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Der Tempel der vergessen Helden

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Thorin Band 8

Tempel der vergessenen Helden von Al Wallon

Auf der Suche nach dem Götterschwert -

ein Weg voller Gefahren...

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Die Schlacht zwischen Licht und Finsternis ist geschlagen - und die dunklen Kräfte haben den Sieg errungen. Mit Hilfe der geheimnisvollen Skirr, unfassbaren Wesen von jenseits der Flammenbarriere, ist es ihnen gelungen, die letzte Schlacht für sich zu entscheiden.

Selbst Thorin, der Nordlandwolf, konnte den Untergang der Welt nicht mehr verhindern. Zwar gelang es ihm noch, Orcon Drac, den Ritter der Finsternis, zu besiegen - aber dann griffen die spinnenähnli-chen Skirr ein und veränderten alles.

Der Kämpfer des Lichts ist nun gefangen in einer schillernden Bla-se aus Licht und Energie und sieht nicht mehr, wie die Welt der Men-schen einen schrecklichen Tod stirbt. Thorins schläft sehr tief - und er träumt von einer Zeit, als er selbst noch nichts von seiner eigentlichen Bestimmung wusste. Damals war er noch auf der Suche nach Stern-feuer, dem sagenumwobenen Götterschwert. Und seine Suche führte ihn in den TEMPEL DER VERGESSENEN HELDEN...

*

Prolog Gewaltige Rauchsäulen brennender Städte stiegen hoch in den Himmel empor. Schreie gequälter und sterbender Menschen verhallten unge-hört, als die Mächte des Lichts auf der Erde wüteten und mit Hilfe der Skirr eine Herrschaft des Grauens errichteten. Wo einst blühende, von Leben erfüllte Landschaften gewesen waren, gab es jetzt nur noch Wüste oder verbrannte Erde. Mächtige Königreiche und Fürstentümer waren untergegangen und ihre Herrscher längst gefallen in einer grau-samen Schlacht, deren Ausgang in dem Augenblick bereits festgestan-den hatte, als die grausamen Skirr die Flammenbarriere durchbrachen und ihre Stahlburgen auf der Welt der Menschen manifestierten.

Selbst der FÄHRMANN, der Reisende durch Raum und Zeit, wand-te sich ab, als die letzten Schreie der sterbenden Welt allmählich ver-stummten - und er griff auch nicht mehr ein, wie er es beim ersten mal getan hatte und dabei den Göttern des Lichts deren Vergänglich-keit vor Augen gehalten hatte. Er verschwand wieder im Strom aus

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Raum und Zeit - und niemand konnte sagen, wann er wieder an die-sen Ort zurückkehren würde - vielleicht niemals wieder...

Die Götter des Lichts waren gefangen von ihren finsteren Gegnern - an einem Ort, der sicherer war als jeder Kerker und jedes Gefängnis. Von dort würden sie sich niemals mehr aus eigener Kraft befreien kön-nen, denn der einzige, der dieses Schicksal noch hätte abändern kön-nen, war selbst gefangen - in einer Blase aus Licht und Energie.

Thorin hatte von dem Kampf mit Orcon Drac selbst schwere Ver-letzungen davongetragen - aber diese Wunden wurden von den un-fassbaren Energien wieder geheilt.

Aber das nahm der Nordlandwolf nicht wahr, denn seine Sinne waren gefangen in wirren Träumen und Phantasien, die ihn nicht mehr erkennen ließen, wie sich die Welt außerhalb der Energieblase schreck-lich veränderte. Er sah weder den FÄHRMANN noch die Götter des Lichts, die mit der Barke ganz langsam an ihm vorbeizogen und er hörte auch nicht das Stöhnen der Götter, als ihnen durch Thorins Schicksal ihre eigene Niederlage so richtig bewusst wurde.

Thorins Gedanken drifteten ab, tauchten tief ein in Erinnerungen an eine Zeit, als er die Zusammenhänge noch nicht erkannt hatte, sondern nur ein junger mutiger Krieger gewesen war, den es nach Ruhm und vielen Abenteuern dürstete. Deshalb hatte er die fernen Eisländer des Nordens verlassen und war nach Süden gezogen. Mit reicher Beute wollte er dann wieder in seine Heimat zurückkehren.

Damals hatte er aber noch nicht ahnen können, dass sein Weg schon von Anfang an vorbestimmt war - von Göttern, die jeden seiner Schritte schon seit vielen Jahren verfolgten. Thorin dachte aber nur an Kampf und Ruhm - und als er zum ersten mal von der Legende des Götterschwertes Sternfeuer hörte, da wusste er, dass er so lange nicht ruhen würde, bis er diese sagenumwobene Waffe in seinen Händen hielt. Dafür würde er sämtliche Gefahren auf sich nehmen.

Während die geheimnisvollen Kräfte der Energieblase Thorins Körper heilten und am Leben erhielten, wurde die Vergangenheit wie-der lebendig vor seinen Augen und seine Sinne tauchten ein in eine damals noch intakte Welt - in eine Welt, die weder den FÄHRMANN noch die Skirr kannte. Es war eine junge, aber auch wilde und unge-

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zügelte Welt - und für einen entschlossenen Krieger gab es immer Möglichkeiten, Ruhm und viel Beute erringen zu können...

*

Rauchgeschwängerte Luft schlug Thorin entgegen, als er die Tür der kleinen Spelunke in der Nähe des Hafens aufstieß. Stimmengewirr in vielerlei Dialekten brandete ihm entgegen. Thorin sah die fleckigen Tische, an denen finstere Gestalten hockten und die Köpfe zusammen-steckten, während grell geschminkte Mädchen hin- und hereilten und berauschende Getränke in irdenen Krügen brachten. Ab und zu kicher-te eine der Schönen auf, wenn ein bärbeißiger Seemann sie zu fassen bekam und dabei laut grölte.

Thorin stand im Türrahmen und nahm das Geschehen vor seinen Augen mit einem Blick in sich auf. Er registrierte den Betrunkenen, der neben dem brennenden Kaminfeuer seinen Rausch ausschlief und sei-nen wachen Augen entging ebenfalls nicht der Trupp Söldner. Die Männer in den schimmernden Brustpanzern und den struppigen Bärten saßen an einem Ecktisch und schütteten den Wein einfach in sich hin-ein.

Die Hafenstadt Gara war eine Ansiedlung mit eigenen Gesetzen. Thorin hatte davon gehört, dass es vor allen Dingen nachts in diesem Viertel recht turbulent zugehen sollte. Hier war man besser beraten, wenn man ein scharfes Schwert oder eine blitzende Dolchklinge mit sich führte - denn Diebe und Mörder gab es hier genug. Für eine Handvoll Kupfermünzen würden sie bedenkenlos einem Opfer die Keh-le durchschneiden. Deshalb war große Vorsicht geboten...

»Komm herein, Fremder!«, riss Thorin in diesem Moment eine hel-le und zugleich verheißungsvoll klingende Stimme aus seinen Gedan-ken. Thorin drehte sich um und blickte in die mandelförmigen Augen eines Mädchens mit pechschwarzen Haaren. Sie musste Thorin wohl gleich beim Eintreten bemerkt haben und schien sich nun für ihn zu interessieren. »Hier in Piros Taverne gibt es alles, was das Herz eines Mannes höher schlagen lässt...« Ihr kesser Augenaufschlag sagte Tho-rin, dass sie ganz sicher nicht abgeneigt war, sich mit ihm einzulassen,

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wenn er das wollte. Aber der Nordlandwolf mochte die aufdringliche Art des Mädchens nicht. Deshalb beachtete er sie gar nicht weiter, sondern bahnte sich einen Weg durch die Spelunke, bis er einen Platz in der hinteren Ecke erreicht hatte, wo er sich dann auf einem wackli-gen Stuhl niederließ.

Er verlangte mit lauter Stimme nach einem Krug Wein und wäh-rend er auf das kühle Getränk wartete, beobachtete er aus den Au-genwinkeln seine nähere Umgebung. Insbesondere die Söldner ließ er nicht aus den Augen, denn die Kerle waren bis an die Zähne bewaffnet und sahen ganz so aus, als wenn man sich vor ihnen fürchten musste. Aber keiner der wilden Gesellen beachtete den blonden Krieger. Statt-dessen soffen sie weiterhin, was das Zeug hielt.

»Hier ist dein Wein, Krieger«, sagte eines der Mädchen und stellte den Krug vor ihm auf den Tisch. »Du bist fremd in Gara? Einen wie dich habe ich hier noch nie gesehen. Von wo kommst du?«

Thorin suchte in seinem Bündel nach einigen Kupfermünzen, um die Zeche zu bezahlen. Auf die neugierige Frage des Mädchens ging er erst gar nicht ein.

»Nimm das Geld und lass mich in Ruhe«, sagte er in einem Ton-fall, der das Mädchen zusammenzucken ließ. Sie erkannte jetzt, dass der Fremde allein sein wollte und tat, was er gesagt hatte. Sie strich das Geld hastig ein und kümmerte sich dann wieder um die anderen Gäste.

»So eine Abfuhr ist sie nicht gewohnt«, sagte auf einmal eine la-chende Stimme vom Nachbartisch. »Aber es geschieht ihr ganz recht.«

Thorin drehte sich um und sah einen alten, weißbärtigen Mann, dessen linkes Auge milchig trüb war und dennoch im Schein der fla-ckernden Öllampe funkelte wie ein Juwel.

»Verzeih, wenn ich dich jetzt störe«, fuhr der Alte nun fort. »Aber es geschieht nicht oft, dass ein Krieger wie du kein Interesse an den Mädchen hier hat...«

»Dirnen sind etwas für die, die sonst keine Frauen bekommen«, antwortete Thorin und deutete dem Alten gleichzeitig mit einer kurzen Geste an, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Daraufhin erhob sich der

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Weißhaarige mühsam und musterte die hünenhafte Gewalt des blon-den Kriegers von Kopf bis Fuß.

»Ich kann nicht mehr gut sehen«, murmelte der Alte, während er sich zu Thorin setzte. »Aber ich höre an deiner Stimme, dass du von weit her kommst. Dein Dialekt ist rau und kehlig. Er klingt wie die Sprache der Völker, die hoch oben im Norden leben. Stammst du viel-leicht aus den Eisländern?«

Thorin nickte stumm und beschloss, sein Schweigen zu brechen, denn der Alte schien sich recht gut auszukeimen. Vielleicht konnte er auf diese Weise etwas mehr über die Stadt und ihre Bewohner erfah-ren. Als Fremder musste er immer sehr vorsichtig in der Wahl seiner Worte sein. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass er dem halbblinden Mann vertrauen konnte.

»Du hast recht, Alter«, erwiderte er und griff gleichzeitig nach dem Weinkrug, nahm einen tiefen Schluck. »Aber ich will mich ein wenig in der Welt umsehen. Fremde Länder und vielleicht das eine oder andere Abenteuer...«

»Du bist jung und stark«, nickte der Alte. »Du hast das ganze Le-ben noch vor dir und bestimmt warten noch eine Menge Abenteuer auf dich. Willst du womöglich auch über das Große Salzmeer und auf dem dunklen Kontinent nach Sternfeuer suchen?«

»Sternfeuer?« Thorin blickte jetzt erstaunt zu dem Alten. »Was meinst du damit?«

»Ah«, lächelte der Alte. »Du kommst tatsächlich von weit her, dass du noch nichts von der sagenumwobenen Götterwaffe gehört hast. In Gara kennt jeder diese Geschichte - aber du bist nicht von hier und deshalb will ich sie dir erzählen. Falls du sie hören willst...« Er sah, wie Thorin nickte und fuhr deshalb rasch fort.

»Sternfeuer ist ein Schwert mit magischen Kräften. Die Götter des Lichts gaben es einst einem Mann namens Ramarkan, um die Welt von den Dämonen der Dunkelheit zu befreien. Aber Ramarkan erwies sich dieser Ehre nicht würdig und missbrauchte das Schwert der Götter für seine eigenen Ziele. Daraufhin zog er sich den Zorn der Götter zu und dieser Zorn richtete sich gegen all diejenigen, die das Unheil mit he-raufbeschworen hatten. Die Götter griffen ein und vernichteten Ra-

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markans Heimat. Eine Pest raffte alles Leben hinweg und jetzt gibt es dort nur noch eine große Wüste. Das Götterschwert Sternfeuer aber befindet sich an einem sicheren Ort tief im unbekannten Dschungel. Noh'nym, die vergessene Stadt, ist dieser Ort - und die grausame Göt-tin Ishira wacht mit ihren finsteren Horden über Sternfeuer. Dennoch haben viele Helden seitdem versucht, Sternfeuer zu finden. Ihre Na-men sind schon vergessen - aber wer das Schwert erringen kann, der wird eines Tages die Welt von den dunklen Mächten befreien kön-nen...«

Fasziniert lauschte Thorin den Worten des alten Mannes. Das war eine Geschichte in der Art, wie man sie sich an den Feuern seiner Heimat erzählte.

»Wer sagt mir, dass du das Ganze nicht erfunden hast, um einen Becher Wein von mir zu bekommen, Alter?«, wollte Thorin wissen. »Es ist eine gute Geschichte - aber vielleicht hast du ja auch nur gelo-gen...«

»Die Wahrheit musst du schon selbst herausfinden«, sagte der Al-te mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Gewiss, es mag nur eine Le-gende sein, aber man hört sie sehr oft hier an den Küsten des Großen Salzmeeres. Und steckt nicht in allen Legenden irgendwo ein Funke Wahrheit? Stell dir doch einmal vor, dass du dieses Schwert in deinen Händen hältst. Eine Götterwaffe, die dich nahezu unbesiegbar machen könnte...«

Natürlich klangen die Worte des Alten recht verlockend und Thorin fühlte sich in den Bann dieser Legende geschlagen. Das klang nämlich nach Kampf und Abenteuern - und war es nicht das, wonach er eigent-lich schon immer gesucht hatte?

»Was weißt du noch?«, fragte Thorin den alten Mann. »Wo genau liegt diese vergessene Stadt? Sag es mir!«

»Das wirst du schon selbst herausfinden müssen«, antwortete dieser mit einer viel sagenden Geste. »Lass dich einfach von deinem Instinkt leiten - und dann wirst du auch Glück haben...«

Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen, aber in diesem Mo-ment wurde Thorins Aufmerksamkeit von anderen Dingen abgelenkt.

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Drüben war einer der Söldner aufgesprungen, mit Hass in den blitzen-den Augen. Er wies auf einen in dunkle Kleider gehüllten Mann.

»Du spielst mit gezinkten Würfeln, du elender Halunke!«, schrie er so laut, dass es jeder in der Spelunke hören konnte. »Ich werde dich lehren, was es heißt, einen Söldner aus König Markons Heer zu betrü-gen!«

Bei diesen Worten fuhr seine Rechte hinüber zur linken Seite und zog ein blank poliertes Schwert aus der Scheide. Mit einem wilden Ge-brüll stürzte er sich auf den Falschspieler, der ebenfalls hastig aufge-sprungen war und unter seinen weiten Gewändern nun einen scharfen Krummsäbel hervorholte. Stühle polterten nach hinten und Weinkrüge fielen vom Tisch, als die beiden Gegner aufeinander losgingen.

Die beiden Klingen kreuzten sich zum ersten mal. Der Söldner drang ungestüm auf den Mann ein und dieser hatte alle Mühe, den Hieben noch ausweichen zu können. Er selbst jedoch zielte etwas ge-nauer, bevor er zu stach und diese Vorsicht rettete ihm das Leben. Der Krummsäbel traf den Söldner und dieser brüllte vor Schmerz auf, ließ seine Waffe fallen. Ungläubig blickte er auf den Mann in den schwar-zen Gewändern - und auf die tödliche Wunde, die ihm dessen Klinge beigebracht hatte. Mit einem Fluch auf den Lippen brach er zusammen und starb.

Jetzt waren auch die übrigen Söldner vom Tisch aufgesprungen, als sie sahen, welche dramatische Wende der Kampf genommen hatte. Sie hatten nämlich fest geglaubt, dass der Schwarzgekleidete den Kür-zeren ziehen würde und waren nun um so zorniger, als sie begreifen mussten, dass alles anders gekommen war.

»Macht den Hund einen Kopf kürzer!«, schrie ein fischgesichtiger Söldner und riss als erster sein Schwert heraus. Nun wurde es ziemlich bedrohlich für den Mann, der sich auf einmal vier weiteren Gegnern gegenüber sah. Jetzt aber würde auch er kein Glück mehr haben, denn gegen vier Söldner würde auch ein guter Schwertkämpfer wie er nicht ankommen können!

Thorin hatte den Kampf bisher wie alle anderen schweigend ver-folgt. Aber nun wollte er nicht mehr länger untätig zusehen. Der Mann brauchte Hilfe und zwar rasch!

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Der Nordlandwolf sprang vom Tisch auf und riss seine Klinge aus der Scheide. Zwei Sätze brachten ihn dann mitten ins Kampfgetümmel und seine zornigen Blicke richteten sich auf die Söldner.

»Vier Ratten gegen einen Wolf!«, rief er ihnen mit emporgereck-tem Schwert zu. »Aber jetzt sind es zwei Wölfe - wehrt euch, ihr Hun-de!«

Der schwarz gekleidete Mann warf Thorin nur einen kurzen, dafür aber um so erstaunteren Blick zu. Dann aber forderte der weitere Kampf seine ganze Aufmerksamkeit.

Schwerter klirrten gegeneinander. Tische fielen beiseite, als die Männer aufeinander einschlugen. Die in unmittelbarer Nähe sitzenden Gäste der Spelunke brachten sich in Sicherheit, während Piro, der Wirt, ganz entsetzt dreinblickte, als er sah, wie die Söldner und die anderen zwei Männer seine Taverne verwüsteten.

Thorin schenkte den zerberstenden Möbeln keinerlei Beachtung. Er reckte sein Schwert zwei Söldnern entgegen, die es auf ihn abgese-hen hatten. Während einer von beiden zu einem tödlichen Hieb aus-holte, versuchte der andere, Thorin von der Seite zu bedrängen.

Aber der Nordlandwolf war kein unerfahrener Krieger mehr. Kämpfe dieser Art hatte er schon zu Dutzenden hinter sich gebracht und seine Instinkte waren dementsprechend geschärft. Deshalb traf Thorins Schwert den ersten Söldner in die Schulter und der Kerl tau-melte brüllend zurück.

Der zweite Gegner fluchte, als er seinen Gefährten außer Gefecht sah. Sein Schwert, das nach Thorins Rippen gezielt hatte, fand ihr Ziel nicht mehr, denn Thorin hatte sich gerade noch zur Seite drehen kön-nen und der Stoß des Gegners ging so an ihm vorbei. Jedoch konnte Thorin selbst einen Volltreffer landen. Sein Schwert erwischte auch diesen Gegner, schaltete ihn von einem Atemzug zum anderen aus.

Thorin blickte sich um und sah, dass der Mann in Schwarz jetzt in arge Bedrängnis geraten war. Die beiden übrigen Söldner hatten ihn in die Zange genommen und setzten ihm ziemlich zu.

Kurz entschlossen griff Thorin ein und stach einen der beiden Gegner nieder. Dann gelang es auch dem Schwarzgekleideten, den Kampf zu gewinnen. Er schlug dem Söldner die Waffe einfach aus der

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Hand und versetzte ihm gleichzeitig eine tiefe Wunde an der Schulter. Als er ihm dann den Todesstoß versetzen wollte, hielt ihn Thorin zu-rück.

»Lass ihn«, brummte er. »Der Kerl hat Glück, dass er noch mit dem Leben davonkommt. Verschwinde, du armseliger Wicht!«, fuhr er dann den verletzten Söldner an, der Thorin wie einen Geist anblickte.

Das brauchte er dem besiegten Gegner nicht zweimal zu sagen. Trotz seiner Wunde raffte sich der Söldner auf und hastete auf die Tür der Taverne zu. Dabei schaute er weder nach rechts noch nach links. Als er ins Freie stürzte, blickte ihm der Nordlandwolf nur noch voller Verachtung nach.

»Er wird womöglich Hilfe holen und dann wiederkommen«, sagte er zu dem Mann in der schwarzen Kleidung, dessen Kopf ein Turban zierte. »Wir sollten uns nicht länger als nötig hier aufhalten...«

»Du hast recht«, pflichtete ihm der andere bei. »Lass uns aufbre-chen - hier haben wir sowieso nichts mehr verloren.« Mit hoch empor-gerecktem Schwert wandte er sich nun an die eingeschüchterten Be-sucher der Spelunke, die sich noch nicht von der Stelle gerührt hatten. »Wer uns folgt, endet wie die da!« Jedem war klar, was er damit sa-gen wollte. Er kümmerte sich auch nicht mehr um den jammernden Piro, der mit keifender Stimme seine Zeche einforderte, sondern bahn-te sich zusammen mit Thorin einen Weg durch die Menschen, die an-gesichts der scharfen Waffen ganz schnell Platz machten. Thorin blieb gar nichts anderes übrig, als sich ihm anzuschließen.

Schließlich hatte er sich eingemischt und musste nun mit weiterem Ärger rechnen. Die beiden Männer verließen ebenso rasch wie der Söldner die Taverne. Hinter ihnen ertönte die laute Stimme des Wirtes, der sich um seine Zeche betrogen fühlte. Erst später erinnerte sich Thorin wieder an den weißhaarigen Alten mit dem milchigen Auge, den er in dem Gewühl des Kampfes ganz aus den Augen verloren hatte...

*

Der schwarz gekleidete Mann, dem Thorin geholfen hatte, hieß Rach-man und war Kapitän eines Handelsschiffes, das im Morgengrauen in

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See stechen wollte. Jetzt aber sah sich Rachman gezwungen, mitten in der Nacht die Segel zu setzen, um weiterem Ärger aus dem Weg zu gehen. Er hatte alle seine Geschäfte schon in den letzten beiden Ta-gen getätigt und auch neue Ware mit an Bord genommen. Rachman gelüstete es nicht danach, in den Kerkern der Stadt Gara zu enden, nur weil einer der Söldner falsch gespielt hatte.

Thorin und Rachman hasteten durch die engen und dunklen Gas-sen des Hafenviertels. Ab und zu hielten sie an und lauschten hinter sich, ob Verfolger auf ihrer Fährte waren. Aber es blieb still. In den engen Gassen war kein Laut außer dem Tappen ihrer eigenen Schritte zu hören. Die Mauern warfen seltsame Schatten im Licht des Mondes und Thorin fühlte sich unwohl in diesem Viertel, das noch zur tödlichen Falle werden konnte...

»Sieht du die Schiffe da vorn?«, flüsterte der Kapitän, als die bei-den das Ende der engen Gassen erreicht hatten. »Gleich sind wir in Sicherheit. Wenn du mit in See stechen willst, mein Freund - dann kannst du das tun. Du bist willkommen auf meinem Schiff...«

Thorin überlegte nur kurz. Hier in Gara war er sowieso nicht mehr sicher. Die Söldner würden so lange nach ihm suchen, bis sie ihn er-wischt hatten - und darauf wollte er es gar nicht ankommen lassen.

»Wohin segelst du, Rachman?«, fragte ihn der Krieger aus dem Norden, während sich die beiden mit schnellen Schritten dem Kai nä-herten. »Sollte dein Ziel der südliche Kontinent sein, dann kannst du auf mich zählen.«

Unwillkürlich dachte er wieder an die Legende des Götterschwer-tes Sternfeuer. Vielleicht kam er mit Rachmans Hilfe seinem Ziel jetzt ein Stück näher.

»Wir überqueren das Salzmeer in östlicher Richtung«, klärte ihn der Kapitän auf, während er und Thorin das Schiff schon fast erreicht hatten. Das war auch der Augenblick, wo ein Schatten wie ein Dämon aus dem Dunkel auftauchte. Es war ein glatzköpfiger Mann mit dunkler Haut und in seiner Rechten hielt er einen scharf geschliffenen Dolch, den er erst sinken ließ, als er Rachman erkannte.

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»Weck die Mannschaft auf, Ossim«, befahl der Kapitän. »Wir ste-chen sofort in See. Sind alle an Bord, oder sind noch Männer an Land gegangen? Es hat Schwierigkeiten gegeben.«

Der glatzköpfige Hüne schien zu ahnen, dass der blonde Hüne, der mit Rachman gekommen war, nicht ganz unschuldig daran war, dass sie jetzt bei Nacht und Nebel Gara rasch wieder verlassen muss-ten. Doch dann schüttelte er nur den Kopf.

»Wir sind alle vollzählig, Herr«, erwiderte er daraufhin. »Ich werde sie sofort aus ihren Träumen reißen...«

Schon eilte er davon, erreichte eine Luke, die unter Deck führte. Wenige Augenblicke später huschten Männer aus dem Bauch des Schiffes hervor, bezogen ihre Posten.

Sechs Mann drehten an der Ankerwinde, die sich mit einem knir-schenden Geräusch in Bewegung setzte. Andere kletterten hinauf in die Masten, um die Segel zu setzen. Der glatzköpfige Ossim begab sich sofort an das große Steuerrad.

Von einer bösen Ahnung getrieben, blickte Thorin in diesem Mo-ment hinüber zu den engen Gassen, aus denen sie gekommen waren. Plötzlich sah er einen Trupp Soldaten, der sich im Laufschritt dem An-kerplatz des Schiffes näherte. Rachman hatte das jetzt auch gesehen und wurde unwillkürlich eine Spur bleicher.

»Sie sind schneller als ich gedacht habe«, murmelte er. »Trotz-dem kommen sie zu spät. Jetzt wirst du gleich sehen, dass Rachman und sein Schiff nicht so schnell zu fassen sind, mein Freund...«

Er wandte sich um, brüllte Ossim und den übrigen Männern einen kurzen Befehl zu. Die große Ankerwinde drehte sich weiter, während sich die Kette glitzernd wie eine Schlange aus dem Wasser hob - quä-lend langsame Augenblicke verstrichen, bis der Anker schließlich geho-ben war und das Schiff endlich in See stechen konnte.

Die wütenden Soldaten waren trotz aller Mühe zu spät gekommen. Sie mussten tatenlos zusehen, wie das Schiff mit gesetzten Segeln in die Nacht entwich. Sie schrieen und schüttelten drohend ihre Fäuste. Einige von ihnen schickten sogar noch einige Pfeile und Lanzen nach, aber Unheil richtete dies nicht mehr an. Denn dazu hatte sich das Schiff bereits zu weit vom Anlegesteg entfernt.

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Rachman stand lächelnd neben seinem Steuermann Ossim und blickte nicht mehr zurück. Vor ihnen öffnete sich das Große Salzmeer und die Stadt Gara verschwand schließlich sehr bald als winziger Punkt am fernen Horizont...

*

Thorin stand auf dem Deck des Handelsschiffes und blickte gedanken-verloren in die weite Ferne. Die Sonne war mittlerweile längst aufge-gangen und schickte ihre wärmenden Strahlen über das endlose Meer. Keine einzige Wolke war zu sehen. Der Wind blies aus einer günstigen Richtung und trug das Schiff mit jeder Meile schneller davon, dem großen südlichen Kontinent entgegen.

Der Nordlandwolf beobachtete die Seeleute, die in den Takelagen des Schiffes herumkletterten, als bedeute dies überhaupt nichts. In seinen Augen waren das tollkühne Burschen, denn hierzu bedurfte es schon einer gehörigen Portion Mut und Ausdauer.

Rachman, der jetzt unter Deck hervorkam, sah hinüber zu Thorin und grinste. Die beiden kannten sich zwar erst seit wenigen Stunden, aber in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit waren sie schon Freunde geworden und deshalb hatte Thorin dem Kapitän auch offen gesagt, warum er nach Süden wollte. Völlig erstaunt hatte dieser Thorin dar-aufhin angesehen. Rachman war Händler mit Leib und Seele und liebte ein gewinnbringendes Geschäft - aber von düsteren und gefährlichen Legenden hielt er nicht all zu viel.

»Schiff Steuerbord voraus!«, erschallte in diesem Moment die Stimme eines Seemanns auf dem Ausguck hoch über ihnen. »Ein fremdes Schiff kommt auf uns zu!«

Rachman und Thorin blickten zum Horizont. Dann erkannten sie es auch. Weit im Süden hob sich ein winziger dunkler Fleck gegen den hellen Morgenhimmel ab, der rasch größer wurde. Es war ein Schiff - und es besaß ganz dunkle Segel, so schwarz wie die Nacht. Als Rach-man das ebenfalls erkannte, stieß er einen Fluch aus und blickte recht erschrocken drein.

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»Das hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte er und klärte Thorin rasch auf, als er dessen fragenden Blick bemerkte. »Das ist ein Schiff der elenden Hunde aus Cathar - einer Felsenstadt, die auf einer Halb-insel des südlichen Kontinents liegt. Ihre Bewohner sind ein wildes und raubgieriges Volk. Ihre Plündererschiffe durchkreuzen das Große Salz-meer und greifen jeden an, der ihnen begegnet. Viele Handelsschiffe sind auf diese Weise von ihnen schon gekapert worden...«

Das klang alles andere als angenehm. Thorin begriff jetzt auch, welche Gefahr ihnen allen drohte und er sah, wie das schwarze Schiff mit dem aufkommenden Wind immer näher kam. Die Entfernung zwi-schen den beiden Schiffen wurde immer geringer, auch wenn Rach-mans Leute das Menschenmögliche versuchten.

»Denen werden wir nicht entkommen«, sagte Rachman leise zu Thorin. »Es sieht ganz so aus, als stünde unser Zusammentreffen un-ter einem schlechten Stern. Wenn du an deine Götter aus den Eislän-dern glaubst, dann bete jetzt zu ihnen. Ich weiß nicht, ob wir die nächste Stunde überleben werden...«

Er brüllte einige hastige Befehle. Männer eilten jetzt unter Deck zum Magazin. Jeder der Seeleute bewaffnete sich jetzt so gut er konn-te. Auch Thorin hielt sein Schwert griffbereit, während das schwarze Schiff so nahe gekommen war, dass Thorin weitere Einzelheiten er-kennen konnte.

Es war eine Galeere, deren gewaltige Ruder sich immer im glei-chen Takt bewegten. Thorin hörte dumpfe Trommelschläge, die die Ruderer zu noch größerem Einsatz antrieben. Die Morgensonne spie-gelte sich auf blitzenden Schwertern und Lanzen zahlreicher Krieger, die bereits an Deck standen und nur noch darauf warteten, bis der Augenblick zum Entern gekommen war.

Die Galeere besaß vorn am Bug eine gewaltige Stahlspitze, die Rachmans Schiff in den Tod reißen würde. Die Männer des Kapitäns hatten ihre Waffen gezückt. Sie standen zusammen wie eine Mauer, um dem Feind kein Durchkommen zu ermöglichen. Auf der schwarzen Galeere ertönten bereits die schauerlichen Kriegsgesänge der Piraten. Es waren laute und kehlige Lieder - eine furchtbare Melodie des To-des...

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Die ersten gefiederten Todesboten wurden jetzt auf den Weg ge-schickt, während die Übrigen sich zum Entern bereit machten. Alles geschah, als wenn eine unsichtbare Hand das Schicksal von Rachman und dessen Männern bestimmt hätte. Die Stahlspitze der Piratengalee-re bohrte sich mit einem hässlichen Knirschen tief in den Rumpf des Handelsschiffes, während zahlreiche Bogenschützen weitere Pfeile ab-schossen, um ihren enternden Kameraden den nötigen Schutz zu ge-ben.

Rachmans Männer waren keine ausgebildeten Krieger, sondern nur einfache und tüchtige Seeleute. Als die Spanten splitterten und die Wucht des Rammstoßes das Deck erschütterte, taumelten viele von ihnen erschrocken zurück. Die Menschenmauer hatte jetzt eine Lücke erhalten und diesen Moment nutzten die Piraten aus Cathar. Sie enter-ten das Schiff mit einem schrillen Geheul, das einem durch Mark und Bein ging!

Ein heftiger Kampf entbrannte auf dem Händlerschiff. Thorin hatte keine Zeit mehr, nach Rachman zu sehen, denn genau in dieser Se-kunde stürmten zwei bärtige Gestalten auf ihn ein - und einer von ih-nen zielte mit einer langen Lanze nach seinem Magen!

Thorin ließ sich jedoch nicht vom Gebrüll der Piraten einschüch-tern, sondern duckte sich und entging so dem tödlichen Lanzenstoß. Er selbst holte jetzt mit dem Schwert aus und versetzte dem Lanzen-träger einen tödlichen Hieb.

Allerdings konnte er jetzt für einen winzigen Moment nicht auf den zweiten Angreifer achten. Ein brennender Schmerz am linken Arm be-lehrte ihn dann aber eines Besseren. Der Nordlandwolf schrie auf, aber er wich nicht zurück. Stattdessen ging er erneut zum Angriff über, während neben ihm zwei von Rachmans Seeleuten unter den Schwerthieben der Feinde ihr Leben aushauchten.

Thorins Schwert prallte mit den Klingen der Gegner zusammen. In den Eisländern hatte er gelernt, wie man eine Klinge führt und sein alter Lehrmeister hatte stets darauf geachtet, dass Thorin einer der Besten war. Das kam ihm jetzt zugute!

Geschickt wich Thorin der Klinge des Piraten aus, parierte den nächsten Hieb und stieß dann selbst vor. Seine Waffe bohrte sich in

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die Brust des Gegners. Noch während der Mann sterbend zu Boden sank, riss Thorin das blutige Schwert zurück, sprang über den Besieg-ten hinweg und stürzte sich dann in das tiefste Kampfgetümmel. Er stieß einen lauten Kriegsschrei aus, der in den Eisländern gefürchtet war und er wütete wie ein Berserker unter den Feinden.

Aber dennoch war Thorin nur ein einzelner Krieger und die Über-macht der Piraten war zu groß. Schockiert erkannte Thorin, wie der Kapitän des Handelsschiffes von einer Lanze durchbohrt wurde und zu Boden ging. Und so wie Rachman erging es manch anderem Seemann, der um sein Leben kämpfte, aber dennoch den Kürzeren zog.

Bald sah sich Thorin von allen Seiten von Gegnern umringt, die mit ihren Lanzen nach ihm stachen. Er drehte sich um, ließ seine Waf-fe kreisen - doch es waren zu viele. Er konnte sie nicht alle gleichzeitig im Auge behalten.

Etwas zischte durch die Luft und traf seinen Kopf. Thorin schrie vor Schmerz lauf auf.

Die Knie wurden weich und das Schwert entglitt seinen Händen. Blutige Schleier tanzten vor Thorins Augen, als er auf die Schiffsplan-ken stürzte. Das letzte, was er sah, waren die metallbeschlagenen Schilde der Piraten, die im Licht der Sonne glitzerten. Dann sah Thorin nichts mehr, denn er fiel in einen tiefen dunklen Schacht...

*

Irgendwann kam er wieder zu sich. Er wollte die Augen öffnen, aber er konnte trotzdem nicht viel erkennen. Immer noch wogten die undeutli-chen Schleier vor seinen Augen hin und her und Thorin fühlte einen unangenehmen Druck in seinem Magen. Er konnte sich kaum bewe-gen, denn man hatte ihn mit soliden dicken Stricken gefesselt. Zudem brannte die Wunde am Hinterkopf wie Feuer und er hatte nichts, um die Schmerzen zu lindern.

Wie im Traum hatte er ganz aus weiter Ferne mitbekommen, dass man ihn zusammen mit den anderen Überlebenden im Laderaum ein-gepfercht hatte, während das Handelsschiff brennend in den Fluten

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des Großen Salzmeeres versank. Die Galeere der Piraten brach wieder in Richtung Süden auf.

Bevor ihn die schwarzen Schwingen der Bewusstlosigkeit erneut umfingen, dachte der Nordlandwolf wieder an die legendäre Götter-klinge, die er suchen wollte. Das große Abenteuer, auf das er gehofft hatte - war es bereits jetzt schon zu Ende, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte?

Es schien ihm, als wenn er irgendwo in der Finsternis ein milchig-weißes Auge schimmern sah und eine raunende Stimme hörte.

»Nein, Thorin«, flüsterte die Stimme. »Das Abenteuer ist noch nicht zu Ende. Es fängt gerade erst an...«

*

Feuer loderten in den nachtschwarzen Himmel empor. Aus rauen Keh-len ertönten die alten Lieder von unvergesslichen Helden und alten Göttern. Becher mit schwerem, dunklem Wein kreisten in der Runde und manch derber Scherz war zu hören.

Die unbesiegbaren Söldner des Herrschers von Cathar waren von einem erfolgreichen Beutezug heimgekehrt. Auf ihrer langen Kaper-fahrt hatten sie mehrere Schiffe überfallen und in Brand gesteckt. Die Überlebenden hatten sie mitgeschleppt in ihr Reich.

Weitab von den Lagerfeuern am Strand der fremden Küste hatten die Soldaten ihre Gefangenen in große hölzerne Pferche eingesperrt. Die Speere der Wachen blinkten im Mondlicht und signalisierten den Hilflosen, welches Schicksal sie schon bald erwartete. Denn sobald die Sonne aufging, sollten sie alle als Sklaven in der Felsenstadt verkauft werden.

Männer, Frauen und Kinder waren in die Pferche gedrängt worden - alle Opfer aus verschiedenen Beutezügen der Piraten. Hier sahen sie einem recht Ungewissen Schicksal entgegen. Die meisten blickten starr vor sich hin, denn sie wussten, was die Stunde geschlagen hatte. Hart und grausam würde ihr Los sein und dieser Gedanke ließ die meisten von ihnen innerlich zerbrechen.

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Doch nicht alle fanden sich mit ihrem Schicksal ab. Ein alter Mann hatte eine Gruppe von Zuhörern um sich geschart, die ergriffen seiner Geschichte lauschten.

Der Alte war von den Piraten am Strand eines von Cathar weit entfernten Landes aufgegriffen und hierher verschleppt worden. Für einen hart arbeitenden Sklaven war er schon zu alt und gebrechlich. Deshalb würde man ihn gewiss in den nächsten Tagen töten. Sein Haupthaar und Bart waren weiß vom Alter, aber sein Wille war noch stark und ungebrochen.

»Ja, Brüder«, sagte der Alte zu denen, die um ihn herumsaßen und ihm zuhörten. »Dies ist die Küste des südlichen Kontinents. Hier ist das Land, wovon die Legenden berichten. Tief im Landesinneren liegt der Tempel der vergessenen Helden.«

Er bemerkte die ungläubigen Blicke und das Erstaunen der ande-ren, als sie seine Worte vernahmen.

»Glaubt mir«, fuhr er fort. »Ich bin alt und habe schon viele Län-der gesehen - und deshalb weiß ich, wovon ich spreche. Die Legende erzählt von der Tempelstadt Noh'nym, die seit Ewigkeiten im undurch-dringlichen Urwald steht. Nur wenige haben diese Stätte betreten - aber keiner kam jemals wieder zurück. Die Zahl derer, die die Götter ausschickten, um nach dem Schwert zu suchen, kennt keiner. Wahr-scheinlich sind nur noch Knochen von den Mutigen übrig geblieben. Denn wer den wilden Dschungel besiegt, der fällt den Dämonen des Tempels zum Opfer. Helden sind sie alle gewesen, aber die Finsternis war stärker. Grauenvolle Kreaturen warten auf jeden, der dort ein-dringt, um das Schwert der Götter zu suchen, dessen Name Sternfeuer ist...«

Unter den Zuhörern befand sich auch ein Mann, der sich äußerlich sehr von den anderen abhob. Er war zwar noch jung, aber er überrag-te sie alle um Haupteslänge. Von seiner Kleidung waren ihm nur noch ein Lendentuch und fellbesetzte Stiefel geblieben. Es war Thorin, der Krieger aus den Eisländern des Nordens, der zusammen mit seinen Leidensgenossen nach einer tagelangen Fahrt auf den Wogen des Meeres endlich die Küste der Felsenstadt erreicht hatte. Eine Über-fahrt, die für Thorin Ewigkeiten gedauert hatte.

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Diese Zeit hatte er mehr oder weniger im Fieberwahn verbracht. Erst als sie die Küste des südlichen Kontinents erreicht hatten und die Galeere somit am Ziel angekommen war, hatte die robuste Natur des Nordlandwolfs über das Fieber gesiegt.

Cathar besaß einen großen Hafen, in dem mehrere Kriegsschiffe vor Anker lagen. Alle waren sie von tage- und wochenlangen Kaper-fahrten zurückgekehrt und mit reicher Beute beladen. Das Kostbarste hatten sie jedoch in den Pferchen am Strand eingesperrt - Menschen, denen nun ein schreckliches Los bevorstand.

Thorin hatte sich nur schwach gewehrt, als man ihn zusammen mit den anderen von der Galeere getrieben hatte. Sein Körper war geschwächt vom Hunger und dem schweren Fieber. Er fühlte sich noch zu entkräftet, um irgend etwas unternehmen zu können. Aber er war-tete geduldig auf seine Stunde, denn er würde die nächstmögliche Chance zur Flucht nutzen.

Auf den alten Mann war er erst jetzt aufmerksam geworden. Er kannte die Legende, hatte sie erst vor kurzem in der Spelunke von Gara vernommen. Jetzt dachte er wieder an den seltsamen Alten, dem er dort kurz begegnet war und dessen Auge so unheimlich gefunkelt hatte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Das konnte doch kein Zufall mehr sein! Hatte hier das Schicksal oder womöglich ein Gott selbst seine Hände im Spiel? War nicht auch Einar, der allwissende Gott des Lichtes, auf einem Auge blind?

Thorins Miene war jetzt ein Spiegelbild seiner verwirrten Gedan-ken, als er zu dem Alten und dessen Zuhörern trat.

»Ich kenne diese Geschichte«, richtete er nun das Wort an die anderen. »Ich hörte sie nicht vor allzu langer Zeit schon einmal. Es ist eine Geschichte, die Mut machen sollte. Ich werde jedenfalls nicht in dieser verfluchten Stadt elend zugrunde gehen - denn ein Leben als Sklave ist kein Leben. Dieses Götterschwert - ich werde es suchen und auch finden.«

»Was hast du vor, Thorin?«, fragte ihn einer der Überlebenden aus Rachmans Mannschaft. »Denkst du jetzt an Flucht?«

Bevor der Nordlandwolf darauf etwas erwidern konnte, meldete sich ein weiterer Gefangener zu Wort - ein Tuchhändler, der von einer

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anderen Galeere stammte und dessen Lebenswillen die Soldaten Ca-thars auf der langen Überfahrt so gut wie zerbrochen hatten.

»Das Lager ist doch viel zu stark bewacht«, meinte der Händler leise. »Du hast weder ein Pferd noch Waffen. Willst du alles riskieren für ein Schwert, von dem gar niemand weiß, ob es wirklich existiert?«

»Du bist ein Feigling«, antwortete Thorin etwas härter als er es beabsichtigt hatte. »Sieh nach oben zu den Felsen, Krämerseele! Er-kennst du die hellen Lichter in der Nacht? In der Felsenstadt feiern sie unsere Gefangennahme und dass wir morgen auf dem Sklavenmarkt verkauft werden sollen. Diese Lichter dort oben bedeuten für uns den Tod! Aber ich will am Leben bleiben...«

»Wenn dir wirklich die Flucht gelingt - wirst du es dann überhaupt schaffen, all den Gefahren zu trotzen?«, fragte ein anderer mit un-gläubiger Stimme.

»Beim mächtigen Thunor - das werde ich«, sagte Thorin ohne zu zögern. »Aber selbst wenn ich im Kampf fallen sollte, so ist das immer noch besser als ein Sklavendasein zu führen.«

Er schaute in die Runde, musterte jeden einzelnen der Männer, die mit ihm hier eingesperrt waren.

»Wer von euch will sich mir anschließen?«, fragte er weiter. Aber er erhielt keine Antwort. Die meisten wichen seinem Blick aus.

Zuviel Schlimmes hatten sie während der vergangenen Tage er-dulden müssen und all ihre Hoffnungen waren grausam zerschlagen worden.

Thorin blickte jetzt wütend hinauf zur Felsenstadt. Sein Entschluss stand fest - er würde fliehen und das so schnell wie möglich...

*

Als die Sonne ihre ersten Strahlen über das felsige Land warf, kamen sie von den Höhen der Stadt Cathar hinunter zum flachen Strand gerit-ten. Lanzenreiter - eine ganze Schwadron - dazu bis an die Zähne be-waffnet und bereit, die Gefangenen beim geringsten Widerstand sofort zu töten.

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Auf den Befehl eines Hauptmanns hin wurden die Pferche geöffnet und die Menschen hinausgetrieben. Peitschen klatschten auf geschun-dene Rücken und lautes Klagen erhob sich unter den Gefangenen. Mit starken Hanfstricken wurden sie aneinandergebunden und dann setzte sich die Kolonne aus Männern, Frauen und Kindern langsam in Bewe-gung.

Der Weg nach Cathar war steil und mühselig. Zahlreiche dunkel-häutige Menschen standen zu beiden Seiten des Felspfades und stie-ßen laute Jubelrufe aus. Unzählige Hände reckten sich empor, drohten den ohnehin bereits ziemlich eingeschüchterten Gefangenen.

Thorin hielt jedoch auch jetzt sein Haupt stolz erhoben, als er bergauf ging. Die Sonne brannte auf seinen bloßen Rücken und er hoffte nur, dass diese Tortur bald ein Ende hatte.

Drohend wuchteten die steilen Mauern der Felsenstadt empor. Ca-thar war eine unbesiegbare und uneinnehmbare Festung, die schon vielen Angriffen getrotzt hatte. Kriegshörner erschallten von den Zin-nen der Stadt, als die Kolonne der Gefangenen durch das Haupttor schritt. Auch hier warteten schon zahlreiche Zuschauer auf sie.

Die Lanzenreiter trieben ihre Gefangenen weiter in Richtung Stadtmitte. Thorin kam nicht umhin, dennoch die Schönheit der Fel-senstadt selbst in solch einem bedrohlichen Moment wahrzunehmen. Die meisten Häuser waren direkt in den roten Sandstein hineingemei-ßelt worden. Enge, schmale Gassen zogen sich in zahlreichen Windun-gen an den Gebäuden vorbei. Cathar strahlte eine tödliche Faszination aus...

Vor ihnen öffnete sich die schmale Gasse zu einem breiten Platz, der ringsum von Menschen bevölkert war. Im Zentrum des Platzes erhob sich ein riesiger Tempel aus rotem Sandstein, vor dessen wuch-tigen Säulen der Thron des Herrschers stand. Als die Lanzenreiter jetzt den Tempel erreicht hatten, knallten erneut die Peitschen ganz dicht über die Häupter der Gefangenen hinweg, schüchterten sie weiter ein.

»Auf die Knie, ihr Hunde!«, schrie der Hauptmann. »Neigt eure Bauernschädel vor dem erhabenen Donipan, dem Herrscher über alles Land und Meer bis weit über den Horizont!«

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Alle um Thorin herum warfen sich sofort zu Boden. Der Nordland-wolf zögerte noch einen winzigen Moment - als Dank dafür traf ihn ein Schlag mit dem Lanzenschaft in den Rücken und ließ ihn ebenfalls stöhnend in die Knie gehen. Dennoch biss er die Zähne zusammen und beobachtete aus den Augenwinkeln seine nähere Umgebung.

Ein in weiße Gewänder gehüllter Priester schlug gegen einen rie-senhaften Gong und ein dumpfer Klang erfüllte den bevölkerten Platz. Aus dem Tempel heraus trat eine majestätische Gestalt - Donipan, der grausame Herrscher von Cathar!

Ganz in rote Gewänder war er gekleidet und sein Gesicht unter dem gold funkelnden Turban war weißgeschminkt. Ein Dutzend hell-häutiger Sklaven fächerten ihm mit Palmwedeln frische Luft zu. Hinter dem mächtigen Herrscher folgte die Kaste der Oberpriester, alle in samtblaue lange Kleider gehüllt.

Der Herrscher nahm Platz auf seinem Thron, hob seine mit Juwe-len geschmückte rechte Hand und die Trompeten und Fanfaren ver-stummten sofort.

»Volk von Cathar!«, rief er mit lauter Stimme, die bis in die letzten Ecken des großen Platzes zu vernehmen war. »Unsere glorreichen Söldner haben uns reiche Beute aus fernen Ländern mitgebracht.« Dabei wies er auf die Gefangenen, die sich auf der Mitte des Platzes immer noch am Boden ducken mussten. »Treibt die Frauen und Kinder zum Tempel hinauf! Sie werden gute Sklaven abgeben. Den Rest die-ser schmählichen Hunde sperrt in die Kerker. Die Kräftigen werden morgen in Ketten in die Bergwerke gehen. Die anderen sollen ebenfalls morgen hingerichtet werden!«

Das Volk jubelte bei diesen Worten laut auf. Tumult entstand je-doch unter den Gefangenen, als Männer von ihren Frauen und Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Beifall erschallte von allen Seiten, als die Soldaten ihr Handwerk verrichteten.

Thorin wehrte sich nicht, als er zusammen mit den anderen Män-nern in die finsteren Kerker von Cathar gebracht wurde. Er betete im stillen zu seinen Göttern, dass sie ihm genügend Kraft gaben, seine Hoffnung von einer raschen Flucht Wirklichkeit werden zu lassen.

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Denn noch in dieser Nacht musste er es wagen, sonst war sein Leben verwirkt.

*

Hoch auf dem Berg erhoben sich die Zinnen der Stadtfeste. Tief unten in den Verliesen der Festung, die von unzähligen Menschen in den Berg hineingemeißelt worden waren, hauchten Gefangene ungehört ihr Leben aus. Und genau an diesen Ort waren die Menschen aus den fremden Ländern gebracht worden. Sie waren endlose Stufen hinab gestiegen in die Finsternis, begleitet vom Fackelschein der Wachen und von deren Hohngelächter. Dann hatten sich auch schon die mäch-tigen Gittertüren hinter ihnen geschlossen.

Verzweiflung breitete sich unter den Unglücklichen aus. Sie hatten die lauten Schreie der Frauen und Kinder nicht vergessen, die man auf dem Marktplatz vor ihren Augen verkauft hatte und die jetzt ihren neuen Besitzern bedingungslos zu Willen sein mussten.

Thorin hatte den alten Mann, der unten am Strand die Geschichte der vergessenen Stadt erzählt hatte, nicht mehr gesehen. Ob man ihn in einem anderen Kerker eingeschlossen oder vielleicht auch schon getötet hatte? Thorin wusste es nicht. Und falls der Alte noch lebte - den morgigen Tag würde er gewiss nicht mehr überstehen...

Er verdrängte das Schicksal des alten Erzählers aus seinen Gedan-ken. Stattdessen dachte er erneut an das Schwert der Götter, das den klangvollen Namen Sternfeuer trug. Diese Klinge und die Tempelstadt - der Wunsch des Nordlandkriegers, dorthin zu gelangen, wurde immer stärker.

Längst waren die meisten Gefangenen in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung gefallen. Thorin stand am Eisengitter und musterte die ausgemergelten Gestalten mit einem verächtlichen Blick. Nein, für sie gab es keine Hoffnung mehr, denn sie hatten sich bereits selbst auf-gegeben.

Mit dem Gedanken an die lockende Freiheit umkrampften seine Fäuste die eisernen Stäbe der Kerkertür.

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Die Muskeln des blonden Kriegers schwollen bei dieser Kraftan-strengung enorm an. Salziger Schweiß lief ihm in die Augen, aber er gab nicht auf.

Mit einem gewaltigen Stöhnen, das tief aus seiner breiten Brust kam, brach das Eisengitter knirschend aus seiner Halterung. Ohne auf die übrigen Gefangenen zu achten, die aus ihrer Lethargie erwacht waren und fassungslos mit ansahen, was gerade geschehen war, riss Thorin eine Fackel aus der Wand und stürmte aus dem Kerker. Wilde Entschlossenheit leuchtete in seinen Augen.

Von der anderen Seite des Ganges kamen ihm zwei Soldaten ent-gegen, die den Lärm im Kerker natürlich sofort bemerkt hatten. Thorin wartete nicht, bis die Soldaten ihn angriffen, sondern stürmte ihnen todesmutig entgegen. Sein lauter Kampfschrei hallte auf dem Gang wider. Er schwang die Fackel wie eine Keule, teilte Hiebe nach links und rechts aus und erwischte die beiden Soldaten voll.

Während die Schergen stöhnend zusammenbrachen, nahm Thorin eines der Schwerter an sich und rannte weiter. Hinter ihm erklangen die Stimmen der übrigen Gefangenen, die wohl mitbekommen hatten, was hier auf dem Gang gerade geschehen war. Aber der Nordlandwolf schenkte diesen Rufen keinerlei Beachtung mehr, denn er wusste, dass es die meisten der Gefangenen sowieso nicht schaffen würden, von hier zu entkommen.

»Zu den Waffen!«, brüllten zornige Stimmen. »Die Gefangenen fliehen! Tötet sie!«

Thorin sah die Treppe am Ende des Ganges, erreichte sie jetzt mit keuchendem Atem und rannte die feuchten Stufen nach oben. Nur im Freien hatte er eine Chance.

Plötzlich sah er sich einer Handvoll Bewaffneter gegenüber, die sich ihm sofort entgegenstellten. Im nächsten Augenblick hatten sie ihn auch schon umzingelt.

Thorins starker Arm schwang das erbeutete Schwert und er wüte-te wie ein Dämon unter den feindlichen Soldaten. Einer fügte ihm am Bein eine leichte Verletzung zu, aber das musste er mit seinem Leben büßen. Thorin schickte ihn mit einem kräftigen Hieb ins Reich des To-des.

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Der sich heftig wehrende Nordlandwolf musste in den Augen sei-ner Gegner wie das personifizierte Unheil wirken, denn einige von ih-nen warfen schreiend ihre Waffen weg und suchten ihr Heil in der Flucht. Andere hauchten ihr Leben aus, als sie mit der Klinge Thorins in Berührung kamen.

Der ganze Kampf hatte nicht lange gedauert. Ihm blieb trotzdem nur noch wenig Zeit, deshalb ließ er die Toten hinter sich und lief ein-fach weiter. Immer die Treppe hinauf, die aus den Verliesen führte. Fackeln erhellten das Dunkel der Nacht, als Thorin schließlich die obe-ren Festungsgänge erreichte und er hörte die laute Stimme eines Sol-daten.

»Dort steht der Hund! Tötet ihn!« Thorin drehte sich hastig um, rannte mit schnellen Schritten den

Gang entlang, während die Soldaten ihm folgten und ihm den Weg abzuschneiden versuchten. Bald würden sie ihn in der Zange haben und gegen eine solche Übermacht konnte auch er nicht bestehen. Nein, er durfte sich auf keinen weiteren Kampf mehr einlassen, sonst hatte er keine Chance mehr!

Während das Licht der Fackeln die bluttriefende Klinge erhellte, die unter den Gegnern so schrecklich gewütet hatte, warf Thorin einen raschen Blick hinter sich, wo der tiefe Abgrund der Festungsmauern gähnte. Unten donnerten die schäumenden Wellen des Meeres gegen Cathars Mauern.

Der Weg nach vorn war ihm versperrt, denn die Soldaten waren zu zahlreich geworden. Also blieb Thorin nur noch der riskante Sprung in die tödliche Tiefe!

Thorin erschauerte, als er hinab blickte. Die Tiefe war gewaltig und die Wellen so hoch, dass ein Mensch dort unten in der brodelnden Hölle sein Leben verlieren würde. Wenn er aber jetzt trotzdem nicht sprang, würde er unter den Lanzen und Schwertern der Krieger von Cathar sein Leben aushauchen und die vergessene, geheimnisvolle Stadt würde für immer eine Legende bleiben!

Ein Pfeil ritzte bereits seine Schulter, als der Nordlandwolf die Fes-tungsmauer betrat. Und wenige Augenblicke später ließ er sich in die gähnende Tiefe fallen.

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Staunend blickten seine Verfolger ihm nach. Der Gefangene muss-te in ihren Augen völlig wahnsinnig sein, dass er den Tod in der wilden See suchte. Sie rannten sofort zur Festungsmauer und warfen bren-nende Teerfackeln hinab in die Tiefe, um vielleicht noch etwas erken-nen zu können. Aber alles was sie sahen, waren tosende Wellen und weiße Gischt.

Ganz sicher war der Gefangene von der tosenden See verschlun-gen worden und seine Gebeine mussten längst zerschmettert sein, denn einen Aufprall aus solch einer großen Höhe konnte niemand ü-berleben. Mit dieser Hoffnung wandten sich die Soldaten schließlich wieder von der Mauer ab und widmeten ich den übrigen Flüchtenden.

Manche von ihnen, die sich gegen ihr unfreiwilliges Joch auflehn-ten, kämpften tapfer, aber gegen die geübten Soldaten kamen sie dennoch nicht an. Bauern und Kaufleute waren schwächer als Männer, die das Töten von er Pike auf gelernt hatten. So war es nur eine Frage der Zeit, bis schließlich auch der Letzte der Verzweifelten getötet wor-den war. Diejenigen, die in den Verliesen zurückgeblieben waren, hat-ten ihre Hoffnung längst aufgegeben, denn sie wussten, dass sie keine Chance mehr besaßen.

Tief unten in einem der Kerker hockte ein alter Mann auf feuch-tem, schimmligen Stroh und blickte mit seinen schwachen Augen in eine imaginäre Welt. Tausend Erinnerungen an alte Zeiten tauchten auf und verschwanden rasch wieder. Niemand bemerkte, wie der Alte dennoch leise lächelte. In seinen Augen spiegelte sich das Wissen um die Zukunft wider. Ganz schwach kamen einige Worte über seine Lip-pen.

»Der Tag wird kommen, wo ein Krieger Mut und Ruhm ernten wird. Sein Name und sein Schwert werden in aller Munde sein und die Feinde werden bei seinem Anblick erzittern.«

*

Weit hinter der Küste, an deren Klippen die Felsenstadt Cathar erbaut worden war, erstreckte sich die endlose Wüste. Monoton erschienen die großen Sanddünen - eine Warnung für alle, die diesen öden Strei-

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fen Land durchqueren wollten. Ungezählt blieben diejenigen, die trotz-dem dieses Wagnis auf sich genommen hatten, der trockenen Wüste zu trotzen - sei es aus Furcht vor Verfolgern oder einfach aus Aben-teuerlust. Man hörte nie wieder von ihnen. Der stetige Wüstenwind hatte ihre Gebeine mit Flugsand längst zugedeckt und ihre Spuren in diesem Niemandsland waren längst verweht...

Doch auch diese furchtbare Landschaft hatte Leben hervorge-bracht - in der Gestalt der N'begi. Furchtlose Nomadenkrieger waren das, die das besorgten, was Hitze und Durst nicht hatten erledigen können. Wer die Wüste schon fast hinter sich gebracht hatte und end-lich aufatmete, dass er dieser Hölle doch noch entkommen war, der fiel dann in die Hände der N'begi. Und dann wartete ein grauenhafter Tod auf die armen Teufel!

Die Wüstensöhne waren der Schrecken für zahllose Karawanen. Ihre schnellen Reittiere, die Hassas, hatten bisher jeden Flüchtenden einholen können.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als der einsame Reiter auf ei-ner Düne verharrte. Von Kopf bis Fuß in bunte, wallende Tücher ge-hüllt, schaute er hinab in die Senke. Seine scharfen Augen erfassten die reglose Gestalt dort unten, die der Sand bereits halb zugeweht hatte. Die Augen, der einzige unverhüllte Teil seines Gesichtes, zeigten deutliche Neugier, als er seinem Hassa die Fersen in die Seite stieß und hinab in die Senke ritt.

Jetzt konnte der Reiter weitere Einzelheiten erkennen. Es war ein großer Krieger, der dort bewusstlos im Sande lag. Dichtes blondes Haar fiel ihm weit in den Nacken.

Der N'begi stieg ab und näherte sich der besinnungslosen Gestalt. Mit der Vorsicht eines Wüstenkriegers, der jederzeit mit Gefahren rechnen musste, griff er zum Krummsäbel an seiner Hüfte und zog ihn heraus. Dann erst stieß er den Fremden mit dem Fuß an. Dieser rollte ein Stück zur Seite und der Nomade warf einen prüfenden Blick auf den muskulösen Körper des Mannes.

Er überlegte kurz, dann drehte er sich um und stieß einen lauten Schrei aus. Nur wenige Augenblicke danach tauchten oben auf der Düne fünf weitere Reiter auf, die nun auch sahen, was ihr Gefährte

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entdeckt hatte. Die N'begi verloren nicht viele Worte, sondern packten den bewusstlosen Fremden und rissen ihn einfach hoch. Sie fesselten ihn und warfen ihn quer über den Sattel eines ihrer Hassas. Danach hob einer der Männer die Hand und zeigte nach Süden. Die N'begi setzten sich daraufhin wieder in Bewegung. Leiser Wind kam auf, strich über die Dünen und wehte die Spuren der Krieger bereits wenig später wieder zu...

*

Nur langsam wichen die Schleier der tiefen Bewusstlosigkeit von ihm. Gedankenfetzen wirbelten in Thorins Kopf herum, während er sich mühsam zu erinnern versuchte, was geschehen war. Die Flucht aus den Kerkern, der Sprung in die wogende See und dann der Strand, an den ihn die Wellen gespült hatten.

Er konnte sich nur noch schwach daran erinnern, wie er sich dann aufgemacht hatte, um eine möglichst große Entfernung zwischen sich und Cathar zu bringen. Sein Weg hatte ihn in die Wüste geführt, wo er schon bald erschöpft zusammengebrochen war. Mit seinem Leben hat-te er bereits abgeschlossen und er glaubte sich schon im Hort der To-ten, bis...

Dann erst schlug Thorin die Augen auf und erblickte eine fremde Umgebung, die noch im Halbdunkel lag. Die glühende Hitze war ver-schwunden und er spürte gleichzeitig, dass er Hände und Beine nicht bewegen konnte. Man hatte ihn gefesselt und die Umgebung, in der er sich jetzt befand, erinnerte ihn an ein Zelt. Ein Gerüst aus schweren Stäben hielt die starke Plane aus Tuch. In einer Ecke entdeckte Thorin mehrere irdene Krüge und seine Zunge dürstete nach Wasser.

Das war der Augenblick, wo die Zeltplane beiseite geschlagen wurde. Ein vermummter Krieger trat ein. Als er sah, dass Thorin aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, drehte er sich um und rief einige Worte in einer kehligen Sprache, die Thorin noch nie zuvor vernom-men hatte. Dann traten zwei weitere Krieger ins Innere des Zeltes und beugten sich über den Gefesselten. Unsanft rissen sie ihn hoch und zerrten ihn hinaus ins Freie - bevor Thorin überhaupt registrieren

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konnte, was mit ihm geschah. Er war immer noch zu erschöpft von den Strapazen der Flucht.

Das grelle Licht der Sonne blendete Thorin und er kniff unwillkür-lich die Augen zusammen. Nur langsam konnte er sich an die gleißen-de Helligkeit gewöhnen, aber dann sah er seine nähere Umgebung deutlich vor sich.

Er befand sich offensichtlich im Lager eines Wüstenstammes, der ihn draußen in den Dünen gefunden und dann hierher geschleppt ha-ben musste. Thorin sah mehrere prachtvoll geschmückte Zelte, deren Eingänge mit Speeren und Lanzen verziert waren. Männer, Frauen und Kinder hatten eine schmale Gasse gebildet, die zu einem Arena ähnli-chen Ring führte. Thorin ahnte Schlimmes und er versuchte sich auf-zubäumen. Doch der Hieb eines Kriegers zeigte ihm deutlich, dass Wi-derstand völlig zwecklos war.

Sie schleppten den Nordlandwolf in den Ring und warfen ihn dort einfach zu Boden. Dann drückten sie seinen Kopf hinunter in den gel-ben Wüstenstaub, damit er sich vor dem Anführer verneigte. Der in weiße Tücher gehüllte Befehlshaber der Wüstenkrieger musterte den fremden Gefangenen mit harten Augen und sprach dann in der kehli-gen Sprache einige Worte zu Thorin.

»Ich verstehe dich nicht«, antwortete Thorin daraufhin. »Was willst du von mir?«

Der Anführer erwiderte gar nichts darauf, sondern hob stattdessen seine rechte Hand. Die Menge öffnete sich für einen hageren weißbär-tigen Mann, der offensichtlich eine gehobene Position im Wüstenvolk innehatte. Denn Thorin hörte das Raunen, das durch die Menge ging. Der Herrscher der N'begi deutete auf den Gefangenen und machte dem Weißbärtigen klar, näher zu kommen. Daraufhin beugte sich die-ser zu Thorin nieder und redete auf ihn ein - aber erneut schüttelte der Nordlandwolf nur den Kopf.

»Ich verstehe eure Sprache nicht, Alter«, versuchte es Thorin wieder. »Einar möge mir beistehen, aber ich weiß wirklich nicht, was du von mir willst...«

Als der Name des einäugigen Gottes fiel, war in den Augen des al-ten Mannes ein plötzliches Aufleuchten zu erkennen.

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»Nordmann...«, flüsterte er leise zu Thorins großer Verwunderung in dessen Sprache. »Du bist ein Krieger aus dem Eisland...«

Dann wandte er sich auch schon ab und rief dem Herrscher des Wüstenstammes einige Worte zu. Auf sein Geheiß hin eilten die Krie-ger zu Thorin und befreiten ihn von den Fesseln. Das angestaute Blut schoss schmerzhaft zurück in Thorins Hände, aber er ließ sich nichts anmerken.

Sie brachten ihm einen Krug mit Wasser, den er dankbar entge-gennahm. Er wusste zwar nicht, was das alles jetzt zu bedeuten hatte, aber er nutzte diese Gelegenheit, um seinen Durst zu löschen. Thorin trank in tiefen Zügen und spritzte sich anschließend eine Handvoll Wasser ins Gesicht.

»Kampf!«, schrie der Alte nun in Thorins Sprache. »Du musst kämpfen oder sterben, Nordmann!«

Der Weißbärtige gab den Wüstenkriegern einen kurzen Befehl und aus den Reihen der Männer trat ein Berg von einem Krieger - kahl bis auf eine einzige Haarlocke. Herausfordernd schwang er seinen Krummsäbel und blickte Thorin grimmig an.

»Kämpfe mit ihm, Fremder!«, rief der alte Mann. »Besiegst du ihn, so bist du frei und kannst gehen, wohin du willst. Wenn nicht, dann...«

Er vollendete diesen Satz nicht, aber Thorin hatte auch so ver-standen, dass er keine andere Wahl hatte. Einer der Wüstensöhne drückte Thorin ein Schwert in die Hand und als er den harten Stahl spürte, flammte ein jäher Kampfeswille in ihm auf. Bei allen Göttern, so lange er lebte, würde er niemals aufgeben. Und jetzt erst recht nicht!

Ein Hornsignal ertönte und der Kampf zwischen dem hünenhaften Wüstenkrieger und dem Nordlandwolf begann. Beide umkreisten sich lauernd, die Schwerter zum Todesstoß bereit.

Thorin hielt sich seinen Gegner mit kraftvollen Schwerthieben vom Leibe. Dieser war zwar größer und um einiges stärker, doch Thorins Geschick, die Waffe zu führen, glich diesen Nachteil wieder aus.

Der Wüstenkrieger stieß einen schrillen und durchdringenden Kampfschrei aus und versuchte erneut, seinem verhassten Gegner eine tödliche Wunde beizubringen. Der Krummsäbel zischte gefährlich

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nahe an Thorins Kehle vorbei. Doch wieder gelang es dem Nordland-wolf, der scharfen Klinge zu entgehen und stattdessen seinem Gegner einen Streich zu verabreichen. Und schließlich geschah das, worauf Thorin gewartet hatte - der Wüstenkrieger bot Thorin für einen winzi-gen Moment lang die ungeschützte Brust!

Thorin stieß die scharfe Klinge sofort vor, die dem Gegner in der Nähe des Herzens eindrang. Mit einem Röcheln sank der Hüne zu-sammen und der Krummsäbel entglitt den kraftlosen Fingern. Dann zuckte er noch ein letztes mal und starb nur wenige Atemzüge später.

Mit dem Schwert in der Hand blickte Thorin misstrauisch in die Runde. Er lauerte darauf, dass nun die anderen Stammesmitglieder den Tod des Kriegers rächen würden. Doch nichts dergleichen ge-schah. Es kam alles so, wie es der weißbärtige Alte gesagt hatte. Der Nordlandwolf hatte den Kampf für sich entschieden und war nun ein freier Mann. Niemand würde sich ihm jetzt in den Weg stellen und ihm nach dem Leben zu trachten versuchen. Er hatte alles gewagt und den tödlichen Kampf gewonnen - gab es einen deutlicheren Beweis für einen solchen Mut?

*

Zwischen den Nomadenzelten flackerte ein großes Feuer. Die Krieger der N'begi waren zwar hart und grausam, aber auch gerecht. Und so betrachteten sie Thorin als vollwertigen Krieger nach allen Regeln ihres Stammes. So erfuhr Thorin die Geschichte dieses Wüstenvolkes und lernte sie zu verstehen. Im Leben der N'begi gab es nur einen einzigen Mittelpunkt - nämlich den Kampf. Um in der Wüste zu überleben, durf-ten sie keine Schwäche zeigen.

»Du hast einen weiten Weg hinter dir, Nordmann«, richtete nun der Alte das Wort an ihn. Sein Name war M'bogo und er war der Schamane des Stammes, wie Thorin kurz zuvor erfahren hatte.

»Und er führt sogar noch weiter«, griff Thorin die unausgespro-chene Frage M'bogos auf. »Ich will nach Süden - vielleicht kann dein Volk mir ja bei meiner Suche helfen...«

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M'bogo blickte erstaunt drein, als er Thorins Worte vernahm. So erging es auch den übrigen Männern am Feuer, als der Schamane ih-nen Thorins Worte übersetzte.

»Im Süden gibt es nichts als den Tod«, sagte M'bogo wenig später zu Thorin. »Dort lauern vielerlei Gefahren. Warum willst du dies alles auf dich nehmen?«

»Ich suche Sternfeuer, das Schwert der Götter«, klärte Thorin den N'begi auf. »Wie ich hörte, befindet es sich in der Dschungelstadt Noh'nym, an einem Ort, den man den Tempel der vergessenen Helden nennt...«

Erneut breitete sich Entsetzen in den Gesichtern der N'begi aus, denn sie hatten den Namen der Dschungelstadt vernommen. Nun er-griff der Herrscher des Stammes das Wort und redete hastig auf den Schamanen ein. Seine Miene war eine Mischung aus Furcht und Be-wunderung.

»Weißt du, was du tust?«, fragte ihn M'bogo und bemerkte, wie Thorin entschlossen nickte. »Auch Männer unseres Volkes hatten die-ses Ziel schon einmal vor Augen«, fuhr er dann fort. »Wir haben nie wieder von ihnen gehört. Wahrscheinlich sind sie längst tot...«

»Trotzdem lasse ich mich nicht davon abhalten«, erwiderte Tho-rin. »Ich habe geschworen, Sternfeuer zu finden. Vielleicht zürnen uns dann die alten Götter nicht mehr...«

»Das sind große Worte für einen Sterblichen«, antwortete der Schamane. »Aber wir wollen dich auf deinem Weg nach Süden nicht aufhalten. Du bekommst ein Hassa von uns und genügend Proviant.«

»Kennst du denn den Weg, den ich nehmen muss?«, wollte Thorin jetzt wissen, sah aber, wie M'bogo kurz den Kopf schüttelte.

»Du musst über die Hungerberge nach Süden, wenn du den Dschungel erreichen willst«, fuhr der Schamane fort. „Dort befindet sich ein Pass, den du überqueren musst. Es gibt keinen anderen Weg, die Zitadelle Ranyrs zu umgehen.«

Er sah, wie ihn Thorin fragend anblickte und lächelte bitter, bevor er weiter sprach.

»Schon dort wird dein Weg zu Ende sein, mein Freund«, klärte er Thorin auf. »Ranyr ist ein Magier der Finsternis. Seine Todeszitadelle

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steht mitten auf dem Pass, der auf die andere Seite der Berge hinab in den Dschungel führt. Du musst dich ihm stellen, wenn du dein Ziel jemals erreichen willst. Aber Ranyr ist mächtig und hat die Dämonen auf seiner Seite. Viele sind in seine Hände gefallen und eines grausa-men Todes gestorben...«

Er blickte bei diesen Worten den Nordlandwolf an, erkannte aber auch gleichzeitig, dass Thorin trotz aller Gefahren diesen Weg be-schreiten würde. Wieder ein mutiger Mann, der das Götterschwert erringen wollte und niemals mehr zurückkehren würde!

*

Die Wüste lag längst hinter ihm und die Eintönigkeit der Dünen war einer wilden zerklüfteten Felsenlandschaft gewichen. Das Hassa, das ihm die N'begi gegeben hatten, war zäh und ausdauernd und suchte sich seinen Weg zwischen den mit Felsbrocken übersäten Pfaden.

Irgendwo weit hinter ihm in der Ferne lag das Zeltlager der No-maden. Thorin dachte daran, als seine Finger die silberne Kette des Talismans ertasteten. M'bogo hatte ihm die Kette mitgegeben, in der Hoffnung, dass sie ihn vor den Dämonen schützte.

Der Nordlandwolf zügelte sein Reittier und nahm einen tiefen Zug aus dem Wasserbeutel. Er befand sich schon tief in den Hungerbergen und keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Nur das Schnauben des Hassas durchbrach ab und zu die Stille, die schon bei-nahe unheimlich wirkte. Hoch über Thorin kreiste ein einsamer Vogel.

Thorin trieb das Hassa wieder an und folgte dem Pfad, der in hö-here Regionen der Berge führte. Aus nächster Nähe wirkten die bizar-ren Felsen jetzt noch bedrohlicher. Wind und Wetter hatten eigenarti-ge Formen in das Gestein hinein geschliffen, hatten die Gebirgsland-schaft ganz markant gestaltet. Zahllose Schluchten und Abgründe brei-teten sich vor Thorins Augen aus und er hörte den stetigen heulenden Wind. Unwillkürlich tastete seine Hand nach dem Knauf des Schwertes.

»Zauberwerk ist das«, murmelte er und sah erneut die kreisenden Vögel, die sehr viel mehr geworden waren. Sie schienen Thorin auf seinem Weg in die Berge aus unerklärlichen Gründen zu folgen. Es

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waren große Vögel mit mächtigen Schwingen und sie geleiteten mit dem Wind, der sie hoch hinauf trug. Fast bis zum höchsten Punkt der Berge.

Der Pfad wurde jetzt schmaler und die Felswände zu beiden Sei-ten immer höher. Steil führte der Weg nach oben. Thorin musste schließlich absteigen und sein Tier am Zügel führen.

Am Ende das Pfades erkannte er plötzlich ein eigenartiges Leuch-ten - so als würde sich etwas im Sonnenlicht widerspiegeln. Thorin zog sein Schwert aus der Scheide und ging dann erst weiter. Schon bald erkannte er, dass die Warnung des alten Schamanen zu recht bestand.

Oben auf einem breiten Plateau stand sie - die mächtige Zitadelle des Magiers Ranyr. Drohend und wuchtig wie ein Mahnmal aus ver-gangenen Zeiten. Sie war ganz aus weißem Kalkstein gebaut und die Kuppeln der Türme gleißten im Sonnenlicht. In den dunklen, schmalen Öffnungen glaubte Thorin, flüchtige Bewegungen erkannt zu haben - aber er konnte nichts Genaues feststellen.

Erneut kam Wind auf, als der Nordlandwolf seinen Weg vorsichtig fortsetzte. Dann sah er die verhüllte Gestalt, die aus dem Schatten des großen Toreingangs hervortrat. Der Wind trug Sandkörner mit sich und wurde immer stärker, so dass Thorin nur Schemen erkennen konnte. Er kniff die Augen zusammen und als er sie wieder öffnete, war die Gestalt im Toreingang ganz plötzlich wieder verschwunden!

Ein Schauder überkam ihn, als ihm bewusst wurde, dass die teufli-sche Magie ihn in ihren Bann zu ziehen versuchte. Selbst der Sturm war bestimmt nicht natürlichen Ursprungs gewesen - denn jetzt wurde er noch stärker und der Himmel verdunkelte sich. In der Ferne zeich-neten sich schwere Sturmwolken ab. Das Unwetter würde gewiss nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Nur noch wenige Schritte trennten ihn jetzt von dem bedrohlich wirkenden Eingang zur Zitadelle. Hinter seinem Rücken tobte der Sturm jetzt immer heftiger. Sand wurde hoch empor gewirbelt, so dass nur die nähere Umgebung klar zu erkennen war. Bereits die Felsen am Ende des Pfades waren zu undeutlichen Schemen geworden.

Das Hassa war ganz unruhig und riss an den Zügeln. Das Tier wit-terte die Gefahr und gebärdete sich wie wild. Thorin hatte alle Mühe,

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das Hassa zu beruhigen. Er band das Tier in der Nähe des Tors an einem Felsen an und ging dann mit gezücktem Schwert vorsichtig wei-ter.

Kurz verharrte er vor dem mächtigen Tor und starrte auf die bei-den in den Stein gemeißelten gewaltigen Bilder. Wann hatte sich die-ses Tor wohl zum letzten mal für einen Besucher geöffnet? Dieser Ge-danke schoss Thorin durch den Kopf, während er langsam weiterging.

Als hätte eine unsichtbare Macht seine Gedanken gelesen, öffne-ten sich plötzlich die beiden Flügel des Tores. Das Geräusch, mit dem sich der Eingang ins düstere Innere der Zitadelle auftat, ging ihm durch Mark und Bein. Schrill kreischten die Scharniere, während aus dem dunklen Hintergrund wispernde Gesänge schwach zu vernehmen waren.

Alles, was Thorin erkennen konnte, war düstere Schwärze, aber der schwache Gesang wurde jetzt immer deutlicher, übertönte sogar das stetige Heulen des Windes von draußen. Es war ein merkwürdiger Choral in einer fremden Sprache, der von überall her zu kommen schien. Unheimlich und beängstigend klang das und Thorin spürte, dass hier in dieser Zitadelle etwas hauste, das nicht von dieser Welt war.

Langsam setzte er seinen Weg fort, durchschritt jetzt das Tor und blickte sich gleichzeitig nach allen Seiten um. Er erblickte eine mächti-ge Halle, deren Boden von einer Unmenge Staub überlagert war.

Irgend eine ätzende Flüssigkeit tropfte von der verschimmelten Decke und bildete auf dem ohnehin staubigen Fußboden einen zusätz-lichen weißen Belag. In Ecken und Nischen standen alte Skulpturen, deren Gesichter die von Ungeheuern und Dämonen waren. Tausende Fratzen starrten Thorin entgegen, als er seinen Weg ins Innere der Zitadelle fortsetzte.

Er schritt einen Gang entlang, der sich weiter vorn gabelte. Immer wieder drehte er sich um und blickte hinter sich, weil er geglaubt hat-te, aus einer Ecke ein leises Raunen zu hören. Aber alles, was er tat-sächlich vernahm, war eine tödliche Stille. Es schien fast, als wohne schon seit Jahrhunderten niemand mehr in diesem Bauwerk. Und doch

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war der Nordlandwolf ganz sicher, dass der dämonische Magier ir-gendwo im Dunkel schon auf ihn lauerte.

Genau in diesem Augenblick erschien am Ende des Ganges ein unwirkliches Licht. Zuerst glaubte Thorin an eine Sinnestäuschung, das Licht wurde aber immer greller, bis er sich die Hand schützend vor die Augen halten musste, um nicht geblendet zu werden. Das Licht erfüllte jetzt ganz den düsteren Gang und der Nordlandwolf vernahm eine dunkle und tief tönende Stimme, aus der die Macht von Jahrtausenden klang.

»Du bist in meine Zitadelle eingedrungen, Fremder!«, hallte es von den feuchten Wänden wider. »Geh zurück, von wo du gekommen bist - oder du findest hier den Tod!«

»Zeig dich in deiner wahren Gestalt!«, rief Thorin mit hoch empor gerecktem Schwert. »Wenn du nicht feige bist, dann kämpfe mit mir!«

Dumpfes Gelächter erschallte und das Licht verschwand im selben Moment wieder. Zurück blieb eine große Gestalt, deren Gesicht von einer breiten Kapuze verborgen wurde.

Bleiche Hände ragten aus dem Gewand hervor, die sich Thorin drohend entgegenreckten.

»Du willst mich zum Kampf herausfordern?«, rief der Magier höh-nisch und lachte dabei erneut verächtlich. »Dann komm und hol dir, was du verdient hast!«

Thorin reagierte sofort und stürmte mit der Waffe in der Hand nach vorn. Die Klinge sollte den dämonischen Gegner ins Herz treffen, doch dazu kam es nicht mehr. Plötzlich spürte der Krieger aus den Eisländern, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Geistesge-genwärtig versuchte Thorin mit einem großen Sprung, dieser plötzli-chen Falle auszuweichen, aber das gelang ihm nicht mehr.

Ranyrs Zitadelle war voller Fallen und schon die erste hatte Tho-rins ins Verderben geführt. Unter seinen Füßen öffnete sich eine dunk-le Grube. Das Schwert entglitt seinen Fingern, als er in die Tiefe stürz-te. Und über ihm erklang das grausame Lachen des dämonischen Ma-giers...

*

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Der Schacht, in den Thorin gerissen wurde, senkte sich schräg in die Tiefe. Er rollte und stürzte über die glitschigen Quader tief in das Inne-re der Zitadelle. Dann wich der Boden endgültig unter ihm und er fiel in eine gähnende Leere.

Der anschließend folgende Aufprall hätte einem Schwächeren ganz sicher alle Knochen gebrochen. Aber Thorins geübte Muskeln halfen ihm auch jetzt wieder. Er fing sich ab, kam aber dennoch schmerzhaft auf dem harten Boden auf - aber nur, um sich rasch wie-der geschmeidig zu erheben. Sein Schwert lag nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er bückte sich und riss die Waffe rasch an sich.

Erst jetzt nahm er seine Umgebung genau wahr. Thorin befand sich in einem düsteren Kerker. Kalt und feucht war es hier unten und an der gegenüberliegenden Seite öffnete sich das Verlies zu einem schmalen Gang. Wohin dieser führte - das mochten nur die Götter wissen.

»Dort wartet der Tod auf uns, Fremder«, erklang auf einmal eine leise Stimme hinter Thorin. Sofort fuhr dieser herum, riss das Schwert hoch und erkannte dann einen dunkelhäutigen Mann, der an der Ker-kerwand lehnte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sterben wer-den«, fuhr er dann fort und ignorierte das auf ihn gerichtete Schwert. »Der teuflische Magier hat uns in der Hand.«

»Wer bist du?«, unterbrach ihn Thorin, denn er witterte eine wei-tere Falle.

»Ich bin N'doro - ein Krieger aus dem Volk der N'begi«, erwiderte der Dunkelhäutige. »Genau wie du war ich auf dem Weg zum Dschun-gel, als ich in Ranyrs Falle tappte. Nun warte ich hier auf den Tod...«

»Woher weißt du, dass ich auf dem Weg nach Süden bin?«, schnitt ihm Thorin erneut das Wort ab und ließ die Klinge immer noch licht sinken. »Sprich schnell, bevor ich dich mit andere Weise zum Re-den bringe. Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann.«

Angesichts der scharfen Klinge verhielt sich der Dunkelhäutige immer noch recht gelassen. Vielleicht war das aber auch nur Gleichgül-tigkeit angesichts seiner ausweglosen Lage. Thorin wusste nicht, wie lange dieser Mann schon hier unten gefangen war.

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»Du kannst dein Schwert wegnehmen, Fremder«, sagte N'doro. »Alle, die in Ranyrs Falle tappen, wollen zum Dschungel, wo der Tem-pel der vergessenen Helden liegt. Also, Fremder - wie ist dein Name? Bevor wir den Tod finden, sollten wir wissen, wer der andere ist.«

Thorin ließ dennoch sein Schwert nur langsam sinken und behielt den dunkelhäutigen Krieger nach wie vor im Auge.

»Was redest du schon vom Sterben?«, fuhr er N'doro an. »Noch sind wir am Leben - und ich werde darum bis zum letzten Atemzug kämpfen. Ich heiße Thorin und komme aus den Eisländern des Nor-dens. Ich habe noch nie so rasch aufgegeben und werde es auch jetzt nicht tun. Wie lange bist du schon hier und wohin führt dieser Gang dort?«

Der Krieger vom Wüstenvolk der N'begi wich Thorins prüfenden Blicken aus, als er zu einer Antwort ansetzte.

»Die gleichen Fragen hat mir schon ein wandernder Söldner ge-stellt, der ebenfalls in Ranyrs Falle ging. Er folgte diesem Gang und kam nie mehr zurück - das ist schon eine Ewigkeit her. Hier unten ver-liert man das Gefühl für Raum und Zeit...«

»Ich war erst vor wenigen Tagen bei deinem Volk, N'doro«, erwi-derte Thorin. Er schilderte daraufhin seine Flucht aus Cathar und wie er durch die Wüste geirrt war, bis ihn die Nomadenkrieger gefunden hatten. Die Augen des Dunkelhäutigen weiteten sich voller Staunen, als er von dem Zweikampf erfuhr.

»Du hast sogar mit dem weisen M'bogo gesprochen?«, fragte N'doro. »Dann musst du wirklich ein besonderer Krieger sein.«

»Ich habe nur tapfer gekämpft«, antwortete Thorin. »Und das hat er respektiert. Aber du hast immer noch nicht meine Frage beantwor-tet. Wohin führt dieser Gang und wie lange bist du schon hier?«

»Du willst Antworten? Dann sollst du sie auch bekommen«, mein-te N'doro. »Fast vor zwei Monden schon habe ich mein Volk verlassen, um nach Sternfeuer zu suchen. Seitdem bin ich hier gefangen. Aber vor einigen Tagen erhielt ich Gesellschaft. Ein Söldner aus dem Osten geriet in Ranyrs Falle.«

»Er folgte diesem Gang dort«, erzählte der Dunkelhäutige weiter. »Ich habe ihn niemals wieder gesehen. Das einzige, was ich noch hör-

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te, war ein grauenvoller Schrei weit unten in den Gewölben und ein grauenhaftes Knurren. Das war alles...«

»Trotzdem bleibe ich nicht hier«, antwortete Thorin. »Wenn du dich mir anschließen willst, dann komm mit.«

Der dunkelhäutige Wüstenkrieger schwieg zunächst. Aber dann ging ein Ruck durch seinen Körper und vertrieb die Lethargie, die schon seit langem von ihm Besitz ergriffen hatte.

»Also gut, ich gehe mit dir«, sagte er. Thorin nickte nur, nahm sein Schwert und ging voran. Zusammen machten sie sich nun auf den Weg ins Ungewisse.

*

Der Gang wurde zusehends schmaler und enger. Bisweilen musste sich Thorin bücken, um nicht an der niedrigen Decke anzustoßen. Trübes Licht aus einer unbekannten Quelle tauchte die Gewölbe in eine mil-chig graue Helligkeit, die unheimlich wirkte. Von der Decke tropfte eine Flüssigkeit mit einem dumpfen Klatschen auf den feuchten Boden. Die Luft hier unten roch wie in einer Gruft, die eines Menschen Fuß schon seit Äonen nicht mehr betreten hatte.

Langsam gingen sie weiter und sahen, wie der Gang eine Biegung machte und sich dann wieder erweiterte. Jetzt konnten sie aufrecht gehen und gelangten so in eine kuppelartige Höhle. Riesenhaft und unheimlich wirkte sie. Große Tropfsteine hingen von der Decke herab und warfen gespenstische Schatten. Weiter hinten gabelte sich der Gang.

»Welchen Weg nehmen wir?«, durchbrach die Stimme des Wüs-tenkriegers die Stille.

»Ich weiß nicht«, antwortete Thorin, während er seine Blicke um-herschweifen ließ. »Aber wir müssen uns entscheiden. Ich spüre die Gefahr...«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als ein dumpfes Grol-len ertönte, das weit hinten aus der Höhle kam. N'doro zuckte ganz erschrocken zusammen.

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»Was ist das, Thorin?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Hast du das auch gehört?«

Der Nordlandwolf nickte stumm. Er blickte ins Halbdunkel, konnte aber nichts erkennen. Aber irgend etwas lauerte dort hinten!

Im gleichen Augenblick ertönte hinter ihnen ein Klirren. N'doro fuhr herum und sah entsetzt, dass plötzlich wie von Geisterhand ein massives Gitter heruntergefallen war und ihnen den Weg zurück ver-sperrte. Jetzt waren sie Gefangene in diesem kuppelähnlichen Gewöl-be, während vor ihnen erneut dieses dumpfe Grollen ertönte, das selbst Thorin frösteln ließ.

Herausfordernd riss er sein Schwert hoch und wartete ab. Er musste nicht lange warten. Auf einmal zeichneten sich im Halbdunkel zwei große rote Augen ab. Nur wenige Atemzüge später sah Thorin die Konturen eines unförmigen Wesens, das mit langsamen gleitenden Bewegungen auf ihn und N'doro zu kroch.

»Bei allen Göttern!«, schrie der Wüstenkrieger erschrocken. »Eine Riesenschlange!«

Langsam schob sich ein Lindwurm gewaltigen Ausmaßes auf die beiden Männer zu. Ein Monster aus der Urzeit, das hier unten in der Welt des Zwielichts sein Leben fristete. Das Haupt der Riesenschlange besaß fast menschliche Züge, doch die lidlosen Augen blickten un-menschlich und kalt. Der große Körper war rundum mit Schuppen be-deckt und die klebrige Zunge zuckte gierig aus dem Riesenrachen her-vor.

Thorin ließ sich jedoch von dem furcht erregenden Ungeheuer nicht in Panik versetzen. Der Kriegsschrei der Nordmänner kam über seine Lippen, als er mit gezücktem Schwert auf die Schlange losging.

Der dämonische Kopf der Kreatur zuckte vor und schnappte nach Thorin. Aber dieser sprang im letzten Augenblick zur Seite und entging der klebrigen Zunge. Das Ungetüm zischte wie besessen, als es seiner Beute nicht habhaft werden konnte. Stattdessen holte Thorin nun aus und versetzte der Schlange einen kräftigen Hieb mit der Klinge. Aber die Waffe prallte wirkungslos an den harten Schuppen ab. N'doro sah das und rief Thorin eine Warnung zu, während er sich ebenfalls vor

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dem zuschnappenden Maul der Schlange in Sicherheit brachte. Denn jetzt hatte es die Bestie auf ihn abgesehen!

»Die Augen, Thorin!«, schrie N'doro. »Du musst die Augen treffen, sonst sind wir verloren!«

Thorin hörte die Worte des Gefährten und handelte sofort. Wäh-rend das Ungeheuer noch dem dunkelhäutigen Krieger nachstellte, sprang Thorin mit einem gewaltigen Satz auf den Rücken des Lind-wurms - unmittelbar hinter den Kopf. Er zielte kurz und die scharfe Klinge bohrte sich in eines der großen roten Augen.

Die Schlange brüllte so laut auf, dass das Gewölbe erzitterte. Sie bäumte sich wild auf und Thorin konnte sich nicht mehr auf dem Rü-cken halten. Er stürzte hinunter, sprang aber rasch wieder auf und zielte mit der Hinge sofort nach dem anderen Auge. Als die Waffe sich dann ins Ziel bohrte, brüllte die gewaltige Schlange noch lauter auf.

Der ganze Körper zuckte und wand sich im Todeskampf. Thorin musste zur Seite springen, während sich der grauenhafte Kopf, aus dessen geblendeten Augenhöhlen das Blut in dicken Strömen schoss, im Todeskampf hin und her wand. Schließlich verendete die große Schlange und ließ das Gewölbe dabei noch ein letztes mal erzittern.

Gleichzeitig verwandelte sich der geschuppte Leib in eine mensch-liche Gestalt, die allmählich feste Formen annahm. Noch bevor die Umwandlung vollständig abgeschlossen war, erkannte Thorin, wer die Schlange in Wirklichkeit gewesen war. Zu seinen Füßen lag der Leich-nam des in Kapuzengewänder gehüllten Magiers Ranyr!

»Dämonenspuk«, flüsterte N'doro, der noch am ganzen Leibe zit-terte. »Thorin, lass uns verschwinden von hier. Dieser Ort ist grauen-haft...«

Thorin ließ erst jetzt sein Schwert sinken und blickte ein letztes mal auf den Leichnam des Magiers - als erwarte er noch im letzten Moment, dass der Dämon nochmals zum Leben erwachen würde. Aber es geschah nichts. Ranyr war tot.

Zusammen mit N'doro folgte Thorin dem Pfad durch das Gewölbe. Keiner von beiden blickte zurück. Das milchig-weiße Licht, das bisher die Grotten und Verliese erhellt hatte, wich allmählich einem natürli-chen hellen Schein, der von weit oben zu kommen schien. Erst jetzt

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wurde den beiden so richtig bewusst, wie tief sie sich unter der Erde aufgehalten haben mussten. Aber die Gefahr war nun ein für alle mal gebannt. Ranyr würde nie wieder ahnungslose Wanderer in eine tödli-che Falle locken!

Der helle Lichtfleck weiter oben wurde allmählich größer. Thorins Schritte wurden schneller, als er bemerkte, dass der Ausgang aus die-sen finsteren Gewölben greifbar nahe war. Wenig später standen er und N'doro im Eingang eines breiten Felsentores, das den Blick auf die Außenwelt freigab.

»Wir haben es geschafft«, murmelte Thorin voller Erleichterung. »Du kannst den Göttern danken, dass wir mit dem Leben davon-

gekommen sind«, sagte der Nordlandwolf zu N'doro. »Aber wir sind unserem Ziel ein deutliches Stück näher gekommen. Schau nach Sü-den!«

Er zeigte mit der ausgestreckten Linken hinab ins Tal. Vor ihnen breitete sich ein endloses grünes Meer bis weit über den Horizont hin-aus aus. Hier begann der große Dschungel. Wie weit er sich nach Sü-den erstreckte, das wussten weder Thorin noch N'doro. Nur eins war ihnen klar - irgendwo dort unten zwischen Farnen und Pflanzen befand sich Noh'nym, die vergessene Stadt, wo die Götterklinge Sternfeuer auf denjenigen wartete, der diese Waffe erringen konnte.

Thorin dachte in diesem Augenblick unwillkürlich daran, dass nur einer von beiden das Schwert besitzen konnte. Aber wer würde es sein?

*

Die Luft war feucht und von vielen verschiedenen Gerüchen durchwo-ben. Irgendwo hoch in den Baumwipfeln, die ein einziges natürliches Dach bildeten und die Strahlen der Sonne bis zum Boden überhaupt nicht durchkommen ließen, ertönte der krächzende Ruf eines unbe-kannten Vogels. Schon wenig später antwortete darauf eine zweite Vogelstimme.

Thorin blieb stehen und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Sein Gefährte N'doro hatte ebenfalls mit dem Dickicht des Dschungels

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zu kämpfen. Es gab hier keinen Weg - sie mussten ihn sich selbst bah-nen. Wo es kein Vorwärtskommen mehr gab, hob Thorin sein Schwert und hieb einen Pfad durch die Lianen und Dornenpflanzen, die sich nur schwer zurückdrängen ließen. Als wollten sie die fremden Eindringlinge am Weitergehen hindern!

»Es ist die reinste Hölle!«, stöhnte der dunkelhäutige Wüstenkrie-ger, der weiter von seinem Stamm entfernt war als jemals zuvor. »Ob wir hier jemals durchkommen?«

»Du musst nicht fragen, sondern handeln«, erwiderte Thorin. »Wenn du zögerst, dann kommst du nie ans Ziel. Du willst doch auch das Schwert der Götter erringen, oder? Denkst du vielleicht, es kommt dir entgegen und fliegt in deine Hände?« Er lachte kurz auf und schlug dann weiter auf das Pflanzendickicht ein, das Schwert fest mit beiden Händen umschlossen.

In diesem Augenblick glomm erster Zorn in den Augen des Wüs-tenkriegers auf. Thorin konnte das aber nicht sehen, sonst wäre er vorsichtiger gewesen. N'doro sah in Thorin nicht mehr denjenigen, der ihm das Leben gerettet hatte, sondern betrachtete ihn jetzt als einen Rivalen im Kampf um das Schwert der Götter.

Seine Fäuste ballten sich zusammen und dann tastete er nach dem gekrümmten Dolch, der im Gürtel seiner weiten Hose steckte. Jetzt hätte er seinen Gegner von hinten aus dem Weg räumen können. Aber noch konnte er seinen eigenen Schatten nicht überspringen...

So marschierten sie beide schweigend weiter nach Süden. Die Fel-senwildnis und die Zitadelle des Magiers lagen schon weit hinter ihnen zurück. Nichts als grüner Dschungel umgab sie von allen Seiten. Arm-dicke Lianen streckten sich ihnen entgegen und mehr als einmal hak-ten sich dornige Ranken um die Beine der Männer, wollten sie daran hindern, ihren Weg fortzusetzen.

Aber Thorin und N'doro gaben nicht auf. Das geheimnisvolle Schwert in der vergessenen Stadt lockte und deshalb kämpften sie sich weiter durch die grüne Hölle.

Hoch über den Baumwipfeln versank die Sonne allmählich in ei-nem feuerroten Meer am Horizont. Das Licht, dessen spärliche Strah-len jetzt sich bis auf den Dschungelboden verirrte, war spürbar weni-

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ger geworden. Dämmerung breitete sich schon zwischen den alten Bäumen aus, als Thorin schließlich innehielt.

»Es ist zu gefährlich, weiterzugehen«, sagte er zu N'doro. »Dort in den Zweigen der Bäume würde ich mich die Nacht über

sicher fühlen«, antwortete dieser und Thorin stimmte ihm zu. Seine Blicke richteten sich jetzt auf einen der Bäume, dessen Geäst breit und ausladend war und Platz zum Schlafen bot.

»Da ist etwas, über das wir noch reden sollten, Thorin«, sagte der Wüstenkrieger. »Es ist Zeit dafür. Du weißt genau, dass das Götter-schwert nur einem von uns gehören kann. Was ist, wenn wir die ver-gessene Stadt erst erreicht haben?«

»Wenn du jetzt schon eine Antwort erwartest, dann kann ich sie dir nicht geben«, meinte Thorin daraufhin. »Der Bessere sollte gewin-nen - aber das werden die Götter entscheiden und nicht einer von uns!«

»Ich bin dir dankbar, dass du mir das Leben gerettet hast«, fuhr N'doro daraufhin fort. »Ohne dich wäre ich wahrscheinlich schon angst tot. Aber genau wie du habe auch ich meine Heimat verlassen, um nach Sternfeuer zu suchen - und ich will es haben...«

»Also bist du mein Gegner, sobald wir in Noh'nym sind?«, stellte Thorin die Gegenfrage. »Ist es das, worauf du hinaus willst?«

»Du sagst es«, pflichtete ihm N'doro bei. »Nur einem von uns kann Sternfeuer gehören und ich weiß, dass du es nicht sein wirst, Thorin!«

Die letzten Worte hatten ziemlich erregt gelungen. Thorin fiel aber auf, dass ihn der Wüstenkrieger nicht direkt anschaute. Stattdessen ging sein Blick an Thorin vorbei und blieb dort auf etwas haften, was von großer Wichtigkeit sein musste.

Thorin ließ N'doro nicht aus den Augen und erkannte, wie der Blick des Wüstenkriegers auf einmal einen triumphierenden Schimmer annahm. In diesem Moment warf sich Thorin hastig zur Seite, von ei-nem unguten Gefühl getrieben. Die faustgroße Spinne, die gerade ihre giftigen Fühler ausgestreckt hatte, um ihm den Tod zu bringen, stieß ins Leere.

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»Du elender Hund!«, entfuhr es Thorin, während seine Hand nach dem Schwert tastete. »Die Spinne hätte mich töten können und du hast mich noch nicht einmal gewarnt!« Während er das sagte, zertrat er das widerliche Geschöpf mit dem Fuß.

»Na gut, das Schicksal hat also entschieden, dass wir beide die vergessene Stadt erreichen werden«, sagte N'doro und ging auf Tho-rins zornige Bemerkung überhaupt nicht ein. »Ich schwöre dir, dass ich jetzt Frieden halten werde, bis wir die Stadtmauern erreicht haben. Aber dann sind wir Feinde...«

»Wenn du meinst«, antwortete Thorin. »Aber sieh dich vor. Hüte dich vor der Klinge meines Schwertes. Es sind ihr schon ganz andere zum Opfer gefallen als du...«

Mit diesen Worten beendete er das Gespräch und kletterte in das Geäst des Baumes. Der dunkelhäutige Krieger folgte ihm schweigend und streckte sich nicht weit entfernt von Thorin in den Zweigen aus. Wenig später hörte Thorin ihn ruhig und regelmäßig atmen. Ein Zei-chen dafür, dass N'doro bereits eingeschlafen war.

Thorin blieb jedoch noch lange wach, bis schließlich auch ihn die bleierne Müdigkeit überfiel. Mit der Hand am Schwertknauf schlief er dann ein. Wilde unruhige Träume plagten ihn, während unter ihm der nächtliche Dschungel zum Leben erwachte...

*

Früh am nächsten Morgen setzten Thorin und N'doro ihren Weg fort. Je tiefer sie in den Dschungel eindrangen, um so wortkarger wurden sie beide. Denn jeder von ihnen wusste, dass der Tag der Auseinan-dersetzung nicht mehr fern war.

Thorin traute seinem Begleiter nicht mehr. Er selbst hätte nie dar-an gedacht, einen Gefährten von hinten zu ermorden - wenn, dann nur im offenen und ehrlichen Kampf. Aber die Augen N'doros hatten einen seltsamen Glanz angenommen, so dass Thorin jetzt auf der Hut war. Er wollte nicht all die Strapazen des mühseligen und beschwerli-chen Marsches auf sich genommen haben - nur um hier in der grünen

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Hölle sein Leben durch die Hand eines Mannes zu verlieren, dem er vertraut hatte.

Der Pfad, den sie sich selbst gebahnt hatten, wurde jetzt zuse-hends steiler. Es dauerte nicht lange, bis sie den höchsten Punkt eines Hügels erreicht hatten. Von hier aus sahen sie den dichten Teppich des grünen Dschungels, der jedoch weit am südlichen Horizont von einer gewaltigen Bergkette abgegrenzt wurde. Und genau zu ihren Füßen war der Blick frei auf verwitterte und vermoderte Ruinen, die der stetig wachsende Urwald schon fast überwuchert hatte. Das war Noh'nym - die geheimnisvolle Tempelstadt. Das Ziel ihres langen und beschwerlichen Weges! Nach so vielen Abenteuern war die Stadt nun greifbar nahe...

Auch wenn Thorin jetzt an Noh'nym dachte, blieben seine Sinne dennoch geschärft, so dass er auf die plötzliche Gefahr rasch reagier-te.

Sein Gefährte N'doro hatte den Dolch hervorgeholt und wollte damit Thorin gemein von hinten anfallen. Aber Thorin hatte das natür-lich bemerkt und duckte sich rasch. Die krumme Klinge strich haar-scharf an seiner Kehle vorbei.

»Bastard!«, brummte Thorin. »Jetzt wirst du für deine Heimtücke bezahlen!«

Während er einem weiteren Stoß N'doros auswich, riss er sein Schwert heraus und parierte die wütenden Angriffe seines Gegners. Jetzt war Thorins Kampfeszorn geweckt. Im Schein der Nachmittags-sonne wurde hier oben auf dem Hügel eine gnadenlose Auseinander-setzung ausgetragen. Beide schenkten sich nichts. Funken sprühten auf, als die beiden Klingen immer wieder aufeinander trafen.

»Stirb, Thorin!«, schrie N'doro, als er seine Chance witterte. Aber der mit großer Wucht geführte Stoß des Wüstenkriegers traf wiederum nicht ins Ziel. Stattdessen verwundete ihn Thorin am rechten Oberarm. Seine Klinge ritzte die Haut des Gegners und Blut trat hervor.

N'doro fluchte laut, als er den Schmerz spürte. Panik glomm in seinen Augen auf. Er sah Thorin und dessen unerbittliche Härte und begriff, dass er diesen Gegner nicht besiegen konnte. Er wich hastig

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zurück und rannte schnell den Hügel hinunter. Direkt auf das moos-überwucherte, schmiedeeiserne Stadttor zu!

»Du Feigling!«, schrie ihm Thorin nach. »Du hast wohl Angst vor einem ehrlichen Kampf, du Hund!«

Aber N'doro hörte ihn gar nicht mehr. Er hatte jetzt das große Stadttor bereits erreicht und war wenige Augenblicke später dort schon verschwunden. Dann herrschte eine ungewöhnliche Stille.

Thorin blickte wütend auf das Schwert in seiner Hand. Er verfluch-te sich selbst dafür, dass er N'doro überhaupt geholfen hatte. Dieser Hund hätte im Kerker besser verfaulen sollen!

Die Suche nach dem Schwert der Götter hatte ihn blind gemacht und solche Gefühle wie Freundschaft existierten für ihn nicht mehr. Für den Triumph, als erster Sternfeuer in den Händen zu halten, war N'doro wohl jedes Mittel recht - auch der hinterhältige Mord an einem Mann, dem er sein jämmerliches Leben zu verdanken hatte...

Unten in der Senke erhob sich die Stadt aus dem Dschungel. Bro-delnde Schwaden stiegen aus der Tiefe auf und Thorin spürte jetzt den Hauch des dämonischen Unheils, den diese Stadt ausstrahlte. Dort unten zwischen den Mauern lauerte etwas unsagbar Böses und selbst Thorin konnte nur ahnen, was das war. Der geheimnisvolle Alte in der Taverne hatte etwas von einer grausamen Göttin erzählt, die dort mit ihren Kreaturen der Nacht eine Schreckensherrschaft errichtet hatte. Dass ausgerechnet solche Geschöpfe über einen der größten Schätze des Lichtes wachen sollten, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. A-ber so waren nun einmal die Wege der Götter.

Seufzend machte sich der Nordlandwolf auf den Weg zum Stadttor - die Waffe fest in der rechten Hand. Während er wachsam nach allen Seiten spähte, bemerkte er erneut die eigenartige Stille ringsherum. Die Vögel hoch oben in den Wipfeln der Bäume - sie schwiegen schon seit langem und das ausgerechnet an einem Ort, wo es so viele unter-schiedliche Tierarten gab.

Das kam gewiss nicht von ungefähr. Wenn selbst die Tiere diesen Ort mieden, dann war das eine deutliche Warnung. Deshalb wollte Thorin wachsam sein - nicht so wie dieser Hitzkopf N'doro, der einfach in die vergessene Stadt gerannt war. Vielleicht war das sein Verder-

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ben, aber das wusste Thorin nicht. Womöglich lauerte der Wüstenkrie-ger auch irgendwo zwischen den Mauern auf Thorin, um ihn erneut aus dem Hinterhalt anzugreifen.

Am fernen Horizont senkte sich die Sonne dem Westen entgegen. Sie wurde zu einem glutroten Feuerball, der das Land in satte Farben tauchte. Thorin bemerkte in diesem Moment nicht die unsichtbaren Augen, die seinen Weg in die Dschungelstadt mitverfolgten...

*

Dumpfe Gesänge erklangen in den hohen Hallen und erfüllten den düster beleuchteten Raum mit einer unheimlichen Feierlichkeit. An den Wänden des uralten Gewölbes hingen rußige Pechfackeln in verroste-ten Halterungen, die ein unstetes Licht warfen. Der Schein eines fla-ckernden Feuers warf bizarre Schatten an die Wände, während ir-gendwo im Hintergrund dumpfe Trommelschläge erklangen.

Es war eine gespenstische Szene, die sich hier dem Auge des Be-obachters bot. Zu den Gesängen und den monotonen Trommelschlä-gen tanzten unheimliche Gestalten in der Mitte des Saales, die direkt einem Alptraum entsprungen zu sein schienen. Es waren Kreaturen, wie sie nur die Hölle hervorbringen konnte. Klein und dicht behaart waren die einen. Verzerrte Gesichter spiegelten den Hass auf alles Menschliche wider, während sie ihre entstellten Körper im Takt der unheimlichen Klänge hin- und herbewegten. Andere wiederum besa-ßen medusenähnliche Häupter, die auf den Körpern von Raubtieren saßen. Sie tanzten im Einklang mit Wesen, deren Körper denen von Menschen glichen, aber deren Gesichter die von Dämonen waren. Schrille Schreie und krächzendes Gelächter erfüllten den Raum.

Den Mittelpunkt der Halle bildete eine Erhebung, auf der ein gro-ßer Thron stand, der ganz aus Knochen geformt war. Direkt davor brannte ein Feuer, dessen Flammen unregelmäßig auf- und abtanzten. Auf dem Thron selbst saß eine fast nackte Frau, deren Schönheit über-irdisch war. Langes, wallendes feuerrotes Haar umrahmte ihr ebenmä-ßiges Gesicht, in dem zwei grünlich schimmernde, schräg stehende Augen hervorstachen, die alles in ihren Bann zogen. Sie trug einen

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goldenen Kopfschmuck in Form eines gehörnten Schädels, dessen Au-gen mit Juwelen eingelegt waren und ein winziges Hüfttuch aus glän-zender Seide. Zu ihren schmalen, verführerisch ausgestreckten Füßen ringelte sich ein Knäuel schwarzer Schlangen, die zischend umher kro-chen.

Ishira, die Herrscherin der Dämonen hier in der vergessenen Stadt Noh'nym, beobachtete das Treiben zu ihren Füßen mit ziemlicher Lan-geweile. Die Wesen der Finsternis waren ihr Untertan und feierten jetzt ihr unheimliches Fest. Die rothaarige Hexe selbst widmete sich dem Treiben jedoch nicht. Ihre grünen Augen waren vielmehr auf die zuckenden Flammen vor ihr gerichtet. Sie hob die Arme und murmelte einige Worte in einer längst vergessenen Sprache.

Zur Rechten des Throns stand eine hagere Gestalt, die in einen wallenden Mantel gehüllt war. Zwei rot funkelnde Augen richteten sich auf die Herrscherin von Noh'nym.

»Was siehst du, Herrin?«, fragte der Dämon in der braunen Kutte und verneigte sich in Ehrfurcht vor Ishira, denn er war ihr hörig.

»Schweig, Athaar!«, fuhr Ishira ihren Untertan an. »Ich muss mich konzentrieren, denn ich spüre, wie sich etwas der Stadt nä-hert...«

Der Dämon schwieg und richtete deshalb sein Interesse mehr auf die tanzenden Kreaturen, deren verschwitzte Körper im Schein der Pechfackeln auf und nieder hüpften. Die alte Tempelstadt war ihnen zur Heimat geworden. Hier hatten sie eine Bastion zum Kampf gegen die Menschheit errichtet. Athaar wusste auch, dass hier in der Kuppel-halle des größten Tempels das Schwert Sternfeuer ruhte - und solange es hier in Noh'nym blieb, würden die Mächte des Lichts ihr Reich nicht ausdehnen können.

Die rothaarige Ishira starrte in die grellen Flammen und ihre Au-gen weiteten sich, als sie im unsteten Schein des magischen Feuers jetzt zwei Gestalten erkannte, die oben auf dem Hügel vor der Stadt einen Kampf austrugen. Einer von ihnen war ein dunkelhäutiger Hüne, dessen Abwehr allmählich schwächer wurde. Sein Gegner, ein blonder Krieger, hatte ihn schließlich soweit, dass der andere vor ihm floh und auf die Stadtmauern zu gerannt kam. Der Sieger verharrte oben auf

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der Anhöhe und rief ihm etwas nach. Aber dann machte auch er sich auf den Weg ins Tal und das Bild im Feuer begann allmählich wieder zu verblassen.

Athaar hatte die letzten Bilder ebenfalls mit angesehen. »Es kommen Fremde in die Stadt«, sagte sie zu dem Dämon mit

den funkelnden Augen. »Schon vor Tagen spürte ich, dass etwas ge-schehen würde. Die Verbindung mit Ranyr ist ganz plötzlich erloschen. Ich ahne, dass diese beiden Männer etwas damit zu tun haben...«

»Sie sehen aus wie Abenteurer, Herrin«, flüsterte der Dämon. »Bestimmt sind sie auf der Suche nach dem Götterschwert.«

»Was sonst, du Einfältiger?«, fuhr ihn Ishira an. »Sonst wagt sich doch niemand hierher. Du wirst jetzt dafür sorgen, dass alles weitere seinen Lauf nimmt. Der dunkelhäutige Krieger ist der erste - ihn will ich lebend haben. Hast du das verstanden, Athaar? Er wird in die Falle tappen - wie viele andere vor ihm.«

»Wie du befiehlst, Herrin«, erwiderte der Dämon und verbeugte sich voller Ehrfurcht. »Und was ist mit dem anderen, der jetzt noch draußen vor der Stadt ist?«

»Auch er wird einen grausamen Tod sterben, Athaar«, fuhr die Dämonenherrscherin fort. »Schick deine Kreaturen aus, damit er einen ersten Vorgeschmack von der Hölle erhält. Alles weitere überlässt du mir.«

»Es wird alles so geschehen, wie du es sagst, Herrin«, antwortete Athaar und blickte zur Seite, wo ein bocksfüßiger halbnackter Dämon lauerte. Er nickte ihm kurz zu, worauf sich das Geschöpf erhob und zu einem großen bronzenen Gong eilte. Das Geschöpf der Finsternis er-griff einen schweren Hammer und schlug damit auf den Gong ein. Ein dumpfer Laut erschallte, dessen Schwingungen jetzt die Gesänge und das Trommeln übertönten. Die tanzenden Wesen unterbrachen ihr Fest und lauschten gebannt, wie das dumpfe Dröhnen des Gongs ver-klang. Als Athaar dann bemerkte, wie sie alle ihre Augen auf ihn rich-teten, hob er beide Hände.

»Hört mir zu!«, wandte er sich an die furcht erregenden Kreatu-ren. »Eure Herrscherin, die Göttin Ishira, hat euch etwas zu sagen!«

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Dann schwieg er und blickte hinüber zu der rothaarigen Hexe, die sich auf dem Thron hin- und herräkelte. Die grünen Augen versprüh-ten Blitze, als sie ihre Worte an die Geschöpfe der Finsternis richtete. Worte, die Unheil verkündeten!

*

N'doro atmete auf, als er das eiserne Stadttor von Noh'nym erreicht hatte. Er hastete weiter und zwängte sich durch das Tor. Es stand ei-nen Spalt breit offen und gab den Zugang ins Innere der Stadt frei.

Nur einen winzigen Moment lang hielt er inne und blickte sich um. Was er niemals für möglich gehalten hatte, war jetzt wahr geworden. Er hatte tatsächlich die geheimnisvolle Tempelstadt erreicht, von der so viele geglaubt hatten, dass sie nur in der Legende existierte. Was N'doro jedoch dann mit eigenen Augen erblickte, das war alles andere als eine alte Saga aus dem Mund eines Märchenerzählers. Noh'nym existierte wirklich!

Die Tempelstadt schien Äonen überdauert zu haben. N'doro sah in der Ferne zahlreiche Gebäude, die in einem Baustil errichtet waren, den kein ihm bekanntes Volk gebaut hatte. Hier waren Mächte am Werk gewesen, deren Spuren die Zeit schon längst wieder verwischt hatte. Breite, gepflasterte Straßen, die teilweise von dichtem Moos überwuchert waren, zogen sich durch die ganze Stadt. Die Häuser aus Kalkstein zeugten noch von der Pracht, die einst in diesen Mauern ge-herrscht haben musste. Jetzt war nur noch ein kleiner Bruchteil von dem übrig, was einst Glanz und Glorie gewesen war.

Uralte Tempel ragten in den Dschungel empor, in denen in grauer Vorzeit einmal Göttern gehuldigt worden war, deren Namen jetzt kein Mensch mehr kannte. Verwitterte Standbilder und zerbrochene Opfer-schalen standen in der Nähe der Tempel. Alles umgab der Hauch des Vergänglichen. N'doro sah nicht die Gesichter der Stauen, sonst hätte er längst bemerkt, dass man hier Götter angebetet hatte, die der Fins-ternis entstammten.

Mit dem Krummdolch in der Hand schritt er weiter die breite Stra-ße entlang. Kein einziger Laut war zu hören. Es schien fast, als sei der

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Dschungel draußen vor den Toren der Stadt plötzlich verstummt - oder tot. N'doro wunderte sich zwar darüber, aber er verschwendete schließlich keinen weiteren Gedanken mehr daran.

Aber er begriff allmählich, dass es ein großer Fehler gewesen war, sich von Thorin zu trennen, denn jetzt spürte er so richtig die dämoni-sche Ausstrahlung der Stadt. Ein leichtes Frösteln überkam ihn, als er daran dachte, was für dunkle Geschöpfe in diesen Mauern hausen mochten...

Er kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Stille der vergessenen Stadt Noh'nym. N'doro zuckte zusammen und riss seinen Dolch hoch. Er lauschte und hörte den Schrei dann wieder erschallen. Es war ein Hil-feruf und er kam aus der Kehle einer Frau!

N'doro schaute nach vorn, wo die Straße eine Biegung machte. Von dort musste der Schrei gekommen sein. Der Wüstenkrieger zöger-te nicht mehr und hastete los. Wenig später bot sich seinen Augen ein makabres Schauspiel. Auf einem großen Platz, hinter dem sich majes-tätisch ein pagodenähnlicher Tempel erhob, stand ein massiver, qua-derförmiger Felsblock, an den ein junges Mädchen angekettet war, das aus vollem Halse um Hilfe schrie. Bedrängt wurde sie von einem Rie-senvogel, der aus der Luft herab auf sie zustieß und seinen Schnabel weit geöffnet hatte.

Der dunkelhäutige Krieger brüllte laut, um den Vogel jetzt auf sich aufmerksam zu machen. Das Untier, das gerade mit seinen krallenbe-wehrten Füßen auf dem Boden aufgesetzt hatte und mit den mächti-gen Flügeln schlug, bemerkte den ungebetenen Gast und wandte den hässlichen Kopf. Ein Zischen erklang aus dem scharfen Schnabel und dann widmete sich der Vogel dem neuen Gegner.

N'doro umkreiste den Vogel vorsichtig. Anstelle eines Gefieders besaß die Kreatur eine ledrige Haut, die einen starken Moschusgeruch verbreitete. Der Vogel stieß mit dem langen Schnabel ruckartig vor, um N'doro zu treffen, doch dieser konnte gerade noch ausweichen. Stattdessen gelang es ihm, dem Vogel am rechten Flügel eine Wunde zuzufügen. Das Untier krächzte vor Schmerz laut auf und als N'doro

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nun noch heftiger vorstieß, breitete es die lederartigen Flügel aus und erhob sich in die Lüfte.

N'doro blickte dem fliehenden Riesenvogel kurz nach und wunder-te sich, dass die Kreatur doch so rasch aufgegeben hatte. Aber er schrieb das seinem ungestümen und heftigen Angriff zu.

Dann aber vergaß er den Vogel und schaute stattdessen hinüber zu dem Opferfelsen, wo sich das Mädchen immer noch in ihren Fesseln wand und ihn furchtsam anblickte. Der Wüstenkrieger kam nicht um-hin, ihre Schönheit zu bewundern. Langes rotes Haar fiel ihr wild und ungezügelt auf die bloßen Schultern. Das einstmals grüne Kleid hing ihr in schmutzigen Fetzen vom Körper und N'doro konnte ihre grazile und dennoch sehr weibliche Figur genau sehen. Das Faszinierendste an ihr waren aber zweifelsohne die großen grünen Augen, die ihn so-fort in ihren Bann schlugen.

»Warum zögerst du, Krieger?«, rief das rothaarige Mädchen. »Komm her und befreie mich von meinen Fesseln. Der Flugdämon wird vielleicht wiederkommen...«

N'doro wachte aus seinen Träumen auf und eilte nun auf den Op-ferfelsen zu. Er holte mit der scharfen Klinge aus und durchtrennte mit einem gezielten Hieb die Kette, die das Mädchen an den Felsen ge-schmiedet hatte. Erleichtert sank sie seufzend in N'doros Arme. Der dunkelhäutige Krieger umfasste sie fest und spürte dabei die vollkom-menen Rundungen ihres Körpers.

»Wir müssen weg von hier«, sagte das Mädchen aufgeregt. »Komm schnell, ehe es dunkel wird. Sonst sind wir den Dämonen die-ser Stadt hilflos ausgeliefert - und das würde den Tod bedeuten...«

N'doro ließ sich von dem Mädchen einfach mitziehen. Alles ging so schnell, dass der Wüstenkrieger gar nicht mehr dazu kam, sich Gedan-ken über diese Geschichte zu machen, in die er hineingeraten war. Er wusste sogar noch nicht einmal, wie das Mädchen hieß und warum sie hier in der Stadt war. Er wusste nur, dass er ihr folgen musste - an einen Ort, wo sie erst einmal sicher waren.

Das Mädchen lief hastig voran. Offensichtlich kannte sie sich in der Stadt gut aus. N'doro sah die mit Unkraut und Farnen überwucherten Gebäude und manchmal erschien es ihm sogar, als wenn ihn aus den

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Fensterhöhlen unsichtbare Augen anstarrten, die jede seiner Bewe-gungen verfolgten. Oder bildete er sich das vielleicht nur ein?

»Hier sind wir sicher!«, riss ihn die Stimme des Mädchens aus sei-nen trüben Gedanken und wies dabei auf ein großes, tempelähnliches Gebäude, zu dessen Eingang eine lang gezogene Treppe hinaufführte. »Die Dämonen der Stadt meiden diesen Ort.«

N'doro blickte mit gemischten Gefühlen zu dem dunklen Eingang, über dem ein menschliches Gesicht in Stein gehauen war. Ihm gefiel die ganze Sache immer weniger, aber dennoch entschied er sich, dem Mädchen zu folgen, denn er sah ihre Hilfe suchenden Augen und glaubte darin etwas zu lesen, was sein Blut in Wallung brachte.

Das Mädchen erreichte als erste den großen Eingang und huschte weiter ins Innere. Als N'doro ebenfalls das große Tor passiert hatte, blieb die Rothaarige stehen und drehte sich zu ihm um.

»Verschließ das Tor, Krieger!«, forderte sie ihn auf. »Nur dann sind wir sicher bis zum Anbruch des nächsten Tages...«

Der Wüstenkrieger zögerte nicht lange und legte den Krummdolch beiseite. Das Tor war alt und eingerostet und er musste sämtliche Kräfte aufbieten, bis es ihm schließlich doch noch gelang, das schwere Tor wieder zuzuschieben.

Mittlerweile hatte das Mädchen eine Fackel entzündet, deren fla-ckerndes Licht eine beruhigende Wärme spendete.

»Ich finde, jetzt bist du mir langsam eine Erklärung schuldig, Mäd-chen«, wandte er sich nun an sie. »Wer bist du und wie bei allen Göt-tern kommst du in diese verfluchte Stadt der Dämonen?«

Die schöne Unbekannte strich sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn, bevor sie wieder das Wort ergriff. Sie setzte sich in eine Nische und sah N'doro kurz an, während sie von sich erzählte.

»Ich heiße Ilara und bin die Tochter einer Amazonenfürstin weit oben im Norden. Piraten entführten mich und brachten mich zum dunklen Kontinent, wo ich in Cathar als Sklavin verkauft wurde. Mit einer Karawane ging es dann weiter nach Süden. Vor drei Tagen wur-den wir von Dämonen überfallen und die Karawane wurde bis auf den letzten Mann niedergemacht. Nur ich blieb am Leben - aber ich fiel in

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die Hände furchtbarer Wesen, die mich opfern wollten. Zum Glück kamst dann du...«

Sie verbarg ihren Kopf zwischen den Händen und stieß ein lautes Schluchzen aus. Ihr Erlebnis hatte sie doch stärker mitgenommen als N'doro zunächst vermutet hatte. Erst jetzt löste sich der Schock all-mählich von ihr - aber sie waren noch lange nicht in Sicherheit. Diese Stadt hatte ihre eigenen grauenhaften Gesetze...

»Was ist das für ein Tempel hier?«, fragte der Wüstenkrieger. »Und warum bist du dir so sicher, dass uns hier keine Gefahr droht?« Als das Mädchen nicht gleich darauf antwortete, wurde N'doro ziemlich ungeduldig - und ihn ergriff plötzlich ein leises Misstrauen. Denn die Geschichte war doch recht merkwürdig.

»Sie kommen nur mit der Dämmerung«, antwortete die rothaarige Ilara darauf, wobei ihre großen grünen Augen tief in N'doros Seele zu blicken schienen. »Ich habe dir zu danken, dass du mich aus den Klauen dieses Ungeheuers befreit hast - und ich kenne noch nicht einmal deinen Namen. Wie heißt du?«

Erneut bemerkte N'doro nicht, dass sie gar nicht direkt auf seine Frage antwortete. Aber er war so fasziniert von der Schönen, dass er einfach vergaß, dass hier etwas falsch war. Er fühlte nur, wie das Blut in seinen Adern schneller zu pulsieren begann, wenn er seine Blicke auf den formvollendeten Körper Ilaras richtete.

»Du bist ein starker Mann, N'doro«, sagte sie jetzt mit lockender Stimme zu ihm, nachdem sie seinen Namen erfahren hatte. »Wir beide wissen nicht, ob wir auch den nächsten Tag überleben werden. Des-halb will ich mich jetzt bei dir auf meine Weise bedanken - wer weiß, ob ich es morgen noch kann...?«

Mit diesen Worten streckte sie sich in der Felsennische aus, wobei das ohnehin schon zerfetzte Kleid noch weiter nach oben glitt und ei-nen Blick auf ihre makellos geformten Beine freigab. Nach wie vor schaute sie dabei N'doro an und er hatte es schon längst aufgegeben, diese Reize zu ignorieren.

»Worauf wartest du noch?«, hörte er nun ihre Stimme, die so lo-ckend und verheißungsvoll klang, dass N'doro alles andere vergaß.

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Sein Trieb siegte schließlich und gewann die Herrschaft über Seele und Körper.

Schwer waren seine Schritte, als er sich Ilara näherte und sich dann über sie beugte. Seine Lippen suchten die ihren. Der dunkelhäu-tige Krieger spürte die Wildheit und das alles verzehrende Verlangen des Mädchens, das über ihm zusammenschlug wie eine meterhohe Woge des Großen Salzmeeres. Auch der letzte Funken Misstrauen ver-schwand und wurde im Sturm der Gefühle davon gewirbelt.

N'doro erkannte nicht, wie der verzehrende Kuss Ilaras an seinen Kräften zu zerren begann. In ihm war nur das Verlangen, dieses Mäd-chen zu besitzen, alles andere existierte nicht mehr. Auch das Schwert der Götter, das er eigentlich hatte suchen wollen, war aus seinen Ge-danken längst verschwunden. Die großen grünen Augen der rothaari-gen Hexe hatten Macht über ihn bekommen und machten ihn willen-los. Ihre Lippen wurden heißer und brannten schließlich wie Feuer und mit jedem Augenblick saugten sie mehr Lebenskraft aus N'doro her-aus.

Die Augen des dunkelhäutigen Kriegers nahmen einen trüben Schimmer an - bis sie ganz glasig wurden. Es dauerte nicht lange, dann war sein Körper völlig ausgebrannt. Was zurück blieb, war eine seelenlose leere Hülle, mit der man nach Belieben verfahren konnte. N'doros Seele befand sich schon längst im Reich der Toten - aber sein Körper war noch am Leben.

Das rothaarige Mädchen, das sich ihm als Ilara vorgestellt hatte, hob nun den Kopf und sah verächtlich auf den Willenlosen hinab. Wie sie es geplant hatte, war ihr dieser Mann ins Netz gegangen - und es war so leicht gewesen...

Weiter hinten aus einem verborgenen Eingang trat die unheimli-che Gestalt Athaars. Abwartend starrte er auf den bewegungslosen Körper des dunkelhäutigen Kriegers, bis die Hexe mit den grünen Au-gen sein Näher kommen bemerkt hatte.

»Er ist in die Falle getappt wie ein ahnungsloses Kind«, sagte die Herrscherin der Dämonen zu Athaar.

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»Niemand kann deiner Schönheit widerstehen, Herrin«, erwiderte der Dämon daraufhin. »Erst recht ein Sterblicher nicht. Auch der zwei-te Krieger ist jetzt schon tot - aber das weiß er noch nicht...«

*

Das große eiserne Stadttor ragte jetzt nur noch wenige Schritte vor Thorin entfernt auf. Misstrauisch blickte er auf den Eingang, wo N'doro vor kurzer Zeit verschwunden war. Stille herrschte ringsum und Thorin spürte ein ungutes Gefühl in seinem Magen. Irgendwie fühlte er sich von unsichtbaren Augen beobachtet - auch wenn er das sich eigentlich nicht so recht erklären konnte.

Er drehte sich noch einmal um und blickte zurück zur Spitze des Hügels, von wo er gekommen war. Hatte sich nicht gerade dort oben ein Zweig bewegt? War da nicht ein Zipfel eines schwarzen Umhanges, der zwischen den Büschen kurz zu sehen gewesen war?

Thorin wurde von zwiespältigen Gefühlen hin und her gerissen, aber dann konzentrierte er sich doch wieder auf sein eigentliches Vor-haben und vergaß die Panik, die ihn beinahe überkommen hätte. Für ihn zählte nur die Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte und die würde er auch ausführen - egal wer sich ihm dabei in den Weg stellte!

Weiterhin sah er sich nach allen Seiten um, während er unter dem großen Torbogen hindurch schritt. Unwillkürlich prallte er zurück, als er in einer Seitennische die vermoderten Gebeine eines menschlichen Wesens entdeckte. Thorin blickte kurz auf das Skelett und wurde nachdenklich, denn er sah die knöchernen Finger, die auf den Eingang wiesen - eine fast sehnsüchtige und verlangende Geste. Als habe die-sen armen Teufel jemand im letzten Augenblick daran gehindert, die vergessene Stadt wieder zu verlassen.

Auch Thorin drehte sich unwillkürlich um und sah wieder zum Tor. Aber nach wie vor stand es offen und deshalb setzte der Krieger aus den Eisländern seinen Weg fort.

Große und ehemals prunkvolle Bauten säumten die breite Straße zu beiden Seiten. Wie lange Noh'nym schon stand, das wusste nie-

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mand - selbst der geheimnisvolle Alte aus der Taverne hatte darauf keine Antwort gewusst.

Plötzlich ertönte ein urwelthaftes Grollen. Sofort fuhr Thorin zur Seite und erblickte ein grauenhaftes Wesen, das sich ihm mit tappen-den Schritten näherte. Es war eine Bestie, die an eine Echse erinnerte. Sie ging aufrecht und streckte ihre krallenbewehrten Pranken nach Thorin aus. Messerscharfe Zähne waren im geifernden Maul der Krea-tur zu erkennen. Stinkender Odem schlug Thorin wie eine Wolke ent-gegen, als das Ungeheuer immer näher kam.

Gleichzeitig schlug das Stadttor mit einem dröhnenden Laut zu. Als Thorin erschrocken herumfuhr, entdeckte er oben auf dem Bogen des Tores eine gebückte, glatzköpfige Gestalt, die ein schrilles Geläch-ter ausstieß und im Licht der untergehenden Sonne nicht genau zu erkennen war.

Jetzt saß Thorin in der Falle. Der Rückweg war ihm versperrt und nun gab es nur noch die Flucht nach vorn! Erneut hörte er das schrille Lachen des Gnoms oben auf dem Tor, während Thorin mit gezogener Klinge die angreifende Echse erwartete.

Die messerscharfen Krallen streckten sich nach Thorin aus, wollten ihn zerreißen, aber Thorin konnte sich noch im letzten Moment du-cken, so dass die Pranken ihn nicht zu fassen bekamen.

Thorin stieß mit dem Schwert vor, doch die Klinge zeigte keine Wirkung an den harten Schuppen. Dämonenwerk, schoss es Thorin durch den Kopf, während ein Gedanke den anderen jagte. Irgendwo am Körper dieses Wesens musste es doch eine verwundbare Stelle geben - genau wie bei der Schlange in der Zitadelle!

Erneut entging Thorin um Haaresbreite einem alles vernichtenden Prankenhieb, während er selbst einen gut gezielten Schlag gegen den rotfarbenen Hals der Bestie führte. Als sich eine dünne rote Linie dort bildete, wusste Thorin, dass er die verwundbare Stelle am Körper der Bestie entdeckt hatte.

Die Riesenechse brüllte laut auf, als Thorin ein zweites mal zu-schlug und eine noch tiefere Wunde riss. Ihr Verhalten wurde jetzt von einer grenzenlosen Wut beherrscht. Das Ungeheuer schlug um sich und streifte dabei Thorin mit der Pranke an der Schulter. Thorin ver-

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biss den brennenden Schmerz und drang stattdessen weiter auf die Bestie ein.

Im richtigen Moment bohrte er dann das Schwert in den Hals der Echse und sah mit Befriedigung, wie das riesenhafte Tier auf einmal zu torkeln begann. Verzweifelt riss es den Kopf hoch, aber dann fiel es zu Boden und die Erde erzitterte bei diesem Aufprall. Das Ungeheuer streckte alle Viere von sich, während Blut in Strömen aus dem gewalti-gen Körper rann.

Thorin kam nicht mehr dazu, den Todeskampf der Echse zu ver-folgen, denn genau in diesem Augenblick stieß der Gnom oben auf dem Stadttor einen lauten Schrei aus. Und nur wenige Atemzüge spä-ter drangen plötzlich überall kleine Wesen aus Nischen und Ecken her-vor. In ihren behaarten, spinnenähnlichen Klauen hielten sie kleine Dolche.

Es waren grässliche Gestalten, eine furcht erregender als die an-dere und sie waren so zahlreich, dass Thorin den Überblick verlor. Die kleinen Dämonen drangen nun von allen Seiten auf den blonden Krie-ger ein, während oben auf dem Stadttor der Gnom weiter laut schrie.

Thorins Klinge zuckte vor und enthauptete eines der Wesen und der Körper zerfiel daraufhin sofort zu Staub. Auch wenn ihn die kleinen Kobolde sehr bedrängten, so hatten sie doch nicht damit gerechnet, dass Thorin selbst in dieser ausweglosen Lage kämpfte wie ein Löwe. Etliche der Kreaturen fielen unter den gut geführten Schwerthieben des Kriegers aus den Eisländern und im Licht der untergehenden Son-ne erfüllte Kampfeslärm die vergessene Stadt. Als Thorin spürte, wie sein starker Arm immer schwächer wurde, geschah auf einmal etwas, an das er nie geglaubt hätte - die kleinen Dämonen zogen sich jetzt so rasch wieder zurück wie sie aufgetaucht waren.

Thorin ließ die Klinge nur zögernd sinken und atmete schwer. Erst jetzt sah er, wie sehr er unter den Gnomen gewütet hatte. Viele Kör-per lagen zu seinen Füßen, die rasch zu Staub zerfielen, den der auf-kommende Wind der Dämmerung hinweg trug.

Thorin sah zum Stadttor - es war nach wie vor noch geschlossen. Hier gab es keinen Weg mehr in die Freiheit. Also musste er sich eine schützende Bleibe suchen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Denn

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hier draußen würde er ein sicheres Opfer der unheimlichen Wesen werden!

Am Ende der Straße entdeckte Thorin ein Gebäude, das noch halbwegs gut erhalten war und er lief mit schnellen Schritten darauf zu. Er konnte natürlich nicht ahnen, dass man jeden seiner Schritte schon längst verfolgte, seit er die vergessene Stadt betreten hatte. Die dämonische Macht der Finsternis hatte bereits die Klauen nach ihm ausgestreckt - aber Thorin glaubte noch an den Schutz der starken Mauern, als er sie nun erreichte.

Mit dem rechten Fuß trat er die Tür auf, die einen Spalt offen stand und jetzt nach hinten schlug. Niemand war im Haus, kein Laut war zu hören. Auch von seinem ehemaligen Gefährten N'doro war weit und breit nichts zu sehen - wo mochte er nur stecken?

Nachdem Thorin das leer stehende Haus betreten hatte, verbarri-kadierte er sofort alle Türen und Fenster, um sich so wenigstens halb-wegs vor den unbekannten Gegnern schützen zu können. Thorin wuss-te zwar, dass er auf Dauer auch hier nicht sicher war, aber er hoffte dennoch überleben zu können. Deshalb kniete er nieder und betete zu seinen Göttern - Odan, dem Weltenzerstörer, Thunor, dem Donnerer und Einar, dem Allwissenden. Von ihnen erhoffte er sich jetzt den nö-tigen Beistand.

Dann ließ er sich mit dem Schwert in der Hand in einer Ecke des Raumes nieder. Draußen war mittlerweile die Sonne längst unterge-gangen und die Schatten der Nacht hatten den Tag endgültig vertrie-ben. Laut heulte der Nachtwind und irgendwo in der Ferne erklang der klagende Ruf eines Tieres, das Thorin nicht kannte. Am liebsten wäre er vor Grauen aufgesprungen und einfach davongerannt, soweit ihn seine Füße trugen. Aber wenn er jemals darauf hoffen wollte, das Schwert der Götter zu erringen, dann musste er hier ausharren und weiterkämpfen.

Dieser verfluchte einäugige Alte hatte ihn verrückt gemacht mit seinen phantasievollen Erzählungen. Ob er wirklich wusste, welche Gefahren mit der Suche nach Sternfeuer verbunden waren? Thorin dachte nicht länger darüber nach, um nicht ganz den Mut zu verlieren. Obwohl die Lage sehr bedrohlich war, spürte er doch die Müdigkeit,

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die immer mehr von seinem Körper Besitz ergriff und ihr Recht ver-langte. Zug um Zug schlossen sich Thorins Augen und schließlich tauchte er ein in ein Meer aus wirren Träumen. Es waren Träume, die von schrecklichen Ungeheuern und furcht erregenden Geschöpfen der Finsternis nur so wimmelten und ihn im Schlaf stöhnen ließen. Kein Wunder bei dem, was er heute erlebt hatte...

*

»Er hat das Heer der Gnomen besiegt!«, rief Athaar erregt und fuch-telte wild mit den knochigen Händen, die aus seiner Kutte hervorrag-ten. »Herrin, was willst du jetzt tun?«

Die rothaarige Ishira lächelte zwar, aber ihre Augen blieben kalt, als sie auf die Bemerkung des Dämons einging.

»Noch wähnt er sich in Sicherheit«, sagte sie. »Lassen wir ihm ru-hig dieses Gefühl - jedoch nur bis morgen früh. Es gefällt mir, dass er bis jetzt alle Fallen und Gefahren überwunden hat. Deshalb will ich ihm sein armseliges Leben für diese Nacht schenken. Aber sobald die Son-ne aufgeht, wird er einen grausamen Tod erleiden.«

»Und wie soll es geschehen?«, fragte der wissbegierige Athaar. »Du wirst es sehen, wenn die Stunde gekommen ist«, winkte die

Herrscherin der Tempelstadt ab. »Alles, was ich von dir verlange, ist, dass du dich bereithältst, wenn ich den Befehl gebe. Und jetzt genug davon - lass mich allein!«

Ishira lehnte sich in ihrem Thron weit zurück und war ganz in Ge-danken versunken. Sie nahm gar nicht mehr wahr, wie Athaar den großen Saal wieder verließ. Ihre großen grünen Augen richteten sich in unbekannte Fernen und sahen dort eine Zukunft, in der sie eine ent-scheidende Rolle spielte. Dann würde Ishira nämlich über die Welt der Menschen Macht ausüben - mit Athaar und dessen Heerscharen an der Seite. Niemand würde sich ihnen entgegenstellen können. Denn gegen die Kräfte der Finsternis gab es keine wirksame Magie. Nicht so lange das Schwert Sternfeuer an diesem Ort ruhte!

*

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Thorin träumte. Die Gedanken des blonden Kriegers schweiften weit zurück in das Land, wo er geboren und aufgewachsen war. Wo er noch nichts von Noh'nym gewusst hatte. Und während draußen in der Nacht die Kreaturen der Finsternis lauerten und zwischen den Ruinen umherstreiften, schlief Thorin recht unruhig, denn sein Geist verarbei-tete all das, was geschehen war, seit er seine Heimat verlassen hatte.

Er sah das Langboot, mit dem er schon vor vielen Monden in die südlichen Länder aufgebrochen war - auf der Suche nach unbekannten Abenteuern und Ehre. Während das Schiff langsam ins Eismeer hi-nausfuhr, hatte er sich noch einmal umgedreht und zurückgeblickt. Weil er nicht gewusst hatte, ob er seine Heimat jemals wieder sehen würde.

Unruhig wälzte er sich im Schlaf hin und her, als ihn die nächste Stufe des Traums erreichte - nur war sie diesmal noch intensiver als zuvor. Thorin wusste nicht, ob es eine Art Wachtraum war oder ein dämonischer Spuk. Auf jeden Fall sah er sich draußen inmitten der vom Dschungel überwucherten Ruinen der Tempelstadt. Er war allein und nur Stille umgab ihn von allen Seiten. Von den Dämonen, die in den Mauern der Stadt hausten, bemerkte er zumindest jetzt überhaupt nichts. In diesem Augenblick schienen sie unendlich fern zu sein.

Er blickte auf das Schwert in seiner kräftigen Faust und wollte ge-rade auf eines der zerfallenen Gebäude zugehen, das einmal ein gro-ßer Tempel gewesen sein musste. Plötzlich zeichnete sich auf den Stu-fen, die hinauf zum Eingang führten, eine große hagere Gestalt ab, die von einem hellen Schimmer umgeben war. Thorin konnte die Gesichts-züge nicht erkennen, aber dennoch schien ihm diese Gestalt irgendwie vertraut - auch wenn er jetzt nicht sagen konnte, warum das so war.

»Hüte dich vor den Gefahren der Stadt, Thorin!«, erklang die tiefe Stimme der Gestalt. »Du bist in größerer Gefahr als du glaubst.«

Der Krieger aus den Eisländern verharrte jetzt auf der Stelle und blickte der leuchtenden Gestalt misstrauisch entgegen. Mühsam ver-suchte er Einzelheiten zu erkennen, aber das geheimnisvolle Leuchten, das die hagere Gestalt umgab, war zu hell. Er konnte nur Umrisse se-hen.

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»Wer bist du?«, wollte Thorin jetzt wissen. »Wenn du ebenfalls zu diesen Dämonen gehörst, dann stell dich zum Kampf!«

Geisterhaftes Lachen ertönte. Die seltsame hell erleuchtete Gestalt schien sich über Thorins Herausforderung zu amüsieren. Schließlich brach das Lachen wieder genauso schnell ab wie es begonnen hatte.

»Du bist ein Narr, Thorin, wenn du mich für einen Dämon hältst. Dabei will ich dir nur helfen, damit du nicht von den Kreaturen dieser Stadt getötet wirst...«

»Wer bist du?«, fragte Thorin ein zweites mal die unbekannte Gestalt und ließ das Schwert immer noch nicht sinken. »Woher kennst du meinen Namen?«

»Ich weiß vieles, was euch Menschen immer verborgen bleiben wird«, erhielt Thorin nun als Antwort. »Ich kenne die Vergangenheit und auch die Zukunft. Du bist es, der das Rad des Schicksals drehen wird - und es wird alles so kommen wie es geschrieben steht. Du darfst niemandem in dieser Stadt trauen - auch wenn er menschen-ähnlich ist. Hüte dich vor Ishira, der Herrscherin über die Dämonen. Sie und ihre Geschöpfe haben viele teuflische Fallen ersonnen und du musst sie bald überwinden. Denke daran, welche Macht das Schwert Sternfeuer verleiht und zu welcher Größe es dir verhilft, wenn du es erst in deinen Besitz gebracht hast. Deshalb bleibe immer wachsam, dann wirst du schon bald eine unbesiegbare Waffe dein Eigen nen-nen...«

Die Stimme der Gestalt brach jetzt ab und das Leuchten, das den Körper umgab, wurde immer stärker. Thorin musste die Hand vor die Augen halten, weil ihn das grelle Licht so sehr blendete. Als er die Au-gen wieder öffnet hatte, war die geheimnisvolle Erscheinung auf den Treppenstufen des Tempels von einem Augenblick zum anderen wie-der verschwunden - so als hätte sie nie existiert.

Das war der Moment, wo Thorin erwachte. Er ließ die Augen auf und wusste zuerst gar nicht, was Wirklichkeit war und was nur Traum. Was hatte das alles zu bedeuten? War das womöglich eine wichtige Botschaft gewesen, die ihm die Götter hatten zukommen lassen wol-len?

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Wer war diese Erscheinung nur gewesen, die ihn mit Warnungen und Verheißungen bedachte? Ein Dämon der Finsternis oder ein Gott? Thorin wusste es nicht, aber die Worte, die er vernommen hatte, brannten in seiner Erinnerung und das musste etwas zu bedeuten ha-ben.

Langsam wichen die Schleier des Schlafes von ihm. Er sah sich um und erinnerte sich wieder daran, dass er in diesem Haus Schutz vor den furcht erregenden Kreaturen gesucht hatte. Als er an diese Ge-schöpfe dachte, sah er sich sofort nach seinem Schwert um. Es lag jedoch aber immer noch am gleichen Ort, wo er es hingelegt hatte. Sofort nahm er die Klinge an sich und erhob sich dann.

Das erste Licht des bevorstehenden Tages fiel durch die kleinen Mauerschlitze. Vorsichtig spähte Thorin hinaus ins Freie. Was er dann sah, beunruhigte ihn zutiefst. Wallender Nebel hing zwischen den Ge-mäuern, der ihm die Sicht auf weitere Einzelheiten nahm. Es war ein dichter und unergründlicher Nebel, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. War dies ebenfalls ein Werk der Dämonen - eine weitere List, um ihn in eine Falle zu locken?

Thorin wusste es nicht. Aber ihm war auch klar, dass er hinaus musste, um die Suche nach Sternfeuer fortzusetzen - und zwar bevor es den Dämonen gelungen war, ihn zu schnappen!

Langsam ging er zur Tür und öffnete sie wieder. Eisenscharniere quietschten laut in der unheimlichen Stille, als Thorin vorsichtig einen Schritt nach vorn machte. Tanzende Nebelschlieren wogten zwischen den Häusern hin und her. Irgendwo weiter drüben hörte er tappende Schritte, die sich dann aber wieder hastig entfernten.

Thorin lief ein kalter Schauer über den breiten Rücken, als er die sichere Deckung des alten Gebäudes verließ und sich in die Nebel-schleier hineinwagte. Vergeblich versuchte die Sonne, sich ihren Weg durch die weißen Schleier zu bahnen - aber die wärmenden Strahlen waren nicht stark genug. Der dicke und feuchte Nebel verschluckte einfach alles.

Thorin schritt langsam weiter und war sich bewusst, dass er je-derzeit mit einer bösen Überraschung rechnen musste. Noch schlim-mer war die Tatsache, dass er den Feind nicht rechtzeitig erkennen

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würde. Von überall her konnte ein heimtückischer Angriff erfolgen, ohne dass Thorin das vorher sah.

Eine teuflische Situation! Aber wenn er sich beeilte, dann konnte er es vielleicht doch noch schaffen, den großen Tempel im Zentrum der Stadt zu erreichen, bevor man ihn entdeckte. Vielleicht hatten ihm die Götter den Nebel ja auch geschickt, um ihn vor den Gegnern zu schützen.

Wieder musste Thorin an seinen Traum denken und er betete jetzt zu Thunor, dem Donnerer, damit er seine Hand über ihn hielt.

Unwillkürlich hielt er inne, als sich im Nebel vor ihm eine groteske Gestalt abzeichnete. Sofort duckte sich Thorin hinter einer verwitterten zerfallenen Mauer - gerade noch rechtzeitig, bevor das Geschöpf ihn sah.

Vorsichtig spähte er kurz aus seiner Deckung hervor - was er dann sah, bestätigte seine Vermutung, dass die Geschöpfe der Finsternis immer noch auf der Suche nach ihm waren. Wäre der Nebel nicht ge-wesen, dann hätten sie ihn bestimmt schon erwischt!

Es war ein unheimliches Wesen, das nur wenige Schritte von Tho-rin entfernt vorbei kroch. Fast zweimal so groß wie ein ausgewachse-ner Mensch und am ganzen Körper mit harten Schuppen bedeckt. Fleischgewordene Alpträume waren das!

Thorin rührte sich erst wieder, als er sicher war, dass die Kreatur im Nebel verschwunden war. Nun verließ er seine Deckung und setzte den Weg zum Stadtzentrum fort.

Jetzt befand er sich in einer schmalen Seitenstraße, die links und rechts von hohen Häusern umsäumt wurde, die schon seit Jahrhunder-ten hier stehen mussten. Der Stil der Gebäude mit ihren massigen, verkanteten Quadern erinnerte ihn an alte Geschichten von einem Volk, das schon seit vielen Generationen nicht mehr existierte und von dem sich die Alten nachts am Stammesfeuer noch erzählten.

Eine alte Zisterne kam in sein Blickfeld und er bemerkte das Knochengerippe, das halb im Brunnen lag. Es schien so, als hätte der arme Teufel dort versucht, sich Wasser zu beschaffen und war dabei umgekommen. War das auch einer jener vergessenen Helden gewe-

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sen, die sich auf die Suche nach Sternfeuer gemacht und dann hier den Tod gefunden hatten?

Thorin erinnerte sich wieder an die Worte des weisen Schamanen der N'begi. Sah so der Lohn für tage- und monatelange Strapazen aus?

So schnell würde Thorin nicht aufgeben - obwohl seine Lage sehr bedrohlich war. Sein Ziel hatte er schon fast greifbar vor Augen und da musste er eben seinen Schutzgöttern völlig vertrauen. Bis jetzt hatten sie ihm ja beigestanden und ihn vor den Kreaturen der Finsternis be-schützt.

Die Seitengasse mündete nun in eine größere Straße. Am Ende zeichneten sich in den Nebelschleiern, die sich allmählich zu lichten begannen, die Umrisse des Tempels ab, der Thorins Ziel war. Thorin dankte erneut seinen Göttern, dass sie ihm den richtigen Weg gewie-sen hatten. Dort war er - der Tempel der vergessenen Helden. Ir-gendwo im Inneren der wuchtigen Mauern befand sich das sagenum-wobene Schwert Sternfeuer.

Je näher Thorin kam, um so mehr Einzelheiten konnte er erken-nen. Das gewaltige Bauwerk überragte alle anderen Gebäude der ver-fallenen Dschungelstadt. Drei Türme erhoben sich in den nebelverhan-genen Himmel. Der Mittlere hatte als Spitze eine verzerrte menschliche Fratze, die Unheil verkündend nach unten sah. Direkt unterhalb des Turms entdeckte Thorin dann ein gewaltiges Eingangstor, von dem große und breite Treppenstufen herabführten.

Aber wie sollte es ihm nur gelingen, dort unbemerkt hineinzu-kommen? Denn er war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass der Weg über die Stufen ihn praktisch schutzlos machte. Wenn die Wesen der Finsternis ihm auflauerten, dann war dies eine passende Gelegen-heit, um Thorin den Garaus zu machen.

Seine Gedanken brachen ab, als er plötzlich tappende, schwere Schritte hörte, die sich der Stelle näherten, wo er sich verborgen hielt. Thorin duckte sich eng an eine rissige Hausmauer und beobachtete, was weiter geschah. Er sah zwei monströse Gestalten, die eine Stange auf ihren Schultern trugen, von der etwas herunterhing.

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Ein eisiger Schrecken durchfuhr ihn, als er das vermeintliche Opfer erkannte, das an Händen und Füßen gefesselt war.

Das war doch N'doro, sein ehemaliger Gefährte, der ihn so plötz-lich im Stich gelassen hatte. Halb bewusstlos hing der Wüstenkrieger von der Stange herab - und die beiden Wesen schleppten ihn in Rich-tung des Tempels, der auch Thorins Ziel war.

Der Nordlandwolf trug in diesem Moment einen innerlichen Kampf mit sich aus. Kein Zweifel - N'doro war verloren, wenn er sich erst einmal im Inneren des Gemäuers befand. Aber sollte er dem Unglück-lichen denn wirklich helfen? Schließlich hatte ihn N'doro feige von hin-ten ermorden wollen, nur um als erster das Schwert der Götter zu er-ringen. Dennoch war er in die Falle der Dämonen getappt - und nun wartete gewiss ein grauenvolles Ende auf ihn...

Nein, entschied Thorin. Egal, was geschehen war - er konnte und wollte nicht zusehen, wie ein wehrloser Mensch einfach getötet wurde. N'doro war schließlich ein Wesen aus Fleisch und Blut - der einzige außer Thorin in der Stadt, der nicht dämonischen Ursprungs war. Schon allein deshalb musste er N'doro jetzt beistehen.

Mit gezogenem Schwert stürmte er auf die beiden Wesen zu. Die-ser Angriff kam so plötzlich, dass die beiden Kreaturen viel zu spät darauf reagierten - und diese Chance nutzte Thorin.

Er holte mit der Waffe weit aus und versetzte dem ersten der dunklen Wesen einen fürchterlichen Hieb, der den Schädel der Bestie spaltete. Dunkles dickes Blut quoll hervor und Thorin setzte sofort nach, holte erneut aus. Dieser Hieb trennte das Haupt der Bestie ab!

Erst jetzt begriff die zweite Kreatur, was hier geschah. Achtlos ließ das Wesen die Stange mitsamt dem gefesselten N'doro fallen und griff fauchend an. Auch wenn das Wesen einen plumpen Körper besaß, musste sich Thorin vorsehen. Denn er sah den Hieb der klauenbewehr-ten Pranke bereits kommen und wich buchstäblich im letzten Moment aus.

Er ließ der Bestie keine Zeit für einen zweiten Hieb und stieß mit dem Schwert nach vorn. Die scharfe Klinge bohrte sich in die Kehle des Ungeheuers und löste einen großen Blutschwall aus, während das

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Wesen mit einem entsetzlichen Röcheln zusammenbrach und wenige Schritte von Thorin entfernt zuckend verendete.

Thorin blickte kurz zu dem getöteten Wesen und als er sicher war, dass ihm von beiden Kreaturen keine Gefahr mehr drohte, eilte er auf N'doro zu und beugte sich über ihn. Thorin bemerkte zwar den eigen-artigen Blick des Wüstenkriegers, kümmerte sich dann aber um seine Fesseln. Er schnitt ihn los und half ihm beim Aufstehen.

»Los, komm mit!«, rief er N'doro zu, als er sah, dass der dunkel-häutige Krieger keine Anstalten machte, ihm zu folgen. Er blieb ruhig und still stehen und seine Bewegungen waren irgendwie langsam...

Er wollte schon auf die große Treppe zueilen, die hinauf zum Ein-gang führte, aber jetzt meldete sich N'doro zu Wort.

»Warte!«, rief er mit krächzender Stimme. »Nicht den Hauptein-gang - dort lauern weitere Ungeheuer. Folge mir - es gibt da noch einen Seiteneingang...«

Ohne Thorins Zustimmung abzuwarten, ging der dunkelhäutige Krieger einfach los. Thorin blieb nichts anderes übrig, als ihm zu ver-trauen. Seine Entscheidung fiel ihm um so leichter, als er hinter sich im Nebel wütendes Geheul hörte. Die Bestien hatten die besiegten Wesen entdeckt und rasten jetzt vor Zorn. Der anfangs schwächlich wirkende N'doro eilte jetzt wieder geschmeidig weiter. Eben noch hat-te er ganz erschöpft ausgesehen. Wie kam diese rasche Wandlung zustande? Wuchs er in diesem Moment über sich selbst hinaus?

Die beiden Männer näherten sich dem Tempel von der Seite her. Thorin blickte nach oben. Der große Turm in der Mitte ragte mit seiner Spitze so hoch in den Himmel empor, dass die Nebelschleier einen Teil verhüllten. Dann schaute der Nordlandwolf wieder zu N'doro. Eigenar-tigerweise schien er sich bereits sehr gut mit der vergessenen Stadt vertraut gemacht zu haben - und das obwohl er erst seit kurzer Zeit hier weilte.

Schließlich wies der Wüstenkrieger mit ausgestreckter Hand nach oben.

»Siehst du die kleinen Fenster dort oben in den Nischen, Thorin?«, fragte er und richtete seinen Blick besonders lange auf ihn. »Das ist

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die einzige Möglichkeit, um ungesehen in den Tempel zu gelangen. Traust du dir zu, dort hinaufzuklettern?«

»Woher weißt du eigentlich, dass dies der einzig richtige Eingang ist?«, stellte Thorin jetzt die Gegenfrage. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir überhaupt noch vertrauen kann. Du wolltest mich schon einmal heimtückisch ermorden. Jetzt tauchst du so plötzlich wieder auf und kennst dich sogar noch sehr gut aus hier - zu gut, wie es mir scheint...«

»Ich hatte genügend Zeit, um mich umzusehen, Thorin«, erwider-te N'doro. »Es gelang mir, bis hierher zu kommen - dann erwischten mich die Dämonen. Den Rest kennst du ja. Aber was kommt dir daran verdächtig vor? Ich habe doch nur versucht, das Schwert vor dir zu finden und bin daran gescheitert. Das Schicksal war nicht auf meiner Seite - das ist alles.«

»Ich weiß nicht«, antwortete Thorin immer noch mit deutlichen Zweifeln in der Stimme. »Aber wir haben keine Zeit, um lange darüber nachzudenken. Wenn wir erst im Tempel sind und die Katakomben erreicht haben, dann wirst du mir Rede und Antwort stehen, N'doro. Hast du das verstanden?«

»Du wirst auf alle Fragen eine Antwort erhalten, Thorin«, erwider-te N'doro. »Aber nun komm endlich, bevor uns die Höllengeschöpfe erwischen...«

Thorin gefiel ganz und gar nicht, was er gerade gehört hatte. Er spürte instinktiv, dass es da noch etwas gab, was ihm dieser dunkel-häutige Fuchs verschwieg. Es war etwas in N'doros Augen, was Thorin misstrauisch bleiben ließ.

Dennoch saß ihnen die Gefahr weiterhin im Nacken - sie war so-gar allgegenwärtig. Nun galt es, die große Kuppelhalle in den Kata-komben zu finden, wo der Sage nach Sternfeuer verborgen sein sollte.

Thorin steckte das Schwert wieder in die Scheide zurück, schaute noch einmal nach oben und machte sich dann an den Aufstieg. Die Nischen mit den kleinen Fensteröffnungen befanden sich ungefähr vier Mannslängen oberhalb eines kleinen Vorsprunges, den es zu erreichen galt - aber das war leichter gesagt als getan!

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Thorins Hände griffen nach dem rauen Stein, aus dem der Tempel gebaut worden war. Auch wenn das mächtige Gebäude von weitem so aussah, als wenn ein Stein nahtlos in den anderen gefügt worden war, so gab es hier dennoch eine Menge Risse und Furchen, die Thorin ge-nügend Halt boten. Deshalb fiel ihm das Klettern doch leichter als er zunächst angenommen hatte. Ein Mann wie er, der die eisigen Klippen des Nordlandes kannte, für den sollte eine verwitterte Tempelwand keine unüberwindliche Herausforderung darstellen. Dennoch kostete es viel Kraft, nach oben zu kommen. Thorin achtete jetzt nicht mehr auf N'doro, der sich irgendwo neben ihm abmühte. Seine Muskeln ar-beiteten und die Lungen pumpten wie ein Blasebalg, als er seinen Kör-per langsam aber sicher nach oben zog. Schon bald hatte er die Hälfte der steilen Mauer hinter sich gebracht.

Er hing jetzt mitten in der Tempelwand. Wenn nun geflügelte Dä-monen ihn und den Wüstenkrieger entdeckten, dann hatten sie ihr Leben verspielt. Aber erneut schützte sie auch diesmal der dichte Ne-bel vor den Augen der Ungeheuer und so zog sich Thorin weiter nach oben.

Er blickte kurz zu N'doro, der sich nur wenige Ellen neben ihm be-fand. Auch er gab sein Bestes. Taub und klamm waren Thorins Finger, als er endlich den Vorsprung erreichte, über dem sich die Fensterni-schen befanden.

Jetzt kam der anstrengendste Teil des ganzen Aufstieges. Hatte er noch genügend Kraft, um sich auf den Vorsprung zu ziehen? Der Nord-landwolf atmete tief ein, bevor er sich ans Werk machte, Muskelsträn-ge traten auf seinem breiten Rücken hervor, während er sich langsam aber sicher nach oben zog. Es erschien ihm dennoch wie eine halbe Ewigkeit, bis er sich über den Vorsprung gezogen hatte.

Keuchend blieb Thorin erst einmal liegen und verschaffte sich dringend notwendigen Atem. Dann aber dachte er an N'doro, der noch nicht ans Ziel gekommen war und deshalb raffte er sich auf, um dem Wüstenkrieger zu helfen. Aber genau in diesem Moment tauchte eine schwarze Hand auf dem Vorsprung auf und Augenblicke später sah Thorin das grinsende Gesicht N'doros. Auch er zog sich dann mit ei-nem letzten Ruck auf den Vorsprung.

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»Wir haben es geschafft«, stellte er nüchtern fest. »Jetzt müssen wir sehen, wie es weitergeht...«

Bevor sich Thorin den Fensternischen zuwandte, warf er nochmals einen kurzen Blick auf N'doro. Noch immer störte ihn etwas an dem dunkelhäutigen Krieger. Etwas, was er mit seinen Sinnen nicht so rich-tig erfassen konnte - aber dieses mulmige Gefühl in seinem Magen wollte einfach nicht verschwinden.

»Ich weiß, wie versessen du auf Sternfeuer bist«, sagte er zu ihm. »Schwöre nochmals bei allem, was dir heilig ist, dass wir die Waffen so lange ruhen lassen, bis wir die Klinge gefunden haben. Dann tragen wir es in einem gerechten Kampf aus - und zwar bis wir wissen, wer der Bessere von uns ist. Bist du einverstanden?«

»Wenn es dich beruhigt, dann leiste ich hiermit diesen Schwur, Thorin«, versprach ihm N'doro und das stimmte den Nordlandwolf we-nigstens zum Teil zufrieden.

Erneut blickte er sich um. Von dem Vorsprung, auf dem sie sich befanden, führte eine schmale, ummantelte Öffnung ins Innere des Tempels. Sofort hatte Thorin wieder sein Schwert griffbereit und nä-herte sich dem Eingang, der von außen eigentlich ein Fenster darstell-te. Vorsichtig steckte er den Kopf in den schmalen Spalt und zwängte sich wenig später hindurch.

Neugierig blickte er ins Halbdunkel des Raumes, konnte jedoch kaum etwas erkennen. Alles lag in einem düsteren und dämmrigen Zwielicht. Das Fenster befand sich etwa eine Mannslänge über dem Boden, so dass sich Thorin ohne Schwierigkeiten hinab gleiten lassen konnte.

Auch N'doro folgte ihm rasch auf diese Weise und sah sich eben-falls um. Die beiden Krieger befanden sich jetzt in einer Halle, die voll-kommen leer war. Ihre Schritte klangen hohl, als sie ihren Weg ins Ungewisse fortsetzten.

Plötzlich hielt Thorin abrupt inne, als er in der Ferne etwas zu hö-ren glaubte.

»Was ist?«, fragte N'doro, denn er schien gar nichts bemerkt zu haben. »Ist da etwas?«

»Still«, raunte Thorin und lauschte erneut ins Halbdunkel hinein.

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Da - jetzt hörte er es wieder. Irgendwo in der Ferne erklang ein dumpfes Trommeln, das von tief unten zu kommen schien. Und es wurde allmählich lauter.

»Die Dämonen laden ein zum Tanz«, murmelte Thorin in einem kurzen Anflug von Humor. N'doro erwiderte nichts darauf. Der Nord-landwolf ließ ihn auch jetzt nicht aus den Augen, als beide dem schma-len Weg folgten, der aus der Halle führte. Das Trommeln wurde jetzt immer lauter und hallte von den Wänden wider.

Während Thorin und N'doro vorsichtig den Gang entlang schli-chen, erkannte der Nordlandwolf geheimnisvolle Glyphen an den ge-wölbten Wänden, die nicht menschlichen Ursprungs waren. Grausame Fratzen und seltsame Kreaturen waren von unbekannter Hand in den Stein gehauen worden und es schien fast so, als wollten diese zahllo-sen Gesichter Thorin davor warnen, weiterzugehen.

Aber Thorin war kein Feigling, sondern schritt tapfer voran - die scharfe Klinge in der rechten Hand, jederzeit dazu bereit, zuzuschla-gen, wenn sich ihnen etwas in den Weg zu stellen versuchte.

Der schmale Gang machte weiter vorn eine Biegung und das düs-tere Licht wurde jetzt allmählich heller. Die Trommelschläge waren mittlerweile so laut geworden, dass sie Thorin in den Ohren schmerz-ten. Gleichzeitig war schrilles Gelächter und Gekreische zu hören, be-gleitet von murmelnden Gesängen. Irgendwo dort vorn schienen die Dämonen ein grausames Fest zu feiern...

Thorin und N'doro schlichen weiter voran, bis sie die Biegung er-reicht hatten. Hier führte der Gang über eine schmale Galerie weiter, an deren Seite sich irgendwo unten ein großer Saal befinden musste. Thorin bemerkte den flackernden Feuerschein, der bis an die Decke fiel.

Es war zwar gefährlich, aber sie mussten es dennoch versuchen. Der Nordlandwolf war der erste, der nun den sicheren Schutz seiner Deckung verließ und sich in gebückter Haltung weiter voran schlich. N'doro tat es ihm gleich und so näherten sich die beiden dem schma-len Pfad, der fast in der Nähe der Decke vorbeiführte und nun von einem winzigen Mauervorsprung abgedeckt wurde. In regelmäßigen

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Abständen waren dort brennende, flackernde Teerfackeln angebracht, die notdürftig Licht spendeten.

Thorin war der erste, der sich dem kleinen Mauervorsprung näher-te. Er hob den Kopf und spähte in die Tiefe. Was er dann zu sehen bekam, entsetzte ihn zutiefst.

Unten in einer gewaltigen Halle brannte ein großes Feuer, um das zuckende Gestalten in völliger Extase tanzten. Ihre Körper waren missgestaltet und behaart und sie stießen dabei immer wieder schrille Schreie aus, die Thorin schon von weitem vernommen hatte. An deren Seite befand sich ein Trupp Dämonen, die auf uralte Trommeln ein-schlugen und sich ebenfalls im Takt der unheimlichen Musik wiegten.

Am Ende des Saales stand ein großer Thron, ganz aus Knochen gefertigt - und auf diesem Thron saß eine Gestalt, die Thorin für den Rest seines Lebens nie mehr vergessen würde. Es war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Aber der Blick in ihre unergründlich tiefen Augen zeigte ihm, dass sie ebenfalls auf der Seite der Dämonen stand.

Ishira, die Herrin von Noh'nym! Nur sie konnte es sein, die Macht über diese Wesen hatte und nun zusammen mit ihnen einen unheimli-chen Reigen feierte - aus welchem Anlass auch immer...

»Duck dich«, raunte Thorin N'doro zu. »Sie dürfen uns nicht se-hen, sonst sind wir verloren. Den Göttern sei Dank, dass sie uns noch nicht bemerkt haben...«

Dann schlich er sich weiter, immer darauf bedacht, dass die Teufel unten in der Halle ja nicht nach oben schauten. Aber sie schienen mit ihrer Orgie so sehr beschäftigt zu sein, dass sie gar nicht auf die bei-den Menschen hoch über ihnen achteten - und das obwohl die niedrige Mauer sie nur unzureichend vor den Blicken der finsteren Kreaturen verbarg. Sie hatten schon das größte Stück des schmalen Pfades zu-rückgelegt, als Thorin nochmals einen Blick zurück warf. Er wurde eine Spur blasser, als er in das Gesicht der schönen Dämonenherrscherin schaute. Für einen winzigen Moment kam es ihm so vor, als habe sie die beiden Eindringlinge entdeckt. Aber dann wandte sie sich mit ei-nem Lächeln auf den Lippen wieder ihren Untertanen zu.

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Jetzt beeilte sich Thorin um so mehr, den schmalen Pfad so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und er atmete spürbar auf, als er die letzten Schritte zu einer dunklen Nische zurückgelegt hatte.

N'doro war nun auch nicht mehr im Blickfeld der dunklen Kreatu-ren. Beide waren in Schweiß gebadet, als sie sich langsam erhoben.

»Die Götter sind auf unserer Seite«, murmelte Thorin. »Ich hatte schon gedacht, dass alles aus ist. Hast du die rothaarige Hexe auf dem Knochenthron gesehen, N'doro?«

»Es muss Ishira sein, die Herrscherin über die Dämonen«, nickte N'doro. »An den Lagerfeuern meines Stammes erzählt man sich von ihrer Schönheit und Grausamkeit. Wenn wir in ihre Hände fallen, dann sterben wir einen schrecklichen Tod...«

»Noch hat sie uns nicht«, fiel ihm Thorin ins Wort. In seinen Au-gen leuchtete blanke Wut auf. »Bevor das geschieht, werde ich viele dieser Missgeburten dort unten zur Hölle schicken. Lass uns jetzt wei-tergehen. Wir sind nicht mehr weit von unserem Ziel entfernt.«

*

Der Weg führte jetzt wieder allmählich abwärts. Thorin riss eine der an der Wand befestigten Teerfackeln aus der Halterung, damit er wenigs-tens den ungefähren Verlauf des Ganges erkennen konnte. Das Erleb-nis in der Zitadelle des Magiers Ranyr hatte er noch deutlich vor Augen und deshalb wollte er nicht noch einmal in eine Fallgrube tappen. Er hielt die Fackel in der Linken und leuchtete damit den Boden vor sei-nen Füßen ab.

Die Wände waren feucht und glitschig, genau wie der unebene Boden. Wasser tropfte von der Decke und rann über die Wände. Es schien fast so, als habe eine ungeschickte Hand diesen Gang einfach in die Felsen gehauen. Keine Treppenstufen führten nach unten. Des-halb mussten die beiden aufpassen, um auf dem holprigen Pfad nicht auszurutschen. Denn der Weg ins Innere des Tempels konnte noch zahlreiche Gefahren beinhalten.

Es musste ein Weg sein, der nur in Notfällen von den früheren Bewohnern benutzt worden war - und das kam Thorin sehr recht.

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Wahrscheinlich vermuteten ihn hier die Dämonen am wenigsten. Sie wussten zwar, dass er in der Stadt weilte und deshalb würden sie ganz sicher auch die üblichen Zugänge zum Tempel bewachen - vor allen Dingen den Weg, der zum Schwert der Götter führte. Aber dieser Sei-tenpfad war unbewacht und niemand lauerte hier. Das einzige, was sie außer ihrem keuchenden Atem vernahmen, war das stetige Tropfen von Wasser auf Stein.

N'doro hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Der Nomadenkrie-ger wirkte sehr gelassen und ruhig - als wenn er wüsste, was dort un-ten in den dunklen Gewölben lauerte. Erneut spürte Thorin das Miss-trauen, das ihn wieder überkam.

Der Gang stieg plötzlich wieder an und Thorin musste jetzt auf-passen, dass er nicht ins Rutschen geriet. Trotzdem atmete er spürbar auf, dass der Weg nicht noch tiefer geführt hatte. Deshalb beschleu-nigte er jetzt seine Schritte. Dabei blickte er sich immer wieder um und hielt die Fackel hoch über seinen Kopf. Das Licht warf bizarre Schatten an die Felsenwände und Thorin sah, dass er sich in einer kleinen Höhle befand, die weiter hinten einen Ausgang besaß. Ob dieser ins Innere des Tempels führte? Thorin winkte N'doro rasch zu, ihm zu folgen, aber dann hielt er plötzlich inne, als das Licht der Fackel einen makab-ren Anblick erhellte.

Hier musste einmal eine Schlacht stattgefunden haben. Thorin er-kannte im flackernden Fackelschein einige Gerippe zwischen den Fel-sen und er sah auch ihre Waffen, die schon vom Zahn der Zeit ge-zeichnet waren. Ob das die Gebeine der Helden waren, die sich auf die Suche nach dem Götterschwert begeben hatten? Waren sie nur bis hierher gekommen - warum? Fragen über Fragen, auf die Thorin keine Antwort fand.

Deshalb warf er nur einen kurzen Blick auf die bleichen Gebeine und schritt weiter tapfer voran. Schon bald hatten er und N'doro die Höhle hinter sich gelassen und befanden sich nun in einem Durch-gang, der sich allmählich verbreiterte. Von weitem bemerkte Thorin eine Lichtquelle, die einen hellen angenehmen Schein ausstrahlte. Ob das ein Zeichen war, dass sich das Götterschwert in unmittelbarer Nä-he befand?

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Ihre Schritte klangen hohl auf dem Felsen, als sie weitermar-schierten. Thorin verlor allmählich das Gefühl der Orientierung. Dieser Tempel stellte ein Bauwerk dar, das wohl einzigartig war. Schon das, was er von weitem gesehen hatte, als er die Stadt betreten hatte, war majestätisch und gewaltig gewesen.

Aber in Wirklichkeit war der Tempel noch um einiges größer. Das meiste befand sich unter der Erde. Gewölbe, einsame Hallen und Ka-takomben - all das erweckte in Thorin den Eindruck eines riesigen La-byrinths, in das er und N'doro immer tiefer eindrangen. Hoffentlich kamen sie je wieder lebend aus diesem Irrgarten heraus...

Nur noch wenige Schritte trennten Thorin und den Wüstenkrieger von der unbekannten Lichtquelle. Dann erreichten sie einen großen Kuppelsaal, dessen Ausmaße geradezu gigantisch schienen.

Hoch über dem Boden wölbte sich ein Dom aus Felsen und von dort kam auch das helle und saubere Licht - obwohl sie sich ganz tief unter der Erdoberfläche befinden mussten. Irgendwie spürte Thorin, dass sie sich an einem bedeutungsvollen Ort befanden. Ganz langsam schritt der Nordlandwolf weiter, hinter einem großen metallenem Gong hervor, der zwischen zwei mächtigen Steinsäulen eingelassen war und betrat dann zusammen mit N'doro die große Halle.

Thorins Augen eröffnete sich ein Anblick, den er sein ganzes Le-ben lang nicht mehr vergessen würde. Unmittelbar vor ihm erstreckte sich ein breiter Graben rund um eine kleine Insel inmitten des Kuppel-doms. Und dort jenseits der Kluft auf einem kleinen Hügel stand ein Podest, auf dem unter einer Kristallplatte gleißender Stahl des Licht der hohen Kuppel widerspiegelte.

Sternfeuer!

Thorin ließ seine eigene Waffe sinken und näherte sich der tiefen Kluft, die ihn noch von dem Götterschwert trennte. Vorsichtig ging er auf die Spalte zu und spähte für einen kurzen Augenblick nach unten. Was er sah, ließ ihn zusammenzucken. Tief unten brodelte und gärte es feuerrot und ein Hitzeschwall stieg hoch empor bis zu ihm und reiz-te seinen Atem.

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Es roch nach Schwefel und anderen beißenden Stoffen. Dort un-ten tat sich der Schlund zur Hölle auf - bereit, jeden zu verschlingen, der diese Schwelle überschreiten wollte.

Thorins Blick wanderte hinüber zur anderen Seite der rings um die Insel wuchernden Kluft. Dort befand sich das Ziel all seiner Träume. Die Klinge des Schwertes schimmerte wie tausend Sterne. Das Licht war wie ein warmes Feuer und es wurde sogar noch verstärkt vom Licht der Kuppel, das den Platz rings um das Schwert taghell erleuch-tete. Ein Ort vollkommener Harmonie inmitten einer dämonischen Umwelt!

Plötzlich ertönte hinter Thorin das tiefe und dumpfe Dröhnen des Gongs. Fassungslos fuhr er herum. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sah, dass N'doro den Gong betätigt hatte. Der Wüs-tenkrieger stand direkt davor, holte erneut aus und schlug den Ham-mer gegen die bronzene Oberfläche. Ein dumpfer Ton erfüllte die ge-samte Kuppelhalle, der weithin zu hören war!

»Bist du wahnsinnig, N'doro?«, rief Thorin voller Zorn. »Willst du uns die ganze Meute der Dämonen auf den Hals hetzen?«

Bei diesen Worten ließ N'doro langsam den Hammer sinken und drehte sich zu Thorin um. Sein Gesichtsausdruck hatte jetzt nichts Menschliches mehr an sich, als er seine kalten Augen auf Thorin rich-tete. Sein Mund war zu einem hässlichen Grinsen verzerrt. Etwas hatte von ihm Besitz ergriffen - etwas, was man nicht sehen konnte. Aber es war da!

»Du wirst sterben«, sagte N'doro jetzt mit seltsam monotoner Stimme und griff nach dem Krummdolch an seiner Hüfte. »Meine Her-rin Ishira hat beschlossen, dass du tausend Tode erleiden wirst, bevor deine verruchte Seele zur Hölle fährt. Ich werde dich langsam darauf vorbereiten. Kämpfe, Thorin - die Stunde der Abrechnung ist gekom-men!«

Thorin stieß einen leisen Fluch aus. Was er die ganze Zeit über geahnt hatte, war nun eingetreten. Hätte er diesen dunkelhäutigen Bastard doch in Ranyrs Zitadelle zurückgelassen - dann wäre das bes-ser für ihn gewesen. Aber diesen Fehler konnte er jetzt nicht mehr

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gutmachen und nun hieß es Kampf Mann gegen Mann. Oder besser gesagt - Dämon gegen Mensch!

Thorin hatte ebenfalls sein Schwert aus der Scheide gerissen. Er wusste, dass ihm nur wenig Zeit blieb, denn die Dämonen waren vom Hall des Gongs bestimmt schon alarmiert worden.

Deshalb sprang er jetzt vor und holte mit der Klinge weit aus. N'doro war jedoch auf der Hut und parierte Thorins Hieb. Funken flo-gen auf, als sich die beiden Klingen kreuzten. Jetzt war es N'doro, der angriff und wenn Thorin nicht im letzten Moment ausgewichen wäre, dann hätte dieser Schlag N'doros sein Leben beendet!

»Noch hast du nicht gewonnen!«, rief Thorin und wehrte erneut einen Hieb des Gegners ab. Er hatte trotzdem alle Mühe, sich den her-anstürmenden, besessenen N'doro vom Leib zu halten. Denn der Wüs-tenkrieger war von einer Macht beseelt, die ihn unerbittlich vorwärts trieb.

Thorin parierte jeden Schlag N'doros und als der Feind kurz eine Blöße zeigte, zuckte seine Klinge vor und verletzte N'doro an der rech-ten Schulter. Blut trat hervor und rann langsam an dessen Arm hinun-ter. Aber der Wüstenkrieger zeigte überhaupt keine Reaktion - weder Schmerz noch Wut. Es schien fast so, als habe er gar nichts gespürt, dass ihn Thorin verwundet hatte. Mit der gleichen ausdruckslosen Mie-ne drang er auch weiterhin auf Thorin ein.

So schnell gab sich der Nordlandwolf aber nicht geschlagen. Er war schließlich ein erfahrener Schwertkämpfer.

Irgendwie musste auch dieser Gegner zu besiegen sein - selbst wenn er von einer dämonischen Macht beseelt war. Tapfer schlug sich Thorin weiter und dann kam seine große Chance. N'doros Klinge zuck-te vor. Thorin hatte das kommen sehen, hatte aber dennoch bis zu-letzt gewartet und war dann erst zur Seite gesprungen.

Während Thorin mit dem Rücken gegen die Felsenwand prallte, schoss N'doro an ihm vorbei und der Nordlandwolf versetzte ihm dar-aufhin einen tödlichen Hieb in die Brust!

Der Wüstenkrieger wankte für einen winzigen Augenblick, fing sich dann aber doch wieder - trotz des Schlages, der eigentlich sein Leben

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hätte beenden müssen. Mit erhobener Klinge wankte er weiter auf Thorin zu.

»Ihr Götter«, murmelte Thorin. »Stirb doch endlich, du Dämon!« Die Macht, die von dem Körper des N'begi Besitz ergriffen hatte, war einfach nicht zu besiegen. Fieberhaft überlegte Thorin, was er nur tun konnte, denn im normalen Kampf war diesem Gegner nicht beizu-kommen.

Während er weiter mit dem Geschöpf einen harten Kampf focht, das einst N'doro gewesen war, ertönten irgendwo im Hintergrund tap-pende Geräusche, die rasch näher kamen. Die Kreaturen der Finsternis eilten jetzt herbei, angelockt von den Gongschlägen. Wenn sie Thorin erst eingekreist hatten, dann war es aus und vorbei mit dem Traum vom Götterschwert. Deshalb musste er rasch handeln.

Er wich langsam zurück, auf den Rand der Kluft zu und der Dä-mon in der Gestalt des Wüstenkriegers folgte ihm. Thorin riskierte al-les, um den unmenschlichen Gegner auszuschalten. Ihm war eine plötzliche Idee gekommen, wie er das am besten verwirklichen konnte und er machte sich sofort daran, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Er konnte nur verlieren oder gewinnen!

Thorin tänzelte weiter am Rand der Spalte entlang und achtete darauf, dass er nicht aus Versehen einen Schritt zu weit ging und dann in die unergründliche Tiefe des Höllenschlundes stürzte. N'doro war es außerdem auch in der Zwischenzeit gelungen, Thorin am linken Ober-schenkel zu verletzen.

Genau in diesem Moment stürmten die ersten Ungeheuer in den großen Kuppelsaal, an ihrer Spitze die grausame Dämonengöttin. Der Nordlandwolf zögerte nicht länger, denn gerade hatte sich auch N'doro kurz umgedreht und blickte hinüber.

Jetzt stieß Thorin die Klinge erneut vor und sie bohrte sich tief in die Brest des einstigen Gefährten. N'doro brüllte laut auf und zitterte am ganzen Körper. Er befand sich so nahe an der Kluft, dass er durch den heftigen Stoß von Thorins Schwert jetzt zu taumeln begann und dabei über die Kante trat.

Seinem weit geöffneten Mund entrang sich ein dumpfer Schrei, als er in die Tiefe stürzte. Thorin blieb jedoch keine Zeit mehr, um dieses

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schreckliche Bild mit anzusehen, denn jetzt standen ihm ganz andere, weitaus gefährlichere Gegner gegenüber. Als er in die Augen der Dä-monengöttin Ishira blickte, ahnte er, weshalb N'doro ihr verfallen war und dies schließlich mit seinem Leben hatte bezahlen müssen...

»Packt ihn und bringt ihn mir!«, rief die rothaarige Hexe mit lauter Stimme und zeigte mit ihrem nackten Arm auf Thorin.

Aber noch ehe sich die Geschöpfe in Bewegung setzen konnten, rannte Thorin auch schon los. Es blieb ihm nur noch die letzte Mög-lichkeit, diesen breiten Spalt zu überwinden. Keuchend blickte er sich um. Die Dämonen waren schon dicht hinter ihm und würden ihn ge-wiss gleich zu fassen bekommen, um ihn dann mit ihren scharfen Klauen zu zerreißen...

Thorin nahm einen kurzen Anlauf und sah aus den Augenwinkeln, dass Ishira seine Absicht zu ahnen begann.

»Das schaffst du niemals!«, rief sie mit lauter Stimme. »Gib auf!« Für Thorin gab es dennoch kein Zurück mehr. Der Abgrund kam

auf ihn zu und jetzt sah er schon das Brodeln in der Tiefe. Der Gestank des Schwefels drang zudem in seine Nase.

»Odan, steh mir bei!«, brüllte er und dann sprang er! Sein Körper hob mit einer geschmeidigen Bewegung ab und

streckte sich nach vorn. Für einen winzigen Moment sah es so aus, als wenn er es nicht schaffte. Aber dann kam er doch noch ganz knapp auf der gegenüberliegenden Kante auf und wäre trotzdem noch um ein Haar nach hinten geglitten. Thorin konnte sich gerade noch fangen und warf sich mit aller Kraft nach vorn. Das rettete ihm das Leben.

Das Geschrei der Dämonen war auf einmal verstummt. Der Nord-landwolf sah ihre Umrisse nur schwach im Halbdunkel der Höhle, denn die Insel, auf der er sich jetzt befand, strahlte ein so warmes Licht aus, dass der übrige Teil der Kuppelhalle wie die finsterste Nacht er-schien.

Seine Augen richteten sich nun auf den Sockel, auf dem unter ei-ner Kristallplatte das Schwert der Götter lag. Wie von einer unsichtba-ren Macht angetrieben, marschierte er langsam auf den Sockel zu und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild, das sich ihm nun bot.

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Vor den Dämonen brauchte er sich nicht mehr zu fürchten, denn für sie war der Zugang zu Sternfeuer unmöglich. Irgendeine Macht in dieser Kluft hielt die Ungeheuer auf magische Weise zurück, Thorin nachzukommen und ihn zu töten. Und weil das so war, fühlte er sich auch ganz sicher, obwohl ihn nur der Abgrund von den dunklen Ge-schöpfen trennte.

»Lass die Hände von dem Schwert!«, ertönte erneut die Stimme der rothaarigen Hexe. »Lass es dort und ich verspreche dir alles, was du willst. Gold, Macht und... mich!«

Thorin hörte überhaupt nicht zu. Ishiras Worte prallten an ihm ab wie die Wogen des Großen Salzmeeres, wenn sie mit ungestümer Wucht gegen das felsige Gestade von Cathar schlugen. Nichts und niemand würde ihn nun noch zurückhalten können - denn jetzt stand er am Ziel seines langen und mühseligen Weges!

Vor ihm lag das Schwert. Es war bestimmt nicht von menschlicher Hand geschmiedet, dachte Thorin, als er noch näher herantrat und die Klinge durch die Kristallplatte hindurch betrachtete. Es war eine prachtvolle Waffe. Blanker, scharfer Stahl blitzte im Licht der Kuppel auf. Der weit heruntergezogene Griff war mit grünen Smaragden be-setzt und leuchtete genauso hell wie die Klinge. Das Heft trug eine feine Ziselierung - einen flammenden Berg, über dem ein Diamant wie ein Stern erstrahlte. Der Knauf bestand aus einem einzigen Bergkris-tall.

Es war eine unvergleichliche Waffe für den, der sie führen konnte. Und er, Thorin, würde nun derjenige sein, dem sie gehörte!

Seine Hände schlossen sich um die kostbare Kristallplatte und dann hob er sie hoch. Die schwere Platte, die seit einer Ewigkeit nicht mehr bewegt worden war, gab langsam aber sicher nach. Nun lag das Schwert offen vor Thorin. Seine eigene Klinge warf er nun achtlos bei-seite. Die Waffe hatte ihm zwar gute Dienste geleistet, aber sie war nichts gegen die unvergleichliche Schmiedekunst der Götter des Lichts.

Seine Rechte senkte sich hinab und umschloss langsam den Knauf Sternfeuers.

Ein warmes Prickeln durchströmte seine sehnige Faust. Ehrfürchtig hob er die Klinge ans Licht und es war fast so, als habe Sternfeuer ihm

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schon immer gehört - so gut und griffig lag das Götterschwert in sei-ner Hand.

In dem Augenblick, als er die Klinge voller Triumph emporreckte, wurde die Lichtquelle, die ihre wannen Strahlen über den Sockel aus-gebreitet hatte, noch intensiver. Geheimnisvolle, sphärische Klänge hallten von den Wänden des Kuppeldoms wider, die von überall her zu kommen schienen. Stimmen murmelten Worte in einer unbekannten Sprache und in einer Weise, die Thorin bewusst werden ließ, dass er jetzt eine Brücke zu der Welt der Götter geschlagen hatte.

Sein Geist wurde von der berauschenden Musik und von den Wor-ten erfüllt. Gedankenfetzen drangen auf ihn ein und seltsame Visionen eröffneten sich seinem Blick. Dieser Eindruck war so überwältigend, dass Thorin zu wanken begann, aber er fing sich wieder und stand weiterhin gerade, das Schwert hoch aber seinen Kopf erhoben.

Dann brachen die Klänge wieder so plötzlich ab wie sie gekommen waren. Stattdessen war ein tiefes und dumpfes Grollen zu vernehmen, das allmählich anschwoll. Es musste von tief unten her kommen - aus der Kluft, die Thorin vor wenigen Augenblicken unter Einsatz seines Lebens überwunden hatte.

»Ihr Götter, ich danke euch für diese Waffe«, murmelte der Nord-landwolf ergriffen. »Ich werde sie immer in Ehren halten...«

Wieder rumorte es tief unten in der Erde. Unter den Dämonen auf der anderen Seite des Abgrunds breitete sich jähes Entsetzen aus, als auf einmal die Felsen zitterten und ich kleine Gesteinsbrocken von dem kuppelähnlichen Gewölbe lösten. Gleichzeitig bebte erneut die Erde und das wurde immer stärker. Feuriges Magma spritzte hervor.

Die Macht des Schwertes begann diesen Ort zu zerstören und die dunklen Geschöpfe spürten das. Ishira und ein in eine Kutte gehülltes Wesen versuchten, die übrigen Dämonen zu beruhigen, aber es gelang ihnen nicht mehr. Sie liefen davon wie eine völlig kopflose Herde, wäh-rend die rothaarige Hexe einen Fluch nach dem anderen ausstieß.

Thorin sprang hastig zur Seite, als sich von der Decke ein gewalti-ger Felsbrocken löste. Es war ein länglicher Stein, der gerade so fiel, dass er halb auf der Insel und halb auf der anderen Seite aufkam. War

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dies womöglich ein Zeichen der Götter, dass er jetzt diesen Ort verlas-sen sollte, bevor die Zerstörung noch weiter um sich griff?

Der Nordlandwolf zögerte nicht mehr, sondern überschritt sicher den Abgrund. Er sah nicht nach unten, wo das Innerste der Erde sich in gewaltigem Aufruhr erhob. Mit einem großen Satz erreichte er sicher die andere Seite, wo Ishira und das Kuttenwesen noch als einzige ver-harrten, während sich rings herum das Chaos immer weiter ausbreite-te. Der Kuppeldom löste sich langsam auf und große Felsquader bra-chen aus dem Gestein.

»Du elender Wurm!«, schrie Ishira, die genau wusste, dass ihre Schreckensherrschaft gebrochen und ihr Reich dem Untergang geweiht war. »Dafür sollst du büßen. Athaar - töte diesen Hund!«

Der Dämon in der Kutte sprang jetzt nach vorn und richtete seine stechenden rot glühenden Augen auf Thorin, versuchte ihn dadurch in seinen Bann zu schlagen. Aber der Nordlandwolf ließ sich darauf erst gar nicht ein. Seine Hand, die das Götterschwert hielt, fuhr hoch und die Klinge sang ihr tödliches Lied, als sie dem Geschöpf der Finsternis den Kopf abschlug. Der Rumpf taumelte zurück zu Boden, wo er sich rasch in Staub aufzulösen begann. Zurück blieb nur eine braune, wal-lende Kutte!

»Und jetzt zu dir, du Hexe!«, rief Thorin, während hinter ihm die Feuerlohen immer höher emporstiegen. Es wurde höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Aber nicht, bevor er mit der Herrscherin von Noh'nym abgerechnet hatte!

Ishira sah den großen Krieger mit dem Götterschwert in der Faust auf sich zukommen und sie erkannte den Zorn in Thorins Augen. Er wollte Rache und die Macht des Schwertes war auf seiner Seite. Ihre grünen Augen weiteten sich vor Angst und sie war unfähig, sich von der Stelle zu rühren, denn die magische Klinge bannte sie auf dem Fleck. Verzweifelt versuchte sie mit ihren Blicken und einem provozie-renden Lächeln, Thorin für sich zu gewinnen. Ihr hübsches Gesicht versprach ihm alle Schätze der Erde, wenn er sie jetzt verschonte.

»Dieser Ort wird fallen!«, rief Thorin mit hoch empor gereckter Klinge. »Und du mit ihm, Ishira. Fahr zur Hölle, du Ausgeburt des Bö-sen!«

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Sternfeuer zuckte vor und die Klinge fuhr tief in den Körper der Hexe, die N'doros Tod verursacht hatte, indem sie ihm seine Seele geraubt hatte. Ishiras Lippen entrang sich ein gellender Schrei, als sich die Klinge in ihren Körper fraß. Heißer Schmerz packte sie, der wie eine Welle über ihr zusammenschlug. Die göttliche Macht des Lichts brannte sich in ihren dämonischen Körper und breitete sich dort immer weiter aus.

Die Herrscherin von Noh'nym starb, wie sie gelebt hatte - in Schrecken. Ihr Körper zuckte noch ein letztes mal, dann lag er auch schon still. Ishira löste sich aber nicht in Staub auf. Geblieben war der wunderschöne Körper einer Frau, die Thorin alles gegeben hätte, wenn er ihr gefolgt wäre...

Thorin schenkte der toten Hexe nur noch einen verächtlichen Blick, bevor er sich ebenfalls zur Flucht wandte. Er rannte auf den Gang zu, von wo er und N'doro gekommen waren. Hinter ihm leuchte-te die Insel, von der er Sternfeuer geholt hatte, in einem unwirklich schimmernden Licht, während ringsherum die Zerstörung immer grö-ßere Ausmaße annahm und das rote Magma aus der Erde hervor schoss...

*

Thorin lief so schnell er konnte. Donnergrollen erfüllte die Luft und Felsbrocken fielen mit einem lauten Getöse von der Decke hinunter. Auch in der Höhle, wo die Gebeine der toten Helden vermoderten, machte sich nun das Beben bemerkbar. Der Boden zitterte und die Kalksteine, die von der Decke hingen, schwankten, als hätte sie eine unsichtbare Hand bewegt. Als Thorin die große Höhle schon fast hinter sich gebracht hatte, nahm auch hier die Zerstörung ihren Lauf.

Jetzt erreichte er den schmalen Seitengang, der nach oben führte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er irgendwo im Hintergrund eine bucklige Gestalt, die aber dann schreiend davonlief, als sie das leuch-tende Schwert erblickte. Die Dämonen hatten vor Sternfeuer eine ent-setzliche Furcht. So sehr, dass sich ihm niemand mehr in den Weg zu stellen wagte, obwohl er ganz allein und die anderen so viele waren.

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Aber die Macht des Schwertes war nun freigesetzt - und sie war stär-ker als alles andere!

Thorin kletterte rasch nach oben und ein Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Was war, wenn das Beben den engen Gang erreichte, bevor er ihn verlassen konnte? Dann würde auch er lebendig begraben werden - und auch die Macht der Götterklinge konnte ihn nicht davor schützen.

Deshalb schickte Thorin ein stummes Stoßgebet zu seinem Schutzgott Odan, dass er ihn aus diesen dunklen Kerkern retten möge und der Weltenzerstörer schien sein Flehen zu erhören. Die Erde bebte zwar noch zornig, aber der Gang brach nicht zusammen, sondern hielt, bis Thorin die Enge hinter sich gelassen hatte und sich jetzt wieder direkt über dem großen Saal befand, wo die Dämonen noch vor kur-zem ihr teuflisches Fest gefeiert hatten.

Er sah, wie sich unten in der Halle einige Wesen tummelten, die verzweifelte Schreie ausstießen - denn sie hatten wohl gespürt, dass ihre Herrin nicht mehr am Leben war. Ohne Ishira benahmen sie sich vollkommen kopflos. Thorin hastete weiter die schmale Galerie ent-lang, bis die Schreie der Geschöpfe hinter ihm allmählich leiser wurde und dann ganz verstummten.

Vor seinen Augen zeichnete sich eine breite Treppe ab, die nach unten in eine weitere Halle führte, wo sich zwei echsenhafte Ungeheu-er aufhielten. Auch diese suchten beim Anblick der blinkenden Götter-klinge rasch das Weite. Sie wussten, dass Sternfeuer sie sofort ver-nichten würde.

Wenige Schritte war Thorin nur noch vom großen Eingangsportal des Tempels entfernt. Die bronzenen Tore standen jetzt weit offen und Thorin lief, so schnell er konnte, hinaus ins Freie.

Mittlerweile hatte sich der drückende Nebel gelichtet. Die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen vom Himmel herab in die zerfallene Dschungelstadt, die jetzt dem Untergang geweiht war.

Als Thorin die Treppen hinunterlief, hörte er hoch über sich ein mächtiges Donnern. Der große Turm begann zu wanken und in dem Dämonengesicht aus Stein in der Mitte taten sich Risse auf. Gesteins-

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brocken fielen hinab und Thorin musste sich sputen, damit er von die-sem Hagel nicht doch noch getroffen wurde.

Mit schnellen Schritten entfernte er sich aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich. Sein Ziel war nun das äußere Stadttor, das vor einer halben Ewigkeit - so kam es ihm jedenfalls vor - durchschritten hatte. Noh'nym war verflucht und nun, wo die Mächte des Lichts diesen Kampf gewonnen hatten, hatte diese Stadt keine Existenzberechtigung mehr. Sie musste vom Erdboden getilgt werden und alles Dämonische, was noch in den alten Mauern hauste, würde mit ihr den Tod finden...

Jetzt hatte Thorin das Stadttor erreicht. Unwillkürlich spähte er hinauf zum Torbogen, wo er vorher den grässlichen Gnom gesehen hatte, der ihm mit seiner Zwergenhorde so übel mitgespielt hatte. A-ber nirgendwo war ein Zeichen von ihm zu sehen. Wahrscheinlich hat-ten sich alle Geschöpfe der Finsternis im Tempel versammelt und star-ben dort durch die einstürzenden Trümmer. Thorin verlor keine weite-ren Gedanken mehr darüber, sondern rannte schnell weiter. Bald hatte er den Hang erreicht, der hinauf zu dem Plateau führte, von wo aus er zuerst die Stadt gesehen hatte.

Als er schließlich den höchsten Punkt erreichte, hielt er keuchend inne und blickte kurz zurück. Die Götter des Lichts vollendeten jetzt ihr begonnenes Werk der Zerrstörung. Der Tempel der Dämonenherrsche-rin zerbröckelte. Die drei Türme brachen auseinander und polterten mit einem ohrenbetäubenden Lärm zu Boden. Staubwolken wallten auf und in ihrer Mitte schoss glühendes Magma aus dem Inneren der Erde hervor und bedeckte all das, was die Steine noch nicht verwüstet hat-ten. Eine große Feuerlohe brandete empor und dunkler Qualm breitete sich zwischen den Ruinen der Stadt aus.

Thorin blickte auf die leuchtende Klinge in seiner Rechten, die eine beruhigende Wärme ausstrahlte. Je mehr die Stadt in der Senke zu-sammenfiel, um so matter wurde das Licht der Klinge. Als sich schließ-lich auch wieder die zornige Erde beruhigte und das donnernde Beben ganz verstummte, war kein Stein mehr in der Stadt auf dem anderen. Noh'nym war endgültig zerstört und mit ihr all das, was in diesen alten Mauern gelebt hatte...

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*

Das Lagerfeuer warf einen flackernden rötlichen Schein über die kleine Dschungellichtung. Der Duft gebratenen Fleisches erfüllte die Luft und selbst die Schatten der Nacht schienen weniger bedrohlich als zuvor.

Der Nordlandwolf hielt das Götterschwert in seinen Händen und blickte gedankenverloren auf die schimmernde Klinge. Der Schein des Feuers leuchtete wie Blut auf dem blanken Stahl. Fast zärtlich zeichne-te Thorin die Runen nach, die in die Oberfläche geätzt waren. Nun hatte Thorin endlich eine Waffe, wie sie eines Kriegers würdig war.

Ringsum umgab ihn das Schweigen des Waldes, doch ein Instinkt - oder war es vielleicht eine Ahnung - ließ ihn aufblicken. Zwischen den Bäumen erkannte er einen Schatten, den Schatten einer menschli-chen Gestalt.

Ein Mensch? Oder noch ein Dämon, der sich doch noch aus der todgeweihten Stadt hatte retten können? Thorin sprang sofort auf und hob herausfordernd die Klinge hoch.

»Komm heran ans Feuer - wer immer du auch sein magst!«, rief er. »Aber sei vorsichtig. Diese Klinge weiß ich zu führen...«

Die Gestalt, die sich eben noch im Gebüsch verborgen gehalten hatte, trat jetzt heraus.

Thorin riss vor Erstaunen die Augen weit auf. Es war ein Mann, den er kannte - der blinde Alte, der ihm schon in der Hafenstadt Gara begegnet war. Aber nun wirkte er gar nicht mehr gebrechlich. Hoch und aufrecht stand er vor dem Nordlandwolf und sein blindes Auge funkelte im Feuerschein.

»Du wunderst dich?«, sprach der Alte mit einer volltönenden Stimme. »Oh, du bist nicht der erste gewesen, den ich zum Tempel der vergessenen Helden schickte, um das Schwert der Götter zu errin-gen. Aber keiner schaffte es bisher - du bist der erste. Denn du hast an die Macht der Götterklinge geglaubt und das hat dir geholfen, die-sen Kampf zu überstehen. Jetzt ist Sternfeuer dein. Nutze seine Macht gut, Thorin...«

»Wer bist du?«, fragte der Nordlandwolf. »Wie kommst du hier-her? Verfügst du vielleicht auch über magische Kräfte...?«

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»Ihr Menschen würdet es vielleicht so nennen«, erwiderte der Einäugige mit einem Lächeln. »Ich bin einer von jenen, die denen hel-fen, die nur sich selbst vertrauen. Du hast niemals an dir gezweifelt, Thorin - und du hast dir ein reines Herz bewahrt. Darum hat dich der Weltenzerstörer, zu dem du gebetet hast, aus dem einstürzenden Tempel gerettet. Darum hat der Donnerer den Nebel geschickt, der dich vor dem Zugriff der Dämonen bewahrte. Und ich schickte dir ei-nen Traum, in dem ich dich vor den Gefahren falscher Freundschaft warnte. Im letzten Augenblick hast du es begriffen...«

»Aber woher wusstest du...«, entfuhr es Thorin, der immer noch nicht verstanden hatte, worum es ging. Sein Gegenüber unterbrach ihn lächelnd, indem er die Hand hob.

»Ich weiß mehr als du jetzt ahnst, Krieger aus dem Eisland«, ant-wortete er. »Nicht um sonst nennt man mich den Allwissenden, der die Zukunft und die Vergangenheit gleichermaßen sehen kann.«

Er blickte Thorin lange an, bevor er dann fortfuhr. »Hüte dieses Schwert wie einen teuren Schatz, Krieger. Denn es

steht geschrieben, dass die Mächte der Finsternis noch lange nicht besiegt sind. Ein langer Kampf steht bevor und du wirst eine wichtige Rolle dabei übernehmen. Leb wohl, Thorin. Die Kraft des Lichtes möge mit dir sein...«

Bevor Thorin darauf etwas erwidern konnte, wurde die Gestalt des namenlosen Alten von einem hellen Leuchten umgeben und die Er-scheinung wurde allmählich immer strahlender, bis sie schließlich in einer Flut aus gleißendem Licht verschwand. Zurück blieb nun ein staunender Thorin, dem die Worte des Alten noch im Gedächtnis haf-teten.

»Allwissend nennt er sich«, murmelte Thorin, nachdem er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. »Und er sieht die Zukunft der Welt vor sich. Ist er etwa... ihr Götter, ist dies denn möglich?« Über-rascht stoppte er seinen eigenen Redeschwall und blickte zu der Stelle, wo noch wenige Atemzüge zuvor der Alte gestanden hatte.

»Einar, der Allwissende«, flüsterte er in stiller Ehrfurcht, als die Erkenntnis über ihn kam. Der nordische Gott war ihm begegnet und hatte ihm sein Schicksal verkündet!

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Ein Schicksal, das den Kampf gegen die Dunkelmächte zum Ziel haben sollte. Thorin grübelte noch lange darüber nach, ob er diesem Schicksal überhaupt noch entgehen konnte. Wahrscheinlich nicht, denn jetzt gehörte ihm das Schwert der Götter.

Wie zum Schwur reckte er Sternfeuer in die Nacht empor. Ein Windstoß durch das grüne Blätterdach des Dschungels gab den Him-mel frei. In der Klinge spiegelten sich der rote Schein des Feuers und das hohe Licht der Sterne. Ein bewegender Moment, der von nun an Thorins Leben völlig ändern sollte...

*

Epilog Tief war er hineingetaucht ins Reich der Träume seines früheren Le-bens und war zurückgekehrt an den Ort, wo alles begonnen hatte. Und wie viel hatte er erlebt seitdem! Mehr als ein gewöhnlicher Mensch jemals hätte erfassen können, denn die anderen seiner Rasse wussten nichts von den wirklichen Zusammenhängen, die das Schicksal dieser Welt bestimmten und sie nun untergehen ließen. Eine Welt, der einst eine friedliche Zukunft versprochen worden war.

Aber durch das Eingreifen der dritten Kraft änderte sich alles und nichts war mehr so wie es hätte sein sollen. Die Götter des Lichts wa-ren besiegt und an einem unbekannten Ort gefangen, wo sie auf ihr weiteres Schicksal harrten.

Thorin schlief weiter tief und fest und erneut glitten seine Erinne-rungen zurück in die Vergangenheit - aber unten auf der sterbenden Erde wurde neues Leben geboren. Leben, dem die alten Schriften von Ushar ebenfalls große Bedeutung zugemessen hatten.

Aber das war, bevor die grausamen Skirr ihr Reich jenseits der Flammenbarriere verlassen und die Welt der Menschen betreten hat-ten.

Die Skirr spürten diese bedeutungsvolle Stunde und sie setzten all ihre Kräfte in die Waagschale, um das neue Leben, das in diesem Mo-ment das Licht der Welt erblickte, in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu formen. Auch wenn sie den genauen Aufenthaltsort dieses Men-

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schenkindes nicht kannten, so wussten sie, wie wichtig es war, so rasch wie möglich einzugreifen - und die Götter der Finsternis halfen ihnen dabei...

Ende