos. �Jetzt ist dir vor Schreck wohl sogar das Fluchen vergangen, was, wie? Der hätte dich aber ganz schön gerupft, wenn Arwenack nicht gewesen wäre.� Der Schimpanse war ebenfalls an Deck erschienen, umkreiste den Profos fortwährend in einem Bogen und keckerte aufgeregt. �Was war denn das für ein Vieh?� fragte Smoky. �Der sah aus wie ein riesiger Wanderfalke, aber hier unten habe ich diese Vögel noch nie gesehen.� �Ich auch nicht.� Um Ed scharten sich die Seewölfe, und sogar der Kutscher ließ es sich nicht nehmen, nach dem Papagei zu sehen. Aber es gab zum Glück nichts für ihn zu tun. Außer einigen Federn fehlte Sir John nichts, bis auf den gewaltigen Schrecken natürlich, Vom Achterkastell aus sah Hasard dem Raubvogel sinnend nach. Er flog auf pfeilgradem Kurs nach Westen. Folglich mußte es dort auch Land geben. Jenes legendäre Südland vielleicht? Die Reaktion des Vogels ließ nur den Schluß zu. Sehr weit konnte das Land auch nicht entfernt sein. Der Seewolf blickte ihm nach, bis er ihn aus den Augen verlor. �Dort drüben liegt Land�, sagte Ben, der den gleichen Schluß gezogen hatte wie Hasard. �Der Vogel hat eine Pleite erlebt, und nun fliegt er zurück, und zwar dahin, woher er stammt oder wo er sein Nest hat oder seinen Horst, wie immer man das nennen will.� �Richtig. Nur können wir den Kurs nicht ändern, Ben. Sieh dir die unglaublich vielen Riffe einmal an, sie werden immer dichter und wachsen zu einer riesigen Barriere zusammen.� �Und wir befinden uns mitten darin.� Ja, der Schlauch wurde enger, daran war nicht zu zweifeln. Die Riffe rückten dichter zusammen, und sie wurden auch immer breiter und gewaltiger.

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Die Natur hatte hier ein Phänomen geschaffen, wie die Seewölfe es noch nie in so gewaltigem Ausmaß gesehen hatten. Türme wuchsen aus dem Wasser, aus schwarzer, unergründlicher Tiefe jählings aufsteigend. Manche so schlank wie ein Mast, andere so gewaltig wie langgestreckte farbige Berge. Dazwischen gab es unbekannte und tückische Strömungen, die das Schiff immer wieder versetzten. Manchmal schor der Bug der �Isabella� hart aus, und nur dem Geschick des Rudergängers war es zu verdanken, daß er die �Isabella� in dieser Rinne halten konnte. Für die Seewölfe hieß das: Brassen, immer wieder brassen, bis es ihnen zum Hals heraushing. Hasard sah immer deutlicher, daß sie sich in diesem Meer und Gewirr aus scharfkantigen Korallen, tückischen Bänken und rasiermesserscharfen Riffen hoffnungslos verfranzen würden, wenn nicht noch ein Wunder geschah, und er spielte mit dem Gedanken, wieder auf Gegenkurs zu gehen. Aber dann gab es später wieder einige Lücken, und er ließ Weitersegeln.

* Etwas später fiel Hasard der Holzzuber ein, und er ging zur Kuhl. Die Sonne schien in den kleinen Bottich, und er beugte sich hinunter und blickte hinein. Es ließ sich nicht feststellen, was dieses Leuchten verursacht hatte, denn im Wasser befand sich nichts. Erst als er sich kopfschüttelnd wieder erheben wollte, bemerkte er das Gewimmel in dem Zuber. Man mußte wirklich zweimal hinsehen, um etwas zu entdecken. Unglaublich winzige Tiere tummelten sich darin, so klein, daß man sie kaum wahrnahm. Aber das Wasser war von Leben erfüllt, das sich rasend schnell darin bewegte. Ferris Tucker, der ebenfalls in den Zuber blickte, war erstaunt.

�Eine richtige kleine Welt für sich�, sagte er. �Aber weshalb sind diese winzigen Dinger in der Lage, Licht zu erzeugen? Das verstehe ich einfach nicht.� �Ich verstehe das auch nicht�, gab Hasard zu. �Manche von den Kleinlebewesen sehen so aus wie das Zeug im Tang oder das, was an unserem Rumpf hing, als wir das Schiff säuberten.� �Ja, nur ist das alles viel kleiner, so winzig, daß man es auf den ersten Blick nicht bemerkt.� Fast jeder warf einen Blick in den Zuber, und am Ende stand fest, daß es zwar diese kleinen Tiere waren, die das Licht erzeugten, aber wie sie das taten, das blieb auf der �Isabella� ungeklärt. Hasard trug auch dieses Naturereignis in die Karte ein. Vieles würden manche Leute später anzweifeln, aber das war ihm egal. Er und seine Leute hatten es mit eigenen Augen gesehen. Ein verstaubter englischer Lord in London bei Hofe hatte nicht die geringste Vorstellung von solchen Dingen und würde es als Phantasterei abtun. Die Sonne stieg höher, der Wind blies nur noch schwach, und über Deck breitete sich die Hitze aus. Jeff Bowie wurde von Gary Andrews abgelöst. Bowie ging nach achtern zum Seewolf und deutete weit voraus. �Du .solltest dir das mal aus dem Großmars ansehen, Sir�, sagte er. �Es sieht aus, als würden wir über einen untergegangenen Kontinent segeln. Und weiter vorn wird es immer flacher. Lange geht das nicht mehr gut.� �Ja, wie untergegangenes Land�, sagte Hasard nachdenklich. �Aber ich werde mir das von oben ansehen, obwohl der Eindruck natürlich auch täuschen kann.� �Es wird wirklich flacher, Sir�, warnte Jeff. �Da habe ich mich ganz sicher nicht geirrt. Und im Wasser gibt es Siele, gefährlich tiefe Gräben.� �Die natürlich schnelle Strömungen erzeugen. Danke, Jeff!� Bowie sah dem Seewolf nach, der geschickt und schnell in die Webleinen stieg und aufenterte. Gleich darauf befand

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er sich neben Gary Andrews, der mit großen runden Augen auf das Meer blickte. Aus dieser Perspektive sah es wieder ganz anders aus als vom Achterdeck. �Das ist ein Anblick, Sir�, sagte er atemlos. �Wir segeln über versunkenes Land. Das muß vormals eine riesige Insel gewesen sein, die später unterging.� �Nein�, sagte Hasard. �Das war keine Insel, auf keinen Fall. Das ist eine einzige Korallenbank, Gary, deren Länge nicht abzuschätzen ist. Sie reicht von Horizont zu Horizont, und da geht es wahrscheinlich immer weiter.� Der Ausblick war schön und schrecklich zugleich, fand Hasard. Tief unter ihm schimmerte es in allen Farben, die die Natur aufzuweisen hatte. Dunkelgrüne Wälder lagen¬ unter der �Isabella�, bunte Farbenteppiche, ganze Wiesen von Korallen. Dazwischen gab es tiefe Rinnen, die nicht auszuloten waren, und in diesen Rinnen lief das Wasser rasend schnell dahin, erzeugte gigantische Wirbel, bildete Trichter, wurde Wasser nach unten gezogen. Aber es gab in dieser Riff-Barriere auch wieder seichte Lagunen mit trübem Wasser, Oasen der Ruhe inmitten eines Hexenkessels, der nie zur Ruhe gelangte. Aber das Schlimme war, daß sie sich in diesem Höllenriff tatsächlich verirrt hatten, und Hasard mußte Jeff Bowie recht geben, denn zum Horizont hin wurde das Wasser immer flacher, oder die Korallen stiegen höher empor, wenn man es so sehen wollte. Auf der anderen Seite rollte und donnerte pausenlos eine harte tosende Brandung gegen die Riffe, die Wassermassen zerstoben in wilder Gischt und wurden wieder zurückgeworfen. Ein Naturwunder von diesen Ausmaßen, dieser gewaltigen Größe, die alles bisher Gesehene in den Schatten stellte, hatte Hasard noch nie erblickt. Lange stand er da, seine schwarzen Haare flatterten im Wind. Er genoß diesen schaurig-schönen Anblick, nahm alles in sich auf und versuchte, es zu verarbeiten.

Aber dann kehrte er in die Wirklichkeit zurück, denn die Riffe wurden für die �Isabella� immer bedrohlicher. Er rief hinunter und deutete auf den Profos. �Ed! Lateiner auftuchen! Wir haben noch zuviel Fahrt.� Der Profos bestätigte, und gleich darauf war auch der Lateiner aufgetucht. Hasard blickte nach Osten, zog den Kieker auseinander und schaute lange hindurch. Eine Küste war immer noch nicht zu sehen, aber dort, wo das Riff zum Osten hin endete, war das Wasser pechschwarz, und es ging beängstigend steil in die Tiefe. �Ich glaube, wir schaffen es, hier durchzusegeln�, sagte er zu Gary. �Dort vorn gibt es einen Durchlaß, da ist das Wasser auch wieder tiefer, wie es scheint.� �Ich weiß nicht, Sir.� Gary wand sich unbehaglich und lehnte sich an die Segeltuchverkleidung. �Es sieht jetzt noch so aus, aber wenn hier Ebbe herrscht, dann ...� �Die scheint gerade zu beginnen. Paß gut auf, Gary, von euch hängt es ab, ob wir hier durch können, ohne uns aufzuschlitzen.� �Aye, Sir�, murmelte Andrews bedrückt. Hasard enterte wieder ab und hörte die Stimme des alten O'Flynn, der jetzt das Ausloten übernommen hatte. �Sechzehn Faden�, sang der Alte aus. �Sechzehn Faden�, murmelte der Seewolf. �Ich hätte es höchstens für die Hälfte gehalten.� Das bewies ihm, wie das Auge sich irren konnte, denn jedesmal wenn sich die Perspektive änderte, veränderte sich alles. Vom Schanzkleid aus wirkte es, als würde die �Isabella� ganz dicht über die tang- und muschelbewachsenen Bänke gleiten, aber das war nicht der Fall, wie die Lotungen ergaben. Fast gleich bleibend war die Tiefe auch noch nach einer halben Stunde, dann nahm sie ab. Vierzehn Faden, zwölf, elf. Dann nur noch neun. Langsam trieb die �Isabella� vor dem lauen Wind dahin, aber sie hatte unter Vormars- und Großmarssegel immer noch

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zuviel Fahrt, und so blieb nichts anderes übrig, als auch das Großmarssegel noch aufzugeien. Jetzt �schlichen� sie nur noch dahin, wie Ferris Tucker sagte, und tasteten sich langsam weiter vor. Fast unmerklich aber begann eine Strömung einzusetzen, die an dem Schiff zog und zerrte, die es immer wieder versetzte, bis der Rudergänger verärgert zu fluchen begann. Das Ruder hatte zuwenig Druck, und so ließ sich die �Isabella� auch immer schlechter steuern. �Dort vorn�, sagte Hasard, �werden wir vor Anker gehen. Es hat keinen Zweck mehr, die Ebbe hat eingesetzt. Diese dunkle Stelle ist tiefer und sieht wie eine Lagune aus.� �Aye, Sir�, sagte Ben und lauschte auf die Stimme O'Flynns, der gerade sechs Faden aussang. Bevor sie die Stelle jedoch erreichten, geschah etwas, das die Männer schlagartig alarmierte. �Eine Riesenwelle!� schrie Gary Andrews, und in seiner Stimme klang leichtes Entsetzen mit. Eine Riesenwelle! Die Bekanntschaft solcher überraschend aus der See auftauchenden Wogen hatten sie schon ein paarmal geschlossen, und fast jedesmal waren sie dabei nur ganz knapp dem Untergang entronnen. Die letzte Tsunami hatten sie auf Hawaii erlebt. Dabei war eine ganze Insel überflutet worden, und es hatte viele Tote gegeben. �Von Back- nach Steuerbord!� schrie Andrews wild. Sofort wandten sich alle Blicke dahin. Jeder starrte beklommen in die angegebene Richtung, und jeder wußte, was jetzt geschah. Wenn die Welle sie erreichte, würde sie das Schiff so machtvoll auf die Korallen donnern, daß es in sämtliche Bestandteile zerbarst. Am östlichen Horizont tauchte das Ungeheuer plötzlich auf. Es war ein gigantischer, fast grell-weißer Wellenberg, der sich erhoben hatte und nun mit irrsinniger Geschwindigkeit am

Horizont entlangraste. Seine Höhe ließ sich nicht schätzen. Die weiße, gischtende Woge schien noch halb im Himmel zu hängen. �Gott steh uns bei�, murmelte Old O'Flynn und hielt das Lot wie gelähmt in der Hand. �Die überrollt uns!� Nicht einmal der Profos widersprach, denn sie sahen es mit eigenen Augen, wie die Wasserwand mit dem gewaltigen Schaumwirbel losbrach und sich in Bewegung setzte. Allerdings hatte diese schnelle Bewegung etwas Unnatürliches an sich. So schnell hatte sich nicht einmal die Tsunami auf Hawaii bewegt, und sie rannte auch nicht mit solcher Präzision. Diese Welle hier aber lief schneller als der Wind, sie wurde noch größer, und sie eilte von Backbord nach Steuerbord. Genauso schnell, wie sie erschienen war, verschwand sie auch wieder, als wäre nichts geschehen. Die Männer, die das tobende Ungeheuer erwarteten und sich schon duckten und die Augen schlossen, erwachten aus ihrer verkrampften Haltung. Die Welle hätte längst hier sein müssen, aber das Schiff lag völlig ruhig im Wasser, wie es bei dieser See üblich war. Da gab es kein Heben und Senken, und erst recht keinen schmetternden Schlag. Auch der Seewolf sah verblüfft zum Horizont, der wieder leicht dunstig war. Von einer Welle war jedoch weit und breit nichts mehr zu sehen. Er griff sich an den Kopf und sah den jungen O'Flynn an. �Hast du das nicht auch gesehen, Dan?� �Ja, natürlich, eine richtige Tsunami - und jetzt ist sie spurlos verschwunden, ohne den kleinsten Schaden zu hinterlassen. Ich glaube, in meinem Schädel stimmt einiges nicht mehr.� �Jeder hat sie gesehen�, sagte Hasard. �Und verdammt noch mal, sie war ja auch da. Sollen wir uns selbst belügen?� Er blickte zum Großmars hinauf, wo ein völlig fassungsloser und verblüffter Gary Andrews stand, unentschlossen, als wollte er gerade abentern, um sich vor der Welle

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in Sicherheit zu bringen. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er suchte das Monstrum am fernen Horizont, wo es sich längst nicht mehr befand. Dann aber weiteten sich seine Au- gen. Er blickte irritiert in dieselbe Richtung und brüllte eine neue Warnung an Deck. �Eine neue Welle!� schrie er. �Noch größer als die erste.� Das unheimliche Schauspiel lief mit der gleichen Prozedur ein zweites Mal ab. Die aufgetürmte, wild schäumende Riesenwelle erschien von Backbord aus dem Nichts, wurde immer größer, bis sie die gesamte Kimm ausfüllte und begann dann ihren wahnwitzigen Lauf, der sie in Windeseile in Richtung Steuerbord führte. �Ja, verdammt!� schrie Carberry erbost, �Hält uns hier der Teufel persönlich zum Narren, was, wie? Oder haben wir etwa alle den Verstand verloren? Das gibt es doch nicht!� Wieder verebbten die gewaltigen Wassermassen ohne eine Erschütterung im Meer zu hinterlassen. Es waren Milliarden Tonnen Wasser, die sich da blitzartig auftürmten, und die konnten nach menschlichem Ermessen nicht einfach spurlos verschwinden oder sich schlagartig sanft verlaufen. Das war ein Ding der Unmöglichkeit! Als sich das Schauspiel gleich darauf zum dritten Mal klar und deutlich vor aller Augen wiederholte, begann es die Männer zu nerven. Wenn wenigstens einer unter ihnen behauptet hätte, er sähe das alles nicht, dann wäre ihnen etwas wohler gewesen. Aber sie sahen es alle, überdeutlich und mit seltener Schärfe und Klarheit. Sobald die Riesenwelle nach Steuerbord abgelaufen war, verschwand sie spurlos. Sie zog auch kein Wasser nach sich, es bildete sich kein Neer und kein Rückstau, und das war es, was sie an ihrem Verstand zweifeln ließ. Auf dem Achterdeck stand Hasard an der Schmuckbalustrade und sah fasziniert dem Schauspiel zu. Das vierte Mal erschien die Welle wie in einem üblen Traum, und als sie sich

blitzartig verlaufen hatte, legte sich ein verstehendes Lächeln um seine Lippen. �Fällt dir an dem Rhythmus nichts auf, Dan?� fragte er. �Oder dir, Ben? Ist da nicht etwas sehr merkwürdig?� Hasards Stellvertreter benötigte immer erst etwas Anlauf, um richtig warm zu werden. Er kratzte sich das Kinn, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und legte die Stirn nachdenklich in Falten. Er fand auch eine Erklärung, aber Dan O'Flynn konnte die Zusammenhänge schneller erfassen und begreifen. �Du meinst die Brandung an der Seite des Ostriffes, nicht wahr?� �Ganz richtig, Dan.� �Ja, sie stimmt mit der Welle überein. Das heißt, sie erscheint immer zur selben Zeit. Es gibt keine Abweichung, das ist ja so merkwürdig daran.� �Nichts weiter als eine Luftspiegelung, wie wir sie schon so oft erlebt haben�, sagte Hasard. �Jenseits des Horizontes vergrößert sich die Brandung um ein Vielfaches und erscheint halb am Himmel und zur Hälfte im Wasser. Gleich muß es wieder soweit sein.� Er hatte gerade zu Ende gesprochen, als am Ostriff ein Brecher in die Korallen schlug. Eine langdünende Brandungswelle folgte, Schaumwirbel entstanden in der Luft. In diesem Augenblick begann auch die große Welle wieder zu laufen, und als sie sich am Horizont verzogen hatte, war auch die Brandungswelle am Ostriff verschwunden und hatte sich an den Korallen totgelaufen. Hasard erklärte das seltsame Phänomen seinen Männern, aber die konnten es nicht so recht glauben. Er sah in mißtrauisch verzogene Gesichter, selbst Carberry und der Kutscher hörten sich das sehr skeptisch an. �Denkt doch mal daran, als damals das fremde Schiff direkt auf uns zusegelte�, erinnerte er sie. �Wir konnten sogar ganz deutlich den Namen lesen, und es hat sich danach auch in Luft aufgelöst. Achtet genau auf den Rhythmus und vergleicht

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ihn mit der Welle, dann geht das schon in eure Schädel hinein!� Das taten sie jedesmal, sobald sich das Schauspiel wiederholte, und es wiederholte sich im Lauf der nächsten Stunde alle paar Minuten mit der gleichen Präzision. Dann blieb es ganz plötzlich aus. �Und weshalb sieht man es jetzt nicht mehr?� wollte Matt Davies wissen. �Weil wir unseren Blickwinkel verändert haben. Das ist ähnlich wie bei einem Regenbogen, und es muß mit den Spiegelungen der Luft zusammenhängen. Kann sein, daß wir sie später wiedersehen � oder aber niemals mehr.� Da die Ebbe jetzt mächtig zog und sie den lagunenartigen dunklen See erreicht hatten, befahl Hasard, Anker zu setzen, nachdem die Tiefe ausgelotet war. Sie betrug noch vier Faden, schließlich nur noch drei, und damit wurde das Risiko, aufzubrummen, immer größer. Der Anker klatschte ins Wasser und faßte Grund. Das letzte Segel hing im Gei. Eine trübe Wolke bildete sich im Wasser, dort wo der Anker Grund gefaßt hatte. Für eine Weile sahen sie noch deutlich die bunten Korallentürme, dann wurde das Wasser immer trüber, und langsam entstanden mächtige Wirbel und ein harter Sog. Die �Isabella� saß in der Falle.

3. Der Tidenhub an diesem mächtigen, fast endlosen Korallenriff betrug fast genau sechseinhalb Yards. Aber das stellte sich erst nach und nach heraus, als das Wasser seinen tiefsten Stand erreicht hatte. Korallenriffe waren für die Seewölfe nichts Neues, aber dieses Riff sprengte alle Grenzen menschlicher Vorstellungskraft, und es hatte eine unwahrscheinliche Menge Reize aufzuweisen. �Können wir das kleine Boot abfieren, Sir?� fragte der Profos. �Wir haben für die nächsten Stunden ohnehin kaum etwas zu tun. Wie ich das sehe, kann man hier auf den Korallen gehen, sobald das Wasser Tiefstand erreicht hat.�

�Jeder hat frei�, erlaubte Hasard. �Nur ein Mann bleibt ständig im Ausguck. Zieht euch Schuhwerk oder Stiefel an, wenn ihr über die Korallen geht. Und paßt auf! Mehr sage ich nicht, ihr seid schließlich erwachsene Kerle.� �Vielen Dank, Sir. Willst du mit?� �Nein, ich werde eine Stunde Schlaf nachholen�, sagte Hasard. Das kleine Boot wurde zu Wasser gelassen. �Verdammt, ist die Strömung stark�, sagte Smoky. �Die reißt ja schon das Boot weg.� �Dann halte es fest�, riet Carberry. Die Zwillinge hatten sich auf dem Galionsdeck ihren Platz erkoren und blickten von dort aus in das Wasser. Alle beide angelten voller Hingebung und hatten sich vom Kutscher Köder besorgt. Der Kutscher selbst angelte auch, um mal wieder etwas anderes auf die Back zu bringen, wie er sagte. Immer mehr Korallentürme schoben sich aus dem Wasser. Dazwischen gab es finstere Schluchten, Priele wie im heimatlichen Wattenmeer, nur herrschte hier eine viel stärkere Strömung. Gurgelnd schoß das Wasser hindurch, schwallartig mitunter, als herrsche Springflut und nicht Ebbe. Immer mehr hob sich die gewaltige Riffplatte aus dem Wasser wie ein glatt geschliffener Berg. Aber dieser Eindruck täuschte. Es gab Schluchten und Täler darin, Seen, Lagunen, Gräben und Rinnen. Auch die Lagune, in der die �Isabella� lag, erwies sich als tückische Falle, das sollten sie gleich erfahren. Das Schiff gelangte nicht zur Ruhe. Strömungen zerrten und rissen an ihm, drehten es immer wieder, ließen es schwojen und hart an der Trosse zerren. Carberry sah das mit leichter Besorgnis. �Wir werden noch etwas Ankertrosse nachfieren�, sagte er. �Zehn Yards müßten genügen, dann hängen wir lang.� Als er zur Back ging, gab es ganz überraschend einen Knall, als hätte jemand einen Schuß abgefeuert.

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Die Männer zuckten zusammen, denn jeder wußte auf Anhieb, was dieser Knall zu bedeuten hatte. Carberry begann zu rennen, und dann sah er die Bescherung. Die Ankertrosse war verschwunden, nur ein trauriger Rest baumelte noch im Wasser. �Fallen Reserveanker!� brüllte er. �Beeilt euch gefälligst!� Unheimliche Kräfte zerrten jetzt an dem Schiff drängten es bis zur schmalen Durchfahrt in dem lagunenartigen See, dessen Wasser immer trüber fand quirliger wurde. �Verdammt!� fluchte Ferris Tucker. �Die Trosse kann doch nicht so einfach brechen. Die hält das Schiff bei starkem Sturm. Das gibt es doch nicht !� Die Tatsachen bewiesen jedoch das Gegenteil, und das ließ nur einen einzigen Schluß zu: Schon beim Ankersetzen mußte sich die starke Trosse an den rasiermesserscharfen Korallen so weit durchgescheuert haben, daß sie keiner großen Belastung mehr standhielt. Den Rest hatte die starke Strömung besorgt. Als der Reserveanker Grund faßte, war die �Isabella� schon ein ganzes Stück abgetrieben, und unter dem Schiffsrumpf machte sich ein leises Knirschen und Schaben bemerkbar. Flüche halten über Deck, und auch der Seewolf ließ einen ellenlangen Fluch vom Stapel, als im Wasser ein lautes Knacken ertönte. Bis der Anker hielt, saß die �Isabella� bereits auf. Im Achterschiff begannen die Spanten und Verbände zu ächzen. �Jetzt setzt sich die Tante ganz behäbig auf ihren Thron�, sagte der Schiffszimmermann. �Bis wir sie da wieder runterkriegen, wird es eine Weile dauern.� Hasard sprang in das abgefierte Beiboot und ließ sich einen Schiffshaken reichen. Gleichzeitig mit ihm sprang Ferris Tucker noch in das Boot und stieß es ab. �Nur die Ruhe bewahren�, sagte Hasard. �Es ist im Augenblick nicht zu ändern. Wir werden einmal nachsehen wo sie aufsitzt.

Hoffentlich nicht gerade auf pfeilscharfen Korallen.� �Die bohren sich dann durch das Gewicht der ,Isabella` durch�, sagte Ferris. �Das hält der Rumpf nicht aus.� Noch während sie im Beiboot nach achtern pullten, zog der Seewolf sich die Stiefel aus und streifte das Hemd über den Kopf. �Da wirst du nicht viel sehen, Sir�, meinte Ferris. �Die Brühe ist richtig trübe und dreckig.� Am Ruderschaft hielt Hasard sich und das Boot fest. Dann stocherte er mit dem Haken unter Wasser herum und tastete das Umfeld der Korallen vorsichtig ab. �Halt das Boot fest, Ferris, sonst sausen wir wie der Blitz durch die Priele!� Viel ertasten ließ sich nicht, obwohl der Haken immer auf Widerstand traf. Für den Seewolf war es kein genaues Bild. �Fühlt sich nach einer festen, durchgehenden Masse an�, meinte er, �aber genau kann ich das nicht sagen.� Er band sich die aufgeschossene Leine, die im Boot lag, um den Körper und schlang das andere Ende um den Ruderschaft. Dann ließ er sich ins Wasser gleiten. Sofort spürte er, wie mächtig der Sog nach ihm mit tausend Armen griff und ihn davonschleuderte. Er gab Ferris ein Zeichen, die Leine langsam einzuholen, nachdem er das Boot vertäut hatte. �Vorsicht vor Haien, Sir�, warnte Ferris. �Hier gibt es ganz bestimmt welche, und in der Brühe kannst du sie nicht einmal sehen!� �Der Hai mich hoffentlich auch nicht�, murmelte Hasard. Dann tauchte er und griff um sich. Er brauchte nicht tief zu tauchen. Natürlich sah er nichts außer einer quirlenden Wolke grauen Nebels, aufgewühltem Sand und abgestorbenen Korallenteilchen, die ihn umgaben. . Aber er konnte das ertasten, was, er wollte. Es gab keine spitzkantigen Korallen unter dem Heck. Der ewige Gezeitenstrom hatte diese Stelle zum Glück ziemlich glatt geschliffen und gerieben. Erst dicht daneben wuchs ein baumartiges Gebilde

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vom Grund hoch, und das war aufgesplittert wie ein gigantischer Knochen. Nach einer Weile und mehrmaligem Luftschnappen tauchte er wieder dicht am Boot auf. �Wie hoch schätzt du den Tidenhub, Ferris?� fragte er keuchend. �Knapp fünf Yards etwa bis jetzt.� �Wenn er hier sieben oder acht Yards beträgt, dann haben wir Pech. Das wären dann drei Yards Unterschied, und wir werden ganz schön kopflastig gehen.� �Vielleicht sind es weniger.� �Oder auch mehr, wie an einigen Stellen in England, wo er zwölf Yards beträgt.� �Oh, verdammt�, sagte Tucker andächtig. �Und wenn wir jetzt sehr schnell alles nach vorn trimmen?� �Das schaffen wir nicht mehr, das Wasser geht rapide zurück. Da können wir trimmen, wie wir wollen. Aber das Heck liegt auf einer ähnlichen Barriere wie die auf der Schlangen-Insel. Spitze Korallen können sich nicht durchdrücken.� �Vielleicht rutschen wir von selbst herunter�, hoffte Ferris Tucker. Hasard hievte sich ins Boot. Der Zimmermann zog das Boot an der Bordwand weiter, bis sie die Jakobsleiter erreichten. Die Leute wurden unterrichtet, wie es um die �Isabella� stand, und jetzt verspürte keiner mehr rechte Lust, über die Korallen zu wandern. Sie warteten darauf, daß die Schräglage begann und das Schiff kopflastig wurde, und sie überprüften alles, was sich später in Bewegung setzen konnte. Unterdessen lief das Wasser weiter ab. Es war jetzt Nachmittag, der Kutscher hatte das Essen bereitet, und um den Rumpf herum brauste und gurgelte es. Fast unmerklich neigte sich die �Isabella� leicht nach vorn. Carberry stand auf der Kuhl und blickte in das Wasser. In den Prielen war die Strömung nicht mehr so stark wie zuvor, und das gab ihm neue Hoffnung. �Sieht so aus�, sagte er zu seinem Freund Ferris Tucker, �als hätte die Brühe sich

jetzt ausgetobt. Die Strömung läßt nach, und nicht mehr lange, dann haben wir Stauwasser.� �Dann wird hoffentlich auch nicht viel passieren, und wir haben noch einmal Glück gehabt.� Nach einer weiteren Stunde stand es dann fest: Das Wasser fiel nicht mehr weiter, und Ferris maß es nach. Sechseinhalb Yards, das war die Grenze. Von nun an würde es eine Weile fast gleich bleiben und dann langsam wieder steigen. Das Knacken und Ächzen hatte nachgelassen. Die �Isabella� sah ein wenig verkantet aus, als stimmten ihre Maße nicht mehr. �Jetzt ist die Zeit günstig, um unseren Anker zu suchen�, sagte der Profos. �Das Wasser hat seinen tiefsten Stand. Wenn wir ein wenig fischen, dann finden wir ihn auch wieder. Er muß dort drüben liegen�, sagte er und wies mit der Hand auf eine Stelle im Wasser, die so aussah wie die Zähne von einer scharfen Säge. Dan, Ferris Tucker und der Profos begannen unverzüglich mit der Suche. Dan und Tucker ruderten, und Carberry warf einen kleinen Draggen ins Wasser, doch das brachte keinen Erfolg. Der Draggen blieb immer wieder an unsichtbaren Korallen hängen, und so griff der Profos zum Bootshaken und stocherte alles ab. �Der Scheißanker muß doch zu finden sein�, sagte er mürrisch. �Ich kenne noch genau die Stelle.� Erst eine halbe Stunde später hatte er ihn und holte die Trosse vorsichtig mit dem Haken hoch. �Wie mit dem Messer durchgeschnitten�, sagte er und zeigte den beiden anderen das durch getrennte Ende. Nach und nach wurde das Wasser klarer, der Sand und die Wirbel hatten sich beruhigt, und etwas später konnte man auf den Grund der Lagune sehen, und da erblickten sie auch den Anker. �Den kriegen wir nie hoch�, sagte Dan. �Der hat sich zwischen den Korallen verklemmt. Er ist in eine Spalte gefallen.� Der Anker hatte ein paar Korallenstöcke zerschlagen, und nun lag er mit der Flunke

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zwischen armdicken Ästen und hatte sich verhakt. �Den holen wir�, versprach Ed, �und wenn ich das ganze Riff auseinander nehmen muß. Wenn einer von uns taucht und klopft die Äste da unten ab, dann können wir ihn später mit dem Spill an Bord hieven. Jedenfalls bleibt er da nicht liegen.� Er steckte die lange Leine an der zerfetzten Trosse an und fierte sie langsam nach. Dann ruderten sie zur �Isabella� zurück. Die Leine wurde vertäut, und Ferris nahm schweres Werkzeug aus der Kiste mit, um die Korallen zu zertrümmern, in denen sich der Anker verfangen hatte. �Batuti gehen mit�, sagte der Gambianeger. �Batuti hieven Anker mit einer Hand hoch.� �Klar kannst du mit�, versicherte .Ed. �Vielleicht brauchst du auch nur Daumen und Zeigefinger dazu. Der Anker wiegt ja nicht mal eine halbe Tonne.� Der Grund der Lagune war nun klar und sauber. Bei Ebbe betrug ihre Tiefe an einigen Stellen nur zwei Faden, an anderen war sie nicht Viel tiefer, als die �Isabella� beladen im Wasser lag, und das entsprach etwa zweieinhalb Faden. Das hieß also, daß sie kaum in der Lage war, ungehindert durch die Korallen zu segeln, ohne irgendwann an einer tückischen Stelle aufzubrummen. Eine stärkere Trosse hatten sie wiederum mitgebracht, die imstande war, den Anker beim späteren Aufhieven zu halten. Dan O'Flynn hatte sich schon bis auf die Hose ausgezogen und griff nach dem Hammer und einem kleinen Deckstopper. �He, ich wollte eigentlich�, sagte Ed. �Ich kann die Luft länger anhalten als du�, versicherte Dan treuherzig. �Außerdem habe ich schärfere Augen, aber das soll bei weitem kein Eigenlob sein.� O'Flynn juckte es mächtig, zwischen den Korallen zu tauchen und sich diese farbenprächtige Welt einmal ganz ungestört aus der Nähe anzusehen. Zum Glück wußte er nicht, was ihm bevorstand, sonst hätte er auf diesen Ausflug gern verzichtet.

Er ließ den eisernen Deckstopper ins Wasser fallen und warf den Hammer hinterher. Bevor er sprang, hielt Ed ihn noch einmal zurück. �Achte auf Haie, Dan�, schärfte er ihm ein. �Und wenn du schon mal unten bist, kannst du mir etwas mitbringen. Siehst du die komische Muschel da hinter dem KoraIlenstock? Zwei sind es sogar, die andere liegt weiter hinten vor der kleinen Höhle. Die eine ist ganz schneeweiß, die andere etwas getigert. Die fehlen mir noch in meiner Sammlung.� �Mann, das sind ja Kauris�, sagte Dan. �Klar, die holen wir uns, das ist bei den Eingeborenen ein beliebtes Zahlungsmittel. Die Muscheln nehmen sie lieber als alles andere.� �Ja, hier sind sie wertvoller als Gold oder Diamanten. Vielleicht entdecken wir noch mehr davon.� Dan O'Flynn sprang über Bord. An der Seite seiner Hose hatte er das kurze Entermesser stecken, das er noch im Schwimmen herauszog und in der Hand hielt. In die Lagunen verirrten sich immer mal Haie. Obwohl er mit dem Messer in der Faust nicht sehr viel gegen sie ausrichten. konnte, beruhigte die Waffe ihn doch und gab ihm Sicherheit. Aber weit und breit war kein Hai zu sehen. Nur eine Vielzahl bunter Fische in allen möglichen Farben tummelte sich zwischen den Korallen. Als Dan auf sie zuschwamm, wichen sie kaum zurück. Sie kannten den Menschen als Feind noch nicht, und so beäugten sie ihn nur ausgesprochen neugierig. O'Flynn schwamm auf die schneeweiße große Muschel zu und drehte sie mit dem Messer vorsichtig um. Die Korallenwelt war ihm nicht ganz geheuer, und so manch einer, der etwas angefaßt hatte, hatte es zum letzten Mal in seinem Leben getan, denn es gab viele giftige Fische, auch giftige Muscheln oder andere Tiere, die sich darin verbargen.

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Die Muschel war leer, und Dan brachte sie nach oben, wo er sie dem entzückt blickenden Profos brachte. Dann holte er auch noch die getigerte Muschel und brachte sie ebenfalls hinauf. Etwas später, er wollte sich gerade um den Anker kümmern, entdeckte er an einer steil aufragenden Wand große schwarze Klumpen, die auf den ersten Blick wie Steine aussahen. Vorsichtig stocherte er mit dem Messer daran herum und erschrak, als sich der vermeintliche schwarze Dreck zu regen begann. Beiderseits des schwarzen Klumpens zog sich eine Hautfalte zurück, und darunter erschien etwas, das die gleiche zart-weiße Farbe hatte wie das chinesische Porzellan im Reich des Großen Chan. Die Klumpen erwiesen sich als lebende Kauris und waren so gut getarnt, daß man sie nicht erkannte und nicht wußte, was sich unter ihrer häßlichen Gestalt verbarg. Vier der Dinger brachte Dan ebenfalls nach oben, dann fanden sich keine mehr, und er kümmerte sich um den Anker. Mit dem Hammer schlug er eine dicke Verästelung ab und hielt sich dabei an einer anderen Koralle fest. Er konnte keine harten Schläge führen, denn der Hammer glitt wie durch Butter und rutschte auch immer wieder ab. Es wurde eine mühselige Plackerei. Je mehr er schlug, desto öfter mußte er auftauchen, um Luft zu holen, �Ich löse dich ab�, sagte Ed, aber Dan schüttelte nur den Kopf und verschwand wieder in der farbenprächtigen Tiefe. Über sich sah er den Schatten des Bootes, der gespenstisch durch das Wasser zuckte. Als er einmal innehielt, entdeckte er einen großen Fisch, der ganz ruhig im Wasser stand und die Kiemen weit geöffnet hatte. Zu Dans großem Erstaunen flitzte ein kleiner Fisch dem großen ins Maul, sauste darin herum und kam nach einer Weile durch die Kiemen wieder zum Vorschein, ohne daß der große Fisch nach dem kleinen schnappte. Sonderbare Arten gab es hier. Solche, die sich aufbliesen, sobald sie in seine Nähe

gerieten, und die wie stachelige Kugeln durchs Wasser taumelten. Dan arbeitete weiter. Er mußte noch eine ziemlich dicke Platte zerschlagen, unter der sich die Ankerflunke verbarg. Wenn er das geschafft hatte, konnten sie später den Anker hieven. Dann sah er den Hai. Vielleicht hatten ihn die Geräusche angelockt, vielleicht war es auch bloße Neugier. Er schoß elegant heran, beschrieb vor der Korallenwand einen langen Bogen und drehte wieder ab. Dan ließ sich tiefer sinken, nahm sein Messer in die rechte Hand und belauerte den Burschen, der so tat, als interessiere ihn Dan nicht im geringsten, der aber dabei immer näher rückte. Einmal schwamm er ganz dicht an ihm vorbei. Seine Schwanzflosse hieb leicht durch das Wasser und schnellte ihn weiter. Als O'Flynn die Luft knapp wurde, tauchte er auf. Der Profos wollte ihn über Bord hieven. �Hast du den Hai nicht gesehen?� fragte er. �Doch, aber er ist nicht sehr groß, er ist nur neugierig. Außerdem ist er wieder verschwunden.� �Aber er wird zurückkehren!� �Mich stört er nicht sonderlich, ich weiß, daß er mich nicht angreifen wird.� Dan blieb hartnäckig, und nach einer Weile stieg er wieder ab. Kurz darauf war auch der Hai da, aber er unternahm keinen direkten Angriff, er zog nur lange Kreise. Während Dan ihn im Auge behielt, schlug er weiter auf die Platte ein, bis sich ein Stück löste. Bei jedem Hammerschlag verschwand der Hai, aber genauso regelmäßig kehrte er auch wieder als unliebsamer Zuschauer zurück. Einmal wurde er ausgesprochen lästig, und er schrammte so dicht an der Korallenwand vorbei, daß er Dan fast streifte. O'Flynn ließ sich wieder auf den Grund sinken und fand Halt auf einem großen schweren Stein. Wenn der Bursche jetzt noch einmal so dicht an ihn heranschwamm, würde er ihm das Entermesser vor die Nase halten, nahm er

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sich vor, oder den Hai mit dem eisernen Deckstopper in die Flucht schlagen. Unter ihm bewegte sich etwas unendlich sanft, und Dan riskierte einen schnellen Blick nach unten, als er die Bewegung spürte. Sie war so zart, als stecke er in Pudding. Sein rechtes Bein sackte ein Stück tiefer, denn der vermeintliche Stein, auf dem er stand, öffnete sich plötzlich zu einem großen, weitklaffenden Spalt. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte Dan O'Flynn. Er stand auf einem Ungeheuer, einer Monstrosität, und er war darüber so erschrocken, daß er sich eine Sekunde lang nicht rührte. Fast bis zum Knie war sein Bein in dem klaffenden Spalt verschwunden, der ihn sanft umschmeichelte. In plötzlich aufwallender Panik wollte er sich losreißen, doch er schaffte es nicht mehr. Der klaffende Spalt zuckte, und Dan sah zu seinem grenzenlosen Entsetzen eine Riesenmuschel, die gut ein Yard lang war. Zwischen den wellenförmig verlaufenden Schalen streckte sie wulstige Ränder wie Blumenblüten hervor. Der Wulst schloß sich blitzartig, und noch schneller zog die Riesenmuschel ihre blumenähnlichen Blätter ein. Jäh aufwallender Schmerz lief durch Dans Bein. Mit einem weiteren Ruck versuchte er, sich zu befreien. Aber je mehr er zappelte, zog und zerrte, je dichter schlossen sich die Schalen und preßten sich gegeneinander. Dan wartete entsetzt und voller Angst darauf, daß sich die ungemein harten Schalen wieder öffneten, und als er ein leichtes Nachgeben spürte, zog er wieder mit einem wilden Ruck. Wieder preßten sich die Schalen gegeneinander, noch härter diesmal, und der neue Schmerz warf ihn herum. Er verlor das Messer, das zwischen die Korallen fiel und verschwand. Jetzt geriet auch der sonst so besonnene Dan in Panik. Er versuchte die Riesenmuschel mit dem eingeschlossenen Bein hochzuheben, aber das erwies sich als

unmöglich. Die Muschel war unglaublich schwer. Sie ließ sich um keinen Zoll bewegen. Dan stieß einen Schrei aus. Luftblasen entstanden vor seinem Mund im Wasser und perlten nach oben. Sein Atem wurde knapp, und in diesem Augenblick kam der Hai wieder, schoß genau auf ihn zu und zuckte erst ganz hart vor seinem Gesicht zurück, als Dan einen zweiten, noch lauteren Schrei ausstieß. Wieder zog er wie wahnsinnig an der Gigantenmuschel. Hölle, merkten denn die da oben nicht, was los war? Sie mußten es doch sehen, wenn sie über Bord blickten, oder hielten sie seinen Kampf mit der Riesenmuschel aus ihrer Perspektive für Arbeit? Vielleicht sah es von oben wirklich so aus, als klopfe er an den Korallen herum. Die Muschel gab ihn nicht mehr frei. Ihre Schalen schnitten immer härter in sein Bein, und er glaubte zu spüren, daß jetzt bereits kräftige Zähne an seinen Knochen nagten. Er wurde dieses scheußliche Gefühl nicht mehr los, denn er hatte Muscheln in dieser Größe noch nie gesehen, und vermutlich gab es sie auch nur in diesem Teil der Welt. Vor seinen Augen wallten Nebel, er hatte keine Luft mehr. Seine Lungen brannten, sein eingeklemmtes Bein schmerzte höllisch, und er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Und weiter oben, nur ein paar Yards entfernt, hatten Carberry und Batuti anscheinend immer noch nichts gemerkt. Jeden Augenblick glaubte er, ersticken zu müssen.

4. �Kleines Dan können lange tauchen�, sagte Batuti erstaunt. �Können länger Luft halten als Batuti.� Carberry sah den riesigen Neger grinsend an. �Erstens mal�, sagte er, �ist kleines Dan schon sehr lange großes Dan, und zweitens hast du recht. Mann, der bleibt aber wirklich lange weg diesmal.�

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Eine Blasenbahn stieg nach oben, und Carberry und der Neger beugten sich weiter vor, um besser sehen zu können. Aber an der Stelle, an der Dan arbeitete, befand sich eine Wolke aus Dreck und Wasser, und so sahen sie nur eine undeutliche Bewegung und den Hai, der gerade wieder zurückschwamm. Eine Blasenbahn? Carberry fiel das erst jetzt auf. Batuti hatte es ebenfalls bemerkt. �Kleines Dan keine Luft�, sagte er besorgt. Für ihn blieb Donegal Daniel O'Flynn nun mal kleines Dan, daran änderte auch die Tatsache nichts, daß Dan schon lange ein erwachsener Mann war. Aber Dan war Batutis spezieller Freund, und er hatte ihn früher immer beschützt und unter seine Obhut genommen. Deshalb blieb er kleines Dan. �Ich nachsehen�, sagte Batuti. Er reckte seinen gewaltigen Brustkasten. Nur eine etwas helle kleine Narbe zeugte noch von dem Schuß, der ihn in die Brust getroffen hatte, als de Larra sich Hasards Reiterpistole bemächtigt hatte. Bei Batutis Bärennatur heilten alle Wunden schnell. Genau genommen war der dunkle Mann aus Gambia ein Mandingo, ein Vertreter jener stolzen und kräftigen Rasse, die von den Spaniern bevorzugt als Sklaven geraubt wurden, wie es bei Batuti ja auch der Fall gewesen war. Die Mandingo waren nicht unterzukriegen, und ihr Stolz war durch nichts zu brechen. Sie waren hervorragende Kämpfer und hatten den Spaniern auf ihren Raubzügen harte Verluste zugefügt. Das alles traf auch auf Batuti zu. Er war ein furchtbarer Kämpfer, wenn es hart auf hart ging. Jetzt spiegelte sich in seinem knochigen Gesicht Sorge wider, und er überlegte auch nicht lange. Instinktiv spürte er die Gefahr in der Tiefe, denn wenn ein Mensch unter Wasser die Luft ausstieß, dann mußte er gleich auftauchen, dann hatte er keine Reserve mehr. Mit einem Satz, so schnell und geschmeidig wie ein Tiger, sprang er kopfüber ins Wasser.

Auch Carberry zögerte keine Sekunde lang. Der Herkules war noch nicht ganz verschwunden, als der Profos ebenfalls ins Wasser sprang. Batuti kraulte kraftvoll nach unten, die Augen weit aufgerissen, und er entdeckte auch sofort seinen Freund Dan, der im Wasser aufrecht stand und hin und her schwankte. Den Grund dafür erkannte Batuti sofort, und durch den ungewohnten Anblick dieser riesigen Muschel zuckte er zurück. Aber das dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dan aus der Muschel zu befreien, war fast unmöglich, denn sein Bein war von dem schweren Ding fest umschlossen. Neben sich sah Batuti einen Schatten im Wasser, den er für Carberry hielt, aber es war der lästige Hai, der ihn in einem langen Bogen umkreiste. Batuti drehte sich wieselflink im Wasser herum, und der Hai, der gerade an ihm vorbeischrammte, erhielt einen Faustschlag auf die Nase. Es ging so blitzschnell, daß der Fisch sich zusammenzog, seinen Körper stark krümmte und voller Angst davonflitzte. Empört schlug seine Schwanzflosse das Wasser, und dann blieb er verschwunden. Carberry war jetzt ebenfalls heran, und er sah verstört, daß Dan die Augen geschlossen hatte und wahrscheinlich bewußtlos war. Er hatte Wasser eingeatmet. Batuti zerrte und riß an der Muschel, versuchte die großen gezackten Schalen auseinanderzupressen. Doch dazu reichten selbst seine Riesenkräfte nicht. Er brachte die Schalen nicht auseinander. Auch als sich in seiner Verzweiflung und Angst seine Kräfte fast verdoppelten, schaffte er es nicht. Carberry riß jetzt auch an dem monströsen, noch nie gesehenen Gebilde, und mit einer Geste bedeutete er Batuti, die Muschel einschließlich Dan aus dem Grund zu reißen und nach oben zu schleppen. Beide Männer griffen zu als hätten sie einen Felsen vor sich.

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Ed hatte kaum noch Luft nach dieser Anstrengung, aber seinen gewaltigen Kräften und denen Batutis gelang es, die Muschel aus den sie teilweise umgebenden Korallen zu brechen. Ein weiterer, aus Wut und Verzweiflung geführter Ruck ließ die Korallenplatte nach allen Seiten davonfliegen. Mit ihrer Last, die jetzt im freien Wasser nicht mehr so schwer wog, drängten die beiden Männer an die Oberfläche. Die Muschel, einschließlich Dan, wurde ins Boot gelegt. Batuti und Carberry sprangen hinein. �Ich mich um kleines Dan kümmern�, sagte der Mandingo aus Gambia, der sein gebrochenes Englisch in einer Mission gelernt und seine verdrehte Ausdrucksweise zum Teil bis heute noch nicht abgelegt hatte. �Du pullen, Ed, pullen wie Teufel!� Während Ed aus voller Kraft zur �Isabella� hinüberpullte, kümmerte sich Batuti um �kleines Dan�, der tatsächlich das Bewußtsein verloren hatte. Von der Muschel konnte er ihn jetzt nicht befreien, dazu brauchten sie härtere Werkzeuge, und darum ging es im Augenblick auch gar nicht. Wichtig war, daß Dan das Bewußtsein zurückerlangte. Batuti knetete und walkte ihn durch, drehte ihn mitsamt der monströsen Muschel zur Seite und beugte seinen Oberkörper so hart durch, bis Dan ein Schwall Wasser erbrach und laut hustete.- Sein Gesicht war schmerzhaft verzogen, und als er die Augen aufschlug und das besorgte Gesicht seines Freundes Batuti sah, da grinste er schwach. �Kleines Dan man kann nicht kaputtkriegen�. sagte Batuti gerührt. �Großes Dan erst recht nicht�, sagte Dan mühsam. Trotz der Schmerzen, die er empfand, grinste er immer noch. Dann sah er an sich hinunter, entdeckte dieses unwahrscheinlich große Exemplar einer Muschel, und da verging ihm fürs erste das Grinsen wieder. Auf der �Isabella� hatte man längst bemerkt, daß da drüben etwas passiert war.

Die meisten nahmen an, daß Dan von einem Hai attackiert worden sei. Jetzt standen sie schon an der Jakobsleiter. Smoky nahm das Boot in Empfang, Ed und Batuti hoben die Muschel hoch, und Dan ergriff die zahlreichen Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Endlich hatten sie ihn auf der Kuhl und legten ihn auf die Gräting. Der Kutscher stand schon bereit und hatte vorsorglich sein ganzes Sortiment an Knochenbrechern, Sägen und anderem Zeug ausgebreitet. Als er die Bescherung sah, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, griff nach der Säge und legte sie wieder weg. Aber Carberry verstand das falsch und fuhr ihn an: �Du willst ihm doch wohl hoffentlich nicht die Gräten absägen, was, wie?� fragte er drohend. �Hast du starke Schmerzen, Dan?� fragte der Kutscher den total erschöpft wirkenden jungen O'Flynn. �Läßt sich noch ertragen�, murmelte Dan. Auch sein Vater war erschienen, und in seinem Gesicht stand rührende Besorgnis. Nur vor der Muschel empfand er eine tiefe Scheu, und er wich zurück, als er sie aus der Nähe sah. �Soll ich den Seewolf wecken?� fragte der Moses Bill. �Nein, laß ihn schlafen, er stand mehr als dreißig Stunden auf dem Achterdeck. Das schaffen wir allein.� Mit vereinten Kräften versuchten die Männer die Muschel aufzubiegen. Aber je mehr sie zogen und zerrten, desto stärker preßten sich die Ränder zusammen. Der einzige, der keine Hand rührte, war Ferris Tucker. Der rothaarige Zimmermann starrte nur wortlos auf die Muschel, besah sie sich ganz genau und nickte dann. Daß rohe Kraft hier nichts ausrichtete, erkannte er sofort. Das schadete nur Dans Bein, das immer fester eingeklemmt wurde. Also mußte man dem Biest auf andere Art bekommen. Er hatte den schwachen Punkt erkannt und zog sein scharf geschliffenes Entermesser. �Weg da!� herrschte er die anderen an. �So geht es nicht, das seht ihr doch !�

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Sie traten bereitwillig zur Seite. Ferris Tucker kniete sich auf die Gräting, stach das scharfe Messer vorsichtig an den Rand der Muschel und zerschnitt mit einer raschen kräftigen Bewegung den sehnigen Muskel, der das Offnen und Schließen der harten Schale besorgte. Anschließend griff er mit beiden Fäusten nach den Schalen und bog sie mühelos auseinander. Vorsichtig zogen sie Dan heraus. Die Muschel zog ihre wulstartigen Verdickungen noch weiter ein. Wellenförmig fielen sie in das Innere und erschlafften. Das rosarote Fleisch zuckte noch einmal, und ein faustgroßes Ding im Innern, das wie ein schwarzes Auge aussah, schloß sich. Ferris Tucker wurde auf die Schulter geklopft, und so manch einer, der sich gefragt hatte, weshalb der Zimmermann so tatenlos herumstand, wußte es jetzt besser. Gewußt wie, war seine Devise. Nachdenken brachte mehr als ein verzweifelter. Kraftakt. Batuti gab der Riesenmuschel einen Tritt, daß sie vor das Schanzkleid rollte. . Dann stand übergangslos der Seewolf zwischen ihnen. Keiner hatte ihn geweckt, doch im Schlaf hatte er gespürt, daß etwas an Deck anders war als sonst, daß die vertraute und gewohnte Harmonie nicht mehr stimmte, und das hatte ihn auf die Beine gebracht. Zuerst kümmerte er sich um Dan, aber der tat das jetzt alles als eine Bagatelle ab. Er war heilfroh, nicht mehr hilflos in dem fürchterlichen Ding zu stecken. �Das sieht ja böse aus�, sagte Hasard, aber der Kutscher schüttelte schnell den Kopf. �Das hat nur den Anschein, Sir. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Das Biest hat ihm natürlich hart zugesetzt, aber das kriegen wir schon hin. In ein paar Tagen kann er wieder laufen.� Der Kutscher säuberte die Wunde zuerst mit Salzwasser. Dann entfernte er die Hautfetzen, die ringförmig um das Bein liefen.

�Jetzt wird es ein wenig brennen�, verkündete er. �Aber es muß sein, sonst gibt es einen Wundbrand.� �Hältst du jetzt 'ne Märchenstunde für Waisenkinder?� fragte Dan grinsend. Der Kutscher, ein äußerst feinfühliger und auch sensibler Mann, grinste entschuldigend, als er die Rumflasche öffnete. Er kannte diesen Schmerz, wenn Alkohol in offene Wunden geriet, und er haßte es, jemanden weh zu tun, ganz besonders seinen eigenen Kameraden. Aber er hatte seinen Leitspruch schon bei Sir Freemont, dem Arzt aus Plymouth, gelernt, und der lautete: �Wenn man jemanden gründlich von seinen Schmerzen befreien will, dann muß man ihm vorher noch weitere Schmerzen zufügen.� Darin lag eine Weisheit, dachte der Kutscher, und dann goß er Dan das Zeug über die Wunde. Normalerweise sprang ein Mann dann meist mit einem irren Schrei in die Höhe, aber O'Flynn war aus demselben Holz geschnitzt wie die Belegnägel, die in der Nagelbank steckten. Von denen hatte auch noch niemand eine Klage vernommen. Als Dan einmal den Mund öffnete, sagte er nur: �Von innen würde mir das Zeug besser helfen!� Worauf ihm der Kutscher spontan die Flasche reichte. Etwas später war die Wunde dick mit Salbe bestrichen und verbunden, und Dan erhob sich unter den besorgten Blicken der .Männer. Er konnte nur sehr schwach mit dem Bein auftreten, und daher schickte der Seewolf ihn vorerst in die Koje. Da half aller Protest nichts, und schließlich sah Dan es auch ein. Danach besahen sie sich die gigantische Muschel, die ihr Leben ausgehaucht hatte. �Sollen wir das Ding über Bord schmeißen?� fragte der Profos, nachdem es jeder gebührend lange bestaunt hatte. Hasard wollte die Frage gerade bejahen, doch dann schüttelte er den Kopf. �Nein, wir behalten sie. So ein Gebilde haben noch nicht viele Menschen gesehen, und wenn wir das erzählen, glaubt es

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ohnehin niemand. Dann können wir sie vorweisen, und später bringen wir sie irgendeinem vertrottelten und verkalkten Lord zum Geschenk, damit er wenigstens etwas von der weiten Welt hat, ehe er ganz austrocknet.� �Klar�, rief Carberry begeistert. �Die eine Hälfte kriegt dieser staubtrockene und weltfremde Lordadmiral Howard, der Kerl mit dem vergoldeten Krückstock und der Halskrause. Und die andere Hälfte kann sich der Schatzkanzler Ihrer Majestät Pembroke mit dem ehrenwerten Sir Battersby teilen. Vielleicht können die alten Stinkböcke die Muschel als Badewanne benutzen.� Lachen erklang, in das auch der Seewolf mit einstimmte, wenn er sich die ehrenwerten Hofschranzen und weltfremden Parasiten am Königlichen Hof vorstellte. Männer, deren Blick nur bis knapp zum Horizont reichte, von ihren Erfahrungen und ihrem kargen Wissen ganz abgesehen. Davon hatten sie nichts vorzuweisen. Daher blieb die Muschel an Bord, und der alte Segelmacher Will Thorne schabte sie aus, säuberte und präparierte sie. Damit war er einen ganzen Tag lang beschäftigt. �Wir holen jetzt endgültig den Anker�, sagte Ed. �Langsam setzt die Flut ein, und dann wird es immer schwieriger. Wir schwimmen übrigens langsam wieder auf, Str.� �Ich habe es gemerkt. Ferris hat unter Deck schon nachgesehen, ob es ein Leck gibt. Er hat nichts gefunden.� �Da haben wir ja noch einmal Glück gehabt�, sagte Ed beruhigt. Bevor Hasard wieder nach achtern ging, drehte er sich noch einmal um. �Gebt gut acht, Ed, daß nicht wieder jemand in diese Muschel tritt. Ihr habt alle gesehen, welche Überraschungen es immer wieder gerade zwischen Korallenbänken gibt. Und noch etwas: Ich glaube nicht, daß wir heute noch weitersegeln werden. Wir segeln in die Nacht hinein, und die Flut läßt uns bestimmt wieder irgendwo aufbrummen, und dann wird es nicht so glimpflich abgehen.�.

�Das halte ich auch für richtig, Sir Außerdem beginnt der Südostpassat, wieder zu wehen,� �Eben deshalb werden wir nicht weitersegeln.� Batuti ging wieder mit, und ein paar andere Seewölfe vertrieben sich die Zeit damit, über die immer noch aus dem Wasser ragenden Korallen zu wandern. Es waren Smoky, Matt Davies und Sam Roscill. Hasards Söhne blieben an Bord, sie halfen Will Thorne, das Ungetüm von einer Muschel zu säubern. Diesmal ging es ohne Komplikationen ab. Batuti holte das Ankertau vom Grund, das wieder abgesackt war, und nach einer halben Stunde kehrten sie zur �Isabella� zurück und drehten das Spill. Ferris Tucker und Bill spleißten das Tau zusammen. Dann zogen sie die �Isabella� mit Hilfe des Spills von der Bank, auf der sie festsaß. Die Flut half kräftig mit. Anschließend wurde der Reserveanker aufgehievt und an Bord genommen. Zu dieser Zeit begann der Passat stärker zu blasen. Offenbar hatte er nur eine mehrstündige Pause eingelegt.

5. �Bis zur Brandung können wir es noch schaffen�, sagte der Decksälteste Smoky. �Aber dann nichts wie zurück, sonst überrascht uns die Flut, und der Rückweg ist versperrt.� Die drei Seewölfe wollten sich die an den Außenrändern des Riffs tobende und gischtende Brandung einmal aus der Nähe ansehen, denn es war ein seltenes Naturschauspiel, wie die See fast ruhig daherlief und unvermittelt, als schleudere ein Riese aus der Tiefe diese gewaltigen Wassermassen hoch, zu riesigen Bergen aufstieg. Das Donnern und Brausen, das die Luft erfüllte, war so gewaltig, daß sie sich kaum noch normal unterhalten konnten, je weiter sie sich der Brandungshölle näherten. �Ich will nicht übertreiben�, sagte Matt Davies, der Mann mit der eisernen Hakenprothese, �aber wenn der Passat

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weiter so bläst, dann ist die Brandung hier mindestens vierzig, fünfzig Yards hoch. Von dieser Seite aus ist es unmöglich, sich der Bank zu nähern. Jedes Schiff würde dort in Trümmer verwandelt werden.� Ja, dieser Anblick war schon beeindruckend, obwohl sie das Außenriff noch lange nicht erreicht hatten. Sie mußten jeden Schritt sehr vorsichtig tun, denn mitunter waren die Korallen spitz wie Nadeln. Dann wieder waren sie glatt und schmierig und von glitschigen Algen überzogen. Und immer mußten sie Umwege gehen. Da gab es tiefe Lagunen mit völlig klarem Wasser, die Riesentümpel ähnelten, und solche, die wie ein Krater versteckt lagen mit himmelhoch aufstrebenden, fast glatten Wänden. In den Prielen schäumte und brodelte es. Das Wasser schoß mitunter im rechten Winkel dahin, wenn Korallen die Priele blockierten. Immer lauter und gewaltiger wurde das pausenlose Tosen, mit dem das Meer gegen die Bank anrannte. Der Südostpassat sang sein Lied dazu und fuhr ihnen lauwarm über die Köpfe. Um sie her wimmelte es in den Lagunen von farbenprächtigen Fischen, und immer wieder blieben sie stehen, um sich die vielfältigen Wunder aus nächster Nähe staunend anzugucken. Jetzt lag wieder eine Lagune vor ihnen, aus deren Tiefe es fast weiß herausleuchtete. Smoky wollte sie gerade umgehen, um den Weg abzukürzen, doch Sam Roscill hatte einen Blick auf das Wasser geworfen und sich über die merkwürdig helle Farbe gewundert. Das weckte seine Neugier, und er überkletterte ein paar gigantische Türme, bis er einen Grat erreichte, von wo er hinunterblicken konnte. �Seht euch das einmal an!� forderte er die beiden auf. �Das sind schneeweiße Korallen da unten. Wie ein verzauberter Wald sieht das aus, einfach herrlich.� �Verzauberter Wald�, sagte Matt Davies, der dafür keine Ader hatte. �Deine Oma hat dir früher wohl immer Märchen erzählt, was?�

�Quatsch nicht, du Korallenwanze! Na klar sieht das wie ein Wald aus. Dahinten wird es sogar dunkler, als ginge es dort hinein und die Sonne würde nicht mehr scheinen.� Smoky sagte gar nichts. Er sah auf die bunten Fische, die diesen weißen Wald bevölkerten und eifrig hin und her flitzten. Eigentlich war es keine richtige Lagune, dachte er, es war mehr ein gigantischer Krater zwischen den Korallen, auf dessen Grund ebenfalls Korallen wuchsen, nur von anderer Farbe. Aber prächtig sah das alles aus. Man hätte stundenlang dort hineinblicken können. Sam Roscill legte sich auf den Bauch, um noch besser sehen zu können, aber wenn Matt ihn nicht gerade noch erwischt hätte, dann wäre er über die glitschigen Korallen gesegelt und in seinem verzauberten Wald unsanft gelandet. Unterdessen ging Smoky langsam weiter. Die dunkle, undefinierbare Fläche interessierte ihn. Dort hatten die Korallen eine andere Färbung, die er erkunden wollte. Er warf einen schnellen Blick zur �Isabella� hinüber, die klein, zierlich und zerbrechlich wirkte in dem Lagunentümpel, in dem sie vor Anker lag. �Mann, die haben das Schiff ja schon wieder frei�, sagte er verwundert. �Tatsächlich, wahrscheinlich hat die Flut jetzt kräftig mitgeschoben�, sagte Matt. Um sie her wurde das Gurgeln und Tosen immer lauter. Handtellergroße Krebse flitzten über den Boden und versteckten sich in dunklen Spalten, überall drangen Rinnsale zwischen die Korallen. Anlaß zur Besorgnis gab es jedoch nicht. Der Rückweg war noch frei und die �Isabella� bequem zu erreichen. Mitunter zischte es grell, dann hörte es sich so an, als pfiffe jemand, aber es war nur das Wasser, das sich aus den Prielen seinen Weg zwischen den Korallen suchte. Smoky sah einen dunklen Schatten im Wasser. Dieser Schatten hatte merkwürdige Umrisse, die sich mal ausdehnten, mal zusammenzogen und

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durch das einfallende Sonnenlicht ständig ihre Gestalt änderten. Er ging so dicht heran, wie es möglich war, und starrte ungläubig auf den Grund. Ein tiefes Stöhnen kam von seinen Lippen, und er hob ungläubig beide Hände in die Höhe. Dann legte er sie so vor die Augen, daß die Sonne nicht mehr so stark blendete. �Was gibt es, Smoky?� fragte Matt Davies. �Ich glaube�, sagte Smoky langsam, �da liegt ein Schiff auf dem Grund.� Das schlug bei den anderen ein wie ein Blitz. Sie sahen sich ungläubig an und schüttelten die Köpfe. �Ein Schiff?� fragte Matt. �Das glaubst du selbst nicht�, sagte Sam Roscill. �Es sieht jedenfalls so aus�, sagte Smoky. �Ich kann mich auch irren, aber von der gegenüberliegenden Seite müßte man es eigentlich genau erkennen können.� Plötzlich hatte sie das Entdeckerfieber gepackt. Matt und Sam rannten schon los, und weil Smoky so weit voraus war, nahm er die andere Seite. Bis sie die erreicht hatten, vergingen etliche Minuten, und nun begann das Wasser in den Krater einzudringen, und an einigen Stellen wurde die Sicht trübe. �Verdammt, ausgerechnet jetzt�, rief Smoky. �Diese lausige Flut hätte doch noch etwas warten können.� �Sag's ihr doch�, spottete Davies. �Auf dich als Decksältesten muß sie ja hören.� Smoky ging auf den Scherz nicht ein. Was er gesehen hatte, das hatte er gesehen, und verdammt noch mal, er hatte ein Schiff auf dem Grund gesehen, oder genauer gesagt, ein Wrack, das dort unten lag. Er ignorierte die skeptischen Blicke seiner Kameraden und deutete auf eine bestimmte Stelle, wo die Eintrübung noch sehr schwach war. �Seht doch mal genau hin, ihr triefäugigen Blindgänger. Erkennt ihr denn nicht die Umrisse? Das ist ein Schiff, oder verdammt will ich sein.� �Tatsächlich�, sagte Matt lang gezogen. �Da liegt tatsächlich ein Wrack.�

Auch Sam Roscill sah es jetzt deutlicher, seit sie das Sonnenlicht im Rücken hatten. Nein, es gab keinen Zweifel. Zwischen den Korallen, an der Grenze von Hell und Dunkel, lag ein Schiff. Muscheln hatten es bedeckt, Korallen und Seeanemonen hatten sich dort angesiedelt, und bunte Fische flitzten darüber weg. In der näheren Umgebung bewegten sich tellergroße Quallen, Medusen, die schwerelos durch das Wasser segelten und deren Nesselarme tief herabhingen. Es war ein merkwürdiges Schiff, von einer Bauart, wie es sie heute nicht mehr gab. �Das ähnelt ein wenig einer Karavelle�, sagte Smoky. �Es hat zwei Masten, die kann man klar erkennen, und es sieht auch nicht so aus, als sei es beschädigt. Vielleicht hat der Sturm es vor vielen Jahren einmal durch die Brandung geschleudert und in diesem Krater abgesetzt, wo es dann unterging.� Eilig zog er sich die Stiefel aus. �Was hast du vor?� fragte Matt. �Na, das Ding will ich mir mal aus der Nähe ansehen. Wie tief, glaubt ihr, liegt es unter Wasser?� �Vier, fünf Yards höchstens, mehr nicht. Nachher liegt es doppelt so tief und wird nicht mehr zu sehen sein.� �Die Zeit reicht noch�, stellte Smoky fest. �Ihr bleibt hier und wartet, ich tauche schnell einmal.� �Denk an die Flut, sonst ist uns der Rückweg abgeschnitten!� �Ja, das schaffen wir schon noch. Oder habt ihr schon wieder die Hosen voll?� Hastig warf er den zweiten Stiefel zu Boden und zuckte zusammen, als ein laut nachhallender Schuß erklang. �Das gilt uns�, sagte Matt Davies. �Das Zeichen zur Rückkehr oder daß wir uns beeilen müssen.� Smoky nickte. �Klar, ein Warnschuß, damit wir die Zeit nicht verpassen. Wir sollen nur daran erinnert werden. Ich nehme das auf mich, wir können noch mindestens eine gute Stunde verantworten.�

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Er war wie besessen von der Idee, das Wrack zu erkunden, und nichts auf der Welt hätte ihn davon noch abgehalten. Die Zeit, noch etwas zu entdecken, drängte auch, denn immer mehr trübte sich das Wasser ein, immer höher stieg die Flut, und bald sprudelte es aus Ritzen, Spalten und Höhlen in den Lagunenkrater. Smoky überkletterte die letzten spitzen Zacken. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz in das Wasser, tauchte auf, prustete und schwamm auf die Stelle zu. Das Brausen in diesem etwa fünfzehn Yard tiefen Loch war kaum noch zu hören. Sobald er aber den Kopf unter Wasser hatte, klang es wie schwere Hammerschläge in seinen Ohren. Dann verstärkte sich der wütende Ansturm der Wogen, und von allen Seiten wurde gehämmert, geklopft und gedonnert. Das Wasser leitete den Schall fast schmerzhaft weiter. Er holte tief Luft und tauchte, aber das gesunkene Schiff war nur noch ein vager Umriß, eine kaum sichtbare Silhouette im immer trüber werdenden Lagunenwasser. Erst als er sich ganz dicht davor befand, sah er etwas besser. Über und über war die Bordwand mit Muscheln bewachsen, durch den hölzernen Rumpf hatten sich feingliedrige Arme geschoben, Verästelungen, die ihn immer mehr einsponnen, bis er eines Tage total jeder Sicht entzogen war. Ein großer klaffender Spalt befand sich im Deck, den Smoky für die ehemalige Ladeluke hielt. Neugierig schwamm er hinein, aber er sah nichts als gähnende Finsternis. Als er sich umdrehte und zurück schwimmen wollte, flitzte etwas an ihm vorbei, und unwillkürlich riß Smoky die Arme hoch. Der verängstigte Tintenfisch mochte das für. einen Angriff gehalten haben, überhaupt hatte ihn das fremde Wesen erschreckt, und so blies er, um seine Flucht zu. tarnen, eine tintenschwarze Wolke ins Wasser ab. Du Mistvieh, du elendes, dachte Smoky.

Jetzt sah er überhaupt nichts mehr, denn die schwarze Wolke begann sich im Wasser rasch auszubreiten wie zäher Nebel, der nicht weichen wollte. Smoky verfluchte im stillen alle Tintenfische dieser Welt, und ganz besonders dieses Exemplar, das. ihn mit teilweiser Blindheit geschlagen hatte. Er mußte auftauchen, störte sich aber nicht an den Gesichtern von Matt und Sam. Bevor die beiden noch etwas sagen konnten, ging er erneut auf Tauchstation. Er umschwamm das Wrack, tauchte zur anderen Seite hinüber und fand wiederum ein großes, scharf gezacktes Loch im Rumpf des merkwürdigen Schiffes. Teilweise fehlten die Planken, aber dieses Loch hier hatte für den Untergang der Karavelle gesorgt. Wahrscheinlich war es doch auf die Korallen geworfen worden und dann gesunken, und das mußte anhand dieses Lochs ganz schnell geschehen sein. Vorsichtig peilte er in die Öffnung. Dicht vor seinem Gesicht befanden sich faustgroße Seeanemonen, die ihre vielen bunten Arme elegant im Wasser tanzen ließen. Wie große farbige Blumensträuße sahen sie aus. Aber dafür hatte Smoky im Augenblick nicht viel übrig. Mit den Händen zog er sich an die Öffnung vorsichtig weiter heran, bis er einen Blick nach innen werfen konnte. Hier war das Wasser etwas heller. Zwar noch immer milchig-trübe, aber von einem Dämmerlicht durchsetzt, das die Silhouetten noch einigermaßen gut erkennen ließ. Wenn ihn seine Augen nicht täuschten, befand sich in der hinteren Ecke ein länglicher Gegenstand, der wie ein Mensch aussah, und der aufrecht an einem Schott lehnte. Zuerst erschrak Smoky, aber dann sagte ihm sein gesunder Verstand, daß es sich bei dem Gegenstand niemals um einen Menschen handeln konnte. Er schwamm näher heran und erkannte jetzt die Umrisse einer großen Amphore, die den Untergang unbeschadet überstanden hatte. Auch andere Gefäße, die er auf Anhieb nicht erkennen konnte,

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befanden sich in seiner unmittelbaren Nähe. Jetzt wurde ihm aber die Luft verteufelt knapp und er. mußte auftauchen, so schnell wie möglich. Er streifte die gezackte Öffnung, und glaubte im ersten Moment, jemand halte ihn fest. Mit einem wilden Ruck drehte er sich um, stieß. sich ab und kam schnaufend nach oben. Er sah genau in die besorgten Gesichter seiner beiden Kameraden. �Die haben schon den zweiten Schuß abgefeuert, Smoky�, rief Matt Davies ihm zu. �Wir müssen zurück. Außerdem steigt die Flut jetzt immer schneller.� �Ich habe etwas entdeckt, das ich mir unbedingt noch genauer ansehen muß�, sagte Smoky. Er atmete hastig ein und aus, und sein Gesicht war knallrot angelaufen. �Wir haben keine Zeit. mehr, Mann�, schrie Sam Roscill. �Geht das denn nicht in deinen verdammten Schädel?� �Raus aus dem Wasser!� kommandierte Matt energisch. �Oder willst du erst mit dem Seewolf aneinander geraten?� Das gab den Ausschlag. Mißmutig kroch Smoky nach einem letzten bedauernden Blick nach unten aus dem Wasser. �Verdammt�, sagte er, als sie ihm hinaufhalfen. �Jetzt wird es aber wirklich allerhöchste Zeit.� Verstört sah er sich um. Das Wasser brauste und schien überall zu kochen, die riesige Brandungswelle war noch lauter und drohender geworden. Ihre donnernden Geräusche überlagerten jedes Wort. Die Männer mußten brüllen. um sich zu verständigen. In allen Ritzen, Spalten und Höhlen gurgelte und zischte es. Ungemein harte Strömungen überspülten die Korallen, in den Sielen tobte das Wasser wie eine unbändige Flut. �Was hast du gefunden?� fragte Matt, während Smoky sich wieder die Stiefel anzog, die ihm das Laufen über die scharfkantigen Korallen erleichterten. �Vasen oder Amphoren, und Dinger, die wie Flaschen aussahen�, berichtete er. �Da scheint eine Menge Zeug zu liegen, aber

ich konnte es nicht genau sehen. Verdammter Mist�, setzte er ärgerlich hinzu. Er sah aber ein, daß ihnen jetzt wirklich keine Zeit mehr blieb, denn das Steigen des Wassers war jetzt gut mit den Augen zu verfolgen, so schnell kletterte es. �Das schaffen wir nicht mehr!� brüllte Sam Roscill. �Verdammt, wir haben zu viel Zeit verloren!� Seine Worte gingen unter im wilden Heulen der Riesenwelle, die sich pausenlos aus dem Wasser hob, als die Korallen sie stoppten, und die sich mit unwahrscheinlicher Kraft auf das Riff warf, als wolle sie es unter ihrem wilden, ungestümen Ansturm zertrümmern. �Rechts hinüber!� rief Smoky, als er entsetzt bemerkte, daß der Weg zur anderen Seite bereits abgeschnitten war. Da befanden sich nur noch reißende Priele und kochende Krater, aus denen die Zacken der Korallen heraussahen. Sie rannten in die andere Richtung, und nach knapp hundert Yards blieben sie vor einem Priel stehen, dessen Wasser so rasend schnell dahin flossen, daß sich keiner von ihnen hineintraute. �Was nun?� fragte Sam atemlos. �Dort rüber, auf die große Platte!� Die große Platte wurde bereits vom Wasser leicht überspült, aber kurz davor gab es wieder einen gewaltigen Wasserwirbel. Jetzt merkten sie überdeutlich, daß sie sich verkalkuliert hatten. Die Flut stieg schneller als erwartet, und sie schnitt ihnen einen Weg nach dem anderen ab. Die Priele zu durchschwimmen, war fast unmöglich. Die reißende Strömung ließ kein Schwimmen zu, der gewaltige Wirbel würde jeden Schwimmer in einem weiten Bogen hinausziehen, und wo er dann landete war völlig ungewiß. �Wenn wir die andere Seite nicht erreichen�, schrie Smoky aus voller Lungenkraft, �dann geht's in die Brandung hinaus, und die feuert uns dann wieder auf die Korallen zurück.� Ja, der gewaltige Wirbel, den die Flut veranstaltete, verlief fast kreisförmig, das wurde jetzt immer deutlicher.

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Da ihnen jetzt aber fast alle Wege versperrt waren, blieb nichts anderes übrig, als einen der Priele zu durchschwimmen. Vor diesem Gedanken graute jedem, und so versuchten sie es noch einmal auf der einzigen Seite, die jetzt noch blieb. Aber auch da war es bereits zu spät. Immer größer und gewaltiger wurde die Strömung in der Nähe der ständig anrollenden Brandungswellen. Smoky blieb stehen und sah hinüber. Sie mußten das Risiko auf sich nehmen, jetzt blieb ihnen keine andere Wahl mehr, selbst auf die Gefahr hin, in den Sog der Brandungswelle zu geraten. Er sah die beiden entschuldigend an, aber die grinsten nur hart, und sie nahmen ihm die Zeitvertrödelung nicht einmal übel. Immerhin brachte er sie dabei in allergrößte Gefahr. �Ich gehe als erster�, sagte er. �Ihr folgt erst, wenn ich gut auf der anderen Seite angelangt bin. Haben wir das geschafft, können wir uns auf dem Rücken der Korallen weiter bewegen. Da gibt es vorläufig keine Priele mehr.� �Und wenn du es nicht schaffst?� fragte Matt Davies. �Dann bin ich gleich wieder zurück�, entgegnete Smoky mit voller Lautstärke und wies in die Brandung. �Aber nur noch als Trümmerhaufen�, meinte Sam. �Dann bist du nicht mehr Decksältester, dann siehst du noch viel älter aus.� Smoky schleuderte die schweren Stiefel, die ihm bis über die Knie reichten, zum zweiten Mal von sich. Dann nahm er kurz entschlossen Anlauf und stürzte sich mit einem gewaltigen Satz in den brodelnden Hexenkessel. Smoky war ein guter Schwimmer wie alle von der �Isabella�, und es gab an Bord keinen Mann, der nicht schwimmen konnte, wie auf so vielen anderen Schiffen. Aber das hier war die reine Hölle! Seine Arme zerteilten kraftvoll das Wasser, und er schlug mit aller Gewalt in die Höllenwirbel, die ihn von allen Seiten umschlangen und nach ihm griffen.

Es war ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Er war noch keine drei Yards weit geschwommen, als der Sog ihn mit aller Kraft packte und wie ein Blatt davonschleuderte. Smoky sauste durch den Priel, versuchte gegen den Strom anzukämpfen um sich zur anderen Seite durchzuschlagen, doch er schaffte es nicht. Er hörte Sam und Matt schreien, doch die Worte waren nicht zu verstehen, sie gingen im Fauchen und Toben des Wassers hoffnungslos unter. Der Strom zerrte ihn nach unten, wirbelte ihn um die eigene Achse, trieb ihn rasend schnell fort, bis Smoky zu seinem Entsetzen erkannte, wohin die teuflische Reise ging. Der Priel lief in vielen Windungen kreisförmig ins Meer hinaus. Dort gab es einen gigantischen Riesenwirbel voller Schaum, und der führte direkt wieder in die Welle, die sich auf das Riff warf. Er wußte, daß niemand ihm helfen konnte und er ganz allein auf sich gestellt war. Matt und Sam konnten nicht helfen, und von der �Isabella� erst recht keiner. Dazu war es zu spät, und auch mit einem Boot hätte nicht die geringste Chance bestanden. Noch einmal kämpfte er gegen den Strom an, dann sah er ein, daß er nur seine Kräfte verbrauchte und es doch nicht schaffte. Er blickte wieder nach vorn und rechnete sich eine Gelegenheit aus. Wenn er sich einfach treiben ließ und seine Kräfte bis zum Schluß sparte, dann konnte er mit einem letzten Kraftakt vielleicht aus der Gefahrenzone der Brandung schwimmen. Warf die Welle ihn wirklich auf die Korallen, bestand die Aussicht, daß er in einem der vielen angestauten Tümpel landete. Von dort aus konnte er weitergehen, denn hier war das Riff viel höher als an allen anderen Stellen. Es sah also gefährlicher aus, als es war, überlegte er. Andererseits konnte auch auch alles schief laufen. Viel würde er davon dann ohnehin nicht merken, denn die Welle würde ihn zerschmettern.

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Immer schneller riß ihn die Strömung mit sich fort, und er versuchte, so gut es ging, den Kopf über Wasser zu halten. Ein Knick kam, in dem es gurgelte und schäumte, in dem sich das Wasser an der Wand aufstaute und mit tausend nassen Armen nach oben griff. Abwehrend streckte er die Hände vor, um nicht mit dem Schädel gegen die Wand zu knallen. Immer rasender und schneller trieb es ihn nun darauf zu, und als er dachte, jetzt würde der harte Anprall erfolgen, drehte ihn die Strömung um und ließ ihn dicht an der Mauer entlanggleiten. Smoky raste weiter und erreichte eine Geschwindigkeit, die selbst die �Isabella� bei hartem Wind unter vollem Preß nicht schaffte. Er hatte keine Gewalt mehr über seinen Körper, er wand sich hilflos im Wasser. Er sah Korallenwände in atemberaubendem Tempo an sich vorbeiflitzen, hörte das Donnern, Krachen und Heulen und ließ sich halb betäubt weitertreiben, jenem Sog entgegen, der schon gierig auf ihn zu warten schien. Du schwimmst wie eine lausige Kanalratte, dachte er noch, dann erreichte er den kochenden Wirbel, und er glaubte, die Welt würde für ihn mit einem gewaltigen Donnerschlag untergehen. Aus und vorbei! Das schaffte er nicht mehr, denn jetzt wurde er wie ein Kreisel gedreht, sah Sterne und feurige Ringe und hörte ferne Donnerstimmen an seinem Ohr. Von wegen dort ausbrechen! Das war und blieb ein Traum, denn gegen diese Naturgewalten vermochte er nichts auszurichten. Er empfand nicht einmal Angst, als er erkannte, daß er nun unweigerlich in die Brandungswelle geriet. Von seinen Kameraden sah er längst nichts mehr, und er wußte auch nicht einmal mehr, wo die �Isabella� lag. Alles war für ihn gegenstandslos und unwirklich geworden. In seinen Ohren lag ein unermüdliches und pausenloses Hämmern und Brüllen, Kreischen und Tosen.

Der Wirbel ließ ihn wie einen Korken tanzen und kreisen, hob ihn mal in die Höhe, ließ ihn wieder in die Tiefe fallen, und um einen Strudel wie verrückt kreisen, der mitten in den Ozean hineinzuführen schien. Vor Smokys Augen tauchte ein Trichter auf, ein gewaltiges Ding, das sich aus dem Erdinnern gestülpt hatte und nun alles verschlang, was in seine unmittelbare Nähe geriet. Sein Tempo wurde noch schneller, und wieder sah er sich getäuscht. Er würde die Brandung gar nicht mehr erreichen, denn schon lange vorher würde ihn dieser Trichter verschlingen und fressen. Aber auf wundersame Weise gelangte er dort herum. Zu seinem Erstaunen sah er, wie der Trichter ihn an seinem Rand wieder ausspie und in einer schleudernden Bewegung nach vorn warf. Dann sah er nur noch Wasserwände stürzen, eine immer höher als die andere. Ein donnernder brausender Vorhang aus nassem Staub nahm ihn auf. Er schien in den Himmel zu schweben, wurde jählings gestoppt, dann unter einer Wasserwand be- graben, die ihn fast erstickte. Er hielt die Luft an. Sein Körper verkrampfte sich, und er merkte nicht einmal, daß er einen brüllenden Schrei ausstieß. Wie von einer Schleuder wurde er abgefeuert, wie einer der chinesischen Brandsätze, die sich pfeilschnell in den Himmel schraubten. Jetzt war nur noch pausenloses Brüllen, Heulen und Kreischen um ihn, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor. Aber es ging weiter, immer weiter, und mit einem Tempo, das er sich nicht einmal annähernd vorstellen konnte. Ein letztes wildes Brausen, und Smoky war weg.

6. �Teufel noch mal!� stieß Matt Davies atemlos hervor, als er Smokys Höllenfahrt hilflos mit ansahen, mußte. �Das schafft er nicht, er gerät in die Brandung.�

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Sam Roscill wechselte die Farbe. Seine Finger waren verkrampft, und eine Gänsehaut kroch ihm über den Rücken. �Nein, das schafft er nicht�, murmelte er, aber Davies verstand seine Worte ohnehin nicht, denn die Brandung ähnelte einem Weltuntergang, bei dem sich das Meer gierig auf das Land stürzte und es verschlang. Sie rannten ziellos ein paar Schritte vor, dann blieben sie wieder stehen, als es nicht mehr weiterging. Voller Entsetzen sahen sie Smoky als kleinen Punkt in einem wahnsinnig rotierenden Wirbel verschwinden. Dann tauchte er erneut auf, drehte sich um die eigene Achse und wurde von dem Wirbel davongeschleudert. �Hinein, ihm nach!� schrie Matt. �Bist du wahnsinnig?� rief Roscill., �Wir ersaufen so erbärmlich wie die Ratten !� �Wir ersaufen in jedem Fall. Aber wir haben keine andere Wahl, Sam. Sieh dich doch um!� Ja, das Wasser stieg, die Priele wurden breiter, und nicht mehr lange, dann würde hier eine einzige kochende Hölle schäumen und brodeln. Sam dachte auch daran, Smoky zu helfen, doch das war völlig unmöglich. Für niemanden gab es Hilfe, der in diese Naturgewalten hineingeriet. Selbst die Männer, die es von der �Isabella� aus mit ansahen, waren hilflos. �Warten wir noch ab, was mit Smoky geschieht�, schrie Sam. �Es gibt vielleicht doch noch eine Chance für ihn.� Das war der Augenblick, als Smoky in den weitauslaufenden Sog der Brandung geriet. Als kleiner Punkt verschwand er in einem gewaltigen Vorhang aus Wasser und wurde durch die Luft geschleudert. Sie konnten ihn nicht mehr sehen, beteten aber insgeheim, daß die Welle ihn vielleicht in eine der Lagunen geschleudert hatte, die hinter dem offenen Riffrücken lagen. Die Stiefel hatten sie längst ausgezogen. Ein letzter Blick des Einverständnisses, ein Nicken von Matt Davies, und mit Todesverachtung hechteten sie in den

reißenden Priel, der sie sofort mit sich fortriß. Von da ab wurde jede Verständigung unmöglich, und sehr schnell verloren sie sich aus den Augen. Jetzt gab es nichts anderes mehr als den Kampf ums nackte Überleben.

* Smoky schluckte Wasser, tauchte nach unten, flog nach oben, wurde von einer rollenden und stampfenden Walze begraben und hatte das Gefühl, geradewegs in die Hölle zu sausen. Sein Körper war ein hilfloser Ball, den die Naturgewalten hin und her schleuderten. Wenn er versuchte, seine Lage zu ändern, drang Wasser in Mund und Nase, und schon zum zweitenmal mußte er es schlucken. Die Kraft, die ihn vorwärts trieb, war unheimlich und von solcher Gewalt, wie er sie noch nie erlebt hatte. Doch sein Sturz in die Hölle änderte sich ganz plötzlich. Es war kein Glück, das er hatte, sein hilfloser Körper gehorchte lediglich den Gesetzen einer unbekannten Strömung, und die warf alles in die Lagune, was sie hochhob und fort trug. In das Brausen und Toben mischte sich ein anderes Geräusch. Ein hoher, singender Ton erklang, und ein Chor gewaltiger Stimmen fiel mit ein. Es war das beständige Rauschen, mit dem die vorauseilende Walze das Riff anlief. Noch begriff Smoky nicht, daß er wie der alte Jonas auf dieser Strömung ritt und die Welle sich acht oder zehn Yards über ihm krümmte. Er spürte nur, daß die Welt wieder heller geworden war und er kein Wasser mehr schluckte. Dann erkannte er diesen gewaltigen, sich immer wieder neigenden und krümmenden Brecher, und sein Entsetzen steigerte sich. Er konnte ungehindert schwimmen, hatte aber auf die Walze nicht den geringsten Einfluß und geriet auch nicht von ihr herunter.

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Er sah Korallen vor sich, hörte ein wildes Zischen, und das war das Zeichen, daß die Höllenfahrt sich nun ihrem Ende zu neigte. Wie das aussah, wußte Smoky allerdings nicht, denn die Walze setzte auf, über ihm brach der Himmel zusammen, und das Meer holte ihn in einem weiten saugenden Bogen noch einmal zurück. Ein Stück Dunkelheit fiel ihn an, und dann war ihm, als hätte ihn ein riesiger Stiefel getroffen. Als er krampfhaft die Augen schloß, die Luft anhielt und vor Schreck fast starr wurde, landete er mit unglaublicher Gewalt in ruhigem Wasser. Halb betäubt begann er wie ein Hund zu paddeln, bis er sich irgendwo hochzog und wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Er brauchte lange, bis er begriff, wo er sich befand. Das Meer hatte ihn genau in die Riesenlagune geschleudert, und nun stand er auf der immer noch erhöhten Riffplatte. Sein Körper war wundgescheuert, jeder einzelne Knochen tat ihm weh, und er konnte sich kaum bewegen. Aber hier war ein Wunder geschehen, daran glaubte er unbedingt. Er hatte unwahrscheinliches Glück gehabt. Jetzt erst sah er sich nach seinen Kameraden um und orientierte sich. Matt Davies und Sam Roscill waren verschwunden! Die Angst um die beiden Kameraden schnürte ihm fast die Kehle zu. Er suchte die Priele ab, merkte gar nicht, daß die Brandung immer noch Salzwasser mit langen Armen nach ihm schleuderte, das Wasser seine Füße umspülte und er fast den Halt verlor. Dann sah er zwei Punkte in weiter Ferne, die sich rasend schnell ins Meer hinausbewegten, und er stand da, erwartungsvoll zitternd, daß den beiden das gleiche Glück beschieden sein möge wie ihm. Er schwankte, und nun wurde ihm noch schlechter als zuvor, als er sich selbst auf dieser Höllenfahrt befunden hatte. Erst nach und hach fiel ihm eine gewisse Methodik auf, merkte er, daß der Priel

einem Naturgesetz gehorchte und alles, was da ins Meer hinaustrieb, in einem langen Bogen wieder zurückkehrte, falls es den Wasserwirbel passierte und nicht verschlungen wurde. Er hob die Arme, schrie und brüllte, rief etwas hinüber, doch die beiden verzweifelten Schwimmer konnten ihn nicht sehen und auch nicht hören. Sie vollzogen seine sausende Fahrt nach, und alles lief nach dem gleichen Schema ab. Jetzt waren sie an dem tödlichen Trichter, wurden durcheinander gebeutelt. Dann stieß das tobende Ungeheuer sie in einer langen Spirale von sich, und sie trieben schnell weiter, bis sie hinter Gischt und brausenden Urgewalten verschwanden. Smoky starrte aus brennenden Augen in den Schleier, der zuerst in den Himmel strebte und sich dann brausend senkte, aufschäumte und sich wild über die Korallen ergoß. Alles war so wie bei ihm, und jetzt war er sogar in der Lage, die Stelle zu bestimmen, an der das Meer sie fauchend ausspucken würde. Alle beide würden ebenfalls in der Lagune landen, denn dort hinein ergossen sich die Wassermassen. Zwei Punkte rasten heran, kaum erkennbar in dem tosenden Wirbel. Sie verschwanden auch gleich wieder und wurden verschluckt. Dann senkte sich der Gigant aus brüllender Gischt. eine Riesenwolke stob hoch und spie ihre Wassermassen aus. Smoky starrte ungläubig auf zwei Männer, die sich wenig später in seiner unmittelbaren Nähe befanden. Matt Davies paddelte schon auf den Rand zu, aber Sam Roscill rührte sich nicht und ging unter. Gedankenschnell stürzte sich der Decksälteste in die Lagune, kriegte Sam Roscill an den Haaren zu fassen und schleifte ihn mit sich. Als er keuchend den Korallenrücken erreichte, stand Matt Davies zusammengekrümmt da und erbrach sich.

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Dann sank er auf die Knie und blieb erschöpft in dieser Haltung liegen. Smoky kümmerte sich zuerst um Sam, der reglos und mit bleichem Gesicht auf der Seite lag. Sein Körper war hart angeschrammt, die Haut an seinen Armen und Beinen hatte sich stark gerötet. Die Welle hatte ihn auf den Grund gemangelt und gerollt wie einen Stein. Smoky begann mit beiden Händen seinen Brustkorb zu quetschen, bis Sam die ersten Lebenszeichen von sich gab. Auch er erbrach Wasser, hustete und würgte, konnte aber nicht aufstehen, so erschöpft war er. �Wie geht es dir, Matt?� fragte er. �Das Lachen ist mir jedenfalls vergangen. Ich glaube, in mir brennt ein heißes Höllenfeuer.� Immer noch mußten sie schreien. �Los, wir tragen ihn zurück�, sagte Smoky. �Hilf mir, ihn auf die Schulter zu packen.� �Wir tragen ihn zu zweit!� Smoky lud sich Sam Roscill auf den Rücken und stolperte über den Korallenrücken davon. Matt folgte ihm hinkend, und immer wieder blieb er stehen, keuchte und hustete. Wo der Rücken aufhörte, legte gerade ein Boot an. Batuti und der Profos eilten wortlos heran. Smoky fragte sich, wie sie es wohl geschafft hatten, mit dem Boot den einen Priel zu überqueren. Batuti nahm ihm Sam Roscill ab und hängte ihn sich über die Schulter, als hätte er kein Gewicht. Der Profos lud sich Matt auf den Rücken, warf Smoky nur einen undefinierbaren Blick zu und sprang in das Boot, das bei dem Anprall fast kenterte. Die drei Seewölfe hockten gebrochen und erschöpft im Boot, als Carberry und der Gambia-Mann zu den Riemen griffen. �Ihr karierten Affenärsche�, schimpfte Ed überlaut. �Ihr räudigen Kanalratten! Glaubt .ihr etwa, wir sind hier auf der Themse, was, wie? Wo jeder in Ruhe von einem Ufer zum anderen schwimmt? Ich sollte die Neunschwänzige auf euren Affenärschen tanzen lassen.�

�Es war allein meine Schuld�, sagte Smoky, der kaum noch die Kraft hatte, um einen der Riemen zu ergreifen. �Ich habe ein uraltes Wrack entdeckt.� �Scheiß auf das Wrack!� fluchte der Profos. Er pullte, daß ihm der Schweiß von der Stirn lief, bis sie in ruhigeres Wasser gerieten, und der Rumpf der �Isabella� vor ihnen auftauchte. Hilfreiche Hände zogen die Männer an Bord, und halb wie im Traum fanden sie sich gleich darauf auf der Kuhlgräting sitzend wieder. Dicht vor ihnen standen die anderen, darunter auch der Seewolf, dessen eisblaue Augen sie hart musterten. �Drei Schüsse haben wir abgefeuert�, sagte er kalt. �Aber das haben wir anscheinend nur zum Spaß getan, wie? Wir haben euch beobachtet, aber wir konnten nicht helfen. Warum seid ihr nicht sofort umgekehrt?� �Dieses Rübenschwein hat ein Wrack entdeckt�, sagte der Profos. �Und da ist ihm ist ihm- Eifer wohl der Verstand hängen geblieben. Verdammt, ich sollte euch wirklich mal das Fell gerben. Die Neunschwänzige hängt schon viel zu lange tatenlos über meiner Koje.� Smoky beteuerte noch einmal, daß es seine Schuld war. Dann drückte ihm der Kutscher eine Muck in die Hand und gab Matt Davies und Sam ebenfalls eine. �Trinkt das, auf einen Zug!� forderte er. Davies dachte an einen kräftigenden Rum, als er das Zeug jedoch im Magen hatte, stürzte er mit einem Schrei ans Schanzkleid und erbrach sich dort in hohem Bogen. Die beiden anderen taten es ihm nach. Ihre Mägen krempelten sich um, sie standen da und spien alles aus, bis sie mit weißen Gesichtern und hervorquellenden Augen wieder zurückkehrten und sich entkräftet auf der Gräting niederließen. �Das war Essig�, erklärte der Kutscher ungerührt. �Das ist erforderlich um das Seewasser zu erbrechen. Danach wird es euch gleich besser gehen.� �Kotzen können sie jedenfalls prächtig�, spottete Ed. �Man sollte ihnen noch Essig

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in die Ohren gießen, damit sie auch so gut hören können.� Smoky hockte da wie ein Häufchen Elend, er war sich seiner Schuld durchaus bewußt, doch der Seewolf wollte daraus keine Affäre hochspielen, und so beließ er es bei einer ernsten Verwarnung. �Hoffentlich war die Angst, die ihr ausgestanden habt, eine Warnung für euch�, sagte er abschließend. �Ihr seid genug gestraft, aber ein zweites, Mal wird das nicht durchgehen. Geht das in eure Schädel hinein?� �Ja, Sir�, sagte Smoky kleinlaut. �Es wird nicht wieder passieren, das verspreche ich.� Der Kutscher brachte anschließend jedem eine Muck Brühe, und danach fühlten sie sich wieder besser. Sogar Sam Roscill war wieder auf den Beinen. �Wie war das nun mit dem Wrack?� erkundigte sich Hasard. Smoky erklärte es. �Eine Art Karavelle, sagtest du? Wie alt könnte das Schiff sein?� �Es ist total mit Muscheln bewachsen, man erkennt nur noch seine Umrisse, aber sicher ist es älter als hundert Jahre und nicht viel länger als fünfunddreißig oder vierzig Yards. Von innen ist sogar das Holz noch ganz gut erhalten, und ich habe Amphoren und irdene Behälter gesehen.� Hasard blickte nachdenklich auf die Decksplanken. Dann sah er den rothaarigen Schiffszimmermann Ferris Tucker fragend an. �Vielleicht ist es ein ähnliches Schiff wie das von diesem Burschen, der Amerika entdeckte. Er hieß, äh�� �Kolumbus, glaube ich�, sagte der Kutscher. �Das ist ungefähr hundert Jahre her.� �Der ist aber nie in dieser Ecke gewesen�, meinte Hasard. �Aber andere können sich ja hierher verirrt haben. Ich glaube�, sagte er überlegend, �wir sollten uns das doch noch einmal überlegen, natürlich erst morgen früh. Ganz sicher können wir einige dieser Behälter bergen, die uns etwas Aufschluß geben.�

�Bei einer so lange zurückliegenden Zeit haben sich ganz sicher alle Spuren verloren�, meinte Bei ''Brighton. �Wir haben auch schon das Gegenteil erlebt�, widersprach Ed. �Wenn die Leute hier gestrandet sind, haben sie sich vielleicht mit einem Boot zum Land retten können.� �Oder sind mit Mann und Maus ersoffen�, sagte Ben. �Was viel wahrscheinlicher ist.� Hasard winkte ab. �Wir sehen uns die Stelle morgen früh noch einmal an, wenn die Strömung günstig ist. Wenn nicht, segeln wir weiter. Ich möchte eine Lücke in dem Riff finden, denn ich vermute an Steuerbord dieses Land, von dem wir schon sprachen.� �Selbst wenn sich die Leute tatsächlich gerettet haben, werden sie das kaum hundert Jahre überlebt haben�, sagte Smoky. Sie besprachen das Thema noch einmal und diskutierten darüber, und zu diesem Zeitpunkt ahnte niemand, welche Überraschung sie gerade noch durch dieses Wrack erleben sollten.

7. Spät in der Nacht setzte die Ebbe ein. Der blonde Schwede Stenmark und Gary Andrews hatten die erste Wache und gingen an Deck auf und ab. Es war eine unheimliche Nacht hier draußen auf dem Riff. Die beiden Männer hatten das Gefühl, als wären sie ganz allein auf der Welt. Das änderte sich erst dann, als immer wieder jemand an Deck erschien, eine Weile herumlief und wieder verschwand. Die meisten konnten nicht schlafen. Wenn sie zum Himmel blickten, dann sahen sie nur den Mond und die unheimliche Wasserwüste darunter, in der er sich spiegelte. Das Riff sah düster und drohend aus, es war in seinen Ausmaßen so groß und gewaltig, als umgebe es die gesamte Welt wie eine steinerne Mauer. Donnernd brach die ewige Brandung gegen das Riff, aus der dunklen Nacht stiegen die

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Gischtschleier in den Himmel. Immer wieder, ohne Pause, rannte das Meer gegen sie an und bäumte sich auf, wenn es die große Mauer im Wasser erreichte. An der �Isabella� zog und zerrte der gewaltige Sog, dann wieder schob und drängte er ungeduldig. Niemand war dieses höllische Geräusch gewöhnt, das so klang, als schlügen pausenlos große Hämmer gegen Stein. Das dumpfe Grollen und Brüllen ließ die Seewölfe nicht schlafen. Wie ein Gespenst aus grauer Vorzeit hockte die �Isabella� inmitten dieser fremdartigen Welt, irgendwo tief unten im Süden, wo man das große Südland vermutete. Das Schiff ächzte und stöhnte, es wand sich dümpelnd von einer Seite zur anderen, als fühle es sich auf diesem düsteren Riff nicht wohl. Quälend langsam verging die Nacht, die Wachen lösten sich ab, und endlich zeichnete sich das erste Dämmerlicht ab. Mit dem beginnenden Morgen setzte auch der Wind wieder ein, fuhr über das Wasser des Riffs und kräuselte es. Dann endlich brach der lang ersehnte Morgen an, die ersten Sonnenstrahlen griffen über das Wasser. Die Männer hatten mehr oder minder schlecht geschlafen, denn das Dröhnen, Hämmern, Klopfen und Pochen hatte die meisten wach gehalten. Der beginnende Tag wischte die letzte Müdigkeit jedoch fort. Zwei Stunden mußten sie noch warten, bis die Ebbe ihren tiefsten Stand erreichte. Dann fuhr eine Gruppe mit Smoky, Hasard und dem Profos im kleinen Beiboot zu der Stelle, wo das versunkene Schiff lag. Schon lange vorher vertäute sie das Boot und liefen die restliche Strecke über den Korallenrücken. �Hier ist es�, sagte Smoky feierlich. Dabei dachte er an den gestrigen Tag, und was er ihnen alles beschert hatte. Er lotste Hasard und den Profos gleich an die richtige Stelle, und zeigte aufgeregt mit der Hand ins Wasser.

Das alte Schiffswrack hatte seine Position nicht verändert. Es lag noch genauso da wie gestern, wie vor fünfzig oder gar vor hundert Jahren � eine gestalt gewordene düstere Drohung, die klarstellte, daß es auch jedem anderen Schiff im Korallenmeer so ergehen konnte. �Ja, einer alten Karavelle ähnlich�, sagte der Seewolf. �Derartige Schiffe werden längst nicht mehr gebaut, obwohl sie sehr seetüchtig waren.� �Die ,Mary Gold' war auch so ein ähnlicher Kahn�, sagte Ed laut, und dabei dachte er an die Zeit, als er noch bei Drake gefahren war. �Aber dieser hier ist wirklich uralt.� �Sehen wir ihn uns einmal aus der Nähe an!� Hasard sprang in das jetzt wieder klare Wasser und schwamm über die Korallen, die Millionen kleiner und großer Arme nach oben reckten. �Sollen wir hier herumstehen und die Fische zählen?� fragte Ed. �Auf was wartest du noch, du Rübenschwein!� Smoky grinste, nickte dem Profos zu, und dann hechteten die beiden ebenfalls hinunter, um sich das gesunkene Schiff aus allernächster Nähe genau anzusehen. Sie folgten dem Seewolf, der das Wrack umschwamm und der sich immer wieder die vielen Seeanemonen und bunten Fische ansah. Sie hatten einen Teil des muschelbewachsenen Rumpfes gerade umrundet, als ein Marlin erschien und unbeweglich im Wasser stehen blieb, als wolle er nachsehen, wer da in sein Reich eingedrungen sei. Es war ein Schwertfisch, wie er im Atlantik und auch im Mittelmeer herumschwamm, aber dieser sah ein wenig anders aus, und er schien auch nicht angriffslustig zu sein. Unbeweglich stand er im Wasser. Er mochte knapp fünf Yards lang sein. Sein schwertartig verlängerter, zahnloser Oberkiefer zielte genau auf Carberry. Der Profos musterte das große Exemplar mißtrauisch, aber der marlinähnliche Fisch rührte sich nicht. Wie ausgestopft und

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präpariert hing er im Wasser, ein stummer Wächter des untergegangenen Schiffes. Erst wollte Ed ihn verscheuchen, doch in den kalten Augen des Schwertfisches stand etwas, das ihn davon abhielt. Wer weiß, wie das Biest reagierte, dachte Ed, wenn er auf ihn zuschwamm und ihn möglicherweise provozierte. Dennoch behielt er ihn im Auge, während er weiterschwamm. Hasard und Smoky sahen den großen Fisch ebenfalls, und als Smoky auf sein Entermesser an der Hose deutete, schüttelte der Seewolf nur den Kopf. Smoky ließ den Marlin stehen und zeigte dem Seewolf die Löcher, die sich in dem Schiff befanden. Um sie herum blinkte grünliches Dämmerlicht, kleinere Fische flitzten davon oder wichen ihnen nur widerwillig aus. Vor der Öffnung im Deck hing ein dicker Klumpen voller Muscheln, dem Smoky gestern keine Beachtung geschenkt hatte. Dieser Klumpen hatte eine eigenartige Form, und er ähnelte entfernt einer bauchigen Tonflasche. Hasard zeigte darauf und brachte damit zum Ausdruck, daß sie ihn später mitnehmen würden. Dann verschwanden die drei Männer im Bauch des fremden Schiffes, von dem sich nicht feststellen ließ, welcher Nationalität es einmal angehört haben mochte. Dunkelgrünes Dämmerlicht herrschte in dem Raum. Zerbrochene Planken ragten vom Grund aus ins Innere wie lange Arme, auf denen sich im Laufe der Zeit überall Korallen gebildet hatten. Dem Seewolf wurde die Luft knapp, auch Smoky und der Profos hielten es nicht mehr länger aus. So ergriff jeder eine der auf dem Boden liegenden Amphoren und nahm sie mit nach oben. Sie stellten sie auf den Korallenrücken und sahen sie an. Carberry stocherte mit dem Entermesser daran herum, kratzte ein bißchen, um sie von den Muscheln zu befreien, aber er erreichte nur, daß ein großes Stück aus der leeren Amphore herausbrach.

�Vorsichtig�, sagte Hasard zu Smoky, der die gleiche Prozedur wiederholte. Smokys Amphore hatte einen ganz dünnen Hals. Sie war immer noch nach der langen Zeit versiegelt und ziemlich schwer. Unendlich vorsichtig erbrachen sie das wachsartige Siegel, das dem Meerwasser so lange getrotzt hatte. Hasard hielt das Tongefäß etwas schräg und blickte auf die dunkle, undefinierbare Brühe, die da zäh herauslief wie dicker Sirup. Erst danach floß es dünner und rötlich. �Wein�, sagte der Profos andächtig. �Wein, der sich so lange gehalten hat, man sollte es nicht glauben. Ob der noch genießbar ist nach der langen Zeit?� �Du kannst es ja mal versuchen.� Zuerst roch der Profos daran, dann schüttelte er den Kopf. �Riecht wie alter Essig mit ranzigem Öl gemischt.� Da es seine Neugier aber nicht zuließ, nicht doch wenigstens einmal zu probieren, steckte er den Zeigefinger in die Brühe und führte ihn vorsichtig an die Lippen. �Pfui Deibel�, sagte er. �Da ist wirklich ranziges Öl drin.� �Du hattest wohl hoffentlich nicht erwartet, schön abgelagerten Wein, der außerdem noch trinkbar ist, vorzufinden�, spottete Hasard. Die dritte Amphore war ebenfalls leer, aber der Muschelbewuchs ließ sich nicht abkratzen. Zu fest hatten sich winzige Korallen und Muscheln hineingebohrt, und es würde nur Scherben geben, wenn man weiter daran herumstocherte. Eine Bemalung oder eingeritzte Zeichen hatte ebenfalls der Zahn der Zeit abgenagt. �Das gibt uns leider keinen Aufschluß�, sagte Hasard. Jetzt erst konnte er Smokys gestrigen Eifer verstehen, als der das Wrack entdeckt hatte. Es reizte auch den Seewolf, denn ein hundert Jahre altes Wrack fand man so gut wie nie, led. zudem war es noch sehr gut erhalten. Sie tauchten zum zweiten Mal. Der Schwertfisch war diesmal verschwunden und ließ sich auch nicht mehr blicken.

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Dafür schlängelte sich aus einer kleinen Öffnung am ehemaligen Schanzkleid des Schiffes etwas hervor, und ein kaltes Auge sah sie von der Seite her an. Hasard riß den Decksältesten zurück, der gerade sorglos darüber hinwegschwimmen wollte. Er konnte nichts sagen, aber als er auf das schlängelnde und sich windende Ding zeigte, wußten die beiden anderen genug. Hier hatte sich eine Muräne einquartiert. Die Bekanntschaft dieser Biester hatte ganz besonders der Profos schon geschlossen. Wie lang sie war, ließ sich nicht feststellen, aber der aufgeregt aus der kleinen Höhle pendelnde Schädel und das zahnbewehrte, gefährliche Maul hatten doppelte Faustgröße. Sie griff nicht an, sie befand sich nur in einem Zustand hochgradiger Erregung, weil sie gestört worden war. Von den drei Seewölfen hatte auch niemand das Verlangen, sie unnötig zu reizen und sich in einen Kampf auf Leben und Tod verwickeln zu lassen. Zudem waren die meisten Muränen giftig, ein kleiner schneller Biß genügte, um wochenlang zu erkranken oder daran zu sterben. Hasard umschwamm sie in einem respektvollen Bogen. Nach einer Weile beruhigte sich der häßliche Schädel mit den kleinen Augen auch wieder, und die Muräne verschwand in der Höhle. Im Bauch des Schiffes entdeckten sie noch mehr von diesen Tonkrügen. Die meisten waren leer, viele andere zerbrochen, aber einige waren noch gefüllt, und sie würden nichts weiter enthalten als alten, sauren Wein oder ranziges Öl. Hasard interessierte danach die achtere Kammer oder irgendein anderer Raum, doch das meiste hatten die Korallen so überwuchert, daß ein Eindringen entweder unmöglich oder nur unter Lebensgefahr möglich war. Er trat gegen das Holz am Heck, und ein ganzes muschelbewachsenes Holzstück löste sich wie poröser Tön und fiel ins Innere.

Ein zweiter, nur leicht geführter Stoß genügte bereits, um das Loch zu vergrößern. Hier war das Holz morsch und durchgefault, während es vorn und mittschiffs noch eine gewisse Stabilität und Festigkeit aufwies. Carberry gab Zeichen zum Auftauchen, und der Seewolf zeigte mit der Hand auf die gegenüberliegende Stelle, die Carberry mit seinen Fäusten schnell noch einstieß, bevor er auftauchte. Hasard konnte noch einen schnellen Blick hineinwerfen, denn jetzt erhellte das Sonnenlicht den finsteren Raum und ließ ihn in trübem, dämmrigem Grün erstrahlen. Er sah nicht viel, nur einen kargen Raum, in dem Schmarotzer sich festgesetzt hatten. Beim Auftauchen an die Oberfläche löste der Seewolf den muschelbewachsenen Klumpen und nahm ihn mit. �Da gibt es nicht mehr viel zu entdecken�, sagte er. �Teilweise ist das Holz verfault, an manchen anderen Stellen ist es noch in Ordnung und kann nochmals fünfzig oder hundert Jahre halten.� Er stellte das flaschenähnliche Ding auf die Korallen und holte tief Luft. �Wir werden auch nicht herausfinden, welcher Nationalität es ist. Das ist alles schon zu lange her.� �Vielleicht gibt es in der achteren Kammer noch etwas�, meinte der Profos. �Davon haben wir ja kaum etwas gesehen.� Er starrte auf den Muschelklumpen und beugte sich darüber. �Was kann das nur sein? Ein Tonkrug? Jedenfalls fühlt er sich leer an, wenn man ihn in die Hand nimmt.� Hasard . schüttelte den Klumpen ebenfalls und hörte ein leichtes Geräusch, als bewege sich etwas darin. Aber als er ihn noch einmal schüttelte, vernahm er nichts mehr und nahm an, er habe sich getäuscht. �Das sehen wir uns später an�, sagte er. Der nächste Tauchgang brachte auch keine umwerfenden Erkenntnisse. Der Raum, in dem sie sich nun vorsichtig bewegten, war zweifelsohne früher einmal die Kapitänskammer gewesen.

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Fast schwarze Korallen wuchsen auf dem schräg geneigten Boden. Wenn man an das Holz stieß, gab es sofort nach. Die drei eingebauten Kojen waren zu unförmigen Haufen zerfallen, in den ebenfalls eingebauten Schapps fehlten die Türen, die zerfressen zwischen den Korallen lagen. Die Hälfte der linken Wand bedeckten handtellergroße Seesterne, die ihr Vernichtungswerk unermüdlich fortsetzten. Vielleicht waren sie daran schuld, daß sich alles auflöste und dieser Prozeß immer rascher fortschritt. Nirgendwo wurde jedoch ein Skelett oder auch nur ein einzelner Knochen entdeckt. Das konnte alles mögliche bedeuten, unter anderem, daß die Gebeine dieser Leute längst vermodert waren oder daß es ihnen doch noch gelungen war, sich auf irgendeine Art zu retten. Diese halbverfaulte Achterkammer gab jedenfalls keinerlei Aufschluß über das Schicksal der Besatzung. Die Korallen waren hindurch gewachsen und hüteten das Geheimnis des alten Schiffes bis in alle Ewigkeit. Das Vorschiff aufzubrechen wurde schon schwieriger, denn das Holz war an vielen Stellen unglaublich stark und fest. Sie schafften es erst nach etlichen Anläufen, ein paar Planken heraus zu brechen, ehe sie hineinschwimmen konnten. Carberry glaubte, selbst unter Wasser einen deutlichen Modergeruch zu verspüren, aber das bildete er sich natürlich nur ein. Die Gegenstände in diesem Raum, von wo aus man durch ein teilweise zerstörtes Schott in einen anderen Raum tauchen konnte, waren ausnahmslos in einem einwandfreien Zustand, als befänden sie sich erst kurze Zeit auf dem Grund des Meeres. Es gab ein paar roh zusammengehauene, kojenartige Dinger, eine aus groben Dielen gezimmerte Back und davor festgenagelt eine längere Bank, an der auf jeder Seite etwa acht Männer Platz hatten.

Die Türen in den Schapps waren heraus gebrochen und lagen auf den Planken. Da das Schiff auf der Seite lag, waren sie im Lauf der vielen Jahre durch ihr eigenes Gewicht aus den Angeln gebrochen. Auch hier fand sich keine Leiche, kein Knochen, nichts, was darauf hindeutete, daß hier jemand umgekommen war. Weitere Hinweise gab es jedenfalls nicht. Es fehlten die Teller in den Schapps, und es gab auch keine einzige Muck an Bord. Einmal schrak Carberry zurück, als er ein dunkles Bündel in einer Ecke erkannte, das wie ein Mensch aussah. Hasard schwamm sofort auf die Stelle zu, aber das Bündel entpuppte sich nicht als Mensch, und daraufhin glitt Erleichterung über das narbige Gesicht Carberrys. Es waren die Überreste eines alten Segels; und als Hasard sie berührte, lösten sie sich auf und bildeten im dunkelgrünen Dämmerlicht des Wassers explosionsartig aufwallende Wolken. Wieder mußten sie auftauchen und Luft holen. Beim nächsten Mal drangen sie in den letzten Raum ein, den sie noch nicht inspiziert hatten, und der sich der vorderen Kammer anschloß. Auf den Seitenplanken entdeckte Hasard einen helleren Gegenstand, der sich aus dem Dunkel abhob und leicht schimmerte. Er starrte auf einen Totenschädel, neben dem skelettierte Hände, Füße und ein Rumpf lagen. Lange starrte er sie an, dann drehte er sich um. Carberrys Augen waren weit aufgerissen, und von Smokys Lippen lösten sich kleine Luftblasen, die blubbernd nach oben stiegen. Sonst fand sich in der Kammer ebenfalls nichts. Nach einer Weile, in der sie auf die Überreste eines Menschen blickten, tauchten sie erneut auf. �Ein Toter�, sagte Smoky nachdenklich. �Allem Anschein nach haben die anderen es doch überlebt.� �Ja, so sieht es aus�, entgegnete Hasard, während sie auf das nahe Korallenufer zuschwammen. �Das Schiff ist ausgeräumt

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worden, das war deutlich zu sehen. Sämtliche Gebrauchsgegenstände wurden mitgenommen, denn es gibt auch kein Beiboot an Bord dieses Schiffes. Oder aber die Boote sind abgetrieben, das können wir jedoch nur vermuten. Ich möchte wissen, was aus diesen Leuten geworden ist.� In tiefen Zügen genoß er die würzige Luft, bis sich seine Lungen wieder beruhigten und er normal atmen konnte. �Mehr werden wir dort nicht entdecken, deshalb kehren wir wieder an Bord zurück. Sobald das Wasser steigt, segeln wir weiter. Schade, daß das Geheimnis ein Geheimnis bleiben wird.� �Ich nehme die eine Amphore als Andenken mit�, sagte Smoky. �Ich nehme auch eine mit�, sagte Ed. �Vielleicht lassen sich doch Zeichen darunter erkennen, wenn man sie vorsichtig von den Muscheln befreit.� Ruhig, ohne sein Geheimnis preiszugeben, lag das Wrack vor ihnen auf dem Korallengrund. Alle möglichen Parasiten und Schmarotzer nagten daran herum. Die hartnäckigsten von ihnen waren die Seesterne, die es allmählich zersetzten, oder die Würmer, die sich in das Holz bohrten und sich darin Gänge schufen. �Ferris hätte sich das wenigstens einmal ansehen sollen, Sir�, sagte Ed. �Der kennt sich doch mit allen möglichen Holzarten aus. Oder sollen wir eine Probe mitnehmen? Eine Planke vielleicht?� Als der Seewolf nickte, tauchte der Profos noch einmal. Kurz darauf kehrte er mit einer abgebrochenen yardlangen Planke zurück, die er nachdenklich betrachtete. �Scheint Eiche zu sein, jedenfalls sehr hartes Holz, aber das wird Ferris besser wissen.� Die eine Amphore nahm er mit, Smoky die andere. Dann kehrten sie um, nachdem sie noch einen letzten, nachdenklichen und grüblerischen Blick auf das geheimnisvolle Wrack geworfen hatten. �Sir, du hast den Tonkrug, oder was immer das ist, vergessen�, erinnerte Smoky den

Seewolf. �Ich habe auch nicht mehr daran gedacht. Aber dort drüben steht er noch.� �Der bringt uns auch keine neuen Erkenntnisse�, sagte Hasard und sah zu dem Klumpen hinüber, der auf den Korallen stand. Er ging weiter, er wollte jetzt nicht noch einmal umkehren, doch dann blieb er stehen. Wie von einer inneren Stimme dazu aufgefordert, sah er sich den Klumpen noch einmal an. �Ich hole ihn�, sagte Carberry. Er stellte die Amphore und die abgebrochene Planke auf den steinharten Untergrund und grinste. �Dann hast du auch ein Andenken, Sir�, setzte er hinzu. Bevor der Seewolf noch etwas sagen konnte, lief Ed zurück, nahm den unansehnlichen Klumpen auf und brachte ihn Hasard. �Wenn man ihn von oben nach unten schüttelt, bewegt sich etwas darin�, stellte er fest. �Von Seite zu Seite vernimmt man nichts, nur mal ein leises Schaben.� �Ja, das habe ich vorhin auch schon bemerkt, aber ich glaubte, mir das nur einzubilden. An Bord werden. wir einmal nachsehen, was sich in dem Ding befindet.� Dabei steckte in diesem unansehnlichen Klumpen das ganze Geheimnis, aber das erfuhren sie erst später.

8. Ferris Tucker untersuchte mit fachmännischem Blick das Stück der abgebrochenen Planke, die der Profos ihm gab. �Eiche, was?� fragte der Profos. Ferris Tucker gab keine Antwort. Er zog sein Messer hervor und säbelte mühsam ein Stück davon ab, bis er eine frische Schnittstelle hatte. �Deine Eiche ist Kastanienholz�, sagte er. �Und zwar das Holz der Edelkastanie. Und nun darfst du dreimal raten, wer wohl das Schiff gebaut hat.� �Gib dich nur nicht so überheblich, du rothaariger Decksaffe�, sagte der Profos zu

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seinem besten Freund. �Wenn es wirklich Edelkastanie ist, wie du behauptest, dann können es nur die Dons gebaut haben. Oder glaubst du, das weiß ich nicht, was, wie?� �Klar, du weißt ja alles�, sagte Ferris ungerührt. �Also ein Spanier�, sagte Hasard. �Was mag den wohl so weit nach Süden verschlagen haben?� Darauf wußte niemand eine Antwort. Alle starrten die Planke an, als würde sie das Geheimnis preisgeben. Zumindest wußten sie jetzt, daß es ein Don war, denn vor rund hundert Jahren gab es keine englischen Schiffe aus Kastanienholz. Die Spanier hatten schon immer dieser Holzart beim Bau ihrer Schiffe den Vorzug gegeben, denn das Holz war hart und sehr fest und eignete sich vorzüglich zum Bootsbau. Hasard fiel wieder der Muschelklumpen ein. Er bückte sich und nahm das Ding noch einmal in die Hand. Als er mit dem Messer an den Muscheln herumkratzte, ließen sie sich nicht lösen, denn winzige Korallen hatten sich bereits hineingegraben und waren mit dem gebrannten Ton verwachsen. Er brauchte den Krug nicht als Andenken, aber seine Neugier war geweckt, und so hieb er ihn kurzentschlossen an den Großmast. Der Krug zersplitterte und gab sein Geheimnis preis. Ein seltsamer Gegenstand fiel an Deck, den alle neugierig ansahen. Fingerlange Holzleisten, manche noch etwas länger, verstreuten sich über die Planken. Die größten hatten doppelte Daumenbreite und paßten genau in die obere, nun zerbrochene Öffnung des Kruges. Hasard bückte sich und hob sie auf. Auf jedem der flachen Hölzchen befanden sich eckige Zeichen, die er erst nach und nach als eingeritzte Schrift erkannte. Erst wenn man sie in der richtigen Reihenfolge untereinander legte, ergab sich ein Sinn, und aus den Worten wurde eine Mitteilung.

Alle hatten sich um den Seewolf geschart, der noch immer die flachen Hölzchen sortierte, sie mal verschob und sie dann wieder zusammenlegte. Die Sprache hatte sich nicht sonderlich geändert, aber es waren doch einige Ausdrücke dabei, die man heute nicht mehr verwendete. �Beinahe hätten wir den Krug vergessen�, sagte Hasard. �Gut, daß du mich noch daran erinnert hast, Smoky. Das hier war ein Spanier, das steht jetzt einwandfrei fest, denn die Worte sind Spanisch, wenn auch schon älter. Aber wir können sie noch einwandfrei entziffern.� �Soll das etwa ein Logbuch sein?� fragte der Profos. �Warum haben die das denn so mühsam in Holz gekratzt und kein Pergament genommen?� Ferris Tucker war dem Profos noch den �rothaarigen Decksaffen� schuldig, den er kommentarlos geschluckt hatte. �Manche Leute�, sagte er bedächtig, �können nur vom Fockmast bis zum Großmast denken. Denken sie bis zum Besan, dann ist das von dem nußgroßen Gehirn schon zuviel verlangt, und es wird überfordert. Dann hört das Denken schlagartig auf und ihnen wird übel.� Er grinste niederträchtig. �Dir muß auch ganz schön übel sein, was?� Das hätte an Bord kein anderer zu Carberry zu sagen gewagt, ohne daß der Profos Blitz und Donner nach allen Seiten geschleudert hätte. Aber Ferris und er waren dicke Freunde, und obwohl das Narbengesicht Carberrys bald vor Wut platzte, beherrschte er sich dennoch. �Klar, weil sie keins hatten�, folgerte er blitzschnell. �Aber du Holzbohrer läßt einen ja nie ausreden und quasselst immer dazwischen, weil du alles besser weißt, du Klugscheißer.� �Streitet ihr euch jetzt über eure Gehirne�, fragte Hasard sanft, �oder wollen wir die Schrift entziffern?� �Das war nur Spaß, Sir�, sagte Ed grinsend. �Jetzt können wir uns ganz dem Logbuch widmen.�

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Hasard beugte sich noch tiefer auf das Deck hinunter und las laut vor, was auf den Hölzern eingeritzt war. �Im Jahre des Herrn, fünfzehn-hundertzehn. Wer immer dies finden möge, dem sei gesagt, daß dieses Riff die Welt am südlichen Ende beschließt. Es geht nicht mehr weiter, denn hier haust der Teufel in vielerlei Gestalt. Uns erschien er als hohnlachender Wind, dann als tödliche Woge, die uns auf dieses Riff warf. Kehret um, die ihr dies findet, sonst wird auch euer Schiff sinken, so wie das unsere jetzt untergeht. Uns bleibt nichts mehr als die Hoffnung gen West Land zu suchen, und so brechen wir nun auf, mit unserem letzten Boot, dem letzten Proviant, dem halbverfaulten Trinkwasser. Kehret schnell um, sputet euch, im Namen des Herrn, des Allmächtigen, der uns gesetzt hat ein Zeichen, auf daß der Teufel hier herrsche für ewiglich und alle Zeiten, und daß der Herr ihn lasse gewähren. Mit seiner Hilfe finden wir vielleicht den Weg zum Land. Gelobt sei Isabella von Kastilien!� �Die Unterschrift läßt sich nicht entziffern�, sagte Hasard. �Sie lautet so ähnlich wie Capitan Jesus de Magara. Das ist alles, was auf den Hölzern steht.� �Und das alles liegt schon achtzig Jahre zurück�, sagte der Profos bewegt. Hasard nickte. Sinnend war sein Blick auf die Aufzeichnungen eines verzweifelten Mannes gerichtet. �Achtzig Jahre�, sagte er laut. �Noch heute kennen wir nur einen Teil der Welt, aber wir wissen, daß sie rund ist, daß sie hier nicht aufhört und hier auch nicht der Teufel regiert.� Dan O'Flynn, der noch stark humpelte, nickte ebenfalls. �Es ist ihnen ähnlich ergangen wie uns, nur haben sie das nicht richtig begriffen. Ich bin sicher, daß sie mit ihrem Boot weiter nach Süden gefahren sind, und dann erst nach Westen. Einmal wird in diesem Riff ja auch eine passierbare Furt nach Westen sein.� �Sie können genauso gut gleich nach Westen gesegelt sein�, widersprach

Hasard. �Das Beiboot hat einen lächerlich geringen Tiefgang und ist beweglicher. Aber es gibt in deinen Überlegungen eine Spekulation, daß sie vielleicht hofften, ein anderes Schiff zu treffen, obwohl das absurd erscheint. Dennoch kann es sein, daß es sich so verhält, wie du sagst, daß sie eine breite Furt suchten, die auch große Schiffe benutzen können.� Er bückte sich und klaubte die Hölzchen zusammen. �Möglich, daß es Spuren von diesen Leuten gibt�, sagte er. �Es reizt mich, diese Spuren zu suchen, obwohl achtzig Jahre darüber vergangen sind. Leider geht aus den paar Worten nicht hervor, wie sie in diese Ecke gelangt sind, denn der Wind wird sie nicht monatelang vor sich her getrieben haben.� Er blickte dem Profos in die Augen, dann wanderte sein Blick weiter zu Ben Brighton, der nachdenklich auf seiner Unterlippe kaute. �Mit der Flut gehen wir ankerauf und segeln langsam weiter. Wir werden in diesem Schlauch solange segeln, bis wir eine Passage entdecken, die wir gefahrlos durchsegeln können. Doppelt besetzter Ausguck, zwei Mann zum Tiefeloten!� ordnete er an. Hasard wußte selbst, daß sich kaum noch Spuren dieser Leute finden lassen würden, es sei denn durch irgendeinen Zufall. Und wenn sie welche fanden, dann waren diese Leute längst tot und ihre Gebeine vermodert. Es reizte ihn jedoch ungemein, den Spuren dieser Spanier zu folgen, die jahrelang die Meere durchkreuzt hatten und nicht mehr wußten, wo sie sich befanden, und in längst überholten Vorstellungen dachten. Auch die anderen empfanden das gleiche wie der Seewolf. Wenn es irgendwie möglich war, dann wollten sie erfahren, ob die Leute irgendwo gestrandet waren. Zeit dazu hatten sie genug, denn der Seewolf wollte ja ohnehin versuchen, das sagenhafte Südland zu finden. Vielleicht, so dachte jeder, gab es irgendwo an Land ein paar Gräber oder

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andere Hinweise auf die Reise in die Vergangenheit. Etwas später ging die �Isabella� ankerauf.

* Vier Tage lang segelten sie durch den Schlauch, der mal breiter, dann wieder ganz eng wurde, mal tief war und wieder so flach, daß sie ankern mußten, um die Flut abzuwarten. Zweimal in diesen vier Tagen hatte die �Isabella� auch leichte Grundberührung gehabt, aber sie zog kein Wasser, sie war wie durch ein Wunder meist über langgestreckte Bänke geschrammt, die das Meer glatt geschliffen hatte. Der Kurs paßte sich dem Verlauf der Rinne an, aber er wich nie sonderlich weit von Süd ab. Der Wind blies fast gleichmäßig, die See blieb ebenfalls ruhig. Nur nachts, wenn sie ankerten, weil das Weitersegeln in der Finsternis zu gefährlich war, lagen sie zwischen den Riffen, lauschten der immerwährenden Brandung und schliefen nur schlecht, bis sie sich auch daran gewöhnten. Einige übernahmen bereits die Theorie des spanischen Kapitäns, daß dieses Riff tatsächlich die Welt zum Süden abschloß, denn es blieb ewig gleich groß und unüberwindlich. lieh. Dann, am Morgen des fünften Tages, entdeckte der Ausguck im Großmars eine Rinne pechschwarzen Wassers. Damit war die Passage nach Westen entdeckt. Hasard enterte selbst auf und überzeugte sich. �Ja, das ist die Passage�, sagte er zu Bob Grey, der Ausguck hatte. �Sie verläuft in südwestlicher Richtung, dann knickt sie sanft ab und läuft durch die Brandung hinaus. Aber durch die Brandung müssen wir hindurch, da hilft alles nichts.� �Das wird ein Höllentänzchen geben, Sir�, sagte Bob. �Wir haben schon Schlimmeres überstanden, das überstehen wir auch noch, und dann geht's auf Westkurs.�

Die Rinne wurde weit voraus breiter und dunkler. Von hier oben sah es wie eine riesige Verästelung aus. Der Schlauch bestand immer noch und lief fast geradeaus weiter, wo sich die Wasser teilten. Und doch war kein Ende des Riffs abzusehen. Die �Isabella� hätte in diesem Schlauch möglicherweise noch wochenlang segeln können. Auf dem Achterdeck zeigte Hasard mit der Hand voraus. �Die Stelle passieren wir nur mit schwacher Fahrt. Ich schätze sie auf etwa sechs Meilen�, sagte er zu Ben. �Wenn wir die Brandung hinter uns haben, segeln wir unter vollem Preß auf Backbordbug, und der Teufel soll mich holen, wenn wir da kein Land finden.� Auch vom Achterdeck aus war die Passage jetzt gut zu erkennen. �Ich bin gespannt�, erwiderte Ben, �ob die Spanier diese Rinne ebenfalls gefunden oder ob sie es schon vorher versucht haben. Wenn sich hier ein Schiff wirklich versegelt hat, würde es diese Chance sofort wahrnehmen, um auszubrechen. Aber ich glaube, das werden wir nie mehr erfahren.� �Warum so pessimistisch, Ben?� �Weil es eine zu lange Zeit ist, fast hundert Jahre.� �Achtzig�, verbesserte der Seewolf. �Das sind immerhin zwanzig Jahre Unterschied.� �Die bringen auch nichts mehr.� �Das kann man nie wissen.� Auf der �Isabella� wurden zwei Segel ins Gei gehängt, und auf dem Achterdeck hörten Hasard und Ben den Profos brüllen, der es wieder mal sehr eilig zu haben schien. Ganz hart liefen sie an einem steil aufragenden Riff vorbei, so dicht, daß man es fast mit der Hand greifen konnte. Hasard warf dem Rudergänger einen besorgten Blick zu, doch Pete Ballie nickte beruhigend, er hatte das Schiff fest in der Hand. �Ich bin heilfroh, wenn wir heraus sind, Sir�, sagte er. �Du glaubst gar nicht, wie viel Nerven mich diese Korallen kosten. In diesem verdammten Schlauch bin ich um zehn Jahre gealtert. Das segelt sich hier

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schlimmer als in einem Gefecht mit ständigen Manövern.� �Deine letzten Nerven wird dich die Brandung kosten, dann bist du zwanzig Jahre älter. Soll ich übernehmen?� �Das schaffe ich, Sir.� �Ja, das weiß ich�, sagte der Seewolf lachend. Der Kurs änderte sich, und noch einmal, als die �Isabella� den �Schlauch� verließ und in den anderen hineinsegelte, wurde es kritisch, denn die Strömung versetzte das Schiff hart nach Backbord. Wieder glitten sie haarscharf an messerscharfen Korallenwänden vorbei. Dann schwang das Achterschiff träge herum, und sie segelten südwestlichen Kurs und folgten der Rinne. Hier fiel die Korallenwand senkrecht steil in beängstigende Tiefen ab. Pechschwarz war es unter ihnen. Es sah aus, als hätte man hier eine tausend Yards hohe Mauer gezogen, die gerade bis zur Wasseroberfläche reichte. Dort wo die Passage endete, schäumte und kochte das Meer, lief die Brandung wie wild an das Riff, das jetzt auf einer Breite von etwa einer Kabellänge wie mit der Axt gespalten war. Dort vorn teilte sich auch die. Brandung, weil sie auf keinen Widerstand mehr traf. Dafür entstand ein irrsinniger Sog, und haushohe Brecher klatschten von zwei Seiten zur Mitte hin, genau zu jener Stelle, die sie durchsegeln mußten. Dennoch blieben die Gesichter sorglos, und die Männer verließen sich auf ihr Schiff und auf Pete Ballie, der mit unbewegtem Gesicht am Ruder stand und dessen große Pranken das Ruder umklammerten, als könne nichts und niemand es ihm aus der Hand reißen, schon gar nicht diese lächerliche Brandungswelle. �Ich möchte euch Rübenschweinen empfehlen, mal kurz unter Deck zu gehen�, sagte der Profos. �Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es gleich nasse Hosen. Und wehe, auch nur ein einziger Niedergang bleibt geöffnet!� �Ist das dein Ernst, Ed?� fragte Jeff Bowie.

Seine Frage ging unter im donnernden Brausen einer wütend gegen das Riff anrollenden Brandung, die mit Millionen wirbelnder Arme um sich schlug und es doch nicht schaffte, das Riff zu zerschmettern. Bei der �Isabella� würde sie dagegen leichtes Spiel haben, so sah es jedenfalls aus. Des Profos Empfehlung wurde nur sehr zögernd befolgt, denn immerhin war es ja kein Befehl, aber als er die Männer dann mit seinem ganz speziellen Blick musterte und dabei so freundlich dreinblickte wie ein hungriger Fleischerhund, da zogen sie es doch vor, wenigstens auf das Quarterdeck zu gehen. Ein paar andere verholten aufs Achterdeck und sahen in das wilde Toben der Brandung. Ferris Tucker und der Profos vergewisserten sich ein letztes Mal, ob alles seefest verzurrt und gesichert war. Aber das hatten sie schon vorher getan, und es gab auch nichts auszusetzen. Der Höllentanz konnte beginnen. Carberry selbst hatte sich auf die oberste Stufe des Niedergangs gesetzt, sich mit den Beinen abgestützt und einen Arm in das Geländer verhakt. Dann gähnte er mit weit offenem Mund und sah dem Tosen in aller Gelassenheit zu. �Du hast vielleicht Nerven, Mann�, sagte Matt Davies. �Hockst da wie in der Kneipe beim alten Plymson!� �Ich verlaß mich auf den lieben Gott und unsere alte Lady. Zusammen schaffen sie das, du Stint�, sagte Ed gemütlich. Von nun an verstand keiner mehr ein Wort, denn tausend riesige Wasserfälle begannen ihr unheimliches Getöse und Rauschen. Die �Isabella� geriet in Fahrt, immer schneller, sie geriet in Braß, wie Carberry das nannte, denn die Unterläufer der Brandung packten sie und zogen sie vorwärts. Sie bereitete sich auf die Hürde vor und begann immer schneller zu rennen. �Gleich hält sie an und überlegt es sich!� schrie Ed so laut er konnte. �In der Beziehung ist sie wie ein störrischer Gaul.�

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Ferris Tucker nickte zustimmend. O ja, sie kannten ihre alte Tante, und sie wußten, wie sie sich in der Brandung benahm. Sie hatte eine verdammt empfindsame Seele, und es verletzte ihren Stolz ganz empfindlich, wenn die Brandung ihr ihren Willen aufzwingen wollte. Es trat das ein, was Carberry soeben prophezeit hatte: Die �Isabella� bockte plötzlich. Es gab einen Ruck, als bleibe sie auf der Stelle stehen, und da sie eine Seele hatte, mußte sie das Hindernis erst in Augenschein nehmen. Daraufhin lief sie etwas nach Backbord aus dem Ruder und galoppierte weiter, mitten hindurch, hinein in den breiten Keil der Korallen. Ihr Bug bäumte sich steil auf, sie krängte hart zur Seite und schluckte den ersten Brecher, der donnernd am Galionsdeck explodierte. Der zweite Brecher überschwemmte das Deck, aber das waren nur die Brandungsausläufer. Dann befand sie sich inmitten einer kochenden Hölle, bäumte sich auf, krängte hart über, wurde zurückgeworfen und wollte sich mit aller Gewalt in den Grund bohren. Urweltliche Geräusche klangen auf. Das wilde Zerstäuben von Wassermassen, das grollende Donnern der Grundsee, der harte Schlag auf das Riff und das Peitschen und Singen, wenn das Wasser schäumend und brüllend wie ein Untier sich zurückzog, einen gewaltigen Sog mit sich reißend. Es wurde ein Höllentänzchen,- und das Wasser schlug fauchend und brüllend bis zum Achterkastell hoch und überflutete es. Carberry hielt die Luft an und wartete ab. Wasser troff aus seinen Haaren, ein neuer Brecher klatschte hoch, schäumte wild zischend den Niedergang hoch und ergoß sich über Deck. Die Masten schwangen hart, in den Pardunen pfiff und jaulte es, und als jeder glaubte, jetzt stünde der endgültige Untergang bevor, herrschte plötzlich geisterhafte Stille, und die _ �Isabella� glitt

in ruhigem Wasser so leicht dahin, als wäre nichts geschehen. Der Profos spie einen Strahl Wasser aus und erhob sich klatschnaß. �Na also�, meinte er in seiner unerschütterlichen Ruhe und sah die anderen an. �Und warum seid ihr Affenärsche noch nicht auf den Stationen, was, wie? Wir haben Nordwind und steuern jetzt Westkurs. Muß ich euch triefäugigen Küchenwanzen erst noch klarieren, daß wir dann mit Steuerbordhalsen auf Backbord segeln? Hopp, auf, ihr Tranfässer, es gibt Arbeit.� �Man wird ja erst wohl noch das Wasser ausspucken dürfen�, sagte Luke Morgan empört. �Ich habe mindestens ein halbes Faß voll davon geschluckt.� �Du kannst ja auch den Hals nie voll genug kriegen!� Hinter ihnen blieb die zeitlose Hölle zurück, die ewige Brandung, die schon seit mehr als tausend Jahren gegen das Riff donnerte, und die in den nächsten tausend Jahren immer noch dagegen anrennen würde. Alle Segel wurden gesetzt, und hart auf Backbordbug liegend jagte die �Isabella� nach Westen.

9. Bereits am nächsten Tag wurde Land gesichtet. Der Abstand vom Großen Riff bis zur Küste betrug etwa siebzig Meilen, an anderen Stellen war es wahrscheinlich noch etwas mehr, und der Seewolf trug die Entfernungen peinlich genau in seine ganz spezielle Karte ein. Aber das Land bestand aus einer Inselkette, und erst viel weiter hinten am Horizont lag anscheinend festes Land. Hasard fragte sich, ob es tatsächlich das sagenhafte Südland war, der große Kontinent, oder nicht doch nur eine größere Insel. Aber das mußte die Zeit mit sich bringen, wenn sie an dem Land entlangsegelten. Jedenfalls hatten sie Land entdeckt. Demnach hatten es die Spanier

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wahrscheinlich auch gefunden und sich auf irgendeiner der vielen Inseln niedergelassen. �Was nun?� fragte Ben. �Wir können die Inseln doch unmöglich alle absuchen. Das würde ja Ewigkeiten dauern.� �Die kleineren Inseln können wir ausklammern und ebenfalls jene, auf denen es kein Trinkwasser gibt, denn dort würde sich kein vernünftiger Mensch niederlassen.� �Und wenn sie zum Festland gepullt oder gesegelt sind?� �Dann finden wir ihre Spuren ohnehin nicht mehr, aber ich glaube, daß sie sich eine Insel auserkoren haben, denn das Festland, wenn es welches gibt, besteht aus typischen Regenwäldern. Da kann es auch Eingeborene geben. Die Inseln dagegen sind auf den ersten Blick jedenfalls nicht bewohnt. Ich gehe nur davon aus, wie ich selbst in einer derartigen Situation gehandelt hätte.� �Du hättest dir eine Insel gesucht?� Hasard nickte. �Sie sehen freundlicher aus als das andere Land dahinter. Ja, ich wäre auf einer Insel gelandet, vorausgesetzt, ich fände dort alles zum Leben Erforderliche vor.� �Ja, genauso werden sie auch gedacht haben�, murmelte Ben. Zwei kleinere Inseln wurden passiert, und der Seewolf sah sie sich durch das Spektiv an. Dann schüttelte er verneinend den Kopf und ließ weitersegeln. Die �Isabella� änderte den Kurs und ging wieder auf hundertachtzig Grad, bis sie platt vor dem Wind lief. Noch eine weitere Insel wurde angelaufen, aber es gab auf ihr kein Trinkwasser, und wieder lichtete die �Isabella� den Anker und lief auf Südkurs weiter. An diesem Tag fand sich nichts, das Aufschluß über das Schicksal der vor achtzig Jahren gestrandeten Spanier gegeben hätte, und auch der zweite Tag verlief ereignislos. Noch eine weitere Insel wurde gerundet, und noch immer fand sich nicht das geringste Anzeichen, daß hier einmal

Menschen gehaust hatten, wenn es auch schon eine Weile her war. �Ich glaube, ich habe mich da in eine fixe Idee hineingesteigert�, sagte der Seewolf. �Wir legen noch einen Tag zu. Wenn wir dann auch keine Spuren finden, segeln wir zur Küste hinüber und laufen daran entlang. In ein paar Tagen brauchen wir ohnehin wieder frisches Wasser.� �Du willst aufgeben?� fragte Ben erstaunt. Der Seewolf zuckte mit den Schultern, sah wieder durch das Spektiv, setzte es ab und schob es zusammen. �Was soll ich sonst tun, wenn wir nichts finden? Du hast selbst gesagt, daß es Ewigkeiten dauern kann. Und je weiter wir nach Süden laufen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, irgendwelche Hinweise auf diese Leute zu finden.� �Ja, das ist richtig.�

* Am nächsten Morgen ging ein kurzer, heftiger Regenschauer nieder. Gleich danach schien strahlend hell die Sonne, die Luft wurde brühwarm und feucht. �Jene große Insel voraus runden wir noch�, sagte Hasard. Er hatte wieder das Spektiv am Auge und blickte hindurch. Die Insel wies eine endlos lange Bucht auf, ein sanft geschwungener Bogen mit einem weiten Strand erschien in Hasards Blickfeld. Das Ufer wurde von Kasuarinen und merkwürdig aussehenden Bäumen, die entfernt an große Flaschen erinnerten, gesäumt. Im Hintergrund stiegen sanfte Hügel an. Diese Hügel wurden von einem Berg gekrönt, der etwa vierhundert Yards hoch sein mochte. Auf der sanft abfallenden Ostseite wuchsen Wälder. �Das ist bisher die schönste von allen�, sagte Hasard nachdenklich. �Wenn es dort kein Trinkwasser gibt, kann man trotzdem existieren, denn es scheint dort mindestens alle zwei Tage zu regnen.� Immer noch suchte er den Strand ab, der menschenleer, einsam und verlassen in

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dem hellen Sonnenlicht dalag wie verträumt. �Sir, auf dem Berg steht etwas!� schrie der Moses Bill aus seiner luftigen Höhe. Dem Berg hatte der Seewolf keine sonderliche Beachtung geschenkt, aber jetzt konzentrierte sich sein Blick darauf. Ja, auf dem Berg stand etwas. Wie ein langer Pfahl sah es aus, ein Pfahl von mindestens vier Yards Höhe. Die Natur hatte ihn nicht geschaffen, soviel erkannte der Seewolf durch das Spektiv. Folglich mußten Menschen ihn dort aufgestellt haben, vielleicht als Dank für ihre Rettung. �Anlaufen, ankern!� sagte er zu Pete Ballie, der wieder am Ruder stand. �Dort in die Bucht hinein, wo die dunkelgrünen Bäume sind.� �Aye, aye, Sir!� An Bord begann jeder vor Neugier zu fiebern. Sollten sie tatsächlich auf die Spuren der längst toten Spanier gestoßen sein? Oder war dieses auf dem Berg errichtete Gebilde nur ein Götzenbild oder ein Bergwächter, wie sie ihn schon bei vielen Eingeborenen gesehen hatten? �Das Ding ist aus Steinen errichtet, daran gibt es keinen Zweifel�, sagte Hasard. Ungeduldig wartete er, bis die �Isabella� in die Bucht lief, die Segel weggenommen wurden und der Anker Grund faßte. Er brauchte nicht zu sagen, daß das Boot abgefiert werden sollte, denn das tat der Profos schon, noch während das Schiff an der Ankertrosse schwoite. �Wer darf alles mit an Land, Sir?� fragte der Profos gierig. �Jeder darf mit, jeder der will. Auf etliche Meilen ist kein Lebewesen in Sicht, da genügen zwei Mann als Wache. Und einen Überfall haben wir nicht zu befürchten.� Big Old Shane, der alte O'Flynn und Will Thorne, der Segelmacher, blieben freiwillig zurück, aber es stand ihnen frei, sich die Insel später auch einmal anzusehen. Die anderen legten sofort ab, begierig darauf, auf irgendwelche Relikte zu stoßen. Als das Boot knirschend auf den hellen Sand lief, sprangen die Seewölfe gleich ins

Wasser und rannten ans Land. Auch die Zwillinge flitzten los, als wären sie vom Affen gebissen, und der Seewolf mußte seine Söhne erst daran erinnern, daß sie sich auf einer Insel befanden, von der sie nicht das geringste wußten. In der Bucht fand sich kein Hinweis auf frühere Bewohner. Alles war unheimlich still, bis auf ein paar aufgescheuchte Vögel, die sich erhoben hatten und nun in großer Höhe kreisten. Hasard ließ zwei Gruppen bilden. Eine, die die Bucht bis zum Süden hin absuchen sollte, und eine die den Berg erklomm, auf dem der Pfahl stand, der von hier aus durch Bäume verdeckt wurde. Der Aufstieg dauerte nicht lange. Der Hügel wurde überwunden, und die Gruppe unter Hasard erklomm den Berg. Die Neugier trieb sie schnell voran. Etwas später stand Hasard vor dem Relikt und betrachtete es erstaunt. Es war eine steinerne Säule, aus großen, leicht behauenen Steinen errichtet und aufgetürmt. Sie reichte tief in den Boden. In die Steine waren mühsam Schriftzeichen gemeißelt worden, die sich nur sehr schwer entziffern ließen. �Im Jahre fünfzehnhundert�, buchstabierte Hasard mühsam. �Dem Gott zu Ehren und zu Dank, der uns rettete.� Darunter waren die Namen von acht Spaniern eingeritzt. Auf der anderen Seite befanden sich noch mehr. Insgesamt waren es siebzehn Leute, die hier gelandet waren. Die Männer sahen sich stumm an, und im Geist versuchte jeder nachzuvollziehen, wie es den Leuten wohl ergangen war, und wie lange sie hier gehaust hatten. �Da stehen ja auch Frauennamen�, sagte Ben verblüfft. �Tatsächlich, die hatten Frauen an Bord�, sagte Carberry. �Carmen Maria de Margara�, las er vor. �Ines de Margara, Arabella de Margara. Wie ist das nur möglich?� Der Seewolf hatte auch dafür eine Erklärung. �Der Kapitän hieß doch so�, erinnerte er sie. �Und der hatte seine Familie an Bord, wie das mitunter üblich ist. Der erste Name

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steht vermutlich für seine Frau, die beiden anderen sind die Namen seiner Töchter.� Eine Zeitlang herrschte tiefes Schweigen. Das Schicksal dieser unbekannten Spanier rührte sie. Nachdem sie die errichtete Säule lange Zeit schweigend angestarrt hatten, suchten sie weiter. Sie stießen bald wieder auf Relikte. Carberry entdeckte eine Lichtung, nicht weit entfernt von der Steinsäule, und an diese Lichtung schloß sich eine felsige Wand an. Rechts und links standen Bäume, die Lichtung war fraglos von Menschen gerodet worden. �Eine Höhle�, sagte der Profos atemlos. �Und weiter dahinten ist eine weitere in dem Felsen.� �Künstlich geschaffen�, sagte Hasard. �Die haben sie aus dem Felsen herausgehauen.� �Womit denn nur?� fragte Ed. �Mit dem Werkzeug, das sie mitgebracht hatten. Auf dem versunkenen Schiff gab es ja nichts mehr. Vielleicht haben sie das alles nach und nach über die große Entfernung herangeschafft. Das muß eine unvorstellbare Plackerei gewesen sein.� Der Eingang zu der ersten Höhle war so niedrig, daß man gebückt hindurch treten mußte. Dem Seewolf folgten schweigend die anderen, als er die dämmerige Höhle betrat. Seine Augen gewöhnten sich schnell an das Dämmerlicht, und er stieß einen überraschten Pfiff aus. �Seht euch das an�, sagte er. Es war ein großer Raum, über dem düsteres Schweigen lag - und der Hauch einer längst vergangenen Zeit. Steinerne Bänke und Tische gab es, und in die Wände waren kojenähnliche Löcher geschlagen worden. Das alles hatten sie mühsam und mit unendlicher Geduld aus dem Felsen gekratzt, gestaltet und geformt. Aber sie hatten Zeit gehabt, Zeit wie Sand am Meer, und in den Jahren ihres Hier seins das Beste daraus gemacht, was sich in ihrer Situation überhaupt tun ließ. Den Abschluß der Höhle bildete ein aus Steinen zusammengesetzter Herd mit einem Abzug, der nach links durch den

Felsen gebohrt worden war. Die Wände waren pechschwarz vom längst verwehten Rauch. Alles, was hier geschehen war, ließ sich ziemlich genau rekonstruieren. Es gehörte nicht einmal Phantasie dazu, sich alles genau vorzustellen. Auch das Besteck fand sich noch. Es gab Zinnteller, Krüge und Amphoren. Die Mucks, die auf einem Felsensims standen, waren von Hand hergestellt worden und über dem Feuer gebrannt. �Das alles sieht aus, als wäre es erst vor kurzer Zeit verlassen worden�, sagte Ben andächtig. Hasard nickte. �Ich habe gerade nachgerechnet. Vor achtzig Jahren sind sie hier gelandet. Nehmen wir an, daß eine der Kapitänstöchter so alt war wie Philip oder Hasard, also zehn Jahre. Wenn sie ziemlich alt geworden ist, dann kann sie noch nicht lange tot sein.� Es war ihnen allen, als schwebe unsichtbar etwas durch den Raum. Ja, sehr lange konnte der letzte Spanier noch nicht tot sein, vorausgesetzt, er war an Altersschwäche gestorben und nicht an einer Krankheit zugrunde gegangen. Ganz besonders traf das auf die Töchter zu, wenn man ein kindliches Alter voraussetzte. �Sie hätten sich vermehren können�, sagte Ben in die Stille hinein. �Es hätte ohne weiteres noch eine neue Generation geben können, und auch die könnte sich wieder fortpflanzen.� �Wer sagt denn, daß es nicht doch noch welche gibt?� wandte Carberry ein. �Bei unserer Ankunft sind sie geflüchtet oder haben sich versteckt, weil andere Menschen nur noch in den Erzählungen der Alten existieren.� Niemand sprach, aber die meisten sahen sich scheu um. Zum ersten Male wurde ihnen in aller Deutlichkeit bewußt, daß auf diese Art und Weise ein neues Volk entstehen konnte. Und sie begriffen langsam, wie manche Kontinente bevölkert wurden, wie die Menschen sich änderten; wie andere Sitten und Gebräuche

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aufkamen und daß das alles mitunter nur auf ein einfaches Unglück zurückzuführen war. Nach einer andächtigen Minute totaler Schweigsamkeit gingen sie zu der anderen Höhle hinüber. Auch hier sah es so aus, als wäre sie vor noch gar nicht langer Zeit verlassen worden. Die spärlichen Gegenstände befanden sich in einwandfreiem Zustand. Diese in den Fels gehauene Höhle ähnelte der anderen bis auf ein paar Kleinigkeiten. Die Zwillinge des Seewolfs brachten eine andere Neuigkeit. Sie waren herumgestromert und hatten etwas entdeckt. Die Seewölfe folgten ihnen. Dort, wo der Wald begann, befand sich ein schmaler Pfad. Auch hier waren Bäume gefällt worden. Der Pfad lief etwa zweihundert Yards in den Wald hinein, bis zu einer weiteren Lichtung, auf der kleine steinerne Kreuze standen. �Ein Friedhof�, sagte Ed. Unkraut hatte die Gräber überwuchert, aber auf jedem stand ein aus Steinen errichtetes Kreuz, und darin gemeißelt war ein Name. Hinter den Namen stand das Todesjahr, und hier erfuhr der Seewolf mehr über die Leute des versunkenen Schiffes. Im selben Jahr, also fünfzehnhundertzehn, war der Kapitän des Schiffes gestorben. Ein Jahr später war seine Frau gefolgt. Es stand nicht dabei, woran die Leute gestorben waren. Das Datum ihres Todes bezog sich immer nur auf das Jahr. Der nächste folgte den anderen erst sieben Jahre später, und dann blieb Hasard wie vom Donner gerührt stehen. �Geboren und gestorben�, las er vor, �Juanita, Tochter der Ines de Margara. Ines de Margara zwei Tage später.� �Also haben sie sich doch fortgepflanzt�, sagte er atemlos. �Aber das Kind starb � und gleich darauf die Mutter!� Fiebernd vor Aufregung las er die Namen. In verhältnismäßig langen Abständen waren die Männer der Besatzung

gestorben, aber merkwürdigerweise fehlten ein paar Namen, wenn man sie mit denen auf der Säule verglich. Eine der Töchter lag nirgendwo begraben, jedenfalls nicht hier, sonst hätte er den Namen gefunden. Das blieb allen ein Rätsel. �Wir durchkämmen die ganze Insel�, sagte Hasard rauh. �Punkt für Punkt suchen wir sie ab, und es soll mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht doch noch eine Überraschung erleben.� Schweigsam und in sich gekehrt standen sie da. Sie fanden noch viele andere Überbleibsel.

* Drei Tage lang wurde die Insel auf den Kopf gestellt und systematisch abgesucht. Die gesamte Crew beteiligte sich daran. Am dritten Tag gab es keine Stelle mehr, die sie nicht kannten. Überall waren sie auf Zeugen der Vergangenheit gestoßen, doch ganz hatten sie das Rätsel nicht gelöst. Jedenfalls lebte auf dieser Insel niemand mehr, das war eine feststehende Tatsache. Es fehlten drei Gräber, es fehlten die Namen der Tochter und die Namen zweier Besatzungsmitglieder, als hätte sie der Wind verweht. Hasard grübelte darüber nach, aber alles was blieb, waren nur Vermutungen und Spekulationen. Sie konnten die Insel verlassen haben, sie konnten im Meer umgekommen sein, oder sie waren zum Festland gefahren, das ließ sich nicht herausfinden. Am vierten Tag wurde die Suche abgebrochen. Es hatte sich kein Skelett gefunden, nicht der geringste Hinweis auf den Verbleib der restlichen Leute. Der Seewolf, der das letzte Rätsel nicht lösen konnte, mußte sich mit Theorien abfinden und begnügen. Ein letzter, abschied nehmender Blick galt dem Bergauf dem die Toten ruhten, deren Schicksal sie alle berührte. Hier waren die Lebenden, und die Reise ging weiter, wie das Leben auch.

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Vielleicht, irgendwann einmal, würde sich auch dieses Rätsel von selbst lösen, und sie fanden eine Erklärung. Der Anker wurde gehievt, die Segel gesetzt. Langsam nahm die �Isabella� Fahrt auf und ging wieder auf Südkurs.

Aber noch lange sahen sie der Insel nach, als sie langsam kleiner wurde und im Dunst des Morgens am Horizont zurückblieb. Dann war sie nur noch ein konturloser Schemen, ein Schemen, der noch ein Rätsel barg.

E N D E