4
M. Backmund · Krankenhaus München-Schwabing, 4.Medizinische Abteilung Diagnostik der Drogenabhängigkeit akte Abhängigkeitsdiagnose zu stellen. Nach der ICD-10 sollte eine sichere Dia- gnose „Abhängigkeit“ nur dann gestellt werden, wenn irgendwann während des letzten Jahres 3 oder mehr der folgen- den Kriterien der Tabelle 1 gleichzeitig vorhanden waren [11]. Es sollte dabei festgestellt werden, daß der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder daß zumindest davon auszugehen ist. Die ersten 3 Punkte sind bei einem Heroinabhängigen innerhalb der ersten Stunden eines Krankenhausaufenthal- tes oder auch in der Praxis eindrucks- voll zu beobachten: Der erste Punkt wird auch als Craving bezeichnet. Das körperliche Opioidentzugs- syndrom (Punkt 3) wurde 1938 von Kolb und Himmelsbach [18] (Tabelle 2) beschrieben und von Christiani und Stübing [9] neu aufgelegt (Tabelle 2). 5 Schweregrade des Entzugssyndroms können dort unterschieden werden. In- ternational gebräuchliche Skalen sind die Subjectiv Opiate Withdrawal Scale (SOWS) und Objectiv Opiate Withdra- wal Scale (OOWS) von Handelsmann et al. [15] und eine Kurzform, die Short Opiate Withdrawal Scale (SOWS) von Gossop et al. [14]. Mehrfachabhängigkeit Ladewig und Stohler [21] haben einen 30-Items umfassenden Bogen zusam- mengestellt, der zusätzlich zu den Opi- oidentzugssymptomen auch Entzugs- symptome eines Alkohol- und/oder Benzodiazepinentzugssyndroms bein- haltet. Dies scheint angesichts der Tat- sache sinnvoll zu sein, daß bei lediglich 32% der Drogenabhängigen eine Mono- Im folgenden Beitrag wird unter Dro- genabhängigkeit eine Abhängigkeit von Opioiden, speziell von Heroin und/oder Kokain (Crack) verstanden. Die dia- gnostische Differenzierung der Begrif- fe Abhängigkeit und schädlicher Ge- brauch sind im vorausgehenden Bei- trag dieses Heftes und bei Krahl [19] dargestellt. Typische Ausgangssituationen Wenn Ärzte Patienten mit bestehender Drogenabhängigkeit in der Praxis oder in der Klinik begegnen, so können 3 häufige Ausgangssituationen unter- schieden werden: 1. Die drogenabhängigen Patienten be- richten von sich aus den Ärzten von ihrer Abhängigkeit, da sie mit dem Wunsch den Arzt aufsuchen, daß er ihnen Drogenersatzmittel verschreibt, oder sie werden wegen einer Folge- krankheit der Sucht [1, 2] stationär behandelt und sprechen offen über ihre Abhängigkeit. 2. Drogenabhängige Patienten konsul- tieren den Arzt wegen anderer Be- schwerden oder Krankheiten und verheimlichen ihre Abhängigkeit auf- grund von Ängsten, ihre Abhängig- keit könnte bemerkt werden. 3. Drogenabhängige Patienten müssen aufgrund einer aufgetretenen Intoxi- kation präklinisch und intensivmedi- zinisch behandelt werden, ohne daß die Diagnose der Abhängigkeit den behandelnden Ärzten bekannt ist. Abhängigkeitsdiagnostik Wenn die Patienten ansprechbar sind und offen über ihre Abhängigkeit spre- chen, fällt es nicht schwer, anhand der International Classification of Diseases (ICD 10) oder des Diagnostischen und Statistischen Manuals (DSM IV) die ex- Der Internist 6·99 | 597 Übersicht Internist 1999 · 40:597–600 © Springer-Verlag 1999 Zum Thema Die vorliegende Arbeit gibt eine kurzgefaßte Übersicht über die Abhängigkeitsdiagnostik bei Opioiden und Kokain (Crack). Diese berei- tet zumindestens unter klinischen Bedin- gungen mit einiger Beobachtungszeit und bei typischer Symptomatik keine besonde- ren Schwierigkeiten. Schwieriger ist es allerdings, wenn sich ein Drogenabhängiger mit zunächst nur soma- tischen Symptomen in ambulante oder klini- sche Behandlung begibt und dabei psychi- sche Symptome und seine Drogenabhängig- keit verschweigt. Dann muß man Rück- schlüsse aus einer Menge von einzelnen, oft vegetativen Symptomen ziehen. Bewußt- lose, die unter Umständen aufgefunden wer- den, die für eine Drogenabhängigkeit nicht typisch sind, können in der Diagnostik eben- falls Probleme machen, besonders dann, wenn charakteristische somatische Störun- gen wie Blutdruckkrisen, Herzrhythmusstö- rungen oder ein Myokardinfarkt vorliegen. In jedem Fall sollte man bei allen Patienten mit ausgeprägten und vor allem altersuntypi- schen Krankheitssymptomen an Drogen- abhängigkeit denken. Bemerkenswert ist auch, daß bei 99% der intravenös Drogenabhängigen ein Nikotin- abusus vorliegt, 42,5% chronisch Drogenab- hängiger eine Virushepatitis (C öfter als B) haben, 4–6% HIV-infiziert sind und ca. 50% polytraumatisierter junger Patienten alko- hol- oder sonst drogenabhängig sind. Schlüsselwörter Suchtmittel, Diagnostik · Drogenabhängigkeit, Diagnostik Dr. M. Backmund Krankenhaus München Schwabing, 4. Medizinische Abteilung, Kölner Platz 1, D-80804 München& / f n - b l o c k : & b d y :

Diagnostik der Drogenabhängigkeit

  • Upload
    m

  • View
    219

  • Download
    4

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Diagnostik der Drogenabhängigkeit

M. Backmund · Krankenhaus München-Schwabing, 4.Medizinische Abteilung

Diagnostikder Drogenabhängigkeit

akte Abhängigkeitsdiagnose zu stellen.Nach der ICD-10 sollte eine sichere Dia-gnose „Abhängigkeit“ nur dann gestelltwerden, wenn irgendwann während desletzten Jahres 3 oder mehr der folgen-den Kriterien der Tabelle 1 gleichzeitigvorhanden waren [11]. Es sollte dabeifestgestellt werden, daß der Konsumentsich tatsächlich über Art und Ausmaßder schädlichen Folgen im Klaren waroder daß zumindest davon auszugehenist. Die ersten 3 Punkte sind bei einemHeroinabhängigen innerhalb der erstenStunden eines Krankenhausaufenthal-tes oder auch in der Praxis eindrucks-voll zu beobachten: Der erste Punktwird auch als Craving bezeichnet.

Das körperliche Opioidentzugs-syndrom (Punkt 3) wurde 1938 vonKolb und Himmelsbach [18] (Tabelle 2)beschrieben und von Christiani undStübing [9] neu aufgelegt (Tabelle 2).5 Schweregrade des Entzugssyndromskönnen dort unterschieden werden. In-ternational gebräuchliche Skalen sinddie Subjectiv Opiate Withdrawal Scale(SOWS) und Objectiv Opiate Withdra-wal Scale (OOWS) von Handelsmann etal. [15] und eine Kurzform, die ShortOpiate Withdrawal Scale (SOWS) vonGossop et al. [14].

Mehrfachabhängigkeit

Ladewig und Stohler [21] haben einen30-Items umfassenden Bogen zusam-mengestellt, der zusätzlich zu den Opi-oidentzugssymptomen auch Entzugs-symptome eines Alkohol- und/oderBenzodiazepinentzugssyndroms bein-haltet. Dies scheint angesichts der Tat-sache sinnvoll zu sein, daß bei lediglich32% der Drogenabhängigen eine Mono-

Im folgenden Beitrag wird unter Dro-genabhängigkeit eine Abhängigkeit vonOpioiden, speziell von Heroin und/oderKokain (Crack) verstanden. Die dia-gnostische Differenzierung der Begrif-fe Abhängigkeit und schädlicher Ge-brauch sind im vorausgehenden Bei-trag dieses Heftes und bei Krahl [19]dargestellt.

Typische Ausgangssituationen

Wenn Ärzte Patienten mit bestehenderDrogenabhängigkeit in der Praxis oderin der Klinik begegnen, so können3 häufige Ausgangssituationen unter-schieden werden:

1. Die drogenabhängigen Patienten be-richten von sich aus den Ärzten vonihrer Abhängigkeit, da sie mit demWunsch den Arzt aufsuchen, daß erihnen Drogenersatzmittel verschreibt,oder sie werden wegen einer Folge-krankheit der Sucht [1, 2] stationärbehandelt und sprechen offen überihre Abhängigkeit.

2. Drogenabhängige Patienten konsul-tieren den Arzt wegen anderer Be-schwerden oder Krankheiten undverheimlichen ihre Abhängigkeit auf-grund von Ängsten, ihre Abhängig-keit könnte bemerkt werden.

3. Drogenabhängige Patienten müssenaufgrund einer aufgetretenen Intoxi-kation präklinisch und intensivmedi-zinisch behandelt werden, ohne daßdie Diagnose der Abhängigkeit denbehandelnden Ärzten bekannt ist.

Abhängigkeitsdiagnostik

Wenn die Patienten ansprechbar sindund offen über ihre Abhängigkeit spre-chen, fällt es nicht schwer, anhand derInternational Classification of Diseases(ICD 10) oder des Diagnostischen undStatistischen Manuals (DSM IV) die ex-

Der Internist 6·99 | 597

ÜbersichtInternist1999 · 40:597–600 © Springer-Verlag 1999

Zum Thema

Die vorliegende Arbeit gibt eine kurzgefaßte

Übersicht über die Abhängigkeitsdiagnostik

bei Opioiden und Kokain (Crack). Diese berei-

tet zumindestens unter klinischen Bedin-

gungen mit einiger Beobachtungszeit und

bei typischer Symptomatik keine besonde-

ren Schwierigkeiten.

Schwieriger ist es allerdings, wenn sich ein

Drogenabhängiger mit zunächst nur soma-

tischen Symptomen in ambulante oder klini-

sche Behandlung begibt und dabei psychi-

sche Symptome und seine Drogenabhängig-

keit verschweigt. Dann muß man Rück-

schlüsse aus einer Menge von einzelnen, oft

vegetativen Symptomen ziehen. Bewußt-

lose, die unter Umständen aufgefunden wer-

den, die für eine Drogenabhängigkeit nicht

typisch sind, können in der Diagnostik eben-

falls Probleme machen, besonders dann,

wenn charakteristische somatische Störun-

gen wie Blutdruckkrisen, Herzrhythmusstö-

rungen oder ein Myokardinfarkt vorliegen. In

jedem Fall sollte man bei allen Patienten mit

ausgeprägten und vor allem altersuntypi-

schen Krankheitssymptomen an Drogen-

abhängigkeit denken.

Bemerkenswert ist auch, daß bei 99% der

intravenös Drogenabhängigen ein Nikotin-

abusus vorliegt, 42,5% chronisch Drogenab-

hängiger eine Virushepatitis (C öfter als B)

haben, 4–6% HIV-infiziert sind und ca. 50%

polytraumatisierter junger Patienten alko-

hol- oder sonst drogenabhängig sind.

Schlüsselwörter

Suchtmittel, Diagnostik ·

Drogenabhängigkeit, Diagnostik

Dr. M. BackmundKrankenhaus München Schwabing,

4. Medizinische Abteilung, Kölner Platz 1,

D-80804 München&/fn-block:&bdy:

Page 2: Diagnostik der Drogenabhängigkeit

abhängigkeit von Opioiden zu diagno-stizieren ist [3]. Das Entzugssyndromkann bei fehlender Offenheit des Pati-enten den entscheidenden Hinweis aufdie Opiatabhängigkeit geben. Ein Koka-inentzugssyndrom äußert sich vor al-lem in psychischen Symptomen. Sosollte bei Patienten mit einem parano-id-halluzinatorischen oder depressivenSyndrom ein Kokainentzugssyndromin die Differentialdiagnose einbezogenwerden. Zu beachten sind besonders imRahmen des depressiven Syndroms einextremes Minderwertigkeitsgefühl mitakuter Suizidalität [12]. Ein paranoid-halluzinatorisches Syndrom kann auchbei der Kokainintoxikation beobachtetwerden [5]. Die Punkte 4 bis 6 der ICD-10 können sukzessiv erfragt werden.

auch rasch, überprüft werden. Substan-zen wie z.B. Ofloxacin (eigene Beobach-tungen) oder Rifampicin [10] sind da-für bekannt, daß sie falsch positive Be-funde für Opiate im Immunoassay vor-täuschen. Sinnvollerweise werden meh-rere Substanzen getestet entsprechenddem überwiegend festgestellten Misch-konsum der Drogenabhängigen in denletzten Jahren (Tabelle 3). Die in denLehrbüchern beschriebenen frischenEinstichstellen, bevorzugt an den Un-terarmen, aber auch am Hals in die Ve-nae jugulares externae, in der Leisteund praktisch jedem anderen Ort desKörpers, müssen nicht zu sehen sein, daviele Patienten Heroin schnupfen oderauf Folie rauchen.

Verheimlichte Drogenabhängigkeit

Die Diagnose einer Drogenabhängig-keit bei Patienten zu stellen, die nichtfrei über ihren Drogengebrauch spre-chen, kann sehr schwierig sein, vor al-lem dann, wenn Einstichstellen nicht zusehen sind, die Patienten keine auffälli-gen Intoxikationssymptome aufweisenund nicht szenetypisch gekleidet sind.Komplizierend unterdrückt eine ver-heimlichte, vom Arzt nicht wahrgenom-mene Opioideinnahme wichtige Leit-symptome von Syndromen schwererErkrankungen. So werden vom Patien-ten eine Atemnot subjektiv nicht oderstarke Schmerzen kaum erlebt [4]. Diesführt dazu, daß die Patienten erst in ei-

Dabei sollte beachtet werden, daßder erste Kontakt mit dem Patienten fürdie weitere Behandlung sehr wichtigsein kann. In einem empathischen Ge-spräch können die Grundsteine für einenotwendige Vertrauensbildung zwi-schen Patient und Arzt gelegt werden.Wenn die Patienten spüren, daß derArzt ihnen helfen will, teilen sie bereit-willig Art und Dosis der täglich einge-nommenen psychotropen Substanzenund die Dauer der Einnahme mit.

Drogenscreening, Einstichstellen

Mit einem qualitativen Drogenscree-ning (siehe nächster Artikel) könnendie Angaben über die Art der einge-nommenen Substanzen, wenn nötig

| Der Internist 6·99

Übersicht

598

Tabelle 1

Diagnosekriterien nach der International Classification of Diseases (ICD-10) [11]

Eine Abhängigkeit kann dann diagnostiziert werden, wenn während des letzten Jahres 3 oder mehrKriterien gleichzeitig vorgelegen haben

1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des

Konsums.3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen

durch die substanzspezifischen Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen odereiner nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.

4. Nachweis einer Toleranz. Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen derpsychotropen Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich...

5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten desSubstanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren odersich von den Folgen zu erholen.

6. Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, wiez.B. Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starkenSubstanzkonsums oder drogenbedingte Verschlechterung kognitiver Funktionen. Es sollte dabeifestgestellt werden, daß der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichenFolgen im Klaren war oder daß zumindest davon auszugehen ist.

Tabelle 2

Opioidentzugssyndrom nach Kolb und Himmelsbach [18] bzw. Christianiund Stübing [9]

Grad 0 Grad 1 Grad 2 Grad 3 Grad 4

Craving Gähnen Verstärkung Verstärkung Verstärkung Ängstlichkeit Schwitzen der Symptome der Symptome der SymptomeNervosität feuchte Haut Mydriasis Schlaflosigkeit gerötetes GesichtRatlosigkeit Tränenfluß Gänsehaut Blutdruckanstieg Erbrechen

laufende Nase Muskelkrämpfe Tachypnoe DurchfallPersönlichkeits- Schüttelfrost und Temperaturanstieg Gewichtsverlustveränderung Hitzewallungen Tachykardie

Knochen- und RastlosigkeitMuskelschmerzen ÜbelkeitAppetitlosigkeit

Tabelle 3

Bei Drogenabhängigenhäufig gefundene psychotropeSubstanzen [3, 6]

Methadon 11%–22%Heroin 34%–52%Dihydrocodein 39%–73%Kokain 3%–18%Amphetamine 0%–6%Benzodiazepine 49%–87%Barbiturate –8%Cannabis 14%–49%Tricyclische Antidepressiva <5%–11%Alkohol 24%–33%

Die meisten Drogenscreening-Urintests könnenzwischen Methadon und anderen Opioidendifferenzieren. Probleme bereitet häufig derNachweis des Benzodiazepins Flunitrazepam.Alkohol wird im Serum oder relativ zuverlässigdurch Testung der Ausatemluft bestimmt

Page 3: Diagnostik der Drogenabhängigkeit

nem schon weiter fortgeschrittenenKrankheitsverlauf den Arzt aufsuchen.

Drogenabhängigkeitund andere Erkrankungen

Virushepatitiden

Virushepatitiden, insbesondere einechronische Hepatitis C, zählen zu denhäufigsten Folgekrankheiten der Dro-genabhängigkeit. 42,5% der durch-schnittlich 28,5 Jahre alten Drogenab-hängigen waren bereits an einer Hepa-titis B erkrankt, 2,7% leiden an einerchronischen Hepatitis B, mindestens64% an einer chronischen Hepatitis C[2, 6, 7].

HIV-Infektionennebst Komplikationen

4% bis 6% der Drogenabhängigen ha-ben sich mit HIV infiziert [3], zwischen2% und 6,4% erkranken an einer Endo-karditis [23, 25]. Erhebungen in denUSA haben eine Inzidenz der bakteriel-len Pneumonie von etwa 2% bei HIV-infizierten Drogenabhängigen ergeben[27]. Allein bei 0,5% von 1656 freiwilligzur stationären Entzugsbehandlungkommenden Patienten wurde bei derAufnahme eine behandlungspflichtigePneumonie diagnostiziert [2].

Nikotinabusus

Der meist bestehende Nikotionabususvon 99% der intravenös Drogenabhän-

Bei ungefähr jedem zweiten schwerver-letzten jungen Menschen kann eine Ab-hängigkeit diagnostiziert werden [8,28]. Bei 25% der 14–25jährigen, die we-gen einer Verletzung in einer Notfall-ambulanz versorgt werden mußten,wurde mindestens eine psychotropeSubstanz im Urin gefunden [13].

Bewußtlosigkeit

Werden Drogenabhängige bewußtlosaufgefunden, so kann aufgrund der Auf-findesituation mit typischen Utensilienwie Kanüle, Spritze und Löffel oderdurch Angaben der Anwesenden häufigdie Diagnose einer Drogenintoxikationgestellt werden. Bei Drogenabhängigenjedoch, die durch Mischintoxikationenaufgrund oraler Aufnahme langwirksa-mer Opioide in Kombination mit Benzo-diazepinen bewußtlos geworden sind,finden sich unter Umständen keine Hin-weise auf eine Abhängigkeit. Hier kön-nen diagnostisch wegweisend sein:

1. Die statistisch wahrscheinlichste Ur-sache einer Bewußtlosigkeit im Alterunter 40 Jahren ist eine Intoxikation.Jeder 10. Notarzteinsatz fällt auf-grund einer Intoxikation mit psycho-tropen Substanzen an [6].

2. Die Trias Koma, Ateminsuffizienzoder Atemstillstand und Miosis sindLeitsymptome der Opioidintoxikati-on. Eine Miosis kann jedoch bei einerIntoxikation aufgrund eines „Speed-balls“ (Mischung aus Kokain und He-roin) fehlen.

3. Nach Kokaineinnahme, insbesonderebei einer Kokainintoxikation, könnensehr unterschiedliche Symptome bzw.Syndrome im Vordergrund stehen.

gigen [3] trägt ebenso zur Begünsti-gung einer pulmonalen Infektion bei,wie die meist schlechten Lebensbedin-gungen mit Obdachlosigkeit und Man-gelernährung.

Eine Übersicht von besonders häu-fig mit Drogenabhängigkeit assoziier-ten Syndromen und Erkrankungenzeigt Tabelle 4. Bei jungen Menschen –das Durchschnittsalter drogenabhängi-ger Menschen liegt bei 28,5 Jahren [3] – ,die wegen einer dieser Erkrankungenbehandelt werden müssen, sollte immerdaran gedacht werden, daß zusätzlicheine Drogenabhängigkeit vorliegen kann.

Traumen

Auch bei Verletzungen, insbesonderebei polytraumatisierten jungen Men-schen, sollte nach einer Alkohol- oderDrogenabhängigkeit gesucht werden:

Der Internist 6·99 | 599

Tabelle 4

Folgekrankheiten der Drogenabhängigkeit

Krankheit, Syndrom Häufigkeit Literatur

Hepatitis B ausgeheilt 42,5%–73,6% [2, 29]Chronische Hepatitis B 2,7%–3,5% [2, 29]Anti-HCV positiv 64%–93,6% [2, 29]HIV positiv 6%–16% [2, 25]Pneumonie 0,5%–2% [2, 27]Endokarditis 2%–6,4% [23, 26]Myokardinfarkt (Kokain) 6% [16]Chest pain – –Rhabdomyolyse bei Intoxikation 7,7% [30]Tuberkulose 0,9%–9%a [2, 24]Syphilis 1,2%–6% [2, 17]Zerebrale Krampfanfälle 22,9% [2]Suizidversuch 22%–28% [2, 20]

a 60% der Drogenabhängigen waren auch HIV-positiv

Tabelle 5

Symptome und Syndrome, bei denen differentialdiagnostischan eine Kokaineinnahme bzw. Kokainabhängigkeit gedacht werden sollte

Zerebral kardial Psyche Sonstiges

Krampfanfall Angina pectoris manisches Syndrom akutes NierenversagenStatus epilepticus Herzinfarkt delirantes Syndrom Hyperthermiezerebrale Ischämie hypertensive Krise paranoid-halluzina-Hirnmassenblutung Tachykardie torisches Syndrom

RhythmusstörungenHerzstillstand(Kammerflimmern)LungenödemSchock

Page 4: Diagnostik der Drogenabhängigkeit

Bei einem zerebralen Krampfanfall,Status epilepticus, Angina pectoris,Myokardinfarkt, einer zerebralenIschämie, einem akuten Nierenversa-gen, einer hypertensiven Krise, einerHirnmassenblutung, einer Hyperther-mie, Tachykardie, Herzrhythmusstö-rungen, einem Lungenödem, Schock,einem manischen oder paranoid-hal-luzinatorischen oder deliranten Syn-drom sollte daher bei entsprechen-dem Alter immer eine Kokainabhän-gigkeit als Differentialdiagnose in dieÜberlegungen einbezogen werden.

Zusammenfassung

Die Diagnose einer Opioid- und/oderKokainabhängigkeit bereitet in der Regelkeine Schwierigkeiten. Falls jedoch Fol-gekrankheiten der Sucht im Vorder-grund stehen und die Leitsymptomeschwerer Erkrankungen durch die Wir-kung der Drogen verschleiert werden,kann die Diagnose ohne Kenntnis derAnamnese schwierig sein. Das Wissenum häufig mit Drogenabhängigkeit asso-zierte Erkrankungen kann dann helfen,schnell die richtige Diagnose zu finden.

Fazit für die Praxis

In der internationalen Klassifikation vonKrankheiten (ICD-10) werden 6 Diagnose-kriterien zur Drogenabhängigkeit ge-nannt.Verkürzt sind sie:

● Wunsch bzw. Zwang zum Konsum(Craving),

● Eingeschränkte Kontrollfähigkeit desKonsums,

● Entzugssyndrom,● Nachweis einer Toleranz,● Dominanz des Drogenkonsums über

andere Interessen,● Anhaltender Konsum trotz negativer

Folgen.

Treffen 3 dieser Kriterien zu, ist von einerDrogenabhängigkeit auszugehen.

Qualitative Screeningtests ermögli-chen die Objektivierung der Drogenein-nahme in kürzester Zeit.Verschweigt einAbhängiger seine Drogeneinnahme undist diese zunächst auch nicht offenkundig,sollte ärztlicherseits die vielfältige klini-sche Symptomatik des Opioidentzugssyn-droms erkannt und auf die Drogenabhän-gigkeit bezogen werden.

16. Hollander JE, Hoffman RS, Gennis P (1994)Prospective multicenter evaluation ofcocaine associated chest pain.Acad Emerg Med 1: 330–339

17. Kiehl W, Hamouda O, Siedler A (1996)

HIV-Meßstellenstudie. Robert-Koch-Institut, Berlin. Infektionsepidemiologische

Forschung info 97: 24–28

18. Kolb L, Himmelsbach CK (1938) Clinicalstudies of drug addiction, III. A criticalreview of the withdrawal treatments withmethod of evaluating abstinence syndro-mes. Am J Psychiatr 94: 759–799

19. Krahl W (1999) Begriffsbestimmungen undDefinition von Sucht und Abhängigkeit.In: Backmund M (Hrsg) Suchttherapie.

ecomed-Verlag, Landsberg/Lech (im Druck)

20. Krausz M, Degwitz P, Haasen C,Verthein U

(1996) Opioid addiction and suicidality.Crisis 17: 175–181

21. Ladewig D, Stohler R (1994)

Das Opiatentzugssyndrom – Skalierungenund medikamentöse Strategien.In:Tretter F, Busello-Spieth S, Bender W (Hrsg)

Therapie von Entzugssyndromen. Springer,

Berlin Heidelberg New York, S 145–157

22. Ladewig D (1987) Die BehandlungDrogenabhängiger. In: Kisker HP, Lauter H,

Meyer J-E, Müller C, Strömgren E (Hrsg)

Psychiatrie der Gegenwart 3: Abhängigkeit

und Sucht. Springer, Berlin Heidelberg

New York, S 359–400

23. Levine SR, Brust JCM, Futrell N et al. (1990)

Cerebrovascular complications of the useof the crack form of alkaloidal cocaine.N Engl J Med 323: 699

24. O’Donnell AE, Selig J, Avravamuthan M,

Richardson MS (1995) Pulmonary complica-tions associated with illicit drug use. Anupdate. Chest 108: 460–463

25. Püschel K, Lockemann U,Wischhusen F (1996)

HIV-1 Prevalence among drug abuse-relateddeaths in Europe. Eur Addict Res 2: 169–173

26. Sande MA, Lee BL, Mills J et al. (1992)

Endocarditis in intravenous drug users.In: Kaye D (ed) Infective Endocarditis. 2nd ed.

Raven press, New York, p 345

27. Selwyn PA,Feingold AR,Hartel D,Schoenbaum EE,

Alderman MH, Klein RS, Friedland GH (1988)

Increased risk of bacterial pneumonia inHIV-infected intravenous drug userswithout AIDS. AIDS 2: 267–272

28. Spies C, Neuner B, Neumann T, Blum S, Müller C,

Rommelspacher H, Rieger A, Sanft C, Specht M,

Hannemann L, Striebekl HW, Schaffartzik W

(1996) Intercurrent complications inchronic alcoholic men admitted to theintensive care unit following trauma.Intensive Care Med 22: 286–293

29. Tennant F, Moll D (1995) Seroprevalence ofhepatitis A, B, C, and D markers and liverfunction abnormalities in intravenousheroin addicts. J Addict Dis 14: 35–49

30. Villalba-Garcia MV, Lopez-Glez-Cobos C,

Garcia-Castano J, Pinilla-Llorente B,

Gonzalez-Ramallo VJ, Muino-Miguez A (1994)

Rhabdomyolysis in acute intoxications.An Med Interna 11: 119–122

Literatur1. Backmund M (1998) Somatische und

neurologische Folgestörungen beiDrogenabhängigen. In: Soyka M (Hrsg)

Drogen- und Medikamentenabhängigkeit.

Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft,

Stuttgart, S 115–155

2. Backmund M (1999) Suchttherapie.ecomed-Verlag, Landsberg (im Druck)

3. Backmund M, Eichenlaub D, Soyka M (1998)

Das Bundesmodellprojekt „QualifizierteEntzugsbehandlung Drogenabhängiger“an einem Krankenhaus der Maximalver-sorgung: Konzept, Inanspruchnahme undklinische Ergebnisse. Gesundheitswesen

60: 552–557

4. Backmund M, Meyer K, Sigl H, Eichenlaub D

(1997) Windpocken im Erwachsenenaltermit beatmungspflichtiger Varizellenpneu-monie bei primär unerkannter Opiat-abhängigkeit. Immun Infekt 2: 164–166

5. Backmund M (1999) Drogen- undAlkoholnotfälle im Rettungsdienst.Stumpf & Kossendey Verlag, Edewecht

6. Backmund M, Pfab R, Rupp P, Zilker T (1999)

Häufiger Notfall: Intoxikationen Sucht-kranker durch Drogen und psychotropeSubstanzen. Notarzt (im Druck)

7. Behrendt K, Degwitz P (1995)

Problempatienten im Drogenentzug.Die Zunahme multimorbider Drogenkon-sumenten in den Metropolen, ihre Auswir-kungen und mögliche strukturelle undtherapeutische Antworten. In: Behrendt K,

Degwitz P,Trüg E (Hrsg) Schnittstelle Drogen-

entzug. Lambertus Verlag, Freiburg i.Br.,

S 214–228

8. Brewer RD, Moris PD, Cole TB (1994) The riskof dying in alcohol related automobilecrashes among habitual drunk drivers.Engl J Med 331: 513–517

9. Christiani E, Stübing G (1977)

Drogenmißbrauch und Drogenabhängig-keit, 3. Auflage. Dtsch Ärzteverlag, Köln

10. De Paula M, Saiz LC, Gonzalez-Revalderia J,

Pascual T, Alberola C, Miravalles E (1998)

Rifampicin causes false-positive immuno-assay results for urine opiates.Clin Chem Lab Med 36: 241–243

11. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (1993)

Internationale Klassifikation psychischerStörungen, ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Leitlinien. Verlag Hans Huber,

Bern, S 92–93

12. Freye E (1997) Kokain, Ecstasy undverwandte Designerdrogen. Johann

Ambrosius Barth Verlag,Tübingen, S 50

13. Gordon S,Toepper WC, Blackman SC (1996)

Toxicology screening in adolescenttrauma. Pediatr Emerg Care 12: 36–39

14. Gossop M (1990) The development of ashort opiate withdrawal scale (SOWS).Addict Behav 15: 489–490

15. Handelsmann L, Cochrane KJ, Aronson MJ,

Ness R, Rubinstein KJ, Kanof PD (1987)

Two new rating scales for opiate with-drawal. Am Drug Alc Abuse 13: 293–308

| Der Internist 6·99

Übersicht

600