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Dirk Schuck-Das Phanomen Der Verdinglichung Bei Georg Lukacs Und Theodor W. Adorno_ Einfuhrung Fur Einsteiger Mit Ausfuhrlichen Darlegungen Zu Weber, Marx, Simmel Und Freud (German

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Dirk Schuck

Einführung in das

Phänomen der Verdinglichung

bei Georg Lukács

und Theodor W. Adorno

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„Ich bin stumpf, ich unterwerfe mich meinem

Schicksal ohne Widerwillen und ohne Neigung; ich

fühle, daß die Notwendigkeit mich zwingt, und ich

überlasse mich ihr. Ach! Ehrwürdige Mutter, ich

empfinde nichts von jener süßen Freude, von jener

Melancholie, von jener sanften Unruhe, die ich

zuweilen an denen bemerkt habe, die da angelangt

waren, wo ich jetzt bin. Ich bin wirklich dumm, ich

kann nicht einmal weinen. Man will es, es muß sein;

das ist der einzige Gedanke, den ich fassen kann…“

Denis Diderot, Die Nonne

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3

Einleitung 5

1. Kapitel: Die Quellen der Verdinglichungskritik von Lukács 17

1.1 Protestantische Arbeitsethik und der moralische

Eigenwert zweckrationalen Handelns 17

1.2 Verdinglichung und Fetischcharakter der Ware 23

1.3 Der Zusammenhang von Versachlichung und Konkurrenzdenken 30

1.4 Kritik des wissenschaftlichen Instrumentalismus 37

2. Kapitel: Zum Verhältnis von Subjektivität und

Verdinglichung bei Adorno 43

2.1 Dialektisch zurückschlagende Naturbeherrschung 43

2.2 Kulturindustrie und Autonomie 52 2.3 Sozialpsychologische Eckpunkte der Verdinglichung 63

3. Kapitel: Zum Umgang mit Verdinglichung bei Adorno 75

3.1 Individuum und verdinglichte Welt 75 3.2 Die Identifikation mit Gegebenem 79 Schluss 84

Literaturverzeichnis 92

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4

Für Katja

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5

Einleitung

Theodor W. Adorno teilt mit den postmodernen Denaturalisierungsbewegungen

das explizite Interesse am Körper1 und dies unterscheidet ihn von der Verdingli-

chungskritik von Georg Lukács. Dennoch kann man sagen, dass Lukács mit sei-

nem bekannten Verdinglichungsaufsatz aus Geschichte und Klassenbewusstsein

das sozialphilosophische Fundament legte für die kritische Grundausrichtung der

Frankfurter Schule. Die Frankfurter Schule bildet ihren eigenen theoretischen Pa-

radigmakern anhand der Auseinandersetzung mit den beiden zentralen Problem-

stellungen von Geschichte und Klassenbewusstsein, d. h. anhand der Auseinan-

dersetzung mit dem Problem der „Verdinglichung“ selbst und dem Problem des

„Klassenbewusstseins“.2 In dem Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewusstsein

des Proletariats3 wird von Lukács die Bildung eines proletarischen

Klassenbewusstseins anvisiert. Dieses kritische Klassenbewusstsein soll sich

quasi aus sich selbst heraus in einem kollektiven Erkenntnisprozess bilden, d. h.

aus der kritischen Selbstreflexion des Proletariats. Der historische Materialismus

von Lukács, dessen große Leidenschaft sich aus seinem Willen zur praktischen

Aufhebung des Leid und Elends von Menschen speist, schließt dabei den

menschlichen Körper zwar nicht mehr im erhabenen Stil der alten Geistphiloso-

phie als etwas minderwertiges von der eigentlichen Reflexion aus, aber es wird

ihm als Erkenntnisgegenstand auch noch kein besonderes theoretisches Interesse

zuteil.

Das ändert sich bei Adorno, und zwar nicht zuletzt durch die kritische Auseinan-

dersetzung mit Lukács. Denn Adorno muss sich die Frage stellen, warum es zu

der von Lukács prognostizierten Klassenbewusstseinsbildung nicht kam. Dabei

bettet er insgesamt die Frage nach der Möglichkeit von kritischer Bewusstseins-

1 Vgl. die Aufzeichnung „Interesse am Körper“ im Anhang der gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung, in HORKHEIMER, MAX (1987): Ges. Schriften Bd. 5 (im folgenden abgek. DdA), Frankfurt am Main: Fischer, S. 263 ff. 2 Vgl. die an Thomas S. Kuhns Wissenschaftstheorie anschließende Darstellung von Hauke Brunkhorst: Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft; in: Soziale Welt 1/83, S. 22 ff. 3 in LUKÁCS, GEORG (1968): Geschichte und Klassenbewusstsein: Studien über marxistische Dialektik (im folgenden abgek. GuK), Berlin/Neuwied: Luchterhand, S. 257-397

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bildung ein in eine neue und andere, an der Auseinandersetzung mit der Freud-

schen Psychoanalyse gewonnene, Frage nach deren subjektiven Motivationspo-

tentialen ein, die auch eine somatische Dimension an sich haben. Adorno und

Max Horkheimer stoßen in der Dialektik der Aufklärung auf die bis dahin in der

europäischen Geisteskultur eher unterirdisch verlaufene, andere Kulturgeschichte

des „Schicksal[s] der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen

Instinkte und Leidenschaften“4. Diese müssen für den psychoanalytisch

aufgeklärten Blick Adornos einen emotionalen Anteil haben an der möglichen

Ausbildung von Emanzipationsinteressen. Adorno ergänzt also das

Verdinglichungstheorem von Lukács um eine psychoanalytische

Betrachtungsebene.

Im Reflexionsmittelpunkt Adornos steht dabei die Innen/Außen-Achse eines kriti-

schen Gesellschaftsmodells, innerhalb dessen sich Vergesellschaftungsprozesse

wesentlich bereits über die Konstituierung des einzelsubjektiven Innen vollziehen.

Es ist das naive Bild von Gesellschaft, das Vergesellschaftungsprozesse vor allem

als über-äußere-Einflüsse-verlaufend vorstellt. Tatsächlich vermittelt sich eine

„Gesellschaft“ immer schon im Medium der inneren Anschauungsformen der in

ihr lebenden Einzelindividuen, wodurch sich deren mehr oder weniger geteilten

Perspektivnahmen auf das Außen erst herstellen. Dabei denkt Adorno diesen im

Subjekt/Objekt-Modell beschriebenen Vergesellschaftungsverlauf als ein zuneh-

mendes Missverhältnis, innerhalb dessen das Einzelsubjekt gegenüber der objek-

tiven Übermacht des gesellschaftlichen Drucks ins Hintertreffen gerät. Auch der

Möglichkeitsraum der intersubjektiven Kommunikation zwischen den Einzelindi-

viduen wird als von diesem Prozess überlagert vorgestellt.5

Große Bedeutung für Adorno hat daher auch das nicht-marxistische Frühwerk von

Georg Lukács, in dem der junge Kulturkritiker Lukács die lebensweltliche Erfah-

rung der massiven Undurchdringlichkeit eines Phänomens, das er die „zweite

Natur“ nennt, beschreibt. Ich möchte diese Phänomenbeschreibung der „zweiten

Natur“ einleitend dazu verwenden, die erste Brücke zum lebensweltlichen Be-

4 DdA, ebd. 5 Vgl. zur normativ gehaltvollen Bedeutung von „Intersubjektivität“ bei Adorno die Analyse von Christoph Demmerling; in DEMMERLING, CHRISTOPH (1994): Sprache und Verdinglichung: Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer kritischen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, hier v. a. S. 139 ff.

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deutungsgehalt6 des Verdinglichungsbegriffs herzustellen. Es ist diese These einer

repressiv geformten sozialen Welt der „zweiten Natur“, die Adorno dann versu-

chen wird, mit der Freudschen Auffassung der menschlichen Psyche zusammen-

zudenken. Für Lukács ist die „zweite Natur“ grob dargestellt ein kulturgeschicht-

liches Phänomen der Moderne, das als sozial gewordenes Konstrukt einer zweiten

und quasi gesellschaftlich erstarrten Unmittelbarkeit zwischen den Menschen

gedacht wird.

Lukács verwendet in seiner Theorie des Romans zum ersten Mal diese Metapher

der „zweiten Natur“ für die Erfahrung einer dem Einzelsubjekt gegenüber er-

starrten sozialen Wirklichkeit, die in ihrem lebensweltlichen Sinngehalt subjektiv

uneinsehbar bleibt. Die normative Kontrastfolie dieser Beschreibung bildet eine

idealistische Sicht auf die antike polis als einem Lebenszusammenhang, in wel-

chem das Individuum und das gesellschaftliche Allgemeinwesen in einer perma-

nenten demokratischen Gestaltungskorrespondenz stehen und bewusst reziprok

aufeinander verweisen. Die gesellschaftlichen Institutionen erschöpfen sich hier

noch in ihrer demokratischen Funktion und bilden den unmittelbaren Entäuße-

rungsraum für den freien Willen der Einzelnen. Darin bleiben die demokratischen

Institutionen diesen Einzelnen in ihrer politischen Notwendigkeit nicht nur ein-

sehbar, sondern bilden den beweglichen Ausdruck eines überindividuell geteilten

Freiheitsinteresses, das ihre seinsollende Legitimität erst begründet. Für Lukács

hat die moderne bürgerliche „Welt der Konvention“ diesen Charakterzug einer

demokratischen Lebenswelt aber verloren:

„Wo keine Ziele unmittelbar gegeben sind, verlieren die Gebilde, die die Seele bei ihrer Menschwerdung als Schauplatz und Substrat ihrer Tätigkeit unter den Menschen vorfin-det, ihr evidentes Wurzeln in überpersönlichen, seinsollenden Notwendigkeiten; sie sind etwas einfach Seiendes, vielleicht Machtvolles, vielleicht Morsches, tragen aber weder die Weihe des Absoluten an sich, noch sind sie die naturhaften Behälter für die überströ-mende Innerlichkeit der Seele. Sie bilden die Welt der Konvention: eine Welt, deren All-gewalt nur das Innerste der Seele entzogen ist; die in unübersichtlicher Mannigfaltigkeit überall gegenwärtig ist; deren strenge Gesetzlichkeit, sowohl im Werden wie im Sein, für das erkennende Subjekt notwendig evident wird, die aber bei all dieser Gesetzmäßigkeit sich weder als Sinn für das zielsuchende Subjekt noch in sinnlicher Unmittelbarkeit als Stoff für das Handelnde darbietet. Sie ist eine zweite Natur; wie die erste nur als der In-

6 Ich verwende den in dieser Arbeit häufig benutzten Begriff der „Lebenswelt“ nicht in dem strengen transzendental-phänomenologischen Sinn, in dem er von Edmund Husserl verwendet wird, sondern eher in dem an Max Weber anschließenden Sinn eines nomologischen Wissens des Alltagslebens; vgl. hierzu den Eintrag „Lebenswelt“ im historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 5, S. 151 ff.

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begriff von erkannten, sinnesfremden Notwendigkeiten bestimmbar und deshalb in ihrer wirklichen Substanz unerfassbar und unerkennbar.“7 Die Sprache und das Denken des jungen Lukács steht unter dem starken Eindruck

der Lebensphilosophie von Georg Simmel, worauf ich im ersten Kapitel noch ein-

gehen werde. Hier möchte ich einleitend nur ein paar Grundgedanken in Lukács’

Beschreibung dieses Phänomens der „zweiten Natur“ aufgreifen. Mit den gesell-

schaftlichen Institutionen, d. h. den „Gebilden, die die Seele als Schauplatz und

Substrat ihrer Tätigkeit [...] vorfindet“, verbindet das sich entfalten wollende psy-

chische Innenleben keine notwendige Brücke, der subjektiven „Seele“ geht der

gesellschaftliche Raum ab, der „bei ihrer Menschwerdung“ helfen könnte. Damit

aber auch die normative Einsicht in eine Positivität des Gesellschaftlichen über-

haupt, d. h. die bürgerlichen Institutionen haben für Lukács eine geschichtliche

Form angenommen, deren „evidentes Wurzeln in überpersönlichen, seinsollenden

Notwendigkeiten“ dem einzelsubjektiven Blick verschlossen bleibt. Als „einfach

Seiendes, vielleicht Machtvolles, vielleicht Morsches“ steht das Individuum ihnen

so gleichgültig gegenüber, wie sie diesem. Wären sie „naturhafte[.] Behälter für

die überströmende Innerlichkeit der Seele“, d. h. verkürzt: lebendige demokrati-

sche Institutionen, wären sie mehr als eine „Welt der Konvention“.8

Als hinzutretendes Problem erscheint die „Allgewalt“ dieser „Welt der Konven-

tion“, der „nur das Innerste der Seele entzogen ist“, d. h. nur noch der tendenziell

verhallende Wille zu einer eigensinnig gelingenden Selbstentäußerung. Sie bildet

eine „unübersichtliche[.] Mannigfaltigkeit“ aus, „deren strenge Gesetzlichkeit [...]

für das erkennende Subjekt notwendig evident wird“, d. h. nach der das Einzel-

subjekt sich kognitiv ausrichten muss, um überleben zu können, dabei aber „we-

der als Sinn für das zielsuchende Subjekt noch in sinnlicher Unmittelbarkeit als

Stoff für das Handelnde“ zugänglich wird.

Die Aufzeigung dieses systematischen Abgrunds zwischen der „strenge[n] Ge-

setzlichkeit“ einer „Welt der Konvention“, deren „sinnliche Unmittelbarkeit“ dem

7 LUKÁCS, GEORG (1994): Die Theorie des Romans: Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, München: dtv, S. 53 8 Der Begriff des „Überströmens“ ist hier ganz wörtlich zu nehmen und verweist auf Georg Simmels Auffassung von der Tragödie der bürgerlichen Kultur. Simmel fasst als Quintessenz dieser Tragödie eine in ihrem medialen Charakter misslingende Kultur, die eine gelingende Individuierung nicht mehr zulässt. Eine gelingende Kulturbildung dagegen muss einen individuellen „Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“ ermöglichen; in SIMMEL, GEORG (1998): Philosophische Kultur, Berlin: Klaus Wagenbach, S. 197

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handelnden Subjekt keine praktischen Handlungsspielräume lässt, denen es sich

also eigentlich nur einfügen kann und dabei passiv bleibt, ähnelt der Entgegenset-

zung von „Vorhandenheit“ und „Zuhandenheit“ in Sein und Zeit von Martin Hei-

degger.9 Wenn ein Bewusstsein sich aktiv auf eine Welt beziehen kann, muss

diese Welt dem Bewusstsein für Heidegger zuhanden, und nicht einfach nur vor-

handen sein. In der Beschreibung der sozialen „Umwelt“ als eine einfach „vor-

handene“ drückt sich für Heidegger die ontologische Verkennung der existentiel-

len Notwendigkeit der „Zuhandenheit“ dieser Umwelt für den praktischen Welt-

bezug eines Bewusstseins aus.10 Adorno nennt diese Form von „Vorhandenheit“

meist das einfach oder schlicht Gegebene.11

Aber zurück zu Lukács’ Begriff der „zweiten Natur“. Dieser Begriff ist im obigen

Zitat mehrdeutig verwandt. Einmal bezeichnet die „zweite Natur“ den

Repressionscharakter der „Welt der Konvention“. Die Naturhaftigkeit dieser Welt

täuscht darüber hinweg, dass sie eigentlich nicht natürlich ist, sondern ge-

schichtlich geworden, d. h. sie ist eine zweite Natur. Gleichzeitig aber erscheint

sie wie eine Welt von Naturgesetzen, d. h. sie ist eine zweite Natur.

Tatsächlich unterscheidet sie sich in ihrem ontischen Status aber von der „ersten

Natur“, denn sie ist ein menschliches Gebilde, d. h. die erstarrte Naturhaftigkeit,

die ihr zukommt, zeigt auch eine Widersinnigkeit an, die der Begriff der „zweiten

Natur“ einzufangen versucht. Eigentlich ist die „zweite Natur“ keine Natur.

„Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die erste: sie ist ein er-starrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten [...] Wenn das Seelische der Gebilde nicht mehr unmittelbar zur Seele werden kann, wenn die Gebilde nicht mehr nur wie Ballung und Stauung von Innerlichkeiten erscheinen, die jeden Augenblick in Seele rück-verwandelt werden können, müssen sie eine die Menschen wahllos, blind und ausnahms-los beherrschende Macht erlangen, um bestehen zu können.“12

9 HEIDEGGER, MARTIN (1993): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer; vgl. die Analyse der Aufeinanderbezogenheit des frühen Denkens von Georg Lukács und Martin Heidegger bei Lucien Goldmann; in GOLDMANN, LUCIEN (1975): Lukács und Heidegger, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 10 Diese praktische Bezugnahme kann für Heidegger eigentlich erst eine Welt konstituieren, das „In-der-Welt-sein“; vgl. hierzu die Darstellung im Rahmen des Enfremdungs- und Verdinglichungsproblems bei Rahel Jaeggi; in JAEGGI, RAHEL (2005): Entfremdung: zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 35 ff. 11 Vgl. zum philosophischen Verhältnis zwischen Adorno und Martin Heidegger die Studie von GARCÍA DÜTTMANN, ALEXANDER (1991): Das Gedächtnis des Denkens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 12 LUKÁCS, GEORG (1994): a. a. O., S. 55

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In dieser Passage von der „Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten“13 versucht

Lukács, die systematische Abgründigkeit dieser Erkenntnis der „zweiten Natur“

emphatisch festzuhalten. Wenn die „zweite Natur“ eigentlich keine „Natur“ ist,

was verleiht ihr dann den verfestigten ontologischen Status einer zweiten Natur?

Und worin liegt ihr menschliches Movens als gewordene zweite Natur?

Die aufgefundene Problemgestalt, auf welche die Analyse von Lukács wie auf-

prallt, bleibt also selbst ein Stück weit unklar. Lukács bemüht hier seine ideali-

sierte Vorstellung der antiken polis als eines lebendigen Sozialzusammenhangs, in

dem die menschlichen „Gebilde [...] jeden Augenblick in Seele rückverwandelt

werden können“, und lässt dadurch erst das Ausmaß des Problems im Ganzen

deutlich werden. Denn woraus kann die „zweite Natur“ bestehen?

Sie muss eine besondere Form der eigendynamischen Ablagerung von sozialge-

schichtlich erst erwachsenen Handlungskonventionen umfassen; sie hat etwas

‚Gespenstisches’ an sich darin, wie eine „zweite Natur“ zu sein. Denn wie ist die

moderne bürgerliche „Welt der Konvention“ zu dieser zweiten Natur geworden?

Diese Frage wird durch Lukács’ Beschreibung und lebensweltliche Aufzeigung

der „zweiten Natur“ weniger beantwortet als gestellt.

In Geschichte und Klassenbewusstsein greift Lukács das Problem der „zweiten

Natur“ unter dem Begriff der „Verdinglichung“ wieder auf. Der Bedeutungsge-

halt, den Lukács dem Begriff „Verdinglichung“ dort verleiht, umfasst dabei die

Beschreibung einer sozialgeschichtlichen Eigendynamik derart, dass die „Ver-

dinglichung“ eine soziale Lebensform bezeichnen soll, die zwar historisch gewor-

den, also prinzipiell auch menschlich veränderbar, gleichzeitig aber enorm mani-

fest, wie festgewachsen ist. Der Begriff der „Verdinglichung“ impliziert daher die

These einer eigendynamischen Verselbständigung von sozialgeschichtlichen

Handlungsformen derart, dass die „verdinglichenden“ Potentiale dieser Hand-

lungsformen bereits in die reproduktiven Grundvoraussetzungen ihres struktiven

Bezugssystems eingegangen sein müssen.14 Wie aber soll so etwas möglich sein?

13 Es impliziert eine kritische Anspielung auf den positiven Begriff der „zweiten Natur“ als verwirklichte Sittlichkeit in der idealistischen Rechtsphilososphie von Gottfried Wilhelm Hegel, auf die ich hier nicht näher eingehe; vgl. hierzu HONNETH, AXEL (1990): Die zerissene Welt des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9 ff. 14 Axel Honneth begreift in seiner sozialontologischen Rekonstruktion der Verdinglichung als intersubjektive „Anerkennungsvergessenheit“ Verdinglichung daher als die „Verkümmerung oder Verzerrung einer ursprünglichen Praxis [...], in der der Mensch zu sich und seiner Umwelt ein anteilnehmendes Verhältnis einnimmt.“ vgl. HONNETH, AXEL (2005): Verdinglichung: eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 27

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Die theoretische Antwort, die Lukács darauf gibt, stellt eine systematische Ver-

knüpfung zwischen der Marxschen Gesellschaftstheorie und der Soziologie von

Max Weber her. Diese beruht auf der Grundannahme, dass sich der Kapitalismus

vor allem in einer bestimmten Rationalitätsform als Denkform ausdrückt und

fortschreibt. Es ist die bestimmte Form einer sich mit dem kapitalistischen

Warenhandel verselbständigenden Nutzenkalkulation und Verwertungslogik, die

Lukács in seinem Verdinglichungsaufsatz durch alle gesellschaftlichen Sphären

hindurch verfolgt und als deren letztlich bestimmendes Kennzeichen begreift. Auf

diese Rationalitätsform werde ich im ersten Kapitel ausführlich eingehen. Der

soziologische Hauptdenker dieses Rationalisierungsprozesses ist Max Weber.

Webers ganzes Werk kreist um das Problem des semantischen Gehalts der

Rationalität in der Moderne und der kapitalistischen Rationalisierungsweise der

menschlichen Lebenswelt.

Es ist das Problem einer selbst irrationale Züge annehmenden Rationalität, wel-

ches in der Folge auch die kritische Theorie der Frankfurter Schule beschäftigt.

Max Horkheimer bringt dieses Problem auf die polemische Formel einer „Kritik

der instrumentellen Vernunft“. Polemisch ist diese Formel als Anspielung auf die

Kantische Unterscheidung von rationalem Verstandesdenken und kritischem Ver-

nunftvermögen. Nach der Kantischen Auffassung kann die menschliche Vernunft

nie einfach nur ein Instrument, d. h. rationales Mittel sein, sondern muss sich im-

mer auch im Denken auf die objektive Sinnhaftigkeit der Zwecke des eigenen

Handelns beziehen können. Sie konstituiert sich als Vernunft bei Kant dadurch ei-

gentlich erst als eine moralisch aufgeklärte Vernunft, d. h. im auf andere Men-

schen und deren Freiheit bezogenen praktischen Handeln. Wahrhaft freie Indivi-

duen sollen in Kants bekannter Formel andere Individuen niemals bloß als Mittel,

sondern immer auch als ‚Zwecke’ anschauen können.15

Für Max Horkheimer stellt in seiner im Frühjahr 1944 gehaltenen New Yorker

Vorlesungsreihe Eclipse of reason16 der Verlust von objektiven Sphären des ge-

sellschaftlichen Austauschs über normative Zwecke des menschlichen Daseins,

die über das ökonomische Gewinnstreben hinausreichen, das zentrale demokra-

15 Vgl. KANT, IMMANUEL (1968): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten / Kritik der praktischen Vernunft, Theorie-Werkausgabe Bd. VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp 16 Die Vorlesung „Eclipse of reason“ wurde 1967 unter dem Titel Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, übers. von Alfred Schmidt, zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht. Vgl. HORKHEIMER, MAX (1991): Ges. Schriften Bd. 6, Frankfurt am Main: Fischer, S. 21 ff.

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tische Defizit einer bloß instrumentellen Vernunftanschauung dar. Hatte die

christliche Religion solche höchsten Zwecke als göttliche Ideen autoritär verord-

net, motivierten die aus der platonischen und aristotelischen Philosophie der anti-

ken polis stammenden, und dann christlich absorbierten Ideen eines immanent

auffindbaren Zusammenhangs von Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit in der

jahrhundertelangen Tradition der abendländischen Vernunftreflexion auch die

kritischen Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen Übeln von Herrschaft

und Unterdrückung.17

Die dann dominant werdenden instrumentellen Vernunftvorstellungen der Mo-

derne kennen in der letzten Konsequenz aber keine immanenten Zwecke ihrer An-

strengung mehr, und verlieren damit eine Art normative Bodenhaftung zu ihrer

eigenen Entstehungsgeschichte als „Vernunft“. Diese hatte in der aufklärerischen

Neuzeit gerade erst begonnen, sich tatsächlich vom kirchlichen Dogma abzulösen,

und büßt nun durch diese Ablösung vom christlichen Ideenkanon, so scheint es,

eine in ihr als „Vernunft“ bereits angelegte Möglichkeit der Bezugnahme auf ei-

nen solchen immanent-kritischen ‚Vernunftgehalt’ insgesamt ein. Als eine eman-

zipatorisch bereits gehaltvolle Instanz wird die „Vernunft“ selbst, sowohl inner-

halb des Wissenschaftsdiskurses, als auch innerhalb der demokratischen Ausein-

andersetzung im Allgemeinen, unbrauchbar. Das affiziert dann für Horkheimer

das Demokratieprinzip selbst.18

In der Kritik der instrumentellen Vernunft greift Horkheimer auf einer theoreti-

schen Makroebene das Problem des semantischen Gehalts der modernen Rationa-

lität noch einmal anders auf. Indem er die instrumentelle Vernunft als eine Ratio-

nalitätsform versteht, die sich gesellschaftsgeschichtlich aus dem Verlust ihrer

normativen Entstehungsgeschichte erklären lässt, gibt er der Rationalitätskritik

des Verdinglichungstheorems eine moralphilosophische Pointe. Auch die Ausein-

andersetzung mit dem Phänomen der „zweiten Natur“ hat dabei Teil an dieser

Pointierung Horkheimers, insofern der Phänomenbeschreibung der „zweiten Na-

tur“ bei Lukács die Beschreibung einer Vergleichgültigung des Individuums ge-

genüber dem eigenen Lebensraum wesentlich ist, d. h. gerade den Verlust einer

demokratischen Lebenswelt meint.

17 Vgl. HORKHEIMER, MAX (1991): a. a. O., S. 27 ff. 18 Vgl. HORKHEIMER, MAX (1991): a. a. O., S. 50 f.

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Ich werde in dieser Einführung den Horkheimerschen Strang der Kritik der

instrumentellen Vernunft nur am Rande verfolgen. Adornos spezifischer Beitrag

zur Fortentwicklung des Verdinglichungstheorems, so man diesen Beitrag als eine

solche Fortentwicklung verstehen mag, ist im Kontrast zu Horkheimers Fokus

einer Kritik der instrumentellen Vernunft ein anderer. Gleichwohl sind beide

Stränge immer noch von brisanter Aktualität. Denkt Horkheimer bereits die Ra-

tionalitätsform, die er mit der Kritik der instrumentellen Vernunft in den Blick

nimmt, als eine als „instrumentelle“ über ihre eigene gesellschaftliche Entste-

hungsgeschichte unaufgeklärt bleibende „Vernunft“, d. h. als einen geschicht-

lichen Zustand der Unvernunft, nimmt bei Adorno die kritische Hinsicht auf das

irrationale Moment dieser Rationalitätsform noch einmal eine andere Qualität an.

Er gibt für Adorno ein irrationales Grundmoment, das teilhat an dem

fortlaufenden Konstitutionsprozess einer gesellschaftlichen Vorherrschaft der

instrumentellen Vernunftauffassung. In seinem späten philosophischen

Hauptwerk Negative Dialektik schreibt er:

„Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht und Apathie verdammen und doch von ihnen zu ändern wären; nicht primär in den Menschen und der Weise, wie die Verhältnisse ihnen erscheinen. Gegenüber der Möglichkeit der totalen Katastrophe ist Verdinglichung ein Epiphänomen; vollends die mit ihr verkoppelte Ent-fremdung, der subjektive Bewusstseinsstand, der ihr entspricht. Sie wird von Angst re-produziert; Bewusstsein, verdinglicht in der bereits konstituierten Gesellschaft, ist nicht deren Konstituens.“19

Adorno möchte also auf ein der „Verdinglichung“ vorgängiges Moment hinaus,

das „in den Verhältnissen“ liegt, d. h. gewissermaßen zwischen den in dieser

Pointierung Adornos als bereits verdinglicht angenommenen Individuen. Deren

„Verdinglichung“ wird für Adorno „von Angst reproduziert“.

Ich möchte in dieser Einführung versuchen, diesen einen Gedanken Adornos und

seine Bedeutung verständlich zu machen. Die Gesamtdarstellung zielt also darauf,

den Strang herauszuarbeiten, der Adorno zu dieser späten, auch gegenüber dem

Begriff der „Verdinglichung“ selbst kritischen, Einschätzung kommen lässt. An

dieser späten Pointierung des Verdinglichungsproblems durch Adorno ist

paradox, dass wohl kaum ein Gesellschaftstheoretiker den Begriff der

19 ADORNO, THEODOR W. (1997): Negative Dialektik / Jargon der Eigentlichkeit, Ges. Schriften Bd. 6 (im folgenden abgek. ND), Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 191

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„Verdinglichung“ so weitgefasst und häufig verwandt hat wie Adorno selbst.20 Ich

möchte mich in dieser Einführung auf diese weitgefasste Bedeutung von

„Verdinglichung“ bei Adorno insoweit einlassen, insofern man sie m. E. darauf

zurückführen muss, dass Adorno das Verdinglichungstheorem von Georg Lukács

versucht, auf eine dieses Theorem systematisch erweiternde Weise

weiterzudenken und den zentralen Begriff dieses Theorems daher an dessen

Rändern quasi ausfranst.21 Adornos spezifischer Beitrag zum

Verdinglichungstheorem kann daher tatsächlich weniger als eine Fortentwicklung

des Begriffs der „Verdinglichung“ selbst, als vielmehr als eine grundlegende

Auseinandersetzung mit den Konstitutionsbedingungen dessen, was Lukács

„Verdinglichung“ nennt, verstanden werden.22

Ich möchte mich daher im ersten Kapitel dieser Einführung zunächst auf das

Verdinglichungstheorem von Lukács und einige von dessen

Auseinandersetzungsquellen konzentrieren, um dann im zweiten Kapitel präziser

in den Blick nehmen zu können, wie Adorno den so gewonnenen semantischen

Gehalt des Verdinglichungstheorems von Lukács aufnimmt und weiterdenkt.

Der erste Teilabschnitt des ersten Kapitels erläutert Max Webers soziologische

Unterscheidung von Zweck- und Wertrationalität und stellt diese in den Betrach-

tungskontext der von Weber diagnostizierten historischen Funktion der protestan-

20 Gillian Rose schreibt in ihrer Rekonstruktion der Sozialphilosophie Adornos: „After 1923 many different neo-Marxist writers used the term reification sporadically and casually in their writings. It appears in the work of Bloch, Brecht, Wittfogel and Grossmann (and Heidegger). It does not, however, play any systematic or major role in their work, but usually implies an unexamined reference to commodity fetishism combined with the standard dictionary connotation of ‘to reify’ – to convert mentally into a thing. In Adorno’s work, on the contrary, it abounds. After 1932 it is the centrifuge of all his major works and of his many shorter articles. The obsession is evident in his published correspondence with Ernst Krenek, and in his posthumously published lectures.” in ROSE, GILLIAN (1978): The melancholy science: an introduction to the thought of Theodor W. Adorno, London/Basingstoke: The Macmillan press, S. 43 21 Friedemann Grenz ist es gelungen, die Struktur des Verdinglichungsbegriffs bei Adorno in diesem umfassenden Sinn philologisch zu rekonstruieren. Er kommt dabei zu der Einschätzung: „Der Begriff wird aber, wenn er so erweitert wird, unscharf: taucht er als anthropologische Kostante und als technische Verfahrensweise, als Identitätsprinzip und als objektive Gegenstandsform auf, so wird er so nichtssagend, wie Adorno es an Mannheims Ideologiebegriff kritisiert hat.“ in GRENZ, FRIEDEMANN (1974): Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48 22 Diese Perspektivnahme ist allerdings nur dann schlüssig, wenn man die Betrachtung tatsächlich auf das Verhältnis des Verdinglichungstheorems von Lukács zu Adornos Reflexion auf dieses Theorem einschränkt. Bezieht man andersgelagerte Auseindersetzungen mit dem Phänomen der „Verdinglichung“ mit ein, wäre eine solche Pointierung nicht mehr umstandslos möglich. Ich möchte sie hier nur als analytische Hilfsperspektive verwenden, um ein wenig Klarheit in das philosophische Verhältnis zwischen Lukács und Adorno zu bringen; vgl. für eine solche andersgelagerte Auseinandersetzung etwa die breit angelegte Begriffsstudie von Joachim Israel, in ISRAEL, JOACHIM (1983): Der Begriff Entfremdung, Frankfurt am Main: Fischer, hierzu v. a. Kap. 10: Der Begriff Verdinglichung

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tischen Arbeitsethik in der Frühphase der kapitalistischen Kultur. Aufgezeigt wer-

den soll hier das soziologische Verständnis von Rationalität als Denk- und Hand-

lungsform (1.1). Dann geht es um die Darlegung des Marxschen Fetischcharakters

der Ware. Dabei soll deutlich werden, wieso und inwiefern Lukács an die

Marxsche Warenformanalyse kulturkritisch anknüpfen kann (1.2). Der folgende

Teilabschnitt beginnt mit einer knappen Darstellung der lebensphilosophischen

Kulturkritik von Georg Simmel, die von zentraler Bedeutung für Lukács’

Verständnis der „Verdinglichung“ als einer Lebensform, die den Einzelindividuen

wie übergestülpt wird, ist. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses soll dann

der systematische Verknüpfungspunkt von Marx und Weber im Verdingli-

chungstheorem von Lukács erläutert werden. Am Ende dieses Abschnitts geht es

mir dann um die Hervorhebung einer grundlegenden Paradoxie im Begriff der

„Verdinglichung“ als Lebensform (1.3). Im vierten und letzten Teilabschnitt des

ersten Kapitels geht es schließlich um den Anteil des kritischen Gehalts des

Verdinglichungstheorems, der über Marx und Simmel, aber auch Weber

hinausweist. Es ist Lukács’ grundlegende Kritik an der abendländischen

Wissenschaft und ihre spezifisch materialistische Stoßrichtung, die erst die Basis

für Adornos und Horkheimers Reflexion einer Dialektik der Aufklärung legt (1.4).

Dieser Dialektik der Aufklärung möchte ich mich dann im zweiten Kapitel über

einen Umweg nähern, nämlich über die Art und Weise, in der Jürgen Habermas in

seinem Frühwerk diesen Prozess als einen wissenschaftsgeschichtlichen Verlust

der immanenten Verbindung zwischen Erkenntnis und Interesse reflektiert. In ei-

ner anknüpfenden Betrachtung soll dieser Verlust dann auf Adornos Interpretation

der Homerischen Odyssee in der Dialektik der Aufklärung bezogen werden.

Adorno interpretiert die in der Figur des Odysseus episch zum Ausdruck

kommende patriarchale Dialektik von naturbeherrschendem Geist und unterwor-

fenem Körper als ein literarisches Sinnbild der abendländischen Genese des ratio-

nalen Schemas der instrumentellen Naturbeherrschung. Hier schließt sich mit der

Darlegung der zentralen These der Dialektik der Aufklärung gewissermaßen auch

ein erster Kreis der Argumentation (2.1). Im folgenden geht es dann um den Be-

zug dieser Dialektik auf die moderne Lebenswelt. Im Zentrum dieses Bezugs steht

bei Adorno der Begriff der „Kulturindustrie“, dessen Erläuterung sich daher der

folgende Teilabschnitt widmet (2.2). Im dritten und letzten Teilabschnitt dieses

zweiten Kapitels soll dann die Frage nach den psychoanalytischen Implikationen

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von Adornos Vorstellung der „Verdinglichung“ als einer Lebensform explizit ins

Auge gefasst werden (2.3).

Im kurzen dritten Kapitel werden dann schließlich einige als wesentlich

herausgehobene Momente an Adornos Verdinglichungskritik noch einmal

extrapoliert. Im ersten Teilabschnitt soll ein einfacher Blick auf existentielle

Grundbedingungen dessen geworfen werden, was Adorno unter „Verdinglichung“

versteht (3.1). Im zweiten und letzten Teilabschnitt geht es dann um Adornos Bild

von einer der „Verdinglichung“ immanenten Gefahr, in totalitäre

Gesellschaftsverhältnisse umzukippen (3.2). Der Schlussteil möchte einige

Anhaltspunkte für eine Kritik an Adornos und Lukács’ Verständnis von

„Verdinglichung“ geben und ebenso einen Ausblick auf mögliche

Anknüpfungspunkte für die weitere Auseinandersetzung.

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Kapitel 1

Einige Quellen der Verdinglichungskritik Adornos

1.1 Protestantische Arbeitsethik und der moralische

Eigenwert zweckrationalen Handelns

Ich beginne die Darlegung des Verdinglichungstheorems mit der Erläuterung der

systematischen Unterscheidung zwischen Zweck- und Wertrationaliät in der

Soziologie von Max Weber. In seiner genealogischen Studie Die protestantische

Ethik und der Geist des Kapitalismus untersucht Weber das kulturgeschichtliche

Ineinandergreifen eines aus dem Protestantismus erwachsenen Arbeitsethos und

den ökonomischen Erfordernissen der kapitalistischen Wirtschaft in der Phase

ihrer Industrialisierung. Den zeitdiagnostischen Einsatzpunkt der Studie stellt eine

Art von Umkehrungsmoment dar, das Weber einleitend wie folgt beschreibt:

„Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürf-nisse bezogen. Diese für das unbefangene Empfinden schlechthin sinnlose Umkehrung des, wie wir sagen würden, „natürlichen“ Sachverhalts ist nun ganz offenbar ebenso un-bedingt ein Leitmotiv des Kapitalismus, wie sie dem von seinem Hauche nicht berührten Menschen fremd ist.“23 Weber versucht, aus der Zeitdiagnose einer soziologisch erfahrbaren Zentrierung

des bürgerlichen Lebenszwecks auf die ausschließlichen Belange eines gelingen-

den beruflichen Erwerbslebens auf eine sozialgeschichtliche Verkehrung oder

Verschiebung rückzuschließen, die für Weber als ein bürgerliches „Leitmotiv des

Kapitalismus“ erscheint. Dieses „Leitmotiv“ lässt sich fassbar machen in der kri-

tischen Beschreibung einer Zweck-Mittel-Relation. Während für Weber als der

„natürliche[.]“ ökonomische „Sachverhalt“ gelten kann, Arbeit als ein Mittel zum

Zweck der Befriedigung von anderen materiellen und geistigen Lebensbedürfnis-

sen anzusehen, stellt es sich in dem, was Weber an einer anderen Stelle des Ein-

leitungsteils seiner Studie die „Sozialethik der kapitalistischen Kultur“24 nennt,

verkehrt herum dar. Arbeit erscheint selbst bereits als ein Lebenszweck und wie

ein Selbstzweck.

23 WEBER, MAX (2000): Die protestantische Ethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 36 24 WEBER, MAX (2000): a. a. O., S. 27

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Vor allem die ethische Qualität dieser kulturgeschichtlichen Verschiebung in den

bürgerlichen Lebensidealen bringt Weber dabei auf die historische Spur des Pro-

testantismus. In der asketischen Lebensführung der frühen protestantischen Sek-

tengemeinschaften lässt sich für Weber der religiöse Ursprung dieser kapita-

listischen „Sozialethik“ auffinden. Die sozialgeschichtliche Bewegung der christ-

lichen Reformation bildet für Weber weniger eine „Beseitigung der kirchlichen

Herrschaft über das Leben überhaupt, als vielmehr die Ersetzung der bisherigen

Form derselben durch eine andere. Und zwar [...] durch eine im denkbar weitge-

hendsten Maße in alle Sphären des häuslichen und öffentlichen Lebens eindrin-

gende [...] Reglementierung der ganzen Lebensführung.“25

Das deutlichste historische Beispiel für diese methodische Lebensführung findet

sich vor im Calvinismus. Als genealogisch wesentliches Moment erscheint dabei

der Lebensführungscharakter der calvinistischen Arbeitsethik. Nur in der perma-

nenten und methodischen Aufrechterhaltung der calvinistischen Lebensführung

liegt für den Protestanten die religiöse Heilsgewissheit. Es ist dieser rigorose Cha-

rakterzug in der protestantischen Askese, welcher ihr erst die durchdringende

Kraft eines allgemeinen Reglements der Lebenshaltung verleiht:26

„[N]ur in einer fundamentalen Umwandlung des Sinnes des ganzen Lebens in jeder Stunde und jeder Handlung konnte sich das Wirken der Gnade als einer Enthebung des Menschen aus dem status naturae in den status gratiae bewähren. Das Leben des „Heili-gen“ [des frommen Gläubigen der calvinistischen Sektengemeinschaft, D.S.] war aus-schließlich auf ein transzendentes Ziel: die Seligkeit, ausgerichtet, aber ebendeshalb in seinem diesseitigen Verlauf durchweg rationalisiert und beherrscht von dem ausschließ-lichen Gesichtspunkt, Gottes Ruhm auf Erden zu mehren.“27 Aus der protestantischen Verknüpfung von Arbeitswillen und Frömmigkeit er-

wächst eine eigentümliche Form der asketischen Rationalisierung, die dem Ka-

tholizismus fremd war. Gerade darin, die weltliche Existenz ganz nach

ökonomischen Gewinnbestrebungen auszurichten und durchzurationalisieren,

drückt sich im Protestantismus das religiöse Streben nach dem Seelenheil aus. Ich

möchte im folgenden zunächst Webers Unterscheidung von Zweck- und

Wertrationalität erläutern, um dann diese Eigentümlichkeit der protestantischen

25 WEBER, MAX (2000): a. a. O., S. 20 26 Vgl. die Darstellung von Jürgen Habermas, in HABERMAS, JÜRGEN (1984): Theorie des kommunikativen Handelns Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 299 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Michel Foucaults erhellenden Begriff der „Pastoralmacht“, auf den ich hier nicht eingehen kann; etwa in FOUCAULT, MICHEL (1992): Was ist Kritik?, Berlin: Merve 27 WEBER, MAX, zit. nach HABERMAS, JÜRGEN (1984): a. a. O., S. 309

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Arbeitsethik unter dem Blickwinkel dieser Unterscheidung genauer betrachten zu

können.

Die für Webers Verständnis des beschriebenen Übergangs der katholizistisch

geprägten christlichen Vorstellungswelt in die protestantisch-asketische

Lebensführung entscheidende Unterscheidung bildet die zwischen

zweckrationalem und wertrationalem Handeln, den beiden möglichen rationalen

Handlungstypen in der Weberschen Handlungstypologie.28 Um diese analytische

Unterscheidung selbst angemessen zu verstehen, muss sie in der kritischen

Konstellation mit dem induktiven Analyseprinzip der Handlungstheorie Webers

gedacht werden, die ihre Unterscheidungen darin als idealtypisch begreift, aus

einer überkomplexen modernen Handlungsrealität deren Bestimmungsmomente

bewusst extrahieren zu wollen.

Im realen Handeln lassen sich zweckrationale und wertrationale Handlungsmotive

nicht vollständig sauber voneinander absondern, sondern finden sich als inein-

ander verschränkt vor. Ihre analytische Ausdifferenzierung dient dazu, das hinter

einer Handlung stehende subjektive Interesse und den intendierten Sinnzusam-

menhang dieser Handlung idealtypisch zu rekonstruieren. Die moderne subjektive

Handlungssituation, die nicht mehr einfach autoritär verordnet einem traditional

vorgegebenen Handlungsmuster folgen muss, zeichnet sich für Weber dadurch

aus, zwischen wert- und zweckrationalen Handlungsmotiven einen individuellen

Mittelweg finden zu müssen. Die Rekonstruktion der zweck- und wertrationalen

Handlungskomponenten kann daher den soziologisch gegebenen subjektiven Ent-

scheidungsspielraum offenlegen, innerhalb dessen sich eine Person für eine be-

stimmte Handlung entschieden hat. Moderne individuelle Handlungsmuster beru-

hen auf komplexen Motivationsgeweben, in deren Beschreibung sich die moder-

nen Rationalisierungsprozesse in Subjektivitätsformen übersetzen lassen. Worauf

beruht aber Webers Unterscheidung von Zweck- und Wertrationalität überhaupt?

Als zweckrational gelten für Weber Handlungen, die bestimmt sind „durch Er-

wartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen

Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen’ oder als

‚Mittel’ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigene Zwecke“, wäh-

rend wertrationale Handlungen „durch bewussten Glauben an den – ethischen,

28 Die weiteren beiden Handlungstypen der Weberschen Handlungstypologie bilden affektuelles Handeln und traditionales Handeln; vgl. WEBER, MAX (1976): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr, S. 13

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ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigen-

wert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Er-

folg“ motiviert sind.29

Zweckrationale Handlungsmotive richten also die subjektive Handlung aus auf ei-

nen mit bestimmten Mitteln zu erreichenden äußerlichen Zweck dieser Handlung,

während sich in den wertrationalen Handlungsmotiven eines Individuums dessen

„ethische[.], ästhetische[.], religiöse[.], oder wie immer sonst zu deutende[.]“ Auf-

fassungen und Überzeugungen ausdrücken. Als wertrational können also Hand-

lungsmotive gelten, denen selbst ein bestimmter Zweck immanent ist.

„Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional han-delt. Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Fol-gen kann dabei ihrerseits wertrational orientiert sein: dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational. [...] Absolute Zweckrationalität des Handelns ist aber auch ein im wesentlichen konstruktiver Grenzfall.“30 Die zweck- und wertrationalen Handlungsmotive sind immer schon miteinander

verwoben, d. h. sie können überhaupt nur rekonstruktiv einander gegenüber ge-

stellt werden. Diese Gegenüberstellung erscheint daher als sinnvoll, weil es sich

um ganz verschiedenförmige Denkoperationen eines Individuums handelt, die in

der zweck- und wertrationalen Komponente von Handlungsmotiven zum Aus-

druck kommen. Während die zweckrationalen Handlungsmotive sich an der kal-

kulativen Abmessung von gegebenen äußeren Chancen zur Erreichung eines be-

stimmten Zwecks bilden, stecken die wertrationalen Handlungsmotive den indivi-

duellen Orientierungsrahmen dieser Kalkulationen ab, indem sie den subjektiven

Ausdruck von basalen Sinnorientierungen eines Individuums bilden. Zweck- und

wertrationale Handlungserwägungen stehen daher im Individuum überhaupt nicht

notwendig gegeneinander, sondern können sich strategisch ergänzen und einander

verstärken. Ihren herausgehobenen Status als soziologische Grundkategorien mo-

dernen rationalen Handlungsbewusstseins schlechthin erhalten Zweck- und Wert-

rationalität für Weber daher, weil beide einen unhintergehbaren Bestandteil des

individuellen Handlungsbewusstseins bilden.

29 ebd., S. 13 30 ebd., S. 13

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Für die zweckrationale Handlungskomponente schenke ich mir diesen Nachweis

hier. Die wertrationale Handlungskomponente des subjektiven Motivationsgewe-

bes markiert formal ein inhaltlich konstitutives Moment des individuellen Hand-

lungsbewusstseins, weil diese Komponente diejenige ist, die dem individuellen

Bewusstsein erst die praktische Sinnorientierung und situative Verortung in der

eigenen sozialen Umwelt erlaubt. Um die relative Konsistenz einer fortdauernden

Identität praktisch stabilisieren zu können, bedarf ein Subjekt der mehr oder we-

niger bewussten Möglichkeit von wertrationalen Verortungen der eigenen Hand-

lungssituation. Ein solches praktisches Erfahrungs- und Orientierungswissen31

äußert sich z. B. in Aussagen wie: ‚Ich glaube an die Kraft der Freundschaft.’ Wir

alle kennen heute das Gefühl, das einen umfängt, wenn solche Überzeugungen

momenthaft wegbrechen. In Webers Sprache könnte man dann sagen: die wertra-

tionale Komponente meiner Handlungsorientierungen wird brüchig.

Schauen wir mit dem Wissen um die Unterscheidung von Zweck- und Wertratio-

nalität noch einmal auf die protestantische Arbeitsethik. Diese lässt sich nun als

eine religiöse Form der Verwirrung von zweck- und wertrationalen Handlungs-

anteilen verstehen. Denn der manifeste handlungstheoretische Charakterzug der

protestantischen Arbeitsethik besteht darin, den „im wesentlichen konstruktive[n]

Grenzfall [a]bsoluter Zweckrationalität“ in der an sich bereits als moralisch gel-

tenden Aufwertung von gewerblichem Erwerb als einer prinzipiellen Vermehrung

von „Gottes Ruhm auf Erden“ in gewisser Weise selbst in ein wertrationales

Handlungsmuster umzudeuten. In dieser verhängnisvollen Verkettung sieht We-

ber die fundamentale historische Bedeutung der protestantischen Arbeitsethik für

die „Sozialethik der kapitalistischen Kultur“. Sie lässt sich vor dem systemati-

schen Hintergrund der Weberschen Unterscheidung von Zweck- und Wertratio-

nalität nun folgenderweise verstehen:

Die protestantische Arbeitsethik spricht den zweckrationalen Handlungskompo-

nenten selbst einen moralischen Eigenwert zu; als eine religiöse Lebenshaltung

rationalisiert sie einen systematischen lebensweltlichen Vorrang der Zweck- vor

der Wertrationalität. Darin, den zweckrationalen Handlungsmaßstäben überhaupt

einen moralischen Eigenwert zu verleihen, bildet sie den genealogischen Vorläu-

31 Vgl. die auf eine kritische Auseinandersetzung mit Adorno hin entworfene Rekonstruktion der Weberschen Handlungstypologie bei Anke Thyen; in THYEN, ANKE (1989): Negative Dialektik und Erfahrung: zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt am Main: Suhrkamp, hier v. a. S. 61 f.

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fer der „Sozialethik der kapitalistischen Kultur“. Denn dieser Charakterzug bleibt

bestehen. Es gibt bis heute einen ‚kapitalistischen Geist’ des moralischen Eigen-

werts zweckrationalen Handelns. Webers genealogische Rekonstruktion macht

den religiösen Ursprung dieses moralischen Eigenwerts des zweckrationalen Han-

delns sichtbar. Als Eigenwert trägt er die gesellschaftliche Auffassung der Arbeit

als Selbstzweck, die einem nicht-kapitalistisch geprägten Menschen fremd war.

Diese fortdauernde Verwischung der Differenz von zweck- und wertrationalen

Denkoperationen hat negative Konsequenzen für das individuelle Sinn- und Ori-

entierungsbedürfnis. Wertrationale Orientierungsmuster können sich gar nicht in

zweckrationalen Erwägungen erschöpfen. Umgeben von einer sozialen Umwelt,

in der keine anderen als zweckrationale Gründe mehr gelten können, wird das in-

dividuelle Handlungsbewusstsein in seinen subjekthaften Konstitutionsvorausset-

zungen prekär berührt, wie mit Weber genealogisch aufgezeigt werden kann.

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1.2 Verdinglichung und Fetischcharakter der Ware

Max Webers genealogische Studie über den „Geist des Kapitalismus“ verfolgt

wissenschaftsgeschichtlich auch eine kritische Gegenrichtung gegen den histori-

schen Materialismus und die marxistische Gesellschaftstheorie. Marx, der sich

philosophiegeschichtlich betrachtet vor allem am dialektischen Idealismus von

Gottfried Wilhelm Hegel abarbeitet, geht es in diesem Zusammenhang darum,

aufzuzeigen, dass sich in den Ideologemen der bürgerlichen Geisteskultur und den

auf diese bezogenen subjektiven Bewusstseinsformen vor allem die mit ihrer

Kulturgeschichte verfilzte kapitalistische Produktionsweise spiegelt.

Diese ideologische Spiegelung verzerrt für Marx die eigentlich gesellschaftlichen

und von Menschen gemachten, und daher auch veränderbaren Verhältnisse zu ei-

nem ideologischen Paradoxon von gesellschaftlichen Naturzuständen. Weber geht

es nicht um die Abweisung einer historisch gewissen Evidenz der zeitdiagnosti-

schen Einsicht, dass zwischen der ökonomischen Produktionsweise des Kapita-

lismus und der bürgerlichen Geisteskultur ein virulenter gesellschaftsgeschichtli-

cher Zusammenhang besteht, sondern um die Bestreitung der Auffassung, dass

sich im kulturellen Überbau der bürgerlichen Gesellschaft deren kapitalistische

Produktionsweise schlicht abbildet.32 Für Weber stellt diese vielmehr umgekehrt

nur den ökonomischen Ausdruck eines umfassenden modernen Rationalisierungs-

prozesses dar.

Georg Lukács’ Verdinglichungsdiagnose aus Geschichte und Klassenbewusstsein

lebt von einer systematischen Neuverknüpfung sowohl Marxscher, als auch We-

berscher und, was den grundlegenden Zugang zur Marxschen Warenformanalyse

angeht, vor allem auch Simmelscher Motive. Wie das zusammengeht, soll das

übergreifende Thema der kommenden zwei Teilabschnitte sein. Mir scheint es da-

für ratsam, Geschichte und Klassenbewusstsein in einem ersten Schritt ein wenig

historisch zu kontextualisieren.

Mit dem beschworenen Geist einer sich über die bürgerliche Gesellschaft aus-

breitenden und in der geforderten subjektiven Anpassungsleistung übermächtigen

Ökonomisierungsmaschinerie trifft Lukács einen kulturkritischen Nerv des Unbe-

hagens an einem umfassenden Prozess, dessen übermächtigen Eindruck viele

Zeitgenossinnen teilen. Geschichte und Klassenbewusstein avanciert Anfang der

32 Vgl. WEBER, MAX (2000): a. a. O., S. 61

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1920er Jahre zu einem philosophischen Bestseller. Lukács wird im Vorwort zur

Neuausgabe von 1967 schreiben: „Für die historische Wirkung von ‚Geschichte

und Klassenbewusstsein’ und auch für die Aktualität in der Gegenwart ist ein

Problem von ausschlaggebender Bedeutung: Die Entfremdung [...] Und natürlich

lag das Problem in der Luft.“

Die Zeitdiagnose der „Verdinglichung“ oder „Entfremdung“ stellte für Lukács

also den Versuch der kritischen Bündelung einer gesellschaftstheoretischen Aus-

einandersetzung dar.33 Die Marxsche Kapitalismustheorie sollte damals im Ange-

sicht ihrer sich bereits abzeichnenden gesellschaftskritisch verheerenden Umdeu-

tung durch den Sowjetmarxismus kulturkritisch wiederbelebt werden.34 Aus die-

ser Perspektive tritt die Marxsche Analyse des „Fetischcharakter der Ware“ in das

interpretative Zentrum der Marxschen Kapitalanalyse. Lukács fasst den „Fetisch-

charakter der Ware“ in Geschichte und Klassenbewusstein als „Grundphänomen

der Verdinglichung“35 auf. Diese Auffassung wird aber weder der Marxschen

Analyse des Fetischcharakter der Ware noch der Verdinglichungsdiagnose von

Lukács in ihren vielschichtigen Bedeutungsgehalten gerecht.36 Dennoch stellt das,

was ich den Verdinglichungsaspekt im „Fetischcharakter der Ware“ nennen

möchte, eine Möglichkeit dar, sich dem Bedeutungsgehalt des Verdinglichungs-

theorems von Lukács in einem ersten Schritt anzunähern.

Was ist also der basale gemeinsame Nenner in der Marxschen Analyse des „Fe-

tischcharakters der Ware“ und der Verdinglichungsdiagnose von Lukács?

Die grundlegende Ursache der „Verdinglichung“ steht Lukács in der Dominanz

der kapitalistischen Warenform über die subjektiven Bewusstseinsformen vor Au-

gen. Richtet die kapitalistisch organisierte Produktion in der bürgerlichen Gesell-

schaftsformation diese Produktion ganz auf den Markt als ökonomische Vermitt-

lungsinstanz aus, insofern die Warenproduktion im kapitalistischen Betrieb in er-

ster Instanz selbst wieder der Wertvermehrung, d. h. dem gewinnbringenden Ver-

33 Vgl. ARATO, ANDREW / BREINES, PAUL (1979): The young Lukács and the origins of western marxism; New York: Seabury Press, Kap. 1 34 Vgl. die Darstellung der Vorgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung von Martin Jay; in JAY, MARTIN (1981): Dialektische Phantasie; Frankfurt am Main: Fischer, hierzu v. a. S. 23 f. u. S. 209 ff. 35 GuK, S. 260 36 Vgl. zu den folgenden beiden Unterkapiteln die Darstellung des theoriegeschichtlichen Gehalts des Verdinglichungstheorems von Lukács bei Rüdiger Dannemann; in DANNEMANN, RÜDIGER (1987): Das Prinzip Verdinglichung: Studie zur Philosophie Georg Lukács’, Frankfurt am Main: Sendler, S. 61-96

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kauf dieser Ware auf dem Markt dient, an dem sich die Möglichkeit des Überle-

bens des einzelnen kapitalistischen Betriebs bemisst, wird innerhalb dieser Aus-

richtung auch die menschliche Arbeit zu einer dem Individuum eigentümlichen

Ware, die sich in ihrer konkreten Form dieser Warenform als „Universalkategorie

des gesamten gesellschaftlichen Seins“37 anzupassen hat. Erst in dieser

marktinduzierten Dominanz über die Form der subjektiven Selbsterhaltung

„gewinnt die Verdinglichung eine entscheidende Bedeutung sowohl für die

objektive Entwicklung der Gesellschaft wie für das Verhalten der Menschen zu

ihr“38, d. h. sie kann diese Dominanz über die individuellen Bewusstseinsformen

entwickeln. Den kapitalistischen Marktbewegungen ist warenförmig unmittelbar

eigen „in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen

Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen

Menschen [zu] verdeck[en]“39, d. h. auf der ökonomischen Oberfläche erscheinen

sie wie immanente Bewegungen dieses Marktes, steigende oder fallende

Profitraten und Aktienkurse.

Wie erklärt Marx sich das? Was beinhaltet die Marxsche Analyse der kapitalisti-

schen Warenform, das eine derartig starke Diagnose ihrer Bewusstseinsdominanz

möglich macht?

Um dem ansatzweise nachzugehen, möchte ich in einem ersten Schritt die Unter-

scheidung von „Tauschwert“ und „Gebrauchswert“, so wie Marx sie im ersten

Kapitel des Kapital entwirft40, nachzeichnen, um dann die kulturkritische Aufla-

dung der Marxschen Warenformanalyse in der Verdinglichungsdiagnose von Lu-

kács im Ansatz verständlich machen zu können. Für Marx zerfällt die Form der

Ware als Grundkategorie der kapitalistischen Ökonomie in einen „Tauschwert“

und „Gebrauchswert“. Den „Tauschwert“ bildet der quantitative Wert im Aus-

tausch, den ein Produkt in diesem Tauschvorgang erst erhält, und der das Produkt

insofern auch erst zur Ware macht. Der „Gebrauchswert“ einer Ware bezieht sich

auf deren konkreten Nutzen als Gegenstand. In Bezug auf einfache Gegenstände

ist diese Unterscheidung noch unmittelbar durchsichtig. Ein Tisch ist ein Tisch,

ohne dafür notwendig Ware werden oder Ware gewesen sein zu müssen. Die kon-

37 GuK, ebd. 38 GuK, ebd. 39 GuK, S. 257 40 Vgl. insgesamt MARX, KARL (1962): Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 23, Berlin: Dietz, Kap. 1, S. 49-98

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kreten „Gegenständlichkeit[en] der Warenkörper“41, d. h. ihre nützlichen Eigen-

schaften und sinnlichen Qualitäten als Gebrauchsgegenstände kommen diesen un-

abhängig davon zu, dass sie als „Warenkörper“ einen bestimmten „Tauschwert“

oder „Wert“ an sich tragen. Marx merkt an:

„Man mag daher eine Ware drehen und wenden, wie man will, sie bleibt unfassbar als Wertding.“42 Der gemeinsame Nenner der „Warenkörper“ besteht für Marx zwar darin, allge-

mein nützliche Produkte konkreter menschlicher Arbeit zu sein, ihr „Wert“ stellt

sich über den Markt aber nur her, insofern sie sich als Produkte menschlicher Ar-

beit überhaupt gegeneinander austauschen lassen können. Diese Wertbestimmung

der Waren vollzieht sich dabei nicht gesellschaftlich bewusst, sondern aus der

immanenten Notwendigkeit des kapitalistischen Marktes heraus. Die gesellschaft-

lich notwendige Arbeitszeit, die auf die Herstellung eines bestimmten Produkts

verwandt werden muss, führt nach Marx neben den hinzutretenden Produktiv-

kräften, d. h. den Produktionsmitteln wie z. B. einer Dampfmaschine, zu dessen

marktförmiger Wertbestimmung als Ware.43 Dieses Wertverhältnis erscheint im

Kapitalismus bereits in vergegenständlichter Form als Geld. „Geld“ oder abstrakt

betrachtet das im Geld vergegenständlichte Wertverhältnis bildet ein „unter ding-

licher Hülle verstecktes Verhältnis“44 von interpersonalen Beziehungen, die sich

über Geld als Tauschmedium organisieren. „Geld“ erscheint als eine schlichte ge-

sellschaftliche Konvention, in deren historisch-funktionaler Rekonstruktion Marx

die Geschichte des Wertverhältnisses als abstrakte Äquivalenzform offenlegen

kann. Auf diese Rekonstruktion kann ich hier nicht im besonderen eingehen. 45

Der für den Fortgang der Argumentation entscheidende Punkt ist grundlegend be-

reits gegeben in dem oben dargelegten strukturellen Moment, dass sich in der

kapitalistischen Organisation von Arbeits- und Produktionsverhältnissen diese

Verhältnisse selbst noch einmal über den Markt vermitteln, d. h. die ökonomische

Produktion richtet sich insgesamt auf die als Folge einer Produktion jeweils zu

41 MARX, KARL (1962): a. a. O., S. 62 42 MARX, KARL (1962): a. a. O., ebd. 43 Diese Verhältnisbestimmung rekonstruiert zeitgemäß Moishe Postone; in POSTONE, MOISHE (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft: eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg: ça ira, hierzu v. a. S. 287 ff. 44 MARX, KARL (1962): a. a. O., S. 88 (Fn.) 45 Vgl. hierfür die Zusammenfassung in der Einleitung der Grundrisse; in MARX, KARL (1988): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, Berlin: Dietz, S. 37 f.

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erreichende Vermehrung von „Tauschwert“ oder „Wert“ aus. Indem die Produkte

der menschlichen Arbeit als Waren und diese menschliche Arbeit als „Ware Ar-

beitskraft“ dadurch erst auf dem Markt „als sachliche Verhältnisse der Personen

und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“46 überhaupt erscheinen, mit ande-

ren Worten immer schon in dinghaft-wertförmige Gegenständlichkeitsformen

übersetzt werden, verdichtet sich dieses abstrakte Netz dinghafter Wertförmigkeit

zu dem ideologischen Paradoxon eines gesellschaftlichen Naturzustands. Der

allen Waren anhaftende Tauschwert erscheint wie eine natürliche Eigenschaft die-

ser Dinge, obwohl er tatsächlich der Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhält-

nisses ist.

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspie-gelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies quid pro quo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesell-schaftliche Dinge. [...] Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Men-schen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von

Dingen annimmt.“47 Die Allgegenwart der Wertförmigkeit der Dinge als Waren bildet den Ausdruck

eines gesellschaftlichen Verhältnisses, welches die in diese Produktionsweise

verwickelten Menschen vermittels ihrer eigenen Handlungspraxen eigentlich erst

herstellen. Den sich auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt als „Ware Arbeits-

kraft“ anbieten müssenden Einzelsubjekten, d. h. in Marxscher Terminologie den

„Produzenten“, erscheint diese Verhältnisverkettung aber permanent „als ein au-

ßer[halb von] ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenstän-

den“. Dadurch erhalten kapitalistische Waren die eigentümliche Gestalt von

„sinnlich übersinnliche[n] oder gesellschaftliche[n] Dinge[n]“, d. h. in ihnen

drückt sich immer auch mehr aus, als ihre einfache Warenform anzeigen kann,

denn sie sind durch diese Form der dingliche Träger eines gesellschaftlichen Ver-

hältnisses, das sie damit zugleich verdecken.

Das bildet in der verdinglichungskritischen Hinsicht auf die Warenform ihren feti-

schistischen Aspekt: die Ware erscheint nur als eine konventionelle Gegenständ-

lichkeitsform, deren kritische Entschlüsselung eine überlagernde Vergegenständ-

46 MARX, KARL (1962): a. a. O., S. 87 47 MARX, KARL (1962): a. a. O., S. 86

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lichung von sozialen Verhältnissen preisgibt, die in der Warenform immer schon

‚aufscheinen’. Das groteske Moment dieser permanenten Verhältnisverkehrung

einer Gesellschaftsstruktur in die Ubiquität von dinglichen Formen liegt für Marx

darin, wie er an späterer Stelle formuliert, dass damit die „eigene gesellschaftliche

Bewegung“ der Menschen „für sie die Form einer Bewegung von Sachen [be-

sitzt], unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“48

Den Versachlichungs- oder Verdinglichungsmoment in der Beschreibung der

Funktionsweise der kapitalistischen Ökonomie gewinnt Marx durch die Unter-

scheidung des „Tauschwerts“ und „Gebrauchswerts“ von warenförmigen Gegen-

ständen oder anders formuliert: durch die verschiedenen Hinsichten, welche diese

Unterscheidung hervorbringt. Denn nur wenn die Betrachtung kritisch zwischen

einer Ware als Gebrauchsgegenstand und als „Wertding“ auch differenzieren

kann, kann verständlich werden, wie die „Gegenständlichkeit[en] der Warenkör-

per“ überhaupt zu dinglichen Trägern eines gesellschaftlichen Verhältnisses wer-

den können, das in dieser Hinsicht eigentlich nicht in ihnen liegt, sondern in den

sozialen Beziehungen der Menschen zueinander. Was sich in dieser Hinsicht in

dieser Unterscheidung verbirgt, stellt daher mehr als eine ökonomische Differen-

zierung im eigentlichen Sinn dar.49 Mit der basalen Differenzierung des

„Tauschwerts“ und „Gebrauchswerts“ von Waren führt Marx ein divergierendes

Betrachtungsspektrum in die ökonomische Theorie ein, denn implizit enthält diese

Unterscheidung bereits eine Kritik der kapitalistischen Ökonomie, die zumindest

soviel besagt: der konkrete Gegenstand ist etwas ganz anderes als der abstrakte

Wert, der ihm erst auf dem kapitalistischen Markt nach dessen immanenten Be-

wegungsgesetzen verliehen wird.

Damit lässt sich bereits antizipieren, wie sehr sich das mit der Unterscheidung von

„Tauschwert“ und „Gebrauchswert“ eröffnete Betrachtungsspektrum für eine

kulturkritische Aufladung seiner Lesart anbietet und aber auch, wie schwer es ist,

diese Unterscheidung in Ansehung heutiger Warenformen wie z. B. Mobiltelefo-

nen aufrechterhalten zu können. Es kann auch hier sinnvoll sein, sie als kritische

Hinsichtenunterscheidung zu begreifen. Der Schlüssel der Marx-Lektüre von Lu-

kács besteht genau darin, den verdinglichenden Charakter der Warenform als eine

Überlagerungs- oder Überstülpungsgestalt zu interpretieren, innerhalb welcher

48 MARX, KARL (1962): a. a. O., S. 89 49 Vgl. ANGEHRN, EMIL / LOHMANN, GEORG (1986): Ethik und Marx, Königstein/Ts.: Athenäum

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die kritische Hinsicht auf die konkreten Gegenständlichkeiten ganz untergeht.

Alles, was nicht tauschwertförmig erscheinen kann, bleibt auf der kapitalistischen

Oberfläche unsichtbar.

„Wird also selbst der einzelne Gegenstand, dem der Mensch als Produzent oder Konsu-ment unmittelbar gegenübersteht, durch seinen Warencharakter in seiner Gegenständlich-keit entstellt, so muss sich dieser Prozess einleuchtenderweise desto mehr steigern, je vermittelter die Beziehungen sind, die der Mensch in seiner gesellschaftlichen Tätigkeit zu den Gegenständen als Objekten des Lebensprozesses stiftet.“50 Durch diese Betrachtungsweise von Lukács wird die einfach ökonomische Hin-

sicht auf die Warenform endgültig verlassen. Wenn „der einzelne Gegenstand [...]

durch seinen Warencharakter in seiner Gegenständlichkeit entstellt“ wird, drückt

sich in der kapitalistischen Verkehrsform der Ware etwas aus, das weit über eine

ökonomische Problemstellung hinausweist. In den Blickwinkel kommt der struk-

turelle Vermittlungscharakter dieser Form. Denn „je vermittelter die Beziehungen

sind, die der Mensch in seiner gesellschaftlichen Tätigkeit zu den Gegenständen

als Objekten des Lebensprozesses stiftet“, desto mehr muss dann das verloren ge-

hen, was dieser strukturelle Vermittlungscharakter der Warenform nicht zulässt,

was durch diesen Vermittlungscharakter strukturell affiziert wird. Im Mittelpunkt

der Verdinglichungsdiagnose von Lukács steht in dieser Hinsicht ein struktureller

Dingcharakter selbst, dessen kritische Beschreibung nicht ausschließlich und, wie

ich zeigen möchte, auch nicht vor allem aus einer alleinigen Betrachtung der ka-

pitalistischen Ökonomie im klassischen Sinn des Begriffs gewonnen werden kann.

50 GuK, S. 268

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1.3 Der Zusammenhang von Versachlichung

und Konkurrenzdenken

Lukács’ Rezeption der Marxschen Warenformanalyse ist philosophiegeschichtlich

betrachtet darin kulturkritisch aufgeladen, dass die Grundideen seiner Lesart von

Marx der früheren Auseinandersetzung mit der lebensphilosophischen Kulturkri-

tik von Georg Simmel entstammen. Simmel teilt Webers Blick auf den

historischen Materialismus. Er erkennt die kritische Darlegung der materiellen

Abhängigkeit des subjektiven Bewusstseins ein Stück weit an, bestreitet aber die

Einförmigkeit dieses Verhältnisses, sondern möchte in seiner Kulturkritik die

reziproke Wechselwirkung zwischen subjektiven Bewusstseinsformen und objek-

tiven Kulturgebilden offen legen. In der Philosophie des Geldes entwickelt Sim-

mel einen ambivalenten Blick auf die soziologischen Implikationen der kapitali-

stischen Geldwirtschaft, der mit einer Sozialkritik des modernen Großstadtlebens

verknüpft wird. Das Geld wird als das dominante intersubjektive Tauschmedium

sowohl im Licht der zunehmenden Befreiung von traditionalen Bindungen gese-

hen, als auch als die Ursache für Versachlichungs- und Vergleichgültigungsten-

denzen in sozialen Beziehungen begriffen.51 Die Geldwirtschaft führt nach Sim-

mel die umfassende Aufspaltung von traditionalen Lebenswelten herbei, deren pa-

radigmatische Gestalt sich in dem veränderten Verhältnis der individuellen Ge-

samtpersönlichkeit zu deren sachförmigen Bestimmungen zu erkennen gibt.

Das Vergleichsmuster des noch dem Mittelalter entstammenden Zunftwesen kann

dies verdeutlichen. Hier war die Person insgesamt mit der Sache, die sie ausübte,

wie verwachsen. Mit dem, was modern Beruf genannt wird, verband sich die

gesamte Lebenswelt. Die kapitalistische Geldwirtschaft zeichnet sich für Simmel

dadurch aus, die Individuen von solchen traditonalen Lebenswelten zu befreien,

damit aber auch deren ethische Qualitäten potentiell zu suspendieren. Die

Verbindungen zwischen den Individuen werden in der versachlichenden Vermitt-

lung über das Geld als deren ökonomisches Tauschmedium gelockert, d. h. zu-

gleich von einem engen traditionalen Möglichkeitsraum befreit, aber in ihrem

modernen Möglichkeitsraum so sehr versachlicht, das sie insgesamt brüchig wer-

den können. Diese Versachlichungstendenz lässt sich für Simmel in den basalen

51 Dass Simmel der Philosophie des Geldes eine subjektive Werttheorie zugrundelegt, lasse ich in diesem Zusammenhang außer Acht; vgl. hierfür die präzise Aufschlüsselung bei DANNEMANN, RÜDIGER (1987): a. a. O., S. 65 f.

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Unterscheidungen von Qualitität und Quantität, sowie Konkretem und Allgemei-

nem beschreiben. Das Geld stellt für Simmel nur den ökonomischen Ausdruck

dessen dar, das sich alle modernen Lebensverhältnisse in quantitativ verglei-

chende Wertschemata einfügen lassen können. Das Nivellierungsmoment der

Geldökonomie, tendenziell alle Menschen als gleich abhängig von dieser Ökono-

mie zu zeigen, steht ein für die neuartige Qualität dieser versachlichenden Eineb-

nung von unterschiedlichen Kulturgütern und Lebenswelten. Für den Lebensphi-

losophen Simmel zeigt sich darin die moderne Herrschaft der allgemeinen Form

über die konkreten Lebewesen schlechthin.

Paradigmatisch dafür steht der metropolitane Raum, in dem Simmel die Indivi-

duen wie subjektive Kulturmonaden vorstellt, die unter den genannten Versachli-

chungsbedingungen versuchen, zu einer konkreten Entfaltung ihres Selbst zu ge-

langen, dabei aber oftmals scheitern. Entlang einer übergreifenden Lineatur von

überlagernden Allgemeinbestimmungen kommt die eigentlich qualitative Diffe-

renz zwischen den individuellen Lebenswegen zu einem erliegenden Stillstand, d.

h. die in gegebene Versachlichungen diese verändernd vordringende Konkretion

der individuellen Lebensgestaltung findet kaum mehr statt.52

Simmel wollte der Marxschen Kapitalismusanalyse ein kulturgeschichtliches Ge-

genbild entgegensetzen, das aufzeigen sollte, dass doch immanente Bewegungs-

gesetze der Kultur selbst, und nicht die ökonomischen Marktbewegungen einen

systematischen Erklärungsvorrang innehaben. Es lässt sich aber zumindest fest-

halten, dass auf dieser kulturimmanenten Beschreibungsebene sich für Simmel

eine buchstäblich schicksalhafte „Tragödie“53 abspielt, deren Beschreibungsge-

stalt die einer modernen Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere bildet,

oder im Geist der Philosophie des Geldes formuliert: die eines quantifizierenden

Aufrechnungszusammenhangs der Geldwirtschaft über die qualitative Einzigar-

tigkeit der Individuen darstellt. Die Quintessenz Simmels hält dabei eine eigen-

tümliche Mitte zwischen Resignation und Hoffnung, wenn er schreibt:

„Indem das Geld Symbol wie Ursache der Vergleichgültigung und Veräußerlichung des-sen ist, was sich überhaupt vergleichgültigen und veräußerlichen lässt, wird es doch auch

zum Torhüter des Innerlichsten, das sich nun in eigensten Grenzen ausbauen kann“.54

52 Vgl. SIMMEL, GEORG (1998): a. a. O., Der Begriff und die Tragödie der Kultur, S. 195 ff. 53 Vgl. ebd. 54 SIMMEL, GEORG, zit. nach DANNEMANN, RÜDIGER (1987): a. a. O., S. 69

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Hier stellt sich also die Frage, was dieses „Innerlichste[.]“ dann im besonderen

auszeichnet und worin es sich äußern und „ausbauen“ kann.

Ich breche die Darstellung von Simmel aber hier ab, und möchte stattdessen die

Frage stellen, was den kritischen Grund für die Rückwendung von Lukács zu

Marx bildet. Sie kann im Hinblick auf Simmels Anteil in Lukács’ Denken

insofern den Status einer Schlüsselfrage beanspruchen, da sie einen Blick auf das

Einzelsubjekt beinhaltet, innerhalb dessen die Simmelsche Annahme dieses

individuellen Reservoirs „des Innerlichsten“ nachhaltig problematisch wird.

Wie wir nun ein wenig deutlicher sehen, sieht Lukács mit einem durch Simmels

Kulturkritik geprägten Blick auf die Marxsche Warenformanalyse. Es liegt auf der

Hand, dass eine so eigenwillige Lesart Divergenzen zu Marxens früheren Dar-

stellungsintentionen bergen muss, was in diesem Zusammenhang aber von einer

nachgeordneten Bedeutung ist.55 Prioritär für das Verständnis des

Verdinglichungstheorems ist an diesem Punkt die Frage nach der Gemeinsamkeit

von Lukács und Marx. Es ist die entscheidende Gemeinsamkeit, welche den im-

manenten Grund dafür liefert, die oben angerissene These von der Bewusstseins-

dominanz der kapitalistischen Wirtschaftsform zu erhärten. Es handelt sich um die

grundlegende Bedeutung, die beide der kapitalistischen Gestalt der menschlichen

Arbeit zusprechen: für Lukács ist vergleichbar zu Marx an der „Verdinglichung“

vor allem anderen entscheidend, „dass durch sie dem Menschen seine eigene Tä-

tigkeit, seine eigene Arbeit als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn

durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt

wird.“56 Wie äußert sich diese „Verdinglichung“ der menschlichen Arbeit für Lu-

kács aber genauer?

„Infolge der Rationalisierung des Arbeitsprozesses erscheinen die menschlichen Eigen-schaften und Besonderheiten des Arbeiters immer mehr als bloße Fehlerquellen dem ra-tionell vorherberechneten Funktionieren dieser abstrakten Teilgesetze [der „Durchkapita-lisierung“ der Arbeitsteilung, D.S.] gegenüber. Der Mensch erscheint weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozess als dessen eigentlicher Träger, sondern er wird als mechanisierter Teil in ein mechanisches System eingefügt, das er fertig und in völliger Unabhängigkeit von ihm funktionierend vorfindet, dessen Gesetzen er sich wil-

lenlos zu fügen hat.“57

55 Diese Divergenzen lassen sich vor allem anhand der Marxschen Differenz des Tauschwerts und des kapitalistischen Verwertungsprinzips erläutern, vgl. DANNEMANN, RÜDIGER (1987): a. a. O., S. 80 f. 56 GuK, S. 261 57 GuK, S. 263

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Für Lukács zeichnet sich die kapitalistische Gestalt der menschlichen Arbeitsver-

hältnisse vor allem dadurch aus, eine Form der Selbstobjektivierung hervorzubrin-

gen.58 Als Effekt einer umfassenden „Rationalisierung des Arbeitsprozesses“,

innerhalb derer die Arbeitskraft nach dem Muster des „Funktionieren[s] [von] ab-

strakten Teilgesetze[n] [...] rationell vorherberechnet[.]“ wird, „erscheint [der

Mensch] weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozess als dessen

eigentlicher Träger, sondern [...] als mechanisierter Teil [.] ein[es] mechanische[n]

System[s]“. Erst diese Rückspiegelung des kapitalistischen Verwertungsprinzips

auf die Ware Arbeitskraft selbst bringt den Verdinglichungszusammenhang her-

vor, insofern das Niveau der kapitalistischen Funktionalisierung auch die Selbst-

wahrnehmung der Einzelsubjekte ergreift. Sie erscheinen sich notwendig selbst in

der Form von mechanistisch aufspaltbaren Instrumentarien. Das macht die Un-

durchdringbarkeit des Verdinglichungszusammenhangs aus.

Die Frage, wie Lukács im Verdinglichungstheorem Marx und Weber in eine kon-

sistente Theoriegestalt, d. h. in die neuartige Form eines Webermarxismus über-

führt, lässt sich von hieraus ansatzweise beantworten. Stellt für Marx die kapitali-

stische Verwertung der „Ware Arbeitskraft“ den Schlüssel zum Verständnis der

kapitalistischen Ökonomie insgesamt dar, sieht Lukács diese warenförmige Ver-

wertung von Arbeitskraft mit dem Blick von Max Weber als einen durchdringen-

den kapitalistischen Rationalisierungsprozess. Überaus klar wird bei Lukács diese

Verknüpfung im Begriff der „Kalkulation“, in dem „Prinzip, das hierbei zur Gel-

tung gelangt [...]: das Prinzip der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit einge-

stellten Rationalisierung.“59

58 Lukács und Marx stimmen daher in der grundlegenden Bedeutung der entfremdeten Arbeit überein, aber nicht eigentlich in der diagnostischen Form, in der diese Bedeutung erfasst wird. Lukács antizipiert in Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats das marxsche Theorem der entfremdeten Arbeit aus dessen ökonomisch-philosophischen Frühschriften, den Pariser Manuskripten, die erst später aufgefunden und 1932 veröffentlicht werden, in einer durch Webers Rationalitätsanalytik geprägten Weise. Marx unterscheidet in den Pariser Manuskripten vier aufeinander verwiesene „Pfeiler der Entfremdung“: Der proletarische Arbeiter ist entfremdet von dem Produkt seiner eigenen Arbeit, entfremdet von seiner eigenen Tätigkeit, entfremdet von sich selbst als menschliches Gattungswesen, und entfremdet von den anderen in diesen Arbeitsprozess verwickelten Menschen. Als kritisches Gegenmodell stellt Marx einen Produktionsprozess vor, in dem der arbeitende Mensch sich als im Arbeitsprozess produktiv entäußerndes Wesen durchsichtig bleibt, d. h. sich „nicht in seinem Gegenstand [verliert]“, sondern die Arbeitsprodukte ihrem menschlichen Produzenten als die „Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände“ transparent bleiben können; vgl. MARX, KARL: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW Bd. 40, S. 541 59 GuK, S. 262

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Max Weber ist aber in diesem Zusammenhang noch aus einem weiteren Grund

die für Lukács prägendere theoretische Quelle als Marx. Dies hängt mit dem ho-

hen Stellenwert zusammen, die Weber der soziologischen Analyse von modernen

Herrschaftsformen verleiht. Während Marx entsprechend seines theoretischen

Projekts sich hier mit der basalen Aufzeigung begnügt, dass die kapitalistische

Ökonomie gedacht werden muss als eine systematische ‚Einwanderung der Herr-

schaft in den Menschen’60, untersucht Weber die modernen Herrschaftsapparate

der Bürokratie und der bürgerlichen Rechtssprechung sehr eindringlich.61 Diese

modernen Herrschaftsapparate bedingen in dem gesellschaftlichen Ausmaß, das

sie an Kalkulierbarkeit sicherstellen müssen, eine massive Entscheidungsabhän-

gigkeit der in sie verwickelten subjektiven Akteure. Sie beruhen für Weber, wie

Rüdiger Dannemann deutlich macht, auf einer subjektiven „Disjunktion von

Person und Sachfunktion [...], die dem Funktionsträger das Akzeptieren sehr rigi-

der Formen von Heteronomie abverlangt.“62

Dieser Blick auf eine machtinduzierte Zerrissenheit von Handlungsakteuren in-

nerhalb der modernen Gesellschaftsapparaturen geht ein in Lukács’ polemische

Diagnose der subjektiven Verdinglichung als eine Form der Kontemplation, die

sich darin ausdrückt, erst im passiven Rahmen des grundlegend vorgegebenen

Rationalisierungsimperativs aktiv zu werden.63 Die Passivitätsdiagnose, die beim

frühen Lukács schon im Zentrum der Beschreibung des kulturgeschichtlichen

Phänomens der zweiten Natur stand, denkt er nun als eine kapitalistisch bedingte

Form von ‚aktiv-passiver’ Kontemplation, d. h. eines subjektiven Aktionsradius,

der sich im Vollzug der durch die objektiven Umstände vorgegebenen instrumen-

talistischen Handlungen erschöpft.64

Darauf gehe ich im kommenden Teilabschnitt ausführlich ein. Zuvor möchte ich

aber abschließend noch auf ein nachhaltiges Paradoxon, das sich in dieser Ver-

sachlichungsdiagnose als Passivitätsdiagnose verbirgt, aufmerksam machen. Es

zeigt sich bei der reflexiven Einbeziehung einer im engeren Sinn ideologiekriti-

60 Im Kapitalismus bekommt zum ersten Mal in der Geschichte die Ökonomie selbst den Status einer gesellschaftlichen Herrschaftsinstanz; vgl. hierzu die Darstellung des Verdinglichungstheorems in der Einleitung von Youssef Ishaghpour; in GOLDMANN, LUCIEN (1975): a. a. O., S. 36 ff. 61 Vgl. WEBER, MAX (1976): a. a. O., Tübingen: Mohr, S. 122-176 62 Vgl. DANNEMANN, RÜDIGER (1987): a. a. O., S. 91 63 Vgl. GuK, S. 306 ff. 64 Am stärksten in Lukács’ Betrachtung der geistigen Arbeit im Journalismus, vgl. GuK, S. 275

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schen Ebene, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Frage, wie sich die versachlichte

Gestalt der Individuen, die diese unter dem Rationalisierungsimperativ des kapi-

talistischen Marktes anzunehmen gezwungen sind, vor diesen und für diese recht-

fertigt. Zum einen nötigt der verdinglichte Gesellschaftszustand für Lukács die bis

in ihr Selbstbild hinein instrumentalisierten Einzelsubjekte fortwährend zu einer

versachlichten Form von Aktivität, die darin passiv bleibt, sich einer kalkulativ-

kalkulierenden Rationalisierungsform wie einzufügen. Die „Verdinglichung“

verläuft für Lukács also in dem uniformen Paradoxon einer ‚bestimmt-bestim-

menden Gestalt’ in gewisser Weise durch diese Einzelsubjekte hindurch. Dieses

Versachlichungsgewand des Einzelsubjekts hat aber seine ideologische Kehrseite

in einem liberalistischen Konkurrenzdenken. Es ist verankert in einer lebenswelt-

lichen Basis von in erster Instanz gegeneinander agierenden Einzelsubjekten. Es

ist wiederum Weber, der diesen eigentümlichen Zusammenhang klar begreift. Ge-

nau darin, einen wertfreien Begriff der kapitalistischen Rationalisierungsprozesse

beschreiben zu wollen, trifft er zielsicher auf den Kampfcharakter im Mittelpunkt

dieser Wertfreiheit:

„Jede rationale Geldrechnung und insbesondere jede Kapitalrechnung ist bei Markterwerb orientiert an Preischancen, die sich im Interessenkampf (Preis- und Konkurrenzkampf) und Interessenkompromiss auf dem Markt bilden [...] Die Kapitalrechnung in ihrer formal

rationalsten Gestalt setzt daher den Kampf des Menschen mit dem Menschen voraus.“65 Der Rationalisierungsimperativ der kapitalistischen Geldrechnung betrachtet Ob-

jekte prinzipiell unter dem Gesichtspunkt ihrer tauschwertförmigen Verwertbar-

keit. Er stellt den konkreten ökonomischen Ausdruck des systematischen Vor-

rangs der Zweckrationalität vor wertrationalen Erwägungen dar. Darin aber beruht

diese Form von verselbständigter Zweckrationalität auf einem möglichst absolu-

ten Wettbewerbsparadigma des kapitalistischen Marktes, d. h. potentiell auf dem

sozialdarwinistischen Ideologem eines naturhaften Überlebenskampfes von allen

mit allen.66

65 WEBER, MAX, zit. nach DANNEMANN, RÜDIGER (1987): a. a. O., S. 88 66 Michel Foucault begreift die Verschiebung des ideologischen Zentrums der politischen Ökonomie vom freien und gerechten Tausch zum Wettbewerbsparadigma als den entscheidenden Unterschied zwischen dem Liberalismus, in dessen Mitte die Idee der prinzipiellen Gleichheit bewahrt wird, und dem Neoliberalismus, in dessen Mitte die Idee der prinzipiellen Ungleichheit steht. Es spricht angesichts der politischen Entwicklungen der letzten Jahre, z. B. in der Hochschulpolitik aber nicht nur dort, sehr viel für dieses Bild; vgl. FOUCAULT, MICHEL (2004): Die Geburt der Biopolitik: Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 170 ff.

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Ich breche die Darstellung der immanenten Verknüpfung von Marx, Simmel und

Weber in der Verdinglichungsdiagnose von Lukács hier ab und lasse auch diesen

lebensweltlichen Zusammenhang von Versachlichung und Konkurrenzdenken

hier unvermittelt stehen. Mit Hilfe der Perspektive Adornos wird er sich zum

Ende der Arbeit noch einmal in einem anderen Licht zeigen. Um die Auseinander-

setzung mit Lukács abschließen zu können, soll es nun aber um die in ihrem Be-

deutungseinfluss prägendste Brücke zwischen dem Verdinglichungstheorem und

der kritischen Theorie der Frankfurter Schule gehen. Es handelt sich um die

grundlegende Wissenschaftskritik, die beide Ansätze auszeichnet.

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1.4 Die Kritik des wissenschaftlichen Instrumentalismus

Die oben beschriebene paradoxe Passivitätsdiagnose von Lukács stellt ein hoch-

interessantes Element in seinem Verdinglichungsbegriff dar, weil die Art und

Weise, in der Lukács sie stellt, es ermöglicht, kritisch den Sinn von gesellschaftli-

chen Handlungspraxen zu hinterfragen, in die ein Subjekt jeweils selbst, und zwar

aktiv, aber wie passiv verwickelt ist. Durch diese potentielle Eröffnung einer

selbstkritisch-reflexiven Ebene vermeidet Lukács sowohl eine Stigmatisierung der

anderen, ‚bösen Kapitalisten’, aber auch die vorgängige Verkettung dieser

Selbstkritik mit Schuld, wie sie die institutionalisierten Selbstkritikformen der

Neuzeit, z. B. im Protestantismus als religiösen Ballast mit sich bringen.67 Es geht

bei Lukács dagegen um die kritische Beschreibung, wie sich die kapitalistisch in-

duzierten Handlungsformen überhaupt derart verselbständigen können. In der

Konsequenz dieser systematischen Durchdringung bildet die Analyse von Lukács

eine neue Kritikebene aus, die das Verdinglichungstheorem vor Simmel, Weber

und Marx besonders auszeichnet. Es handelt sich um die Ausweitung der Kritik

des historischen Materialismus auf das Gesamt der bürgerlichen

Wissenschaften.68 Diese werden kritisiert als in ihrem systematischen Kern

instrumentelle Rationalitätsformen, die ihre gesellschaftlichen Funktionen als

Produktionsmaschinerien von Macht-Wissen69 nicht reflektieren, sondern sich als

wissenschaftliche Abbildungen von zeitlos gültigen Wahrheiten verstehen.

Das szientistische Wissenschaftsideal der Neuzeit bildet die Berechenbarkeit von

Wahrheiten. Das Wunschbild der neuzeitlichen Erkenntnistheorie ist der termi-

nierte geometrische Raum, der allein das ausdrückt, was wirklich genannt werden

darf. Zum übergreifenden Orientierungsbild der neuzeitlichen Humanwissen-

schaften wird die der Physik entlehnte Mechanik, die den Menschen potentiell als

einen maschinistisch beschreibbaren Organismus anschaut.

Darin kommt ein Rationalitätsverständnis zum Ausdruck, das sich wie folgt um-

schreiben lässt: Etwas rational zu erfassen bedeutet, es nach dem Schema von Ur-

sache und Wirkung so zu beschreiben, dass es in diesem Schema kontrollierbar

67 Vgl. FOUCAULT, MICHEL (1992): a. a. O., S. 9 ff. 68 Vgl. BRUNKHORT, HAUKE (1983): a. a. O., S. 27 f. 69 Ich verwende hier den Begriff „Macht-Wissen” von Foucault, weil er den gegenwartsadäquaten Begriff dessen darstellt, was Lukács in dieser Hinsicht beschreibt. Vgl. FOUCAULT, MICHEL (1992): a. a. O., S. 32 ff.

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gemacht werden kann. Darin liegt der grundlegend instrumentelle Charakter die-

ser Rationalitätsauffassung: das Betrachtungsobjekt ist immer nur das Mittel zu

dem eigentlichen Zweck der Formulierung von systematischen

Gesetzmäßigkeiten seiner äußeren Beherrschung. Auch die menschliche Natur

wird in diesem rationalistischen Sinn als ein mechanistisches Gebilde angeschaut,

das instrumentell erfassbar gemacht werden kann.70

Im bürgerlichen Rationalismus spiegelt sich für Lukács also ein grundlegendes

„Formsystem, dessen Zusammenhang [sich] auf die verstandesgemäß erfassbare

[...] und darum vom Verstand beherrschbare, voraussehbare und berechenbare

Seite der Erscheinungen [.]richtet“71. Darin liegt aber noch nicht das eigentlich

neuzeitliche Spezifikum, denn „Rationalismus“ in diesem Sinn ist so alt wie die

okzidentale Wissenschaft selbst. Sein Telos ist das der rationalen Naturbeherr-

schung. Das Neue des bürgerlichen Rationalismus bildet sein ‚aufgepumpter’ Ab-

solutheitsanspruch. Der profane gesellschaftliche Zweck der Beherrschbarkeit

von Sozialprozessen bleibt undurchdringbar darin, dass der bürgerliche Rationa-

lismus mit dem absoluten „Anspruch auftritt, das Prinzip des Zusammenhangs

sämtlicher Phänomene, die sich dem Leben des Menschen in Natur und Gesell-

schaft gegenüberstellen, entdeckt zu haben.“72 Instrumentelle Naturbeherrschung

erscheint wie ein Selbstzweck. Ich werde darauf später weiter eingehen. Es geht

mir jetzt nur um das von Lukács beschriebene lebensweltliche Grundmoment die-

ser übergreifenden Form der instrumentellen Rationalität, in dem Lukács die

durch den bürgerlichen Rationalismus unreflektierte gesellschaftliche Funktion

seiner Forschungsorientierungen verortet, die schlicht darin liegt, einen „Lebens-

umkreis“ zu erzeugen, der „in steigendem Maße durchschaut, berechnet, voraus-

gesehen wird.“73 Erst diese wissenschaftskritische Stoßrichtung des Verdingli-

chungstheorems macht den vollen Umfang ihrer bereits angerissenen Passivitäts-

diagnose sichtbar.

Es gibt im entwickelten Kapitalismus keinen gesellschaftlichen Raum mehr, in

dem etwas nicht zweckrational, d. h. als Mittel für einen damit zu erreichenden

70 Vgl. hierzu die Arbeiten von Phillip Sarasin in SARASIN, PHILLIP (2001): Reizbare Maschinen, Frankfurt am Main: Suhrkamp; DERS. & TANNER, JAKOB, HG.(1998): Physiologie und industrielle Gesellschaft: Studien zur Verwissenschaftlichung des menschlichen Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 71 GuK, S. 290 72 GuK, ebd. 73 GuK, S. 308

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äußerlichen Zweck seiner Verwendung betrachtet wird. Diese normative Aufla-

dung des zweckrationalen Handelns als Wert an sich bedeutet aber die Verselb-

ständigung dieser zweckrationalen Anschauung, d. h. das systemische Ideal der

von individuellen Wertrationalitäten bereinigten Zweckrationalität ist schlicht

wieder Verwertbarkeit. Der zweckrationale Blick nach verwertbaren Nützlich-

keitskritieren erreicht das durchdringende Anschauungsniveau eines gesellschaft-

lichen a priori.

„Es ist also klar, dass einerseits die Möglichkeit einer solchen [zweckrationalen, D.S.] Voraussicht desto größer ist, je durchrationalisierter die Wirklichkeit ist, je mehr jede ih-rer Erscheinungen als in das System dieser [wissenschaftlichen, D.S.] Gesetze einge-spannt aufgefasst werden kann. Andererseits ist es aber ebenfalls klar, dass, je mehr sich die Wirklichkeit und das Verhalten des ‚handelnden’ Subjekts zu ihr diesem Typus nä-hern, das Subjekt sich um so mehr in ein bloßes Auffassungsorgan von erkannten Ge-setzmäßigkeitschancen verwandelt und seine ‚Tätigkeit’ sich um so mehr darauf be-schränkt, den Standpunkt einzunehmen, von wo aus sich diese in seinem Sinne, seinen Interessen gemäß (von selbst, ohne sein Zutun) auswirken. Das Subjektsverhalten wird –

im philosophischen Sinne – rein kontemplativ.“74 Kontemplativ daran ist diese systematische Reduktion des bürgerlichen Subjekts

auf ein „bloßes Auffassungsorgan von erkannten Gesetzmäßigkeitschancen“.

Wenn es „seinen [zweckrationalen] Interessen gemäß“ handelt, kann es im Blick

von Lukács oftmals nur einen „Standpunkt ein[.]nehmen“, von wo sich die „er-

kannten Gesetzmäßigkeitschancen [...] von selbst, ohne sein Zutun [.] auswirken“.

Jede, die schon einmal hart gearbeitet hat, um in eine bestimmte gesellschaftliche

Position zu gelangen, mag hier aufschreien. Allerdings denkt Lukács, wie er auf

derselben Seite in einer Fußnote schreibt, diese verwertungslogisch induzierte

Kontemplation im „paradoxen Zusammenhang mit einer fieberhaften und unun-

terbrochenen ‚Tätigkeit’.“75 Dennoch ist der ebenso absolute Rigorismus dieses

denunziatorischen Gegenbildes einer total werdenden kapitalistischen Vergesell-

schaftung unbehaglich. Den Schlüssel zu dem kritischen Bedeutungsgehalt des

Gedankens von Lukács, der sich auch ohne den absoluten Rigorismus dieser

Betrachtung systematisch zu reproduzieren, gewinnen lässt, stellt die polemische

Verwendung des Begriffs „Kontemplation“ dar. In der Philosophiegeschichte be-

deutet, wie Lukács ausführt, „Kontemplation [...] mindestens ein Sprengen der

74 GuK, S. 309 75 GuK, ebd.

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Bande, die die ‚Seele’ in der empirischen Befangenheit gefangenhalten.“76

Kontemplation bedeutete als philosophische Methodik ursprünglich, sich bewusst

einer empirischen Realität gegenüberzustellen und dadurch zu entziehen, sich im

rationalen Denken möglichst nicht von ihr emotional befangen zu lassen. An der

potentiellen Reduktion des modernen „Subjektsverhalten“ ist daher kontemplativ,

nur zweckrational auf die Dinge blicken zu können, denn die Struktur dieses

Blicks ist in seiner Absolutheit gesellschaftlich präformiert. Die empirische Rea-

lität kann daher auch hier, wie bei der früheren Form von Kontemplation, keine

qualitative Differenz ihrer Anschauung mehr hervorrufen.

Der tragende Hauptstrang des Verdinglichungstheorems sind verschiedene Varia-

tionen dieses Überstülpungs- oder Überlagerungsgedankens. Er kann in diesem

Zusammenhang verständlich machen, wie sich die „Verdinglichung“ krustenhaft77

als diese zweckrationale Prästrukturierung des subjektiven Blicks durch die

Subjekte hindurch fortsetzt. Führt die Kontemplationsdiagnose bei der

Betrachtung lebensweltlich-alltäglicher Handlungspraxen aber zu nicht einfach

auflösbaren Darstellungsambivalenzen78, ist sie auf der wissenschaftskritischen

Ebene im engeren Sinn deutlich nachvollziehbarer. Denn der bürgerliche

Rationalismus, welcher „die naturgesetzliche Notwendigkeit als Erkenntnisideal“

verfolgt, tendiert unverkennbar zu einer formalistischen „Struktur des Erkennens,

die ‚reine Gesetzmäßigkeiten’ methodisch isoliert [und] in einem methodisch

isolierten und homogen gemachten Milieu behandelt.“79 Lukács kann daher

wissenschaftskritisch pointieren:

„Damit richtet sich aber der Versuch, alles Irrationell-Inhaltliche auszuschalten, nicht nur auf das Objekt, sondern in immer geschärfteren Maße auch auf das Subjekt. Die kritische Klärung der Kontemplation bemüht sich immer energischer in der Richtung, aus ihrem eigenen Verhalten alle subjektiv-irrationellen Momente, alles Anthropomorphe restlos auszumerzen; das Subjekt der Erkenntnis immer energischer von dem „Menschen“ ab-

zulösen und es in ein reines – rein formelles – Subjekt zu verwandeln.“80

76 GuK, ebd. 77 Die Vorstellung von der Verdinglichung als „Kruste“, also als eine Art aufzuknackende Verkrustung ist ein Bild, das sich in vielen Darstellungen finden lässt. 78 Vgl. die instruktive Reflexion dieses Problems im Essay Traditionelle und kritische Theorie von Max Horkheimer; in HORKHEIMER, MAX (1988): Ges. Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main: Fischer, hierzu v. a. S. 173 ff. 79 GuK, S. 306 80 GuK, ebd.

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Darin, die Konstituierung einer umfassend rationalistisch erfassbaren Lebenswelt

voranzutreiben, „richtet sich [.] der Versuch, alles Irrationell-Inhaltliche auszu-

schalten“, d. h. alle nicht kalkulierbaren Faktoren potentiell auszuschließen, „nicht

nur auf das Objekt“ der wissenschaftlichen Untersuchung, d. h. den bestimmten

Gegenstand in der Welt, „sondern in immer geschärfteren Maße auch auf das

Subjekt“, d. h. auch auf die wissenschaftliche Perspektivnahme selbst. Sie „be-

müht sich immer energischer in der Richtung, aus ihrem eigenen Verhalten alle

subjektiv-irrationellen Momente“ formal auszugrenzen und nicht mehr in die Be-

trachtung miteinzubeziehen. Damit aber beginnt sie für Lukács „alles Anthropo-

morphe“ aus sich „restlos auszumerzen“, d. h. ein wissenschaftlich-formales

„Subjekt der Erkenntnis“ zu erzeugen, das den empirischen menschlichen Einzel-

wesen wie ein abstraktes Idol gegenübersteht.

Dieses dialektische Bild der rationalistischen ‚Selbstentzauberung’ der bürger-

lichen Subjektivität stellt den zentralen Anknüpfungspunkt Adornos im Verding-

lichungstheorem dar. Ich möchte im ersten Teilabschnitt des folgenden Kapitels

zeigen, wie die kritische Theorie dieses Lukácssche Bild der im Mittelpunkt des

bürgerlichen Rationalismus stehenden ‚Selbstversachlichung’ des Menschen als

den sozialgeschichtlichen Prozess einer auf das abendländische Menschenbild

dialektisch zurückschlagenden instrumentellen Naturbeherrschung deutet.

Was der Bildungskontext der kritischen Theorie Lukács verdankt, ist die sozial-

philosophische Grundintuiton, mit der dieser die in falscher Erhabenheit um sich

selbst kreisenden Probleme der bürgerlichen Wissenschaften in die Lebenswelt

reintegriert. Mit kühnem materialistischen Spürsinn erkennt Lukács in deren

Verabsolution nichts anderes als den theoretischen Abdruck einer sich selbst un-

durchsichtig werdenden Gesellschaftspraxis, die sich in der Gestalt eines vorgeb-

lichen Naturkreislaufs um ihre menschlichen Objekte zusammenzieht, die sich

dabei, als die eigentlichen Subjekte dieses Prozesses, selbst beginnen zu verlieren:

„D. h. der hier zum Vorschein gelangte Widerspruch zwischen Subjektivität und Objekti-vität der modernen rationalistischen Formsysteme, die Problemverschlingungen und Äquivokationen, die in ihren Subjekts- und Objektsbegriffen verborgen liegen, der Wi-derstreit zwischen ihrem Wesen als von „uns“ „erzeugten“ Systemen und zwischen ihrer menschenfremden und menschenfernen fatalistischen Notwendigkeit ist nichts anderes als die logisch-methodologische Formulierung des modernen Gesellschaftszustandes: ei-nes Zustandes, in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß „naturwüchsigen“, die irrationell-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, „selbsterzeugten“ Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte

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(pünktlicher: die in dieser Form erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse) getan ha-

ben.“81 Wie ich im folgenden zeigen möchte, lässt sich die Sozialphilosophie Adornos

insgesamt als eine spezifische Ausdeutung dieses Kerngedankens des Verding-

lichungstheorems verstehen.

81 GuK, S. 307

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Kapitel 2

Zum Verhältnis von Subjektivität und Verdinglichung bei Adorno

2.1 Dialektisch zurückschlagende Naturbeherrschung

Im dialektischen Zentrum des Verdinglichungstheorems von Lukács steht das

Bild der rationalistischen Entzauberung der bürgerlichen Subjektivität selbst. Das

bürgerliche Subjekt ähnelt sich immer mehr dem bloß abstrakten Bild der rationa-

listischen Erfassung seiner vorgeblich natürlichen Bewegungsgesetze an. Die le-

bensweltliche Umfassung des Einzelsubjekts, die diese wissenschaftliche Form

der rationalistischen Durchdringung Schritt für Schritt zur Folge hat, begreift Lu-

kács polemisch als moderne Form von Kontemplation. „Kontemplation“ soll hier

das passive Moment der einzelsubjektiven Einfügung in die zweite Natur be-

zeichnen, d. h. das immer-schon-erfasst-sein durch die bürgerliche „Welt der

Konvention“. Die Betonung dieses passiven Moments in der „Verdinglichung“ ist

daher ebenso instruktiv, wie am Ende auch unbefriedigend. Auf die Frage, wie es

sich überhaupt aktiv fortschreibt, kann die Verdinglichungsdiagnose von Lukács

keine befriedigende Antwort mehr geben.

In diesem Kapitel geht es um die Antwort, die Adorno auf diese Frage gibt. Sie

gibt als Pointe recht gut zu erkennen, wie bei Adorno die psychologische Refle-

xion zu einem immanenten Bestandteil der Verdinglichungsdiagnostik wird. Der

zentrale Begriff, um den sich diese Antwort Adornos rankt, ist der Begriff „Mi-

mesis“. „Mimesis“ bezeichnet bei Adorno den praktischen Vorgang der Nachah-

mung aus dem grundlegenden Motiv der Selbsterhaltung heraus. Er bildet den

immanenten Schlüsselbegriff zu Adornos Perspektive auf das Verdingli-

chungsproblem.82 In den noch folgenden beiden Kapiteln geht es mir daher

grundlegend um die Erläuterung dessen, was mit „Mimesis“ bei Adorno ansatz-

weise gemeint ist. Der erste Teilabschnitt des zweiten Kapitels beschäftigt sich

mit dem, was ich als die materialistische Hermeneutik im Hintergrund des Be-

griffs verstehen möchte, d. h. mit der theoretischen Grundkonstellation, die über-

82 Ähnlich argumentiert auch Demmerling; in DEMMERLING, CHRISTOPH (1994): a. a. O., S. 155 ff. ;auch Lukács selbst führt Geschichte und Klassenbewusstsein zu einer Auseinandersetzung mit Mimesis; vgl. das Vorwort von 1967, GuK, S. 40

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haupt zur Zentralstellung des Mimesisbegriffs bei Adorno führt. Es ist die These

der dialektisch zurückschlagenden Naturbeherrschung.

Um diese These besser erläutern zu können, möchte ich einen kleinen Umweg

über die kritische Wissenschaftstheorie des Frühwerks von Jürgen Habermas ge-

hen, in deren Mittelpunkt das Begriffspaar Erkenntnis und Interesse steht. Diesen

Titel trägt auch die Frankfurter Antrittsvorlesung von Habermas aus dem Jahr

1965, auf die ich mich hier beziehen möchte. Seine frühen Arbeiten, die Haber-

mas im wissenschaftstheoretischen Kontext des Positivismusstreits83 dem

Verhältnis von wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen und gesellschaftlichen

Interessenzusammenhängen widmet, drehen sich um die kritische Aufzeigung,

dass jeder Erkenntnisanstrengung, egal welcher Art sie genau sein mag, ein

Interesse zugrundeliegen muss, denn sonst würde sie nicht unternommen werden.

Als Grundlegung einer kritischen Wissenschaftstheorie drehen sich die Haber-

masschen Erörterungen daher um die Kritik der modernen Annahme der Wertfrei-

heit von wissenschaftlichen Untersuchungen. Wertfreie wissenschaftliche Unter-

suchungen bilden für Habermas einen Widerspruch in sich, denn wenn wissen-

schaftliche Untersuchungen nicht bestimmte Zwecke verfolgen würden, würden

sie eben gar nicht angestellt werden.

In seiner Antrittsvorlesung geht es Habermas daher um die Frage der

Rekonstruktion, wie das Postulat der Wertfreiheit von wissenschaftlichen An-

strengungen entstehen konnte. Er beschreibt in dieser Vorlesung den abendlän-

dischen Prozess, in dessen Folge diese immanente Verbindung jeglichen Erkennt-

nisgewinns mit einem der Erkenntnisanstrengung immer schon zugrundeliegen-

den Erkenntnisinteresses überhaupt aus dem wissenschaftlichen Bewusstsein ver-

drängt werden konnte. Grob gefasst war es dieses Interesse selbst, welches im An-

fang der wissenschaftlichen Weltanschauung in der Antike den Grund dieser

Verdrängung bildete, denn anders hätte sich das wissenschaftliche Weltbild nicht

gegen die konkurrierenden mythologischen Weltbilder durchsetzen können. Die

okzidentale Wissenschaft war in ihrem historischen Anfang dazu gezwungen, die

rationale Naturbeherrschung als die tatsächliche Widerspiegelung des immanenten

Wesens einer rationalen, und nicht mythologischen Ordnung in der Natur selbst

zu begreifen. Anders wäre die gesellschaftliche Behauptung und Durchsetzung

83 Vgl. auch DAHMS, HANS-JOACHIM (1994): Positivismusstreit: die Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 373 f.

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der wissenschaftlichen Aufklärung gegen den Mythos undenkbar gewesen. Die

okzidentale Wissenschaft bildet sich als die wirkliche und rationale Abbildung des

natürlichen Seins der Dinge.

„Einst bestätigte mithin Theorie eine freigewordene, von Dämonen gesäuberte Welt nur kraft der ontologischen Unterscheidungen. Zugleich schützte der Schein reiner Theorie vor dem Rückfall auf eine überwundene Stufe. Wäre die Identität des reinen Seins als ein objektivistischer Schein durchschaut worden, hätte sich die Identität des Ich an ihr nicht formieren können. Dass das Interesse verdrängt wird, gehört noch zu diesem Interesse selber.“84 Der gesellschaftsgeschichtliche Übergang von dem mythologischen Verständnis

der Natur zum rationalen Weltbild der Wissenschaften trägt den lebensweltlichen

Bedeutungsgehalt eines fundamental verschobenen Lebensethos in sich. Um die

neue Qualität der rationalen Lebensführung, die nicht mehr an der Natur inne-

wohnende Dämonen und Götter glaubt, dreht sich dieser Übergang insgesamt. Der

Wille zur rationalen Selbstbeherrschung bildet sich als die wissenschaftliche

Projektion des rationalen Naturbildes, d. h. des lebensweltlichen Verständnis zur

rationalen Beherrschung der äußeren und inneren Natur. Das philosophisch berei-

nigte Verständnis der Natur als eines rational ergründbaren Lebenszusammen-

hangs erfüllt den konkreten lebensweltlichen Zweck der individuellen

Emanzipation von den mythischen Opferkulten.

„Wenn wir aber Triebe und Affekte, die den Menschen in die Interessenzusammenhänge einer unsteten und zufälligen [mythologischen, D.S.] Praxis verstricken, unter diesem Ge-sichtspunkt [der lebensweltlichen Dimension der rational-philosophischen Darlegung die-ser Triebe und Affekte als den „Kräften der Seele“, D.S.] auffassen, dann gewinnt auch die Einstellung reiner Theorie, die Reinigung eben von diesen Affekten verspricht, einen neuen Sinn: interesselose Anschauung meint dann offensichtlich Emanzipation. Die Ent-bindung der Erkenntnis von Interesse sollte nicht etwa die Theorie von den Trübungen der Subjektivität reinigen, sondern umgekehrt das Subjekt einer ekstatischen Reinigung von den Leidenschaften unterziehen.“85 Der rationalen Selbstbeherrschung der „inneren Natur“ liegt das konkrete Er-

kenntnisinteresse der lebensweltlichen Emanzipation von mythischen Kulthand-

lungen zugrunde. Eben deshalb bricht sich dieses rationale Interesse aber erst

darin geschichtlich Bahn, diese Natur tatsächlich als rational beherrschbaren

Strukturzusammenhang anzusehen. Erst indem die Philosophie gegenüber dem

Mythos darauf beharrt, die wirkliche Natur der Dinge rational darzulegen, kann

84 HABERMAS, JÜRGEN (1968): Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 154 85 ebd., S. 153

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sie die emanzipatorisch zureichende Rationalisierung der Lebenswelt evozieren,

welche die schicksalhafte Verwobenheit der Menschen mit den mythologischen

Bildern der Natur schrittweise tatsächlich außer Kraft setzen kann. Das konkrete

Emanzipationsinteresse liegt in der lebensweltlichen Beherrschung der inneren

Natur, d. h. der rationalen Kontrolle über das eigene Begehren, die den mythi-

schen Kulthandlungen nicht mehr bedarf. Die antike philosophische Lehre von

der Rationalität des Natürlichen und der Natürlichkeit des Rationalen erfüllt genau

den Zweck der konkreten Evokation des Lebensethos der rationalen Selbstbeherr-

schung:

„Dass Katharsis jetzt nicht mehr auf den Wegen des Mysterienkultes erreicht, sondern durch Theorie im Willen der Individuen selber festgemacht wird, zeigt die neue Stufe der Emanzipation an: im Kommunikationszusammenhang der Polis ist die Individuierung der Einzelnen soweit fortgeschritten, dass sich die Identität des vereinzelten Ich als eine fixe Größe nur noch durch die Identifizierung mit abstrakten Gesetzen der kosmischen Ord-nung ausbilden kann. An der Einheit eines in sich ruhenden Kosmos und an der Identität des unwandelbaren Seins findet das von den Ursprungsmächten emanzipierte Bewusst-sein jetzt seinen Halt.“86 Die konkrete Genesis der rationalen Selbstbeherrschung des Individuums bedurfte

also des festen Halts in der rationalen Ordnung der Dinge. Sie bildet sich erst an

dem und in dem philosophischen Spiegelbild der rationalen „Einheit eines in sich

ruhenden Kosmos“. Erst diese abstrakte „Identität des unwandelbaren Seins“

schafft den neuen wissenschaftlichen Raum, nach dem und an dem sich die ratio-

nale „Identität des vereinzelten Ich als eine fixe Größe“ bilden kann. Die rationale

Selbsterhaltung bildet sich daher der objektiven Möglichkeit nach erst daran, die

rationale Naturbeherrschung in sich selbst monadisch abbilden zu können. Sie

steht zu der rationalen Kosmologie der antiken Philosophie in dem mimetischen

Verhältnis der Abbildung der rationalen Beherrschbarkeit des natürlichen Kosmos

im Schema der eigenen Selbsterhaltung. In diesem genetischen Verquickungszu-

sammenhang zwischen der objektiven wissenschaftlichen Welt der rationalen

Naturbeherrschung und den individuellen Lebenswelten der rationalen

Selbstbeherrschung, durch dessen kritische Aufzeigung Habermas die genealo-

gische Verwickeltheit der Genese der okzidentalen Wissenschaft mit konkreten

lebensweltlichen Emanzipationsinteressen offenlegt, liegt für Adorno bereits die

sozialpathologische Basis für die Verdinglichungspotentiale der Subjektivität in

der Moderne.

86 ebd., S. 154

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Adorno entwickelt im ersten Exkurs der Dialektik der Aufklärung anhand einer

Interpretation der homerischen Figur des Odysseus die bereits angedeutete These

von der dialektisch auf den Menschen, d. h. präziser: auf die irrationalen Konsti-

tutionsbedingungen der Selbstbeherrschung zurückschlagenden Naturbeherr-

schung. Adorno interpretiert den gesellschaftsgeschichtlichen Übergang, den Ha-

bermas wissenschaftstheoretisch als die Verdrängung der lebensweltlichen Eman-

zipationsinteressen aus dem Programm der wissenschaftlichen Erkenntnis be-

schreibt, noch einmal sehr viel stärker als den wissenschaftlichen Beginn einer

systematischen „Verleugnung der Natur im Menschen“. Was ist damit gemeint?

Adorno meint den konstitutiven Widerspruch, auf dem die Genese der rationalen

Selbsterhaltung, welche die rationale Naturbeherrschung ins einzelsubjektive In-

nen wendet, beruht. Sie beruht im Ganzen auf instrumenteller Triebunterdrük-

kung. Sie musste sich derart konstituieren, um das Ausmaß an rationaler Selbst-

kontrolle zu ermöglichen, das notwendig war, um den Mythos lebensweltlich zu

durchdringen. Die Genesis der rationalen Selbstbeherrschung hat den instrumen-

tellen Charakter an sich, als Rationalitätsapparatur auf der instrumentellen Be-

herrschbarkeit der eigenen Bedürfnisstruktur zu beruhen. Liegt daher in dieser

Genesis der rationalen Selbstkontrolle der evolutionäre Meilenstein, welcher der

Idee des autonomen Individuums erst zum geschichtlichen Durchbruch verhilft,

verweist die instrumentalistische Art und Weise, in der diese Selbstkontrolle mi-

metisch gezwungen ist, sich zu bilden, für Adorno bereits auf die moderne Ver-

dinglichung dieses Selbst, für die er im Exkurs über die Odyssee drastische Worte

findet:

„Eben diese Verleugnung, der Kern aller zivilisatorischen Rationalität, ist die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität: mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung sondern das Telos des ei-genen Lebens verwirrt und undurchsichtig. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewusstsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewusstsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar.“87 Die homerische Odyssee gilt Adorno als literarische Metapher dieser „Urge-

schichte der Subjektivität“. Denn in der Figur des Odysseus, dem es „herrschaft-

87 DdA, S. 78

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lich-beherrscht“88 gelingt, die mythischen Figuren, die sich ihm auf seiner

Schiffsreise ins heimische Königreich Ithaka in den Weg stellen, wiederholt zu

überlisten, zeigt sich für Adorno episch die Genesis des „Selbst, das immerzu sich

bezwingt und darüber das Leben versäumt, das es rettet und bloß noch als Irrfahrt

erinnert.“89

Beherrscht schwingt sich Odysseus zur rationalen Herrschaft seiner selbst auf, die

ihm wiederholt die winzige Lücke anzeigt, durch die der Inselkönig seinem my-

thisch verhängten Todesschicksal entkommen kann. Immer wieder entsagt Odys-

seus dabei den durch die mythischen Figuren ausgesprochenen Glücksversprechen

der kultischen Wiedervereinigung mit der Natur, und erhält im Tausch dafür sein

rationales Selbst, das Abenteuer für Abenteuer lernt, die eigene Bedürfnisstruktur

instrumentell zu beherrschen und im Sinn der individuellen Selbsterhaltung zu

funktionalisieren.

Die homerische Odyssee bildet im Blick von Adorno also die Erzählung von der

Genesis der rationalen Naturbeherrschung. Als sich durch die Mythen hindurch

rettende Figur steht Odysseus dabei symbolisch für die geschichtliche Konfigura-

tion, innerhalb welcher die Aufklärung als Geist der rationalen Naturbeherrschung

entsteht.90 Dadurch erzählt die Odyssee für Adorno auch von der Kehrseite dieser

Genese, d. h. die Geschichte von der mythologischen Verschlungenheit des auf-

geklärten Denkens, die episch schon darin zum Ausdruck kommt, dass Odysseus

die Mythen, die er durchkreuzt, nicht besiegen, sondern nur selbstbeherrscht

überlisten und darin außer Kraft setzen kann. In dieser mimetischen Form der lis-

tigen Einschmiegung in den mythologischen Herrschaftsraum zeigt sich für

Adorno die irrationale Konstitutionsbedingung der rationalen Selbsterhaltung von

Odysseus. Denn die Rationalität, die Odysseus rettet, muss sich selbst gewaltför-

mig zu einem instrumentellen Herrschaftssapparat verschließen: sie bildet sich als

ein rationales Herrschaftsinstrumentarium über sich selbst aus.91

88 DdA, S. 80 89 DdA, S. 79 90 Vgl. FRÜCHTL, JOSEF (1986): Mimesis: Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg: Könighausen und Neumann, S. 43 f. 91 Ute Guzzoni (in bezug auf die Sirenen-Episode) und Anke Thyen (in bezug auf die Episode mit Polyphem) zeigen auf, dass Adorno bei seiner Interpretation der Odyssee genau die Elemente in der Rationalität von Odysseus vernachlässigt, die über instrumentelles Handeln hinausweisen können; vgl. GUZZONI, UTE (2004): Grauen und Verlockung: zur Natur im Odysseus-Exkurs der Dialektik der Aufklärung, in: ETTE / FIGAL / KLEIN / PETERS (Hg.):

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Als Instrumentarium der Selbstbeherrschung bildet sich die selbsterhaltende Ra-

tionalität des Odysseus nach dem Schema der ins subjektive Innen gewendeten

instrumentellen Naturbeherrschung.92 Adorno zeigt also anhand der Erzählung der

Odyssee auf, wie das auf der instrumentellen Naturbeherrschung rational

beruhende Selbst in seinem strukturellen Beginn die selbstbeherrschte Verleug-

nung der inneren Bedürfnisse dieses Selbst impliziert: die patriarchale Rationalität

von Odysseus beruht darauf, sich gegenüber der Unmittelbarkeit seiner Bedürf-

nisse grundlegend herrschaftlich diszipliniert zu haben. Seine „innere Natur“

macht sich Odysseus in dieser Hinsicht selbst zu einem instrumentell beherrschba-

ren Gegenstand.

In der Odyssee spiegelt sich episch die von Habermas wissenschaftstheoretisch

beschriebene Genese des ozidentalen Schemas der rationalen Naturbeherrschung,

welche die lebensweltlichen Emanzipationsinteressen erst aus sich verdrängen,

und in eine vorgeblich wertfreie und interesselose Anschauung einer rationalen

Natur der Dinge verwandeln musste, um sich gegen den Mythos lebensweltlich

behaupten zu können. In der stärkeren Betonung der Odyssee-Interpretation von

Adorno lässt sich sagen: in eine selbst als dingförmig aufgefasste Natur verwan-

deln musste. Damit aber verliert sich in dem rationalen Schema der instrumentel-

len Naturbeherrschung bereits von Anfang an ein Stück weit die evolutionäre

Spur des auf Autonomie drängenden Individuums, das dieses Schema doch

eigentlich erst motiviert hatte. Es erhält sich selbst erst durch die Form einer

rationalen Selbstobjektivierung, die darauf beruht, sich der äußeren und inneren

Natur als instrumentelle Herrschaftsapparatur gegenüber zu stellen. In diesem

Schema liegt der genetische Grund für die Dialektik der Aufklärung, um die es im

folgenden gehen soll. Sie bildet sich in einer Art Rückkoppelungseffekt, in dem

jeder gesellschaftsgeschichtliche Fortschritt in den technologischen Kapazitäten

der menschlichen Naturbeherrschung sich in eine zunehmende instrumentelle

Adorno im Widerstreit, Freiburg/München: Karl Alber, S. 57 ff.; sowie THYEN, ANKE (1989): a. a. O., S. 98 ff. 92 Dieser Zusammenhang ist in der Dialektik der Aufklärung nur als das vermittelnde Teilelement einer durch die Autoren ansatzweise unaufgeklärt bleibenden Gesellschaftstheorie verständlich. Sie geht von dem immanenten sozialgeschichtlichen Vermittlungszusammenhang von Mythos, Arbeit und Herrschaft aus; vgl. THYEN, ANKE (1989): a. a. O., S. Herrschaft motiviert sich nach dieser These basal aus dem Herrschaftsbegehren über den Schreckenszusammenhang der äußeren Natur, das in den Mythen dann symbolische Gestalt annimmt. In dieser Hinsicht ähnelt die Argumentation der Dialektik der Aufklärung der Prologsequenz des Films A space odyssey von Stanley Kubrick, in der auf die Erfindung des Schlagstocks als Jagdinstrument in der folgenden Szene dann die herrschaftliche Unterwerfung oder Instrumentalisierung von anderen Menschen folgt.

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Beherrschung der Menschen, d. h. ihrer inneren Bedürfnisstruktur wendet. Die

Notwendigkeit dessen ist mythologischer Schein. Am modernen Endpunkt dieser

Entwicklung erschöpft sich die Subjekthaftigkeit für Adorno nun erneut darin,

potentiell nur noch eine verdinglichte Apparatur der instrumentellen

Beherrschung seiner selbst zu bilden. Indem die moderne Subjektivität sich selbst

im Schema der instrumentellen Naturbeherrschung zum verdinglichten Exemplar

der Gattung rationalisiert, kann sich potentiell die Spur des autonomen

Individuums in der Geschichte ganz verlieren. Das wissenschaftliche Weltbild der

Aufklärung schlägt in den verdinglichenden Mythos des Menschen als einer Art

instrumentellen Maschine zurück. Diesen Mythos hat der „Mensch“ aber selbst

geschaffen. In der homerischen Erzählung von Odysseus, der den übermächtigen

Mythen nur entkommt, in dem er sein Selbst instrumentell gegen die

Unmittelbarkeit seiner inneren Bedürfnisse wie abdichtet, ist für Adorno der

Mythos des Menschen als Maschine retrospektiv bereits antizipierbar.

„Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell al-lemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktionen die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestim-men, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll.“93 Eine immanente herrschaftsförmige Verkapselung der individuellen Be-

dürfnisstruktur, welche die instrumentelle Grundlage des abendländischen Sche-

mas der rationalen Selbsterhaltung bildet, wird in der weit ausholenden Argu-

mentation der Dialektik der Aufklärung dem Subjekt in der Moderne zum Ver-

hängnis. Wie und inwiefern, möchte ich in den nächsten beiden Teilabschnitten

versuchen, einzukreisen. Es ist erst die kritische Hinsicht auf die moderne Ver-

dinglichung und ihre gewaltigen Ausmaße, die zu der angerissenen Interpretation

der Odyssee führt, und nicht umgekehrt. Der nun folgende Abschnitt stellt we-

sentlich eine Begriffserläuterung dessen dar, was Adorno und Horkheimer in der

Dialektik der Aufklärung „Kulturindustrie“ nennen. Dann folgt eine Präzisierung

dessen, was man den psychoanalytischen oder auch sozialpsychologischen Anteil

an Adornos Perspektivnahme auf das Verdinglichungsphänomen nennen kann. Im

ganzen soll es im Rest dieser Einführung darum gehen, der Adornoschen Formel

von der „Verleugnung der Natur im Menschen“ ein wenig konkreten

lebensweltlichen Sinn einzuhauchen. Diese Formel wird falsch verstanden, wenn

93 DdA, S. 78

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sie als die Verleugnung einer ursprünglichen Natur des Menschen interpretiert

wird. Die Vorstellung einer wissenschaftlichen Fixierung der menschlichen Natur

als eine wesenhafte Ursache dessen, was ein Mensch fühlt, denkt oder tut, die wir

im Zeitalter der Biogenetik automatisch mit dem Begriff der menschlichen Natur

verbinden, hat aber insofern etwas damit zu tun, dass sie heute ein wesentliches

Teilelement dessen bildet, was Adorno unter dieser Verleugnung aufgefasst hat.

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2.2 Kulturindustrie und Autonomie

Die polemische Zusammenführung der beiden Begriffe „Kultur“ und „Industrie“

im Begriff der „Kulturindustrie“ soll schlaglichtartig die vor allem durch Medien

wie Radio, Film und Fernsehen repräsentierte lebensweltliche Qualität der moder-

nen Verdinglichungspotentiale zum Ausdruck bringen. Erst die durch eine alltäg-

liche Mediatisierung gegebene umfassende Ästhetisierung von individuellen

Lebenswelten macht es für Adorno und Horkheimer begreiflich, wie sich die mo-

derne Verdinglichung in einer Weise totalisieren kann, in der sie quasi mit dem

dominanten Menschenbild selbst fusioniert. Kennzeichnend für die Kulturindus-

triethese insgesamt ist dabei eine metaphorische Übertragung von ökonomiekri-

tischen Begriffen in eine kulturkritische Bedeutungskonstellation. In diesem Sinn

lässt sich in etwa davon sprechen, dass für Adorno das verdinglichte Selbstbild

des modernen Menschen in der Kulturindustrie eine Art von ‚Monopolstellung’

innehat. Schon der Begriff „Kulturindustrie“ ist in diesem metaphorischen Sinn zu

verstehen. In einem späten, kurzen Résumé über Kulturindustrie schreibt Adorno:

„Der Begriff Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Stan-dardisierung der Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Pro-duktionsvorgang.“94 Es geht Adorno und Horkheimer mit dem Begriff der Kulturindustrie nicht um

eine vulgär-konservative Kritik, die Kulturprodukten schon deshalb einen Kultur-

wert abspricht, weil sie am Fließband hergestellt worden sind, sondern der Begriff

möchte auf eine andere Kritikebene hinaus. Er übt Kritik an der „Standardisierung

der Sache selbst“, d. h. an bestimmten Schemata einer auf ein standardisiertes

Einzelsubjekt zugeschnittenen Bedürfnisbefriedigung, die in der kulturindustriel-

len Produktion für Adorno und Horkheimer immer wiederkehren. Ihre Kritik der

Kulturindustrie bezieht sich in diesem Sinn auf die selbst schon gehaltvollen

Formen von kulturindustriellen Produkten insgesamt, und weniger auf einige be-

stimmte, als prekär anzusehende Inhalte dieser Produkte im besonderen. Es ist

eine systematische Pointe dieser Kritik, die sie zumindest in dieser Hinsicht einem

Vorwurf des Kulturkonservatismus entheben kann, dass sie als Kritikform auf

94 ADORNO, THEODOR W. (1997): Kultukritik und Gesellschaft I (im folgenden abgek. KuG1), Ges. Schriften Bd. 10.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 339

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eine sehr moderne Weise die schematischen Formen der kulturindustriellen Pro-

duktion bereits als deren eigentlichen Gehalt begreift.

An der Kulturindustrie aufzuzeigen ist zuallererst ein basaler Unterhaltungscha-

rakter, der sowohl potentiell ernsthafte kulturkritische Auseinandersetzungen ver-

eitelt, aber letztendlich auch die gelöste, tatsächliche Entspannung von Arbeit

verunmöglicht. Die moderne Begriffsprägung „Amusement“ steht im Kulturin-

dustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung sinnbildhaft für diese strukturell

schon gehaltvolle Form des kulturindustriellen Unterhaltungsbetriebs ein:

„Es [das Amusement, D.S.] wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitspro-zess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Me-chanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, dass er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. [...] Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder An-strengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt.95 Der eigentümliche Charakterzug der kulturindustriellen Entspannung von Arbeit

durch die einfache Rezeption von industriellen Fabrikationsschemata oder ver-

dinglichten Arbeitsabläufen ist heute viel offensichtlicher als zu dem Entste-

hungszeitpunkt der Kulturindustriethese. Im Medium Fernsehen ist das zu einem

beliebten Sendeformat geworden. Die Rezeptionsebene, auf die Adorno aber basal

zielt, ist erst eine, die im Kontrast zu solchen Sendeformaten eher hintergründig

verläuft: sie liegt in der Art und Weise, in der sich die Aufmerksamkeit des Indi-

viduums der kulturindustriellen Produktion mehr oder weniger passiv überlässt,

um dieser überhaupt folgen zu können. In der konsumtiven Grundhaltung, mit

welcher die individuelle Anschauung z. B. einer filmisch dargestellten Ereignis-

verkettung folgt, ist bereits das automatisierte und automatisierende Grundschema

von kulturindustriellen Einprägungsweisen prinzipiell gegeben. Es liegt dabei in

einer Art Grauzone zwischen einer kaum bewussten Apperzeption und einer se-

lektiv ausgerichteten Wahrnehmung des Individuums. Was kulturindustrielle Re-

zeptionsschemata qualitativ auszeichnet, lässt sich daher nicht eindeutig auf die

klare Differenz von Unbewusstsein zu Bewusstsein bringen96, und erschöpft sich

95 DdA, S. 162 96 Adorno verwendet in diesem Zusammenhang die Wendung „Bewusstsein und Unbewusstsein“; vgl. ADORNO, THEODOR W. (1997): Kulturkritik und Gesellschaft II (im folgenden abgek. KuG2), Ges. Schriften Bd. 10.2, Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 719; oder z. B. in Aberglaube aus zweiter Hand die Umschreibung: „Zwischenschicht des weder ganz

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auch nicht in der Vorstellung einer einfachen Bedürfnismanipulation.97 Der passiv

machende und damit potentiell regressive Charakterzug in der kulturindustriellen

Rezeptionsweise bildet sich vielmehr erst als das gesellschaftliche Erfordernis der

auf die kulturelle Reproduktion übergreifenden modernen Verdingli-

chungspotentiale, die sich damit auf einer qualitativ erweiterten Stufe reproduzie-

ren. Diese qualitativ erweiterte Stufe, d. h. das Verdinglichungsniveau eines kul-

turindustriell geprägten Bewusstseins zeigt sich für Adorno und Horkheimer

grundlegend an dem performativen Widerspruch einer Gedankenbewegung durch

‚Nicht-selbst-denken’:

„Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reak-tion vor: nicht durch seinen sachlichen Zusammenhang – dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht – sondern durch Signale. Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich vermieden. Entwicklungen sollen möglichst aus der unmittelbar vorausgehenden Situation erfolgen, ja nicht aus der Idee des Ganzen.“98 Solche Rezeptionsmuster schwächen durch ihre rein formale Beschaffenheit be-

reits das kritische Urteilsvermögen des Individuums, denn ihre mediale Wirksam-

keit beruht eben darauf, die vormals individuell erst zu leistende apperzeptive

Synthesis von Bewusstseinsgehalten in gewisser Weise bereits kulturindustriell

vorweg zu nehmen. Damit verändert sich insgesamt die geistige Beschaffenheit

solcher kulturindustriell eingeprägten Bewusstseinsbildungen: unmittelbar beru-

hen diese nicht länger auf einer erst selbstbewusst herbeizuführenden Verortung

des eigenen Bewusstseinszusammenhangs, d. h. auch der individuellen Ausbil-

dung einer reflektierten „Idee des Ganzen“, sondern auf mechanischen Zusam-

mensetzungsschemata von versachlichten Aktions- und Reaktionschablonen, de-

ren starre Gedanken- und Handlungsketten in die individuelle Wahrnehmung un-

mittelbar aufgenommen und dadurch schon erneut eingeübt werden:

„Der vorgebliche Inhalt [der „Amüsierwaren“, D.S.] ist bloß verblasster Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeits-vorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in Angleichung an ihn in der Muße.“99

Durchgelassenen noch ganz Unterdrückten, verwandt der Zone der Anspielung, des ‚Du weißt schon, was ich meine’“; in Soz.Schr.1, S. 151 97 Vgl. STEINERT, HEINZ (2002): Kulturindustrie, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 164 ff. 98 DdA, ebd. 99 DdA, ebd.

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Die Kulturindustriethese bildet sich, wie an dieser Stelle deutlich wird, an einem

fordistischen Modell der kapitalistischen Produktion. In ihrem thematischen Mit-

telpunkt steht aber bereits die partielle Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, die

heute mehr und mehr absolut zu werden droht.100 Daher möchte ich eine kulturin-

dustriell geprägte Lebenswelt in dieser Hinsicht als das verhandeln, was die un-

mittelbare Basis solcher fortschreitenden Entgrenzungen bereitstellen kann. Es

macht einen kritischen Nerv der Verdinglichungsdiagnostik Adornos und Hork-

heimers aus, im Zusammenhang der Kulturindustriethese eine Vergesellschaf-

tungsebene beschreiben zu können, welche die Entgrenzungspotentiale von Ar-

beitsleben und Alltagswelt kulturkritisch erfahrbar macht. Den hermeneutischen

Schlüssel dazu liefert vor allem eine Art materialistische Alltagsästhetik, in deren

Perspektivsetzung die in den kulturindustriell eingeprägten Ablaufschemata

gegebenen Lebensrhythmiken bereits als die Abbildungen eines modernen öko-

nomischen „Gewebe[s] von Transaktionen und Maßnahmen, in die das Leben

verwandelt wurde“101 erscheinen können.102 Die kulturindustriellen Lebensbedin-

gungen spielen sich in dieser Hinsicht bereits und nicht zuletzt auf sensuellen

Alltagsebenen ab, d. h. z. B. darin, wie ich Musik höre oder auch einem Gespräch

folge. Auch wenn die kulturindustriell geprägte Lebenswelt ohne die bekannten

Massenmedien undenkbar wäre, findet die Phänomenologie ihrer Kritik erst sub-

stantiellen Halt an den individuellen Umgangsweisen mit solchen Lebenswelten.

Auf dieser Subjekt/Objekt-Ebene zwischen dem Produkt und dem einzelnen

Individuum103 findet in Adornos und Horkheimers Umschreibungen die kultur-

industrielle Qualität der Verdinglichung statt.104 Die damit verbundene Diagnose

der Intensitätssteigerung der kulturindustriellen Verdinglichungspotentiale lässt

sich konkret begreifbar machen z. B. an dem oben bereits angedeuteten un-

mittelbaren massenmedialen Zugriff auf individuelle Empfindungsabfolgen. Der

100 Vgl. auch DdA, S. 177 101 DdA, S. 172 102 Sie hat auch einen lebensphilosophischen Anklang: bei dem die moderne Urbanität erforschenden Simmel findet sich auch eine solche Vorstellung von Rhythmus; vgl. SIMMEL, GEORG (1998): a. a. O., S. 200 103 Heute oftmals eher ein Verhältnis der Teilnahme an einem popkulturellem Ereignis; vgl. die chronologische Unterscheidung von Massenkultur, Kulturindustrie und Popkultur bei Roger Behrens; in BEHRENS, ROGER (2004): Kulturindustrie, Bielefeld: transcript Verlag, S. 47 f. 104 Vgl. Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, in ADORNO, THEODOR W. (1997): Dissonanzen / Einleitung in die Musiksoziologie, Ges. Schriften Bd. 14, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 14 ff.

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Film, der für Adorno und Horkheimer als das signifikante kulturindustrielle

Medium schlechthin gilt105, lässt sich in dieser Hinsicht in seinem

kulturindustriellen Gerippe als eine im Individuum angesprochene Sequenz von

mentalen Zuständen begreifen.106

Ich möchte mich hier aber analytisch nur auf das dezidierte Grundschema der An-

schauungsweisen konzentrieren, welche für Adorno und Horkheimer die kulturin-

dustrielle Mediatisierung der Lebenswelt zur Folge hat. Wie stellt sich eine indi-

viduelle Angleichung an solche vorgezeichneten Anschauungs- und Empfin-

dungsschemata überhaupt her?

Hier ist der lebensweltlich-konkrete Einsatzpunkt des Begriffs „Mimesis“. Das

kulturindustriell eingefasste Individuum fügt sich in gewisser Weise nachahmend

ein in die verdinglichende Mechanistik der vorgezeichneten Anschauungs- und

Empfindungsschablonen, aber auf eine Weise, durch welche der Nachahmungs-

charakter daran, d. h. das mimetische Moment an diesem individuell vollzogenen

Vorgang selbst einer Verdrängung unterliegt. Einen sozialpsychologischen

Erklärungsansatz dieses Verdrängungsvorgangs werde ich im nächsten Teilab-

schnitt versuchen, anzudeuten. Hier muss vorerst der Hinweis genügen, dass die

Unmittelbarkeit der kulturindustriellen Mechanistik formal darauf beruht, zu

sagen: ‚So-bist-du’ und eben nicht: ‚Ahme-mich-nach-damit-du-so-bist’.107 Das

Individuum wiederholt also in gewisser Weise den Überlagerungscharakter der

Verdinglichungsschablone im einzelsubjektiven Anschauen und Empfinden noch

einmal. Kulturindustrielle Einprägungsprozesse verdoppeln sich permanent: wenn

ich z. B. am Vorabend im Fernsehen gelernt habe, wie Männer und Frauen sich in

bestimmten Situationen von Natur aus unmittelbar verschieden verhalten, kann

ich solches Verhalten am nächsten Morgen zum einen wiedererkennen, zum

105 Vgl. auch ADORNO, THEODOR W. (1997): Komposition für den Film / Der getreue Korrepetitor, Ges. Schriften Bd. 15, Frankfurt am Main / Suhrkamp 106 Aber auch schon das Lesen eines Zeitungshoroskops bildet für Adorno eine solche Sequenz, d. h. es hat eine „Zweiphasen-Beschaffenheit“; vgl. KuG2, S. 733, Filmkritik muss daher die Kritik einer kulturellen Praxis implizieren, von deren Realität der Gehalt von Filmen nicht losgelöst betrachtet werden kann. Der entscheidende Mentor Adornos ist hier Siegfried Kracauer; vgl. KRACAUER, SIEGFRIED (1963): Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 279 ff. 107 Adorno fasst diesen Zusammenhang auch unter der Formel des „Werde was du bist“: „Wollte man in einem Satz zusammendrängen, worauf eigentlich die Ideologie der Massenkultur hinausläuft, man müsste sie als Parodie des Satzes: ‚Werde was du bist’ darstellen: als überhöhende Verdoppelung und Rechtfertigung des ohnehin bestehenden Zustandes, unter Einbeziehung aller Transzendenz und aller Kritik.“ aus Beitrag zur Ideologienlehre, Soz.Schr.1, S. 476

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anderen auch die Legitimation daraus ziehen, mich auch so zu verhalten. Insofern

die kulturindustriellen Verbreitungsapparaturen daher einen gelenkten Prozess der

öffentlichen Meinungsbildung begünstigen, der nicht über tatsächlich bewusst-re-

ziproke Auseinandersetzungsformen verläuft, sondern vor allem diese sich im

Individuum vollziehende Angleichung an bereits vorgegebene Erklärungsmuster

provoziert, sprechen die Autoren der Dialektik der Aufklärung von der

Kulturindustrie im Untertitel des Kapitels auch polemisch als einer „Aufklärung

als Massenbetrug“. „Massenbetrug“ meint dann die unmittelbare Aufhebung der

gedanklichen Autonomiepotentiale der Individuen durch die kulturindustrielle

Umfassung ihres individuellen Bewusstseins.

In einem unmittelbar demokratischen Sinn bildet also das Standardisierungsmo-

ment der Vermassung, d. h. die Entqualifizierung der eigenen Anschauungen und

Empfindungen auch bereits den konstatierten Betrug: vorgegebene Anschauungs-

und Erklärungsmuster, die oftmals hingenommen werden müssen, um überhaupt

am kommunikativen Alltagsleben weiter teilnehmen zu können. Der subtilere

Grund aber, von der Kulturindustrie als einer „Aufklärung als Massenbetrug“ zu

sprechen, liegt in der kulturindustriellen Ästhetisierung der Lebenswelt. Die

„Kunst“ geht für Adorno und Horkheimer grob dargestellt als kulturindustrielle

Ästhetisierung der Lebenswelt insgesamt eine prekäre Allianz mit den modernen

Verdinglichungspotentialen dieser Lebenswelt ein, was ich im folgenden noch ein

wenig näher erläutern möchte.

Im Vergleich zur instrumentellen Verwendung von Ästhetisierung in der Kultur-

industrie enthielt das ältere bürgerliche Kunstwerk noch eine Art ideologisches

Glücksversprechen, insofern es in seiner eher klassischen Gestalt, wie z. B. bei

Goethe eine ideale Welt der menschlichen Autonomie zur ästhetischen Darstel-

lung brachte, oder in seiner eher modernen Gestalt, wie z. B. bei Kafka dem indi-

viduellen Konflikt zwischen einem existentiellen Autonomiebegehren und einer

grotesk-übermächtigen Realität einen objektiv-ästhetischen Ausdruck verlieh. An

solchen Kunstwerken und in der Auseinandersetzung mit ihnen kann sich ein

Selbst kritisch abarbeiten und individuell formieren. Diesen kritischen Sinngehalt

verliert die ästhetische Darstellung aber größtenteils in der Kulturindustrie. Eine

umfassende Ästhetisierung der ganzen Lebenswelt spiegelt die Verdinglichung

des Individuums dagegen zurück, ‚wie sie ist’ und verleiht ihr damit erst die ent-

scheidende Qualität einer Art Alltagsfatums. Als quintessentielle Aussage der

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„Kulturindustrie“ erscheint in dieser Hinsicht bereits der fortwährende Nachweis,

dass keine andere Lebensform möglich sein kann, und es daher so weitergehen

muss.

„Die neue Ideologie hat die Welt als solche zum Gegenstand. Sie macht vom Kultus der Tatsache Gebrauch, in dem sie sich darauf beschränkt, das schlechte Dasein durch mög-lichst genaue Darstellung ins Reich der Tatsachen zu erheben. Durch solche Übertragung wird das Dasein selber zum Surrogat von Sinn und Recht.“108 Die kulturindustrielle Ästhetisierung der Lebenswelt, welche für Adorno und

Horkheimer die Aufhebung einer tatsächlichen Wahrnehmungsdifferenz von Ton-

film und Lebensalltag zum immanenten Ideal hat, produziert erst die faktische

Unausweichlichkeit, die dann als der fortwährend konkrete Beleg dieser Unaus-

weichlichkeit gilt.109 Wenn daher, wie oben dargelegt, das kulturindustriell

Dargestellte wesentlich bereits in den formalen Schemata der Darstellungen liegt,

schlägt dieses Verdoppelungsmoment in gewisser Weise auch auf die im engeren

Sinn realen Kommunikationen der Menschen miteinander durch:

„Verdinglichung“ im Zeitalter der Kulturindustrie vollzieht sich wesentlich als die

mimetische Einübung von bereits gehaltvollen Haltungen oder Gesten110, wie z.

B. des Gestus einer realitätsgerechten Resignation vor der faktischen Un-

ausweichlichkeit eines eigentlich zermürbenden Arbeitslebens.

Der Unmittelbarkeitscharakter der kulturindustriell verbreiteten Menschenbilder

schlägt sich nieder in einer tatsächlich veränderten Unmittelbarkeit zwischen den

Menschen. Die Lebenswelt wird dabei zu einer Art Gesamtkunstwerk stilisiert,

die aber jenes alte ideologische Glücksversprechen einer partiellen Befreiung von

sozialen Herrschaftszwängen im ästhetischen Schein nicht mehr mit-reproduziert,

sondern deren Ästhetisierung vielmehr noch einmal in den Dienst der instrumen-

tellen Vernunft tritt, die im „Amusement“ noch die Zwecklosigkeit des entspann-

108 DdA, S. 174 109 Hieran lässt sich auch zeigen, dass die Kulturindustriethese nicht nur ökonomiekritische Begriffsprägungen auf die moderne Lebenswelt bezieht, sondern im Anschluss an das Verdinglichungstheorem von Lukács auch solche der Wissenschaftskritik, d. h. hier den Begriff „Tautologie“. 110 Adorno und Horkheimer verwenden den Begriff „Gestus“ im Kulturindustrie-Kapitel nicht. Später behält Adorno den Begriff meist ästhetischen Zusammenhängen vor, verwendet ihn aber gelegentlich auch in dem von mir gemeinten alltäglicheren Sinn, vgl. etwa KuG2, S. 475;als emphatisches Leitmotiv verwendet Adorno den polemisch stärkeren Begriff der Physiognomik, vgl. zum Leitmotiv der „Physiognomie“ bei Adorno auch die Skizze zur Gesellschaftstheorie Adornos von Axel Honneth im Vortragsband zur Frankfurter Adorno-Konferenz 2003; hg. von HONNETH, AXEL (2005): Dialektik der Freiheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 165 ff.

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ten Vergnügens dem ausschließlichen Zweck der Reproduktion der eigenen Ar-

beitskraft unterwirft. Der einst mit idealistischer Emphatie aufgeladene und voll-

gesogene Begriff der bürgerlichen „Kultur“ erreicht einen Grenzwert: diese ver-

liert ihre letzten autonomen Züge als lebensweltliche Sphäre eines moralischen

und ästhetischen Eigensinns und schlägt daher um in Kulturindustrie. Die auf die

Lebenswelt insgesamt übergreifende Ästhetisierung bildet den dafür entschei-

denden Indikator: sie repräsentiert eine Art illusionslosen Schein, d. h. für die ge-

bildeten bürgerlichen Ästhetiker Adorno und Horkheimer einen kaum noch aus-

zuhaltenden Widerspruch in sich.

Was im Zeitalter der Popkultur sozialisierte Menschen bereits als ein mit der Welt

versöhnlich stimmendes Moment empfinden können, wie z. B. die unendlich fort-

gesetzte filmische Abbildung einer doch noch glücklichen Liebesgeschichte in ei-

ner erkalteten sozialen Umwelt, gilt den Autoren der Dialektik der Aufklärung als

der blanke Hohn, in dem sich verdinglichte Stereotype unausgesetzt reproduzie-

ren. Gerade in dem kulturindustriell unvermittelt aufscheinenden gestischen Mo-

ment von simultaner Rechtfertigung und ‚Restmelancholie’, in dem man z. B.

sagt: ‚Wie schön, dass es sowas heute noch gibt’ liegt der essentielle ideologische

Kern dessen, was Adorno und Horkheimer „Kulturindustrie“ nennen. Solche kul-

turindustriell vermittelten Affekte springen die Individuen wie unvermittelt an, in

dem sie schon die unmittelbare Form an sich haben, welche diese Individuen dann

nur noch zu reproduzieren brauchen. Im hündisch-traurigen Gesicht, das ein be-

kannter Fernsehmoderator von RTL schelmisch zur Verabschiedung seiner Zu-

schauer aufsetzt, spiegelt sich als Gestus die Mischung aus Affirmation und Resi-

gnation, mit dem diese Zuschauer ihren Alltag bewältigen. Solche Kommunika-

tionen bedürfen eben einer ästhetisierten Lebenswelt insgesamt, wie eines Ver-

gessens dessen, worin sich Kunst und Kultur einmal von der Arbeitswelt unter-

schieden haben, d. h. für Adorno und Horkheimer ihres eigenen Sinns. Stichwort-

reich fassen sie gegen Ende des Kapitels ihre Auffassung der kulturindustriellen

Qualität von Kultur in einer Passage noch einmal gerafft zusammen, wobei ich in

deren Zitat fortlaufend Einfügungen vornehme, um es im Kontext des bisher Ent-

wickelten verständlicher zu machen:

„Indem aber der Anspruch der Verwertbarkeit von Kunst [als Ästhetisierung der Lebens-welt, D.S.] total wird, beginnt eine Verschiebung in der inneren ökonomischen Zusam-mensetzung der Kulturwaren [zur Kulturindustrie hin, D.S.] sich anzukündigen. Der Nut-zen nämlich, den die Menschen in der antagonistischen [auf unvermittelten Gegensätzen

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beruhenden, D.S.] Gesellschaft vom Kunstwerk sich versprechen, ist weithin selber eben das Dasein des Nutzlosen, das durch die völlige Subsumtion unter den Nutzen abge-schafft wird. Indem das Kunstwerk [als Ästhetisierung der Lebenswelt und als Amuse-ment, D.S.] ganz dem Bedürfnis sich angleicht, betrügt es die Menschen vorweg um eben die Befreiung vom Prinzip der Nützlichkeit, die es leisten soll. Was man den [eigensin-nigen und konkreten, D.S.] Gebrauchswert in der Rezeption der Kulturgüter nennen könnte, wird [noch einmal, D.S.] durch den [instrumentellen und abstrakten, D. S.] Tauschwert ersetzt, anstelle des [emphatischen und zweckfreien, D.S.] Genusses tritt [tauschwertförmiges, D.S.] Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn anstelle der Kennerschaft. Der Konsument wird [als Kunde und Maßstab, D.S.] zur Ideologie der Vergnügungsindustrie, deren [umfassenden, D.S.] Institutionen er nicht entrinnen kann. [Die Verfilmung zur Radio-Serie, D.S.] Mrs. Miniver muss man gesehen haben, wie man [die Magazine, D.S.] Life und Time halten muss. Alles wird nur unter dem Aspekt wahr-genommen, dass es zu etwas anderem dienen kann, wie vage dies andere auch im Blick steht. Alles hat nur Wert, sofern man es eintauschen kann, nicht sofern es selbst etwas ist.““111 Den in der „Kulturindustrie“ gefangenen Individuen wird gewissermaßen ein Be-

dürfniskorsett angelegt, das vorgegeben wird von einem reproduktiven Rhythmus

der Arbeitsverausgabung, dessen sinnarme Kehrseite das kulturindustrielle „Amu-

sement“ darstellt. Auch in Bezug auf die Ästhetisierung der Lebenswelt insgesamt

kann man nicht mehr eigentlich von einem Zusammenhang von Ästhetik und

kulturellen Emanzipationsmöglichkeiten sprechen.112 Adorno und Horkheimer,

für die Kunst als Medium ein Glücksversprechen beinhaltet, d. h. als eine Art

kultureller Erinnerungsspeicher zumindest das Vergessen der utopischen

Möglichkeit eines nicht bereits von heteronomen Zwecken bestimmten Daseins

verhindert, erblicken daher eine neue Totalität darin, dass der kulturelle

Erfahrungsraum solcher emphatischen Zweckfreiheit ganz zu verschwinden

droht.113 An dieser Stelle nun erreicht die normative Aufladung des marxschen

Begriffs des „Gebrauchswerts“ im westlichen Marxismus gewissermaßen einen

Subtilitätshöhepunkt: der eigentliche „Gebrauchswert [...] der Kulturgüter“ wird

für Adorno und Horkheimer noch einmal durch einen neuartigen

kulturindustriellen „Tauschwert“ ersetzt: an die Stelle eines emphatischen

„Genusses“ der Kultur tritt selbst noch einmal eine Art der Verwertungslogik:

„Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn anstelle der Kennerschaft.“ Auch

hier unterliegen die Individuen also für Adorno und Horkheimer noch einmal dem

ubiquitären Verwertungszwang darin, das kulturindustrielle Wissen wie

111 DdA, S. 185 f. 112 Die Frage, die in diesem Zusammenhang z. B. durch das Theater von Rene Pollesch gestellt wird, wäre eben die, ob man das aber heute tun sollte. 113 Die kantische „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ verwandelt sich in „Zwecklosigkeit für Zwecke“; vgl. ebd, S. 185

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Tauschwerte sammeln zu müssen, was aber für diese dann nur noch den

neutralisierten Zweck erfüllt, an einer vorgezeichneten Informationshierache

teilzuhaben, bei den entscheidenden Themen mitreden zu können.114

Zweck dieser harschen Diagnose ist aber vor allem die Aufzeigung, dass die ka-

pitalistische Verwertungslogik in der Kulturindustrie quasi ‚freidreht’, dass sie

praktisch unhinterfragbar und dadurch nomologisch unmittelbar wird. Vergegen-

wärtigen wir uns den normativen Angelpunkt der Kulturindustriethese, die eben

vom Ende des autonomen Individuums handelt: diesem wird die Kultur als ein

medialer Raum mit Eigensinn abgeschnürt, und regt sich dagegen noch ein Pro-

test, können Meinungsforschungsinstitute auf die Bedürfnisse der Menschen ver-

weisen, die es nicht anders wollen: „Der Konsument wird zur Ideologie der Ver-

gnügungsindustrie, deren Institutionen er nicht entrinnen kann.“

Dass es sich bei diesen Bedürfnissen aber um eine zweite Natur handelt, verrät die

unermüdliche Rastlosigkeit, mit der diese sich selbst reproduzieren muss. Was

sich hier tatsächlich reproduziert, ist für Adorno und Horkheimer nur die kapita-

listische Selbstverwertung des Werts, die sich wie manisch durch die Individuen

hindurch vervielfältigt: „Alles wird nur unter dem Aspekt wahrgenommen, dass

es zu etwas anderem dienen kann, wie vage dies andere auch im Blick steht. Alles

hat nur Wert, sofern man es eintauschen kann, nicht sofern es selbst etwas ist.“

Ich möchte die Kulturindustriethese noch einmal sehr kurz zusammenfassen: was

Adorno und Horkheimer hier auf eine neue gedankliche Spitze treiben, ist die

Überlagerungs- oder Überstülpungsfigur des Verdinglichungstheorems. Die kul-

turindustrielle Qualität dieser Überstülpung wird als unmittelbar in die soma-

tischen Ebenen des Empfindens und Begehrens integriert vorgestellt. Die Bedürf-

nisstrukturen der Menschen werden selbst wie in Regie genommen. Es gibt aber

keinen eigentlichen Regisseur hinter dieser In-Regie-nahme, sondern die neuzeit-

liche Gesellschaftsgeschichte als Geschichte der selbst zu einer dingförmigen

Struktur gewordenen Herrschaft erreicht schlicht einen strukturellen Höhepunkt:

eine bereits vorgezeichnete Wesensform ergreift als „Kulturindustrie“ die Indivi-

duen und ihre Lebenswelt ganz ohne einen noch sichtbaren nicht-verdinglichten

Rest. Hier liegt der eigentliche Grund für Adorno und Horkheimer, von der Kul-

turindustrie als einer „Aufklärung als Massenbetrug“ zu sprechen, nämlich Auf-

114 Adorno und Horkheimer meinen mit „Bescheidwissen“ daher letztlich den narzisstischen Gestus des ‚Immer-schon-Bescheidwissens’.

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klärung als die „fortschreitende technische Naturbeherrschung“, die zu einem

„Mittel der Fesselung des Bewusstseins“ wird.115

Das Entsetzen der Autoren der Dialektik der Aufklärung wird vor allem dann

spürbar, wenn diese den manischen Zug dessen schildern, was sie „Kulturin-

dustrie“ nennen: diese erzeugt eine Art massiven Sog, in dem jeglicher nicht-in-

strumentelle Sinn wie zu verschwinden droht. Gleichzeitig werden Adorno und

Horkheimer hier aber auch eines Schwachpunkts in der Massivität der „Kulturin-

dustrie“ gewahr, wenn sie schreiben:

„Je weniger die Kulturindustrie zu versprechen hat, je weniger sie das Leben als sinnvoll erklären kann, um so leerer wird notwendig die Ideologie, die sie verbreitet. Selbst die abstrakten Ideale der Harmonie und Güte der Gesellschaft sind im Zeitalter der universa-len Reklame zu konkret. Gerade die Abstracta hat man als Kundenwerbung zu identifizie-ren gelernt. Sprache, die sich bloß auf Wahrheit beruft, erweckt einzig die Ungeduld, rasch zum Geschäftszweck zu gelangen, den sie in Wirklichkeit verfolge. Das Wort, das nicht Mittel ist, erscheint als sinnlos, das andere als Fiktion, als unwahr. Werturteile wer-den entweder als Reklame oder als Geschwätz vernommen.“116 In dieser Perspektivsetzung bricht sich letztendlich der Untertitel, der die

Kulturindustrie als eine „Aufklärung als Massenbetrug“ denunziert, denn lässt

sich ein Individuum derart zynisch aufklären über den alleinigen Sinn der sozialen

Wirklichkeit als dem ökonomischen Geschäft und sich selbst als Ware

Arbeitskraft, hat es sich eben vor allem gründlich selbst betrogen. Es gibt also

einen der „Kulturindustrie“ als ubiquitäre Reklame immanenten Betrugscharakter,

den eigentlich alle durchschauen, und der darin zum Ausdruck kommt, dass alles

ja doch nur einen eigentlich profitorientierten Zweck verfolgt. Ein solches

Halbwissen annehmendes Individuum betrügt sich tatsächlich aber selbst um die

eigensinnige Verfolgung anderer Zwecke. Ressentimentbehaftete Gemeinplätze

wie z. B. der, dass Geld die Welt regiert, können als Sinnbilder dieser re-

produktiven Verquickung von halbdurchschauter Ideologie und Unausweichlich-

keit gelten. Das grimmige Halbwissen um den ökonomischen Zweck hinter allen

Dingen ist daher selbst der versteinerte Gestus des späten Kapitalismus.

115 Vgl. Résumé über Kulturindustrie, KuG1, S. 345 116 DdA, S. 173

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2.3 Sozialpsychologische Eckpunkte der Verdinglichung

In diesem letzten Teilabschnitt des zweiten Kapitels möchte ich nun auf das ein-

gehen, was ich als Adornos psychoanalytische Durchdringung des Verdingli-

chungstheorems verstehen möchte. Der Autor, der mit Adorno als Quelle vor al-

lem neu in die Reflexion auf „Verdinglichung“ einfließt, ist Sigmund Freud und

die Freudsche Gestalt der Psychoanalyse.117 Freud stellt aber auch den einzigen in

dieser Einführung behandelten Autor dar, dem von sich aus eine Vorstellung wie

die der „Verdinglichung“ eher fremd ist. Für eine derartige sozialphilosophische

Perspektivnahme liegt der theoretische Fokus bei Freud zu stark auf den

libidinösen Bildungsprozessen der individuellen Psyche, über die er nur induktive

Schlussfolgerungen anstellt, d. h. auf der jeweiligen Grundlage von konkreten

empirischen Anschauungen gemachte. Im Laufe ihrer theoretischen Fortent-

wicklung wendet sich der Begründer der Psychoanalyse jedoch immer stärker

auch psychosozialen Fragestellungen zu, die in den zivilisationspsychologischen

Spekulationen des Spätwerks ihren Höhepunkt finden.118 Die webermarxistische

Vorstellung einer objektiven Bewusstseinsdeformation durch „Verdinglichung“

bleibt Freud aber fremd. Daraus habe ich in dieser Einführung die Legitimation

gezogen, Freud keinen gesonderten Darstellungsraum zu geben, sondern ihn als

Theoretiker dort zu verhandeln, wo Adorno Freudsche Gedankenstränge in die

eigenen Überlegungen miteinbezieht.

Kennzeichnend für Adornos Reflexion des Verdinglichungstheorems ist

grundlegend dessen psychoanalytische Durchdenkung.119 Liegt auch in den Ver-

dinglichungsbeschreibungen von Lukács schon diese atmosphärische Spannung

des Totalen, die als kaum erklärt durch die Abhängigkeit des individuellen

Bewusstseins von der einfachen Warenform gelten kann, wird bei Adorno die Re-

flexion auf dieses umfassende Moment der „Verdinglichung“ sozialpsychologisch

darin explizit, die Gesellschaft konkret als einen wirklichen Bedrohungszusam-

117 Hauke Brunkhorst ist der Auffassung, dass der Materialimusbegriff Adornos sehr viel stärker von Freud als von Marx beeinflusst ist. Ich möchte mich im folgenden dieser Auffassung anschließen; vgl. BRUNKHORST, HAUKE (1990): Theodor W. Adorno: Dialektik der Moderne, München: Piper, S. 76 f. 118 Vgl. FREUD, SIGMUND (1953): Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main: Fischer 119 Ich verwende den Begriff der Psychoanalyse im folgenden nur in diesem eingeschränkten Sinn der Freudschen Psychoanalyse, da sie die für Adorno relevante Gestalt der Psychoanalyse darstellt.

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menhang auch in das theoretische Bild miteinzubeziehen. In dem Aufsatz Zum

Verhältnis von Soziologie und Psychologie aus der Mitte der 1950er Jahre poin-

tiert er:

„Sicherlich kommt das rationale ökonomische Verhalten des Individuums nicht bloß durch den ökonomischen Kalkül, das Gewinnstreben, zustande. [...] Wesentlicher als subjektives Motiv der objektiven Rationalität ist die Angst. Sie ist vermittelt. Wer sich nicht nach den ökonomischen Regeln verhält, wird heute selten sogleich untergehen. Aber am Horizont zeichnet die Deklassierung sich ab.“120 Die Bedrohung, die hier gemeint ist, ist eine „vermittelt[e]“. Es ist nicht die

einfache brutale Todesdrohung von faschistischen Gesellschaftsformationen,

sondern eine subtile, die bereits in einer Allgegenwart des „ökonomischen

Kalkül[s]“ liegt, insofern es dieses als den einzig möglichen Weg zu einer

gelingenden individuellen Selbsterhaltung kennzeichnet. Darin aber hat diese

Rationalisierungsweise, die ich soweit als verselbständigte Zweckrationalität

dargestellt hatte, einen grundlegend irrationalen Zug an sich. Sie ist für Adorno

wesenhaft eine Rationalität, in die man sich subjektiv einfügen muss, und

widerspricht darin gerade einer kritischen Vorstellung von Rationalität, die auch

die Möglichkeit des rationalen Widerspruchs beinhalten muss. Wenn aber eine

solche Möglichkeit nicht mehr gesellschaftlich gegeben ist, bedeutet das, und hier

kommt bei Adornos Reflexion der „Verdinglichung“ die Psychoanalyse ins Spiel,

dass das kritische Potential der individuellen Rationalität affiziert bis sogar ganz

außer Kraft gesetzt werden kann. In der Psychonalyse findet sich dafür der Begriff

der Rationalisierung:121

„Was eigentlich übers Unbewusste hinauswollte [das Denkvermögen des Ichs, D.S.], wird dann nochmals in den Dienst des Unbewussten treten und damit dessen Impulse womöglich verstärken. Das ist das psychodynamische Schema der „Rationalisierun-gen“.“122 Das psychodynamische Schema der Rationalisierungen beschreibt für Adorno

dieses paradoxe Zusammenspiel des individuellen Rationalitätsvermögens mit

120 Soz.Schr.1, S. 46 f. 121 Ursprünglich geht der Begriff auf den Psychoanalytiker Ernest Jones zurück. Er spielt vor allem auch bei Anna Freud eine große systematische Rolle, vgl. FREUD, ANNA (1984): Das Ich und die Abwehrmechanismen, Frankfurt am Main: Fischer; zur systmatischen Hervorhebung des Begriffs der „Rationalisierung“ bei Adorno im Vergleich zu Sigmund Freud vgl. FISCHER, KARSTEN (1997): Verwilderte Selbstbehauptung: zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno, Berlin: Akademie Verlag 122 Soz.Schr.1, S. 71 f.

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dem zwanghaften Einfügen in ein zugleich ansatzweise als irrational empfundenes

Schemas, z. B. von Arbeit als Selbstzweck. Damit gerät das Individuum in eine

prekäre Psychodynamik hinein, in der es zweckrational für dieses Individuum

werden kann, sich die eigene Rationalität zu verbieten. Es rationalisiert den eige-

nen Rationalitätsverlust, d. h. es verwendet die eigene rationale Kraft primär

darauf, die irrationalen Grenzen zu rationalisieren, über die es vermeintlich nicht

hinausdenken sollte.

„In der Tat ist die Rationalität im Verhalten der einzelnen Menschen keineswegs sich selbst durchsichtig, sondern weithin heteronom und erzwungen und muss darum mit Un-bewusstem sich vermischen, um nur einigermaßen funktionsfähig zu werden. Kaum einer kalkuliert sein Leben als Ganzes oder auch nur durchwegs die Folgen der eigenen Hand-lungen, obwohl in den fortgeschrittensten Ländern ein jeglicher fraglos mehr kalkuliert, als die psychologische Schulweisheit sich träumen lässt. In der durchvergesellschafteten Gesellschaft sind die meisten Situationen, in denen Entscheidungen stattfinden, vorge-zeichnet, und die Rationalität des Ichs wird herabgesetzt zur Wahl des kleinsten

Schritts.“123 Vom psychoanalytischen Schema der Rationalisierung aus fällt auch noch einmal

ein anderes Licht auf die Passivitätsdiagnose des Verdinglichungstheorems. Das

zweckrational handelnde Individuum fügt sich aus Selbsterhaltungsängsten in

diese Passivität ein, wenn die Wirklichkeit diesem Individuum keine diesbezüg-

liche Wahl lässt. Eine solche Rationalität bildet aber nur mehr eine Schwundstufe

des autonomen und kritischen Vernunftvermögens, das einmal im normativen

Zentrum der bürgerlichen Aufklärung stand. Die „Rationalität des Ichs“, die

„herabgesetzt [ist] zur Wahl des kleinsten Schritts“ ist objektiv irrational, denn sie

zieht sich zurück von einer rationalen Durchdenkung des sie umgebenden

Ganzen. Das „Ich“ beginnt psychodynamisch in gewisser Weise gegen sich selbst

zu arbeiten, denn wenn es realitätsgerecht denkt, darf es zumeist nicht allzu weit

vordringen in der rationalen Durchdringung der eigenen Lebenssituation. Es klebt

fest in einer paradoxen Ausgangslage, die zur einen Seite hin die libinöse

Befriedigung von Selbstverwirklichungsansprüchen fordert, zur anderen Seite

aber danach verlangt, sich psychisch stabil zu halten in einer druckvollen

Selbsterhaltungssituation, die diesem individuellen Bedürfnis nach Selbstver-

wirklichung oftmals nicht genügen kann. Adorno fügt also eine dialektische

123 Soz.Schr.1, S. 58 f.

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Komponente in das psychoanalytische Bild des „Ichs“ ein124, denn im „Ich“

verbinden sich das Individuum und die gesellschaftlichen Ansprüche an dieses In-

dividuum, von denen es nicht ablösbar angeschaut werden kann:

„Das Ich fällt als Organisationsform aller seelischen Regungen, als das Identitätsprinzip, welches Individualität überhaupt erst konstituiert, auch in die Psychologie. Aber das ‚rea-litätsprüfende’ Ich grenzt nicht bloß an ein Nichtpsychologisches, Auswendiges, dem es sich anpasst, sondern konstituiert sich überhaupt durch objektive, dem Immanenzzusam-menhang des Seelischen entzogene Momente, die Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte. Obwohl selber ein ursprünglich Seelisches, soll es dem seelischen Kräfte-spiel Einhalt gebieten und es kontrollieren an der Realität: das ist das Hauptkriterium sei-ner ‚Gesundheit’. Der Begriff des Ichs ist dialektisch, seelisch und nichtseelisch, ein

Stück Libido und der Repräsentant der Welt.“125 Das „Ich“ stellt nicht nur die emphatisch-reflexive Berufungsinstanz auf mich

selbst dar, sondern repräsentiert auch den normativen Ort dessen, was gesell-

schaftlich ein „Ich“ sein darf. Als „ein Stück Libido und der Repräsentant der

Welt“ bildet das „Ich“ die einzelsubjektive Bühne, auf der die psychischen Kon-

flikte zwischen den eigenen Libidoansprüchen und den gesellschaftlichen Anfor-

derungen an das „Ich“ ausgetragen werden.

Das psychodynamische Problem, das Adorno aber umtreibt, liegt genau darin,

dass diese Konflikte nicht mehr als Widersprüche bewusst ausgetragen werden

können. Um die eigene psychische Überlebenssituation erträglich halten zu kön-

nen, muss für Adorno die reale Ohnmacht den gesellschaftlich zu massiven An-

sprüchen diesem „Ich“ gegenüber der Verdrängung anheimfallen, d. h. die psy-

chische Vermittlunginstanz des Ichs und das rationale Selbstbewusstsein dieses

Ichs geraten sozialpsychologisch gesehen dabei ein Stück weit in einen nicht mehr

auszuagierenden Widerspruch hinein. Das Ich gerät in einen prekären psychody-

namischen Konflikt zwischen der potentiellen Ausbildung eines kritischen Selbst-

bewusstseins und einer funktionierenden Selbsterhaltung.

In dem Aphorismus Novissimum Organum der Minima Moralia, einem in Apho-

rismen verfassten Werk Adornos, das dieser parallel zur Arbeit mit Horkheimer

an der Dialektik der Aufklärung verfasst, geht es um die Beschreibung eines neu-

artigen Niveaus der Verdinglichung, das Adorno dort wie folgt auffasst:

124 Jan Weyand entwickelt eine Gesamtinterpretation von Adorno von einem dialektischen Begriff des Ichs aus; vgl. WEYAND, JAN (2001): Adornos kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg: zu Klampen 125 Soz.Schr.1, S. 70

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„Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewusst in den Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von sich an das Ich als Be-triebsmittel ab, dass es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst. Die Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen Wutan-fall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz auf-

gehen.“126 Das neuartige Niveau von Verdinglichung liegt sozialpsychologisch betrachtet

also in einem performativen Widerspruch zwischen der psychischen Vermitt-

lungsinstanz des Ichs und dem Selbstbewusstsein ihres konkreten Trägerindivi-

duums. Als psychische Vermittlungsinstanz der Realitätsansprüche im Indivi-

duum muss das „Ich“ einer zu großen und zu widersprüchlichen Menge von

Anforderungen genügen. Es muss sich selbst ein Stück weit automatisieren, um

überlebensfähig zu bleiben und verliert dadurch einen selbstbewussten Überblick

über das Geschehen. Es läuft sich durch die alltägliche Kette der zu bewältigenden

Anforderungen mehr oder weniger selbst hinterher. Beeinträchtigt wird dadurch

vor allem die Befähigung zur sozialen Interaktion: in einer für den selbstbewuss-

ten Nachvollzug zu schnellen Bewegung kann es die eigenen Eigenschaften nur

noch instrumentell bedienen und sich den Situationen wie einfügen, die es durch-

läuft.

Was als eine Steigerung der Produktivität des Individuums erscheint, wendet sich

gegen dessen Selbstbewusstsein, wenn es in sich die Befähigung verliert, die er-

forderten Gestalten, die es durchlaufen muss, noch reflektieren zu können. Da es

aber schon in einem so massiven Ausmaß mit deren bloßer Bewältigung beschäf-

tigt ist, verliert es sich selbst als einen konsistent denkenden Bezugspunkt dieser

Bewältigungen. Was am intrapsychischen Ort des reflexiven Selbst zurückbleibt,

ist dann nur noch eine Art abstrakte Anweisungssequenz. Die individuellen

Handlungen werden eigentlich nicht mehr lebendig durchdrungen, sondern ein-

fach vollzogen. Das ist Adornos psychoanalytische Pointe des im Verdingli-

chungstheorem von Lukács umkreisten Phänomens der ‚aktiven Passivität’. In

Novissimum Organum schreibt er weiter:

„Sie [die individuellen Eigenschaften, D.S.] bleiben nur noch als leichte, starre und leere Hülsen von Regungen zurück, beliebig transportabler Stoff, eigenen Zuges bar. Sie sind nicht mehr Subjekt, sondern das Subjekt richtet sich auf sie als sein inwendiges Objekt. In ihrer grenzenlosen Gefügigkeit gegens Ich sind sie diesem zugleich entfremdet: als ganz passive nähren sie es nicht länger. Das ist die gesellschaftliche Pathogenese der Schizo-

126 ADORNO, THEODOR W. (1997): Minima Moralia (im folgenden abgek. MM), Ges. Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 263

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phrenie. Die Trennung der Eigenschaften vom Triebgrund, sowohl wie vom Selbst, das sie kommandiert, wo es vormals bloß zusammenhielt, lässt den Menschen für seine an-

wachsende innere Organisation mit anwachsender Desintegration bezahlen.“127 Eine vorgezeichnete Lebensform nimmt für Adorno das Ich wie von Innen her

ganz unter Beschlag und in Besitz. Es verliert die eigene Subjekthaftigkeit darin,

sich in sich immer schon auf den anwachsenden Anforderungskatalog dieser Le-

bensform ausgerichtet zu haben. Daher fasst er in Novissimum Organum die neue

Qualität der Verdinglichung als „organische“ auf: sie ist im metaphorischen Rah-

men des Begriffs der „Mechanisierung“128 eigentlich nicht mehr fassbar, denn sie

kann nur noch gedacht werden als eine dynamische Bewegung, die direkt auf die

„Momente des Naturhaften“129 innerhalb des psychischen Apparats zugreifen

kann. Sie liegt dem „Triebgrund“ des Individuums in gewisser Weise unmittelbar

auf, d. h. sie instrumentalisiert als Lebensform bereits dessen organisches An-

triebspotential selbst, d. h. in Freudscher Terminologie die libidinöse Triebstruk-

tur dieses Individuums. Hier liegt der gegenwartsdiagnostische Grund für Adorno,

in der Absolutheit der instrumentellen Triebunterdrückung des Odysseus bereits

ein strukturelles Motiv zu erblicken, das als Vorbote der modernen Verdingli-

chungspotentiale interpretiert werden kann. Mit lebensphilosophischem Beiklang

schreibt er in Novissimum Organum emphatisch:

„Nur indem der Prozess, der mit der Verwandlung der Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durchdringt, und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es möglich, dass das Leben unter den herrschenden Produktionsverhältnissen sich reproduziert. Seine Durchorganisation verlangt den Zusammenschluss von Toten. Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen: Selbsterhaltung annuliert Leben an der Subjektivität.“130 Als dynamische Bewegung durch das Individuum hindurch beruht diese Verkeh-

rungsgewalt der Verdinglichung auf einer Art unmittelbaren sozialpsycholo-

gischen Besetzung der psychischen Vermittlungsinstanz des Ichs, denn nur über

diese Instanz als sich selbst relativ konsistente und bewusste kann ein Individuum

überhaupt maßgeblich Einfluss nehmen auf den eigenen libidinösen Energiehaus-

halt. Was daher bei Adorno zur einen Seite hin die grundlegende Kritik des

127 MM, ebd. 128 Vgl. ebd, S. 262 129 Vgl ebd. 130 ebd.

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abendländischen Schemas der rationalen Selbstbeherrschung als nach Innen ge-

wendete instrumentelle Naturbeherrschung impliziert, zeigt sich zur anderen Seite

hin als der moderne Verlust von rationaler Selbstbeherrschung. Auf diesen syste-

matischen Zusammenhang, der auf den ersten Blick als Widerspruch erscheint,

möchte ich abschließend noch ein wenig näher eingehen. Dabei sollen die Freud-

schen Begriffe des „Narzißmus“ und des „Ichideals“ als Vermittlungsbrücke die-

nen und ich möchte in diesem Zusammenhang versuchen, einen psychosozialen

Erklärungsansatz für das Phänomen der verdrängten Mimesis anzudeuten. Einen

derart einfach pointierten Erklärungsansatz wird man dafür in Adornos Schriften

vergeblich suchen, weil die individuelle und gesellschaftliche Verdrängung von

Mimesis für diesen ein zu vielschichtiges Phänomen darstellt, um es auf einen

einfachen Grund bringen zu können.131 Ich möchte einen solchen auf das Freud-

sche Narzißmustheorem zugespitzten Ansatz aber dennoch geben, da er zumindest

als ein wesentliches Teilelement dessen gelten kann, was Adorno als psychoso-

ziale Grundlage der verdrängten Mimesis annimmt.

Um den intrapsychischen Konflikt, in den das Individuum durch die Ausgangssi-

tuation der eigenen rastlosen Produktivität hinein gerät, beschreiben zu können,

greift Adorno also auf den Freudschen Begriff des „Narzißmus“ zurück. Das Indi-

viduum muss zum einen die libidinösen Triebenergien, die es überhaupt zur Ver-

fügung hat, verstärkt dem eigenen Ich zuführen, um eine solche Produktivität zu

bewerkstelligen und es muss sich auch psychisch stabil halten gegenüber den An-

forderungen, die diese Produktivität an es stellt. Es muss das Moment, dass es so

sein möchte, wie die soziale Umwelt es von ihm fordert, also intrapsychisch ver-

arbeiten. Das Ich bildet dabei eine intrapsychische Instanz aus, die Freud in seiner

Schrift Zur Einführung des Narzißmus132 das „Ichideal“ nennt, d. h. das Ich

‚schaltet’ eine Art intrapsychisches Idealbild von sich ‚ein’, in welchem es diesen

Anforderungen als Ich genügt, um der eigenen sozialen Situation psychisch ge-

wachsen zu sein. Die intrapsychische Ausrichtung der libidinösen Triebenergien

auf dieses erhöhte Bild von sich selbst nennt Freud Narzißmus.133 Grundlegend

131 Vgl. DdA, S. 209 ff. 132 Vgl. FREUD, SIGMUND (1960): Das Ich und das Es & andere metapsychologische Schriften, Frankfurt am Main: Fischer, S. 19 ff. 133 Der Begriff des „Narzißmus“ versammelt bei Freud mehr Bedeutungen in sich, aber das ist die in diesem Zusammenhang entscheidende Bedeutung. Freud unterscheidet entwicklungspsychologisch zwischen einem ‚primärem’ und ‚sekundärem’ Narzißmus. Der primäre Narzißmus ist seiner Ansicht nach normaler Bestandteil der infantilen Entwicklung, in der

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taucht hier bei Freud zum ersten Mal die Frage nach einer im Ich gelegenen und

unbewusst bleibenden Instanz auf, die Freud im Rahmen seiner Narzißmusdia-

gnose so umkreist:

„Es wäre nicht zu verwundern, wenn wir eine besondere psychische Instanz auffinden sollten, welche die Aufgabe erfüllt, über die Sicherung der narzißtischen Befriedigung aus dem Ichideal zu wachen, und in dieser Absicht das aktuelle Ich unausgesetzt beo-

bachtet und am Ideal mißt.“134 Diese Instanz wird Freud später „Über-Ich“ nennen und sie als die intrapsychische

Instanz verstehen, über die Anforderungen der sozialen Umwelt in das Ich aufge-

nommen, von diesem verinnerlicht werden.135 Diese Instanz ist bei Freud vor al-

lem ein Produkt der familiären Sozialisation, an welche die folgenden Erzie-

hungseinrichtungen wie die Schule dann anknüpfen. Grundlegend bildet sie sich

durch den Vorgang der Identifizierung mit den Anforderungen der Menschen, von

denen das Ich anerkannt werden möchte. Die für den Verdrängungsvorgang von

Mimesis entscheidende Problematik der Überich- oder Ichideal-Bildung136 lässt

die libidinösen Energien noch auf das Ich gerichtet sind, während diese beim sekundären Narzißmus zunächst dem Objekt zugeführt, aber dann wieder abgezogen und dem Ich erneut zugeführt werden. Diese Sichtweise betrachtet also Narzißmus beim Erwachsenen immer als pathologisch. Sie beruht darauf, dass der andauernde primäre Narzißmus der Entwicklung der Objektbeziehungsfähigkeit als Zeichen psychischer Reifung im Wege steht, da er die „Fixierung der Libido an den eigenen Leib und die eigene Person statt an ein Objekt“ darstellt¸ beim sekundären Narzißmus wird die Libido „auf das Ich zurückgewandt, und diese reflexive Rückwendung ist die Quelle des Größenwahns“ ; in FREUD, SIGMUND (1969): Allgemeine Neurosenlehre, Frankfurt am Main: Fischer, Bd. I, Kapitel Die Libidotheorie und der Narzißmus, S. 398-414; Dieses Modell geht davon aus, dass Libido als eine erschöpfliche Menge seelischer Energie zwischen Ich und Objekt verteilt werden muss und daher dann beim Einen fehlt, wenn es dem Anderen zugeführt wird. Im Falle des sekundären Narzißmus führt dies zu einer Überbesetzung des Ich mit Libido, die an sich auf das Objekt gerichtet gehört. 134 FREUD, SIGMUND (1960): a. a. O., S. 35 135 In seinen heute noch lesenswerten Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse schreibt Freud: „Aus der Analyse des Beobachtungswahns haben wir den Schluss gezogen, dass es im Ich wirklich eine Instanz gibt, die unausgesetzt beobachtet, kritisiert und vergleicht und sich solcherart dem anderen Anteil des Ichs entgegenstellt. Wir meinen also, dass der Kranke uns eine noch nicht genug gewürdigte Wahrheit verrät, wenn er sich beklagt, dass jeder seiner Schritte ausgespäht und beobachtet, jeder seiner Gedanken gemeldet und kritisiert wird. Er irrt nur darin, dass er diese unbequeme Macht als etwas ihm Fremdes nach außen verlegt. Er verspürt das Walten einer Instanz in seinem Ich, welche sein aktuelles Ich und jede seiner Betätigungen an einem Ideal-Ich misst, das er sich im Laufe seiner Entwicklung geschaffen hat. [...] Wenn [die selbstbeobachtende Instanz] beim Beobachtungswahn zerfällt, so deckt sie uns dabei ihre Herkunft auf aus den Einflüssen von Eltern, Erziehern und sozialer Umgebung, aus der Identifizierung mit einzelnen dieser vorbildlichen Personen.“ in FREUD, SIGMUND (1991): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt am Main: Fischer, S. 408 f.; vgl. auch FREUD, SIGMUND (1960): a. a. O., S. 171 ff. 136 Ich setze die beiden Begriffe hier gleich, weil sie auf dieser Beschreibungsebene noch keine wesentliche Differenz implizieren; vgl. für die psychoanalytische Debatte um diese Differenz CHASSEGUET-SMIRGEL, JANINE (1987): Das Ichideal: psychoanalytischer Essay über die Krankheit der Idealität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 163 ff.

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sich an dem Angst-Anteil bemessen, welche dieser vom Ich vollzogenen Identifi-

zierung beigemischt ist. Empfindet das Ich eine grundlegende Angst vor den Be-

zugspersonen, von denen es abhängig ist, wird es mit aller Macht versuchen, sich

nach dem Bild zu modellieren, dass diese ihm vorgeben, um dieser Angst Herr zu

werden. Diesem Zusammenhang ist dann die Verdrängung im Vollzug von Mime-

sis wesentlich: das Ich muss so sein, wie es von ihm gewollt ist, denn sonst ist es

nichts. Um sich von den an das Ich herangetragenen Anforderungen unabhängiger

und selbstbestimmter entwickeln zu können, bedarf das noch abhängige Ich erst

der Sicherheit eines Spielraums, in dem es darauf vertrauen kann, auch ohne die

Erfüllung aller Anforderungen eine gewisse Anerkennung zu finden. Nur dann

kann es zu diesen Anforderungen überhaupt in ein selbstbestimmtes Verhältnis

treten, das sich in einem bewussten Umgang mit dem eigenen mimetischen Ver-

mögen spiegelt: es gibt dann ein bestimmtes Idealbild oder eine Auswahl von sol-

chen, und das Ich möchte lieber dieses oder jenes und kann diese Bilder und sich

selbst, so wie die verschiedenen Instanzen, welche diese Bilder an es herantragen,

auch auseinanderhalten. Es bildet sich bewusst.

Übertragen wir dieses Bild von einer angstvollen oder bewussten Ausbildung ei-

nes Ichideals auf das, was Adorno und Horkheimer „Kulturindustrie“ nennen, hat

diese sehr viel damit zu tun, dass es zu einer solchen bewussten Persönlichkeits-

bildung nicht mehr kommt. Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, dass die

Unmittelbarkeit, die die Kulturindustrie produziert, wesentlich mit darauf beruht,

dass abstrakte Vergesellschaftungsprinzipien auf den intrapsychischen Strang der

Ichideal-Bildung direkt zugreifen, d. h. die Ichideal-Instanz unmittelbar auf eine

Weise ansprechen, die einem Versuch der seriellen Identifikation des Individuums

entlang einer abstrakten Lineatur137 von verdinglichten Ichideal-Vorstellungen

gleichkommt. Wenn daher Adorno und Horkheimer schreiben: „Alles hat nur

Wert sofern man es eintauschen kann, nicht sofern es selbst etwas ist.“ bezieht

sich diese Quintessenz nicht zuletzt auf die in einer starren Ausrichtung auf die

verdinglichten Ichideal-Vorstellungen sich bildenden Eigenschaften der Indivi-

duen selbst, d. h. auch auf deren eigenen Wert als Individuen. Denn gehen diese

derart in einer unmittelbaren Verwertungslogik auf, speist sich auch ihr Selbst-

wertempfinden in letzter Konsequenz aus dem Netz dieser abstrakten Wertför-

137 Die verdrängte Mimesis bildet sich in dieser Hinsicht an dem, was Walter Benjamin „unsinnliche Ähnlichkeit“ nennt; vgl. BENJAMIN, WALTER (1992): Sprache und Geschichte, Reclam: Stuttgart, S. 91 ff.

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migkeit. Sie sind dann auch sich selbst zu mehr oder weniger wertvollen Dingen

geworden. Wie steht es dann aber um die Erklärung des Verdrängungsvorgangs

von Mimesis in der Kulturindustrie?

Dem, was Adorno und Horkheimer „Kulturindustrie“ nennen, ist dann wesentlich,

dass es auf Angst basiert. Der „Verdinglichung“ ist dann ein Moment von Erstar-

rung wesentlich, in welchem sich ein lebendiges Einzelwesen bereits angstvoll in

sich zurückgenommen hat und sich ausrichtet auf eine Ichideal-Instanz, die die-

sem Ich einseitig die Form vorgibt, die es zu sein hat. Ein Eingeständnis des mi-

metischen Charakters des eigenen Handelns ist für ein solches Ich gleichbedeu-

tend damit, einzugestehen, eigentlich nicht so zu sein, wie es vermeintlich zu sein

hat. Ein solches Eingeständnis müsste also die Reflexion darauf implizieren, sich

aus Angst eine Form zu geben, die als Ichideal bereits das eigene Begehren

durchherrscht. Es ist daher unerträglich.

Sozialpsychologisch aufschlussreich ist hier der Freudsche Begriff der „narzißti-

schen Kränkung“138: narzißtische Kränkungen sind solche, mit denen ein Ich nicht

mehr rational umgehen kann, weil sie das Ich in einem für sein Ichideal

unerträglichen Maß mit dem eigenen ‚Schwach-sein’ konfrontieren, also eine

Realität vor Augen führen, die mit dem narzißtischen Selbstbild unvereinbar ist,

wie z. B. bei machistischen Männern eine andauernde sexuelle Erfolglosigkeit. Es

zeigt sich dann das pathologische Moment dieser Form der narzißtischen

Persönlichkeitsstruktur: das Ich kann sich nur lieben für etwas, das es nicht ist,

und muss deshalb permanent so tun, als ob es so wäre. Seine Selbstliebe ist

vergiftet.139

Die ganze Problemkonstellation zeigt sich aber erst unter Miteinbeziehung der

objektiven Seite des Narzißmusphänomens. In dem Aufsatz Meinung Wahn Ge-

sellschaft, der um den Unterschied von rationalen und irrationalen Elementen von

öffentlichen Meinungsbildungsprozessen kreist, begreift Adorno eine gesell-

schaftlich stigmatisierte und schuldbehaftete Form der Selbstliebe als den

subjektiv-libidinösen Kanal der objektiv zum Nationalismus tendierenden narziß-

tischen Persönlichkeitsstruktur:

„Im Privatleben ist Selbstlob und was ihm ähnelt anrüchig, weil Äußerungen solchen Sinnes allzuviel von der Übergewalt des Narzißmus ausplaudern. Je befangener die Indi-

138 Vgl. Soz.Schr.1, S. 72 f. 139 Vgl. KuG2, S. 576

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viduen in sich selbst sind und je verhängnisvoller sie die [nur zweckrationalen, D.S.] Ein-zelinteressen verfolgen, die in jener [auf ausschließliche Wertvermehrung ausgerichteten, D.S.] Gesinnung sich abbilden, [...] desto sorgfältiger muss eben dies Prinzip verschwie-gen werden [...] Gerade die Kraft des Tabus über dem individuellen Narzißmus jedoch, dessen Verdrängung, verleiht dem Nationalismus die perniziöse Macht. Im Leben des Kollektivs geht es anders zu als nach den Spielregeln in den Beziehungen zwischen den Individuen. Schon bei jedem Fußballmatch jubelt die jeweils einheimische Bevölkerung unter Missachtung des Gastrechts schamlos dem eigenen Team zu [...].“ Die Scham und Schuld also, die das narzißtische Ich durch die intrapsychische

Herrschaft des verdinglichten Ichideals empfindet, kompensiert es durch das

Ventil eines kollektiven Narzißmus im Nationalismus. Dieser bildet das objektive

Pendant der subjektiven Ich-Schwäche der ihm angeschlossenen Individuen. Der

Nationalismus bietet dem Ich ein hybrides Selbstbild an, dass es als kollektives

Über-Ich an der intrapsychischen Stelle seines Ichideals einsetzen kann, um im

narzißtischen Kollektiv Souveränität und Stärke zurückzuerlangen. Der Aufsatz

Meinung Wahn Gesellschaft handelt von diesem ambivalenten sozialpsycholo-

gischen Zusammenspiel von realer Ohnmacht, vergifteter Selbstliebe und kollek-

tivem Hass:

„Die Ich-Schwäche heute, die gar nicht nur psychologisch ist, sondern in der der seelische Mechanismus die reale Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der vergesellschafteten Apparatur registriert, wäre einem unerträglichen Maß an narzißtischer Kränkung ausgesetzt, wenn sie nicht, durch Identifikation mit der Macht und Herrlichkeit des Kollektivs, sich einen Ersatz suchen würde. Eben dazu taugen die pathischen [vorurteilsvollen und ressentimentbehafteten, D.S.] Meinungen, die unaufhaltsam aus dem infantil narzißtischen Vorurteil hervorgehen, man selber sei gut und was anders ist,

minderwertig und schlecht.“140 Auf der kollektiven Ebene des Narzißmus verliert die narzißtische Kränkung jede

Harmlosigkeit, die sie im privaten Bereich manchmal noch haben mag. Für Ras-

sisten ist meist bereits die Existenz der stigmatisierten anderen Menschen das mit

ihrem kollektiven Narzißmus unvereinbare narzißtische Ärgernis, das Gewalt

provoziert.

Kollektive Narzißmen müssen aber nicht notwendig Nationalismen sein. Der Be-

griff bezeichnet den Mechanismus einer starren Identifikation mit In-Groups als

solchen, um die sich dann ein Kreis der Ausgrenzung schließt.141 Am Nationalis-

mus lässt sich aber besonders gut die mit der Verdinglichung verwobene Funktion

des kollektiven Narzißmus im intrapsychischen Haushalt der Individuen aufzei-

140 KuG2, S. 580 141 Vgl. ADORNO, THEODOR W. (1973): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 303 ff.

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gen. Kollektive Narzißmen dienen als irrationale Motivationsreservoire, die den

Individuen helfen, ihre Produktivität noch einmal steigern zu können. Außerdem

schaffen sie durch die sich erst im Individuum vollziehende Anbindung eine von

diesen empfundene naturhafte Unmittelbarkeit zwischen den nationalistischen In-

dividuen, die Entfremdungsempfindungen ausgleichen kann.142 Das Phänomen

des kollektiven Narzißmus ist ein integraler Bestandteil von Adornos Perspektive

auf die moderne Verdinglichung, denn kollektive Narzißmen haben ideologischen

Anteil am möglichen Fortbestand des Verdinglichungsphänomens, insofern sie

die hybriden Selbstbilder bereitstellen können, über deren Introversion die eigent-

lich anwachsende innere Desintegration des Individuums überhaupt noch ausge-

glichen werden kann.143 Die sich am intrapsychischen Ort des Ichideals

einklinkenden kollektiven Über-ich-Strukturen gewährleisten Starrheit und Festig-

keit an den entscheidenden Stellen bei gleichzeitig schnellstmöglicher Rotation.

Auf dem im Aphorismus Novissimum Organum beschriebenen „organischen“ Ni-

veau von Verdinglichung, das ohne kollektive Narzißmen für Adorno nicht denk-

bar wäre, wird dann Stagnation zum Übel an sich. Jedes Moment des Innehaltens

hat dann das Potential, die narzißtische Konstitution der Individuen zu erschüt-

tern, die sich reflexive Selbstbesinnung verbieten müssen.

„Gerade der Übergang fester Eigenschaften in einschnappende Verhaltensweisen – scheinbar Verlebendigung – ist Ausdruck der steigenden organischen Zusammensetzung. Quickes Reagieren, ledig der Vermittlung durchs [individuelle, D.S.] Beschaffensein, stellt nicht Spontaneität wieder her, sondern etabliert die Person als Messinstrument, dis-ponibel und ablesbar für die Zentrale. Je unmittelbarer es seinen Ausschlag gibt, desto tiefer hat in Wahrheit Vermittlung sich niedergeschlagen: in den prompt antwortenden, widerstandslosen Reflexen ist das Subjekt ganz gelöscht.“144 Es geht Adorno daher auch hier um die Beschreibung eines neuen Niveaus der

Unmittelbarkeit von Verdinglichung, d. h. um einen Mythos des Gegebenen, in-

nerhalb von dessen Bannkreis die nomologische Erinnerung an den Sinn von In-

dividualität wie ausgelöscht wird.145

142 Vgl. dazu FREUD, SIGMUND (1993): Massenpsychologie und Ich-Analyse & Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt am Main: Fischer, S. 78 143 Vgl. auch INSTITUT FÜR SOZIALFORSCHUNG (1991): Soziologische Exkurse, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, S. 126 ff. 144 MM, S. 264 145 Vgl. ND, S. 187

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Kapitel 3

Zum Umgang mit Verdinglichung bei Adorno

3.1 Individuum und verdinglichte Welt

In diesem dritten kurzen Kapitel möchte ich nur noch einige Konsequenzen aus

dem bereits entwickelten darlegen und keine prinzipiell neuen gedanklichen Ele-

mente mehr hinzunehmen. Im ersten Teilabschnitt soll es dabei um die existen-

tielle Grundsituation gehen, in der man sich für Adorno durch die verdinglichte

Welt befindet. An diesen Teil müsste sich also auch die Frage nach der Möglich-

keit eines potentiell sinnvollen Umgangs mit Verdinglichung anschließen, die ich

in dieser Einführung aber leider nicht mehr systematisch behandeln kann. Im

letzten Teilabschnitt geht es stattdessen um Adornos Bild eines missglückenden

Umgangs mit Verdinglichung.

Auch wenn man noch soviel Selbstachtung übrig hat, um schon einmal den

verheerendsten kollektiven Narzißmen zu widerstehen, kommt man doch aus ei-

ner existentiellen Grundabhängigkeit von Verdinglichungsmechanismen heute

noch nicht heraus. Diese geben einen gesellschaftlichen Raum vor, innerhalb des-

sen die vereinzelte Selbsterhaltung ihren einsamen Überlebenskampf ausfechten

muss. Alles im gesellschaftlichen Raum ist auf die moderne Selbsterhaltungs-

weise zugeschnitten, damit aber auch diese Selbsterhaltungsweise selbst. Sie ist

den einzelnen Individuen als objektives Gewand eines abstrakten Individualismus

wie übergestülpt. In Negative Dialektik pointiert Adorno im Kontext der Frage

nach der Realität von Allgemeinem und Besonderem:

„Die universale Herrschaft des Tauschwerts über die Menschen, die den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt, rele-giert jenes Allgemeinheitsprinzip, das behauptet, es stifte die Vorherrschaft des Subjekts, zur Unwahrheit. Das Mehr des transzendentalen ist das Weniger des selbst höchst redu-zierten empirischen Subjekts.“146 Gerade die vorgezeichnete Lebensform eines verabsolutierten Individualismus

hindert die Individuen oftmals an dem Gelingen von eigensinnigen Selbstentäuße-

rungen und einer realen Entfaltung von konkreten Interessen, die in jener Lebens-

form nicht mitimpliziert sind. Damit aber ist die individualistische „Vorherrschaft

146 ND, S. 180

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des Subjekts“ auch „Unwahrheit“: je mehr die möglichen Formen der Lebensäu-

ßerungen dieser Individuen als bereits vorbestimmt erscheinen, desto weniger

können die „empirischen“ Subjekte tatsächlich auf ihre Lebensweise verändernd

Einfluss nehmen.147 Warum aber können sie ihre Lebensweise nicht einfach än-

dern?

Weil sie nicht aus dem Nichts heraus damit beginnen können, denn sie besitzen

gar nichts anderes als die mit der Objektivität vermittelten Eigenschaften ihrer

subjektiven Individualität. Als eine vereinzelte Selbsterhaltungsweise in der Welt

ist diese aber schon in ein Wahrnehmungsgefüge eingelassen, das in der Gestalt

dieses absoluten Individualismus immer auch die Einsicht darein verstellt, dass sie

keine unmittelbar natürliche und biologisch ursprüngliche Lebensform darstellt,

sondern selbst bereits eine mit der Welt und durch diese Welt vermittelte Daseins-

form ist. Im Aphorismus Goldprobe der Minima Moralia, in dem es um eine Kri-

tik des modernen Begriffs der „Echtheit“ geht, schreibt Adorno:

„Nicht bloß ist das Ich in die Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein Dasein im wörtlichsten Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr, oder schlechterdings aus der Bezie-hung zum Objekt. Es wird um so reicher, je freier es in dieser sich entfaltet und sie zu-rückspiegelt, während seine Abgrenzung und Verhärtung, die es als Ursprung reklamiert, eben damit es beschränkt, verarmen lässt und reduziert.“148 Ich habe in dieser Einführung versucht, zu rekonstruieren, dass die

Verdinglichung durch die Subjekte hindurch verläuft. Reale „Verdinglichung“ ist

sie eigentlich aber nur dann, wenn den Subjekten dieser Zusammenhang

wesentlich unbewusst bleibt. Diese sind zwar in der Welt, nehmen sich selbst aber

wahr als eine ursprüngliche Entität, die nur wie zufällig in genau dieser Welt ist.

Das ist falsch. Alles, was ein Subjekt denkt, fühlt, tun und lassen kann, wird erst

durch den Lebensraum gestiftet, innerhalb dessen es existiert. Es muss sich aber in

diesem Raum auch entfalten können, um diesen Zusammenhang selbst erst

begreifen zu können. Es muss erfahren können, dass es selbst nichts

ursprüngliches ist, indem die eigene Lebensform sich im Umgang mit der Welt

und anderen Individuen entwickeln und verändern kann. Da für Adorno diese

Erfahrung aber als eine bewusste weitgehend durch die verdinglichte Welt

vereitelt und zurückgedrängt wird, bleibt meist nur noch eine Ahnung davon

147 Vgl. zum Verhältnis von transzendentaler und empirischer Subjektivität bei Adorno auch O’CONNOR, BRIAN (2004): Adorno’s Negative Dialectic: philosophy and the possibility of critical rationality, Cambridge/MA: MIT Press, S. 117 ff. 148 MM, S. 175

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zurück, das daran etwas nicht richtig ist und es eigentlich anders sein sollte.

Dieses letzte und „tief unbewusste[.] Misstrauen“149 verbarrikadiert sich dann in

dem sensorischen Anteil des menschlichen Wahrnehmungsapparats:

„Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, enttäuscht durch den trugvollen Anspruch der Quali-täten, überhaupt noch da zu sein, während sie nach den Zwecken der [ökonomischen, D.S.] Aneignung sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz einzig verdanken. Die Ent-zauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf ihre objektive Be-stimmung als „Warenwelt“.“150 Eine ästhetisierte Waren- und Lebenswelt wird individuell oftmals wie eine un-

durchdringliche Wand empfunden, denn das individuelle Sensorium „merk[t] der

Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist, oder für ein anderes“, d.

h. es registriert für Adorno auch noch bewusstlos einen instrumentellen

Grundcharakter dieser verdinglichten Lebenswelt. Wenn es aber kein tatsächliches

Bewusstsein von dem Immanenzzusammenhang der eigenen Lebensform und der

verdinglichten Welt hat, kann es diese Undurchdringlichkeit nur diffus empfinden

und weder sinnvoll artikulieren, noch vernünftig verarbeiten. Wie ein wolkenhaf-

ter Schleier wird sie dann auch als eine Art Selbstundurchdringlichkeit erfahren

und lässt das Individuum nicht nur gegen die Welt, sondern eben auch gegen das

eigene Anschauungsvermögen von dieser Welt abstumpfen.

Schwerer wiegt der instrumentelle Grundcharakter der verdinglichten Welt aber

vielleicht noch in der bei Adorno zugunsten der Analyse der „Kulturindustrie“ zu

wenig betrachteten konkreten sozialen Interaktion.151 Das Individuum durchläuft

alltäglich situative Handlungszusammenhänge, in denen es den anderen nur im

Rahmen von instrumentellen Verhältnissen begegnet. Ohne das Bewusstsein von

der gesellschaftlichen Gewordenheit dieser Verhältnisse zu haben, ist es schwer,

daran nicht auch selbst zu vergleichgültigen.

Man kann sagen, dass das Individuum insgesamt von einer Lebenswelt umgeben

ist, in welcher es auf äußere Reize reagieren und in jeweils gegebenen Hand-

lungssituationen agieren soll. Als Idealzustand erscheint für dieses Individuum

dann, das alles wie ein Automat durchlaufen zu können und trotzdem noch glück-

149 Aus Résumé über Kulturindustrie, KuG1, S. 344 150 Aus dem Aphorismus Kaufmannsladen, MM, S. 260 151 Vgl. dazu Axel Honneths These von der „Verdrängung des Sozialen“ aus der Gesellschaftstheorie Adornos; in HONNETH, AXEL (1983): Kritik der Macht: Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 70 ff.

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lich dabei zu sein. Es muss daher den kulturindustriellen Kompensationsmöglich-

keiten dieser individuellen Entfremdungsempfindungen, die solche Bilder von

glücklichen Automaten bereit halten, zwanghaft auf den Leim gehen:

„Nicht einfach deshalb werden die Menschen sich selbst zum Stier und zur Jungfrau [als astrologische Tierkreiszeichen, D.S.], weil sie so dumm sind, der Suggestion der Zei-tungsspalten zu gehorchen, die als selbstverständlich unterstellen, etwas sei daran, son-dern weil ihnen jene Clichés, und die stupiden Anweisungen zu einem Leben, die bloß verdoppeln, was sie ohnehin müssen, ihnen wie sehr auch scheinhaft die Orientierung er-leichtern und momentan das Gefühl ihrer Fremdheit dem Leben, auch dem eigenen ge-genüber beschwichtigen.“152 Solche Horoskope sprechen also auf individuelle Empfindungen von Entfremdung

und Unbehagen an und beschwichtigen diese. Das Individuum liest sie gerne, weil

sie für einen kurzen Moment mit der verdinglichten Lebenswelt und ihren Anfor-

derungen ein wenig versöhnen können. Das ist die basale Psychotechnik, auf der

sie beruhen.153 Es gibt aber keinen durchtriebenen Erfinder hinter solchen

Psychotechniken der esoterischen Beschwichtigung, sondern sie sind einfach ein

erlernbares Handwerk, das z. B. zum Beruf des Horoskope-Schreibens

dazugehört. Man muss dann die Gehalte, von denen die Horoskope handeln

müssen, sowie die Art und Weise, in der sie geschrieben sein sollen, schlicht

kennen und beherrschen. Ein bestimmtes Moment der ‚Andrehung’ ist für Adorno

fast allem in der verdinglichten Welt bereits immanent.154 Auch der Marktwert

des Individuums bemisst sich heute weitgehend daran, andere für sich einnehmen,

d. h. sich gut verkaufen zu können.

152 Aus Meinung Wahn Gesellschaft, KuG2, S. 580 153 Vgl. auch ADORNO, THEODOR W. (1997): Soziologische Schriften II, 2. Hälfte, Ges. Schriften Bd. 9.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, The Stars down to earth, S. 7 ff. 154 Vgl. KuG1, S. 330

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3.2 Die Identifikation mit Gegebenem

Die Diskussion von „Verdinglichung“ dreht sich bei Adorno immer um eine neue

Form ihrer lebensweltlichlichen Unmittelbarkeit, d. h. um das Gegeben-sein der

Verdinglichung. In der Genese dieser Unmittelbarkeit verbirgt sich für Adorno

bereits das konstitutive Kernproblem: dann, wenn die „Verdinglichung“ für das

Individuum zu einem unmittelbaren Lebensraum erstarrt ist, wird sie auch tatsäch-

lich vollzogen:

„Unmittelbarkeit [...] läuft auf die Vermittlung ohne Rest hinaus, welche die Menschen und alles Menschliche so vollkommen zu Dingen herabsetzt, dass ihr Gegensatz zu den Dingen, ja der Bann von Verdinglichung selber gar nicht mehr wahrgenommen werden kann.“155 Diese Unmittelbarkeit ist für Adorno eine kulturindustriell gegebene Unmittelbar-

keit, d. h. also eine zu dieser Unmittelbarkeit erst erstarrende Vermittlung. „Kul-

turindustrie“ bedeutet für Adorno eigentlich gar nichts anderes als die systema-

tische Hervorbringung und Reproduktion dieser neuen Unmittelbarkeit von „Ver-

dinglichung“. Dabei beruht sie auf dem immanenten Trick156 ihrer rhetorischen

Verdoppelung. Indem sie einfach monoton: ‚So-ist-es’ wiederholt, schafft sie

Fakten. Auf dem Niveau des absoluten Individualismus ist ihre Vermittlungsform

dann die des: ‚So-bist-du’, über das sich ein massiver Anforderungskatalog an das

Individuum formuliert. Das Individuum bekommt kaum tatsächliche Freiheit,

sondern diese wird eigentlich permanent bestritten, indem das Individuum sowohl

in der kulturindustriellen Praxis, als auch im szientistischen Menschenbild auf ein

Reiz/Reaktionsschema reduziert wird. Auch wenn das Individuum also durchaus

noch bemerkt, was mit ihm geschieht, kann ein behavioristisches Denkmodell

dann erklären, dass Menschen tatsächlich derart funktionieren, wie sie in der ver-

dinglichten Welt behandelt werden.

Dieser Prozess beruht insgesamt auf verdrängter Nachahmung: die zweite Natur

erreicht das Niveau ihrer neuen Totalität nur darin, sich wirklich in die Körper der

Individuen wie einzubrennen; diese in Gestik und Mimik, Tonart und Rhythmus

155 MM, S. 235 156 Diese Verdoppelung ist für Adorno eigentlich eine Art 'Weg-zaubern' oder 'Verschwinden-machen'. Er verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „Eskamotierens“; vgl. MM, S. 273

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nach ihrem Bild zu formen.157 Gerade die Film- und Fernsehfiguren unterscheiden

sich für Adorno in diesem grundlegenden Charakterzug nicht von deren

KonsumentInnen:

„Die Träume haben keinen Traum. Wie die Technicolorhelden nicht eine Sekunde ver-gessen lassen, dass sie Normalmenschen, getypte Prominentengesichter und Investitionen sind, so zeichnet sich unter dem dünnen Flitter der schematisch hergestellten Phantastik das Skelett der Kino-Ontologie unmißverständlich ab, die ganze anbefohlene Werthierar-chie, der Kanon des Unerwünschten und Nachzuahmenden.“158 Die neue Unmittelbarkeit der Verdinglichung beruht daher auch auf dem Wegfall

eines möglichen kulturellen Gegenpols, d. h. eines zu ihr divergenten normativen

Spiegels, in dem sie erst als „Verdinglichung“ auch erscheinen könnte. Kultur

wird zu Kulturindustrie: in ihr reproduziert sich der lebensweltliche Vorrang von

Disziplin und Fleiß noch einmal. Die erfolgsorientierten Individuen müssen sich

selbst zu Arbeitsapparaturen formen, die in der Leistungsbereitschaft hinter den

anderen nicht zurückstehen wollen.159 Es ist daher schwer, nicht tatsächlich in den

Sog zu geraten, ein narzißtisches Selbstbild aufzurichten, in dem man den

Anforderungen einer durchökonomisierten Lebenswelt noch besser gerecht wird

und sich nicht mit all dem zu identifizieren, was als Geschichten, Theoreme,

Comic-Figuren, Produkt-Images usw. auf ein solche Erfolgs-Hybris zugeschnitten

ist. Und vielleicht mag der Versuch, wobei sich dieser Gedanke nicht bei Adorno

findet, solche Identifikationen ganz bewusst zu vollziehen, sich quasi, um ihre

psychische Funktion wissend, zeitlich begrenzt wie in sie hineinzuwerfen, sogar

dabei helfen, einen psychologischen Spielraum zu eröffnen, innerhalb dessen man

sich des instrumentellen Moments im Identifikationsmechanismus bewusst bleibt,

und so nicht selbst wie zu einem Instrument werden muss.160

Das demokratiegefährdende Potential von kulturindustriellen Vergesellschaf-

tungsmechanismen liegt für Adorno immer erst darin, das Bewusstsein ihrer selbst

wie abzuschneiden, d. h. in einer psychoanalytischen Terminologie Bewusstseins-

157 Es ist diese physiognomische Qualität des Mimetischen, die gegenwärtig zu einem Angelpunkt der neurobiologischen Forschung wird; so bei SCHORE, ALLAN (2007): Affektregulation und die Reorganisation des Selbst, Stuttgart: Klett/Cotta 158 MM, S. 230 159 Vgl. DdA, S. 190 160 Wohl aber findet sich der Gedanke bei Adorno, dass der Mythos des Erfolgs das Credo seiner glückspendenden Unmittelbarkeit desto mehr verliert, je näher man ihm kommt; vgl. DdA, S. 155; aber konträr äußert sich Adorno in Bezug auf den von mir artikulierten Gedanken in Die revidierte Psychoanalyse, Soz.Schr.1, S. 32

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regressionen zu provozieren. Der Totalitätscharakter der Kulturindustrie erweckt

dann im schon geschwächten Individuum den gefährlichen Wunsch, sich mit ihr

wie verschmelzen zu wollen. Es möchte den schmerzhaften Unterschied zwischen

dem standhaften Gestus des aufrechten Weitermachens draußen und der inneren

Stimme des eigenen Ungenügens drinnen am liebsten aufheben. Die Wunde der

noch lebendigen Differenz zum angelegten Panzer soll sich schließen und das ei-

gene Anders-sein endlich selbst vergessen werden dürfen. Dann demaskiert sich

die zu grelle Authentizität der zweiten Natur als der immanente Gewaltzusam-

menhang, der sonst unter dem Face des ‚keep smiling’ lieber im Hintergrund

bleibt. In dem Aphorismus Dienst am Kunden pointiert Adorno:

„Kulturindustrie ist zugeschnitten auf die mimetische Regression, aufs Manipulieren der verdrängten Nachahmungsimpulse. Dabei bedient sie sich der Methode, die Nachahmung ihrer selbst durch den Betrachter vorwegzunehmen, und das Einverständnis, das sie be-wirken will, als bereits bestehendes erscheinen zu lassen. [...] Ihr Produkt ist gar kein Stimulus, sondern ein Modell für Reaktionsweisen auf nicht vorhandene Reize. Daher im Lichtspiel der begeisterte Musiktitel, die alberne Kindersprache, die blinzelnde Volks-tümlichkeit; noch die Großaufnahme des Starts ruft gleichsam aus: wie schön! Mit die-sem Verfahren rückt die Kulturmaschine dem Betrachter so nahe auf den Leib wie der frontal photographierte Schnellzug im Spannungsmoment.“161 So wie manche Eltern vorgebliche Kinder-Sprache sprechen, wenn sie ihren Kin-

dern z. B. einen Arztbesuch als spannendes Erlebnis andrehen wollen162, spielt die

Kulturindustrie mit dem Idealbild, das sie von den Menschen hat, und bietet ihren

KonsumentInnen quasi im voraus das Bild schon an, welches diese dann als

einträchtig befriedigte zeigt. Sie trägt als Ansprache die harmonische Maske eines

rundum zufriedenen Kunden. Genau darin aber ist die Form dieser Ansprache für

Adorno in einem hohen Ausmaß autoritativ: sie befriedigt ihre KonsumentInnen

eben nicht, wie es die gesellschaftliche Ideologie will, nach deren Maßgabe, son-

dern zeigt diesen erst einmal ein Bild von dem, was sie als Befriedigung zu

empfinden haben. Darin kommt sie einer Drohgebärde gleich. Der Nachahmungs-

vorgang, den dieses Verfahren einer quasi vorweggenommenen Abbildung provo-

ziert, basiert daher zu einem guten Teil auf Selbsterhaltungsangst, die wie oben

beschrieben den Blick darauf verbauen kann, überhaupt in diesem Nachahmungs-

prozess befangen zu sein. Sich verdrängen müssende Mimesis und dinghafte Er-

starrung sind daher für Adorno eigentlich dasselbe, oder haben zumindest eine

161 MM, S. 229 162 Vgl. ebd., S. 229

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gemeinsame genetische Quelle: sie sind das zwanghafte Produkt der „Angst vorm

Ausgestoßenwerden“, die den herrschaftlich vergesellschafteten Menschen „ge-

schichtlich zur zweiten Natur geworden“163 ist:

„[N]icht umsonst bedeutet Existenz im philosophisch unverderbten Sprachgebrauch ebenso das natürliche Dasein wie die Möglichkeit der Selbsterhaltung im Wirtschaftspro-zess. Das Überich, die Gewissensinstanz, stellt nicht allein dem einzelnen das gesell-schaftlich Verpönte als das An-sich-Böse vor Augen, sondern verschmilzt irrational die alte Angst vor der physischen Vernichtung mit der weit späteren, dem gesellschaftlichen Verband nicht mehr anzugehören, der anstatt der Natur die Menschen umgreift.“164 Der Bedrohlichkeit der zweiten Natur ist daher eine somatische Dimension tat-

sächlich eigen, d. h. sie ist nur zweite Natur, weil sie wirklich an die Selbsterhal-

tungsängste der Individuen andockt. Diese verdrängen aber diese Angst, wie die

Nachahmung, denn sie sind so, wie das Bild sie zeigt. Sichtbar bleibt die der

zweiten Natur immanente Drohgebärde aber an den im obigen Zitat von Adorno

beschriebenen Rhetoriken der einschwörenden Überzeichnung und Übertreibung,

die einem solchen Identifikationsverfahren der vorweggenommenen Abbildung

wesentlich sein müssen.165

In diesem Moment einer umfassenden Überwältigung166 des Individuums aber, in

dem das mögliche Leiden an der Verdinglichung stumm und unaussprechbar

wird, schlummert für Adorno ein Gewaltpotential, das die Gefahr in sich birgt, auf

den psychotischen Zustand des Faschismus zuzutreiben. Denn das unausprechbar

gewordene Leiden an der Verdinglichung verschwindet nicht einfach, sondern

existiert fort als Groll und unbestimmter Hass auf eine undurchdringliche Welt

und das einem selbst verschleierte Leben in ihr. In dem Vortrag Was bedeutet:

Aufarbeitung der Vergangenheit versucht Adorno, dieses totalitäre Potential des

verdinglichten Gesellschaftszustands greifbar zu machen:

„Wenn sie [die Menschen, D.S.] leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebe-nen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durch-streichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. Den Verblendungszusammenhang zu durchschauen, mutet ihnen eben die schmerzliche Anstrengung der Erkenntnis zu, an welcher die Ein-

163 Aus Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, Soz.Schr.1, S. 47 164 ebd., S. 47 165 Hier mag ein weiterer Grund dafür liegen, dass Adorno selbst die rhetorische Form des ‚So-ist-es’ verwendet, nämlich um zu dieser Wirklichkeit durchzudringen; vgl. GARCÍA DÜTTMANN, ALEXANDER (2004): So ist es: ein philosophischer Kommentar zu Adornos Minima Moralia, Frankfurt am Main: Suhrkamp 166 Vgl. auch STEINERT, HEINZ (2002): a. a. O., 139 ff.

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richtung des Lebens, nicht zuletzt die zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie, sie hin-dert. Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Ge-gebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential. Es wird verstärkt von der Unzufriedenheit und der Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und repro-duziert. Weil die Realität jene Autonomie, schließlich jenes mögliche Glück nicht einlöst, die der Begriff von Demokratie eigentlich verspricht, sind sie indifferent gegen diese, wo-fern sie sie nicht insgeheim hassen. Die politische Organisationsform wird als der gesell-schaftlichen und ökonomischen Realität unangemessen erfahren; wie man sich selber an-passen muss, so möchte man, dass auch die Formen des kollektiven Lebens sich anpassen, um so mehr, als man von solcher Anpassung das streamlining des Staatswesens als eines Riesenunternehmens im keineswegs so friedlichen Wettbewerb aller sich er-wartet. Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein; lieber möchten sie die Verpflichtung zu einer Autonomie loswerden, von der sie argwöh-nen, dass sie ihr doch nicht nachleben können, und sich in den Schmelztiegel des Kollek-tiv-Ichs werfen.“167 Wenn das Individuum die eigene Lebensform, obwohl sie als Individualismus er-

scheint, nicht als das Glück von Freiheit empfindet und nicht auch die lebens-

weltlichen Vorzüge der eigenen demokratischen Autonomie kennenlernen kann,

wird es gleichgültig gegen die politische Form der Gesellschaft, in der es lebt. Ein

Ausdruck von Gleichgültigkeit dem eigenen Leben und denen der anderen gegen-

über ist aber meist nur die Oberfläche eines tiefsitzenden Grolls darüber, so ge-

worden zu sein. Man fühlt sich vom Leben betrogen und in der Welt nicht zu-

hause. Die Identifikation mit den Gegebenheiten, die man vollziehen musste, ist

dann halbdurchschaut geblieben: man empfindet zwar den Zwang an ihr, aber nur

wie eine undurchdringliche Macht, gegen die man nichts vermag. Ohne den mi-

metischen Zwangszusammenhang zwischen sich und der verdinglichten Welt zu

begreifen, empfindet man sich dennoch wie ein Spielball von fremden Mächten,

die einen rumschubsen, wie es ihnen passt. Das ist für Adorno die Genese der Pa-

ranoia auf dem ideologischen Nährboden der halbdurchschauten Verdinglichung.

Um deren Funktionsweise aber erklären zu können, hätte ich den Begriff der Mi-

mesis weiter ausdifferenzieren müssen.168

167 KuG2, S. 567 168 s. hierf. DdA, S. 217 ff.

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Schluss

Da bereits das dritte Kapitel einen im Ansatz resümierenden Charakter hatte,

möchte ich in diesem Schlusskapitel nur noch einige Anmerkungen zu der be-

grifflichen Konstellation des Verdinglichungsbegriffs bei Adorno machen, die für

eine kritische Auseinandersetzung hilfreich sein mögen, sowie noch einen

weiteren Aspekt von Adornos Begriff der zweiten Natur andeuten, der sich hier

zwar nicht mehr befriedigend ausführen lässt, aber dennoch aufschlussreich ist.

Zentral bei Adorno bleibt trotz aller, oder gerade wegen der grundlegenden Kritik

an der abendländischen Herrschaftsgeschichte die Emphatisierung einer kritischen

Rationalität und das sozialphilosophische Projekt einer Rettung der Aufklärung.

Anders als etwa für einen Positivisten wie Foucault ist für Adorno die

gesellschaftliche Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft Ausdruck eines

Zustands, der nach dem Maßstab einer kritischen Rationalität unvernünftig ist.

Das individuelle Rationalitätsvermögen bleibt daher befangen in dem

gesellschaftlichen Spannungsfeld einer Rationalisierung des Irrationalen:

„Die Überzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch. Unterm Bann der zähen Irra-tionalität des Ganzen ist normal auch die Irrationalität der Menschen. Sie und die Zweck-rationalität ihres praktischen Handelns klaffen weit auseinander, aber Irrationalität ist stets auf dem Sprung, auch diese Zweckrationalität, im politischen Verhalten, zu über-fluten.“169 Adorno bleibt also thematisch dem webermarxistischen Problem der irrationalen

Rationalität treu. Aber sein Blick auf dieses Problem ist durch die Emphatisierung

eines psychoanalytischen Erklärungsansatzes, mit dessen Hilfe Adorno versucht,

die irrationalen Rudimente in der individuellen Ausbildung einer bloß instru-

mentellen Vernunftauffassung in einer existentiellen Selbsterhaltungsangst zu

verorten, auch auf diese Perspektivnahme der Tendenz nach festgelegt. Adorno

neigt dazu, alle möglichen Formen des instrumentellen Denkens als eigentlich nur

aus verdrängter Selbsterhaltungsangst heraus motiviert und daher emphatisch als

irrational zu begreifen. Die Möglichkeit einer analytisch sauberen Unterscheidung

zwischen zweckrationalen und irrationalen Anteilen an der Motivlage des

Individuums würde Adorno zwar mit Grund bestreiten, aber dennoch könnte eine

Präzisierung des rationalen Anteils am Handeln der Individuen unter

169 KuG2, S. 587

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spätkapitalistischen Existenzbedingungen manchmal hilfreich sein, um solche

lebensweltlichen Rationalitätspotentiale darlegen und vielleicht sogar kritisch an

sie anknüpfen zu können.

Adorno wäre skeptisch gegenüber einer solchen Möglichkeit der Herauslösung

eines noch vorhandenen, aber vielleicht nur verschütteten Rationalitätspotentials

aus der spätkapitalistischen Lebenswelt, denn seine Methode der Kritik setzt

anders an. Adorno knüpft an an Georg Lukács und dessen hermeneutische Idee

eines die „Verdinglichung“ notwendig aufsprengenden Wahrheitsmoments, das in

der mimetischen Nachzeichnung der verdinglichten „Problemverschlingungen

und Äqivokationen“170 liegt. Man kann sagen, dass die Methodik des

Verdinglichungstheorems aus Geschichte und Klassenbewusstsein auf dieser Idee

einer hermeneutischen Ausdeutung kapitalistischer Lebensbedingungen beruht.171

Adorno übernimmt diese Vorstellung einer materialistischen Hermeneutik als

methodische Grundidee seiner Philosophie praktisch unverändert in seiner

Frankfurter Antrittsvorlesung: der Philosoph muss primär den metaphorischen

Verschlingungen der Begriffe so folgen, wie sie vorgefunden werden, und in

deren Aufzeichnung zeigen diese das jeweils kritisch deutbare Rätselbild an, das

dann durch seine richtige Auslegung die verdinglichte Wirklichkeit für die

Betrachtung wie aufspringen lässt.172

Das sozialphilosophische Problem, das sich aus dieser für Adorno spezifischen

Kombination eines psychoanalytischen Verständnisses der Verdinglichung

einerseits und einem unbedingten Glauben an die aufsprengende Kraft der

hermeneutischen Nachzeichnung dieser Verdinglichung andererseits ergibt, lässt

sich relativ einfach demonstrieren: in seinem ganzen Werk differenziert er nicht

einmal zwischen einer noch nicht verselbständigten und einer schon

verselbständigten Zweckrationalität. Weil die instrumentelle Rationalitätsform der

Individuen im späten Kapitalismus für Adorno als ubiquitärer Verwertungszwang

zum einen bereits den „Charakter des offenen Wahnsinns“173 angenommen hat,

und zum anderen diese Rationalität für Adorno bereits den sozialpsychologischen

170 GuK, S. 307 (in dieser Arbeit S. 40) 171 Für den dritten Teil, der vom Bildungsprozess des Klassenbewusstseins handelt, müsste diese Auffassung noch einmal weiter ausdifferenziert werden. 172 Vgl. Die Aktualität der Philosophie, in ADORNO, THEODOR W. (1997): Philosophische Frühschriften, Ges. Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 325 ff. 173 DdA, S. 78 (in dieser Arbeit S. 46)

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Charakter einer Rationalisierung von Irrationalem an sich trägt, geht Adorno zwar

nicht soweit, zweckrationales Denken explizit schon als irrational zu denunzieren,

aber doch den reflexiven Restbestand von zweckrationalen Denk- und Handlungs-

formen als rationales Widerstandspotential gegen eine übermächtige irrationale

gesellschaftliche Grundverfassung an sich als sehr gering einzuschätzen.174 Das

kritische Modell, das Adorno durch diese ansatzweise Kontrastellung zum

Zweckbegriff an sich175 noch bleibt, bildet die Emphatisierung einer der Ästhetik

entlehnten Vorstellung des lebendigen Frei-seins von Zwecken, die wohl kaum all

das umfassen kann, was den kritischen Entwurf einer objektiven Rationalität

auszeichnen sollte.176

Umgekehrt aber verabschiedet er sich nicht von einem normativen Bezug auf den

marxschen Begriff des Gebrauchswerts, was letztlich als willkürlich erscheinen

muss, und auch im starken Widerspruch steht zu dem von Adorno scharf kri-

tisierten kapitalistischen Mythos vom Nutzen aller Dinge.177 Heraus kommt dabei

z. B. die zu steile und unverständlich bleiben müssende Begriffskombination einer

kulturindustriellen Negation des über individuelle Genussfähigkeit vermittelten

Gebrauchswerts der Zweckfreiheit von Kulturgütern. Man kann fragen, ob es Sinn

macht, so darüber zu sprechen. Gemeint ist eine gesellschaftliche Vereitelung von

individueller Emanzipation, und so sollte man es auch benennen.178

Die Unterscheidung von Tauschwert und Gebrauchswert hatte bei Marx noch eine

andere wesentliche Funktion, auf die ich in dieser Einführung bisher nicht

eingegangen bin, nämlich die Erläuterung der nur möglichen kapitalistischen Ge-

winnabschöpfung aus dem überschüssigen Mehrwert des Gebrauchswerts der

174 Anke Thyen zeigt auf, dass dem stärker offenen Charakter der Argumentation Adornos in Negative Dialektik eine solche nicht-verselbständigte Vorstellung von Zweckrationalität implizit zugrunde liegt; vgl. THYEN, ANKE (1989): a. a. O., S. 222 ff. 175 Im hermeneutischen Hintergrund steht Adornos These von der Herrschaftsförmigkeit des intentionalen Denkens; vgl. DdA, S. 83 f. 176 Christel Beier formuliert eine ähnliche Kritik für Adornos Verwendung des Begriffs „Wert“. Ich möchte mich insgesamt der Einschätzung Beiers anschließen, wenn sie (dort in Bezug auf Adornos Verwendung des Begriffs „Wert“) feststellt: „Jene durch den Verdinglichungstopos induzierte Metaphorik verfehlt jedoch die soziologisch erst relevante Frage nach dem Zusammenhang von gesellschaftlich fungierenden Normen und Wertsystemen und Strukturimperativen des ökonomischen Reproduktionssystems.“ in BEIER, CHRISTEL (1977): Zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Erkenntnistheorie: Untersuchungen zum Totalitätsbegriff in der kritischen Theorie Adornos, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 162 177 Vgl. den für diesen Widerspruch signifikanten Aphorismus Kaufmannsladen, MM S. 259 ff. 178 Was Adorno an anderer Stelle natürlich auch tut; vgl. Résumé über Kulturindustrie, KuG1, S. 345

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Ware Arbeitskraft im Verhältnis zu ihrem gehandelten Tauschwert. Diese Be-

deutung geht aber bereits bei Lukács zugunsten einer normativen Aufladung des

lebensweltlich-konkreten Gebrauchswerts im Verhältnis zum real-abstrakten

Tauschwert an sich eher verloren. Schon bei Lukács war die Emphatisierung ent-

lang der differentiellen Achse eines herrschenden Tauschwerts und eines be-

herrschten Gebrauchswerts eigentlich ein gewagter Zug seiner Theoriebildung,

denn im Zentrum von deren Rationalitätskritik steht das Prinzip der Kalkulation,

d. h. abstraktes Nutzen-Denken par excellence.

Man kann zwar sagen, dass eben darin doch die Nachzeichnung der theoretischen

„Problemverschlingungen und Äquivokationen“ zum Ausdruck kommt, und es in

diesem Fall darum geht, zu zeigen, wie der konkrete Gebrauchswert von Ge-

genständen durch das abstrakte Nutzenprinzip der Kalkulation überlagert wird.

Das Missliche an dieser Begriffsbildung besteht jedoch darin, dass die Kenntnis

der Begriffsgeschichte von solchen Unterscheidungen wie der von Tauschwert

und Gebrauchswert als eine richtige Verwendung der theoretischen Spielmarken

bereits vorausgesetzt wird, und sie oft kaum noch für Außenstehende einsehbar

sind.

Nun ist Lukács der materialistische Theoretiker, der die kritische Idee einer Wie-

derverortung der wissenschaftlichen Problemstellungen in der konkreten Lebens-

welt angestoßen hat, die in ihrer Folge auch die Frankfurter Schule beseelte, und

man spürt seinen Texten deutlich ihr Bemühen um sprachliche Offenheit an.

Adorno aber pflegt manchmal eine Art Kultus um das sperrige und dem schnellen

Blick unverständlich bleiben müssende Moment einer weit ausholenden

Theoriebildung; man gewinnt zuweilen den Eindruck, er spreche einer

hermetischen Darstellungsweise als einer Form von intellektueller

Verweigerungsstrategie selbst bereits emanzipativen Gehalt zu. Das bringt seine

Sozialphilosophie in ein ihr spezifisch eigentümliches Spannungsfeld, in dem

Adorno einerseits mit unbestechlichem Blick die letzten Winkel des

spätkapitalistischen Lebensraums sondiert und mit einer vollendeten Virtuosität

dessen Verdinglichungspotentiale beschreibt. Andererseits steht Adorno den

Individuen in der Mitte dieser Lebenswelt dadurch jedoch oft nur noch als For-

schungsobjekten gegenüber. Daraus ergibt sich ein melancholischer Abgrund, der

Adornos Denkbildern zuweilen eigen ist. Sie zeichnen das Bild einer Welt, die für

ein selbstbestimmtes Leben in ihr meist schon eine bittere und verlorene ist.

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Das aber macht Adornos Perspektive auch unwahr. Sie hat selbst einen Zug der

Respektlosigkeit vor dem Individuum angenommen, die sie der Kulturindustrie

vorwirft. Ich möchte an dieser Stelle nur zu bedenken geben, dass ein solches

Spannungsverhältnis heute mitbedacht werden muss, wenn man sich den enormen

Kritikgehalt des Denkens Adornos aneignen möchte. Man kann auch sagen, dass

Adorno seine eigene Sprecherposition oft nicht hinreichend reflektiert.179 Dabei

neigen Adornos dialektische Begriffskombinationen zur Überpointierung und be-

kommen in semantischen Konstruktionen wie der eines Gebrauchswerts von

Zweckfreiheit dann einen heute esoterisch wirkenden Zug.180

Der spezifische Beitrag Adornos zum Verdinglichungstheorem hat insgesamt

vielleicht eher wenig mit Marxismus zu tun. Es ist die psychoanalytische

Durchdenkung dieses Theorems.181 Diese Durchdenkung kreist um die

gesellschaftliche Funktion der Angstempfindung.182 Angst als ein in Menschen

ansprechbarer mentaler Zustand übt eine grundlegende sozialpsychologische

Funktion innerhalb dessen aus, was Adorno die „Kulturindustrie“ nennt.183 In bin

in dieser Einführung den nah an der Terminologie Adornos bleibenden Weg

gegangen, diesen Zusammenhang auch als einen ‚kulturindustriellen

Bedrohungszusammenhang’ nachzuzeichnen, dessen Darlegung ich mich auf

verschiedene Weisen versucht hatte, anzunähern. Die Rede von der

179 Die große Ausnahme bildet der Aufsatz Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in dem die weitgefasste Bedeutung des Verdinglichungsbegriffs bei Adorno dadurch auch in einen elementaren Widerspruch gerät (vgl. hierfür S. 711 f. & S. 735 f.); in KuG2, S. 702 ff.; vgl. zum Problem der fehlenden Reflexion auf die eigene Sprecherposition bei Adorno auch BEIER, CHRISTEL (1977): a. a. O., S. 40 180 Zur Kritik an Adornos Verwendung der marxschen Unterscheidung von Tauschwert und Gebrauchswert vgl. HABERMAS, JÜRGEN (1984): a. a. O., v. a. S. 489 ff. 181 Obgleich Adorno durch diese Durchdenkung die schlüssige Reintegration des marxschen Gedankens der Mehrwertabschöpfung in das Verdinglichungstheorem gelingt; vgl. Novissimum Organum, MM, S. 261 ff.; die mehrwerttheoretische Pointe an der Konstellation von Adornos Verdinglichungsbegriff verkennt Gillian Rose ein wenig; vgl. ROSE, GILLIAN (1978): a. a. O., S. 28, vgl. zur Verarbeitung des Mehrwertgedankens bei Adorno auch WEYAND, JAN (2001): a. a. O., S. 63 ff. 182 Ein großartiges Dokument der Reflexion auf die gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung von Angst bilden die von Gretel Adorno protokollierten Diskussionen von Adorno und Horkheimer im Vorfeld der Erstellung der Dialektik der Aufklärung; in HORHEIMER, MAX (1985): Ges. Schriften Bd. 12, Frankfurt am Main: Fischer, S. 436 ff. 183 Daher ist die Frage, was genau noch das spezifisch materialistische Moment an Adornos Gesellschaftstheorie sein soll, gar nicht so leicht zu beantworten; vgl. dazu SCHMIDT, ALFRED (1983): Begriff des Materialimus bei Adorno, in HABERMAS, JÜRGEN & V. FRIEDEBURG, LUDWIG (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 14 ff.; vgl. zur sozialpsychologischen Qualität des Adornoschen Begriff des „Banns“ auch LINDNER, BURKHARDT (1983): Herrschaft als Trauma, in ARNOLD, HEINZ LUDWIG (Hg.): Theodor W. Adorno, München: edition text + kritik, S. 72 ff.

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Kulturindustrie kann aber oftmals unbefriedigend sein, wenn man in den

Sachverhalt konkret eindringen möchte.184 Um die grundlegende Negativität der

Kulturindustriethese bei Adorno pointieren zu können, habe ich sie in dieser

Einführung dennoch übernommen. Als wie von außen kommende Rede von der

Kulturindustrie hat sie spätestens heute ein Moment des melancholischen Haderns

mit einer Wirklichkeit, deren historische Rücknahme aussichtslos ist.

Adorno vergisst aber auch etwas grundlegendes in dieser These. Er vergisst die im

Begriff der „Kulturindustrie“ nicht mehr enthaltene, konkrete soziale Umwelt des

Individuums, denn erst wenn von dieser sozialen Umwelt die durch die „Kulturin-

dustrie“ funktionalisierten Selbsterhaltungsängste tatsächlich überhaupt nicht re-

lativiert bis partiell aufgehoben werden, und es somit zu einem die Erstarrung der

Verdinglichung zumindest ansatzweise lösenden Eingeständnis dieser Angst nicht

kommen kann, kann eigentlich erst die unhinterfragbare Massivität einer Totalität

der „Verdinglichung“ erreicht sein, die Adorno im Begriff der „Kulturindustrie“

immer schon anvisiert.185

184 Kritische Maßstäbe setzen hier die Arbeiten von Heinz Steinert; vgl. STEINERT, HEINZ (1992): Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 185 Bei Adorno verschwindet die Möglichkeit einer solchen Perspektivnahme m. E. durch eine theoretische Unstimmigkeit in seiner Beschreibung der zirkulären Funktionsweise der Selbsterhaltungsangst: entscheidend für Adornos Perspektive ist, dass dem Individuum durch die Drohgebärde, die im oben beschriebenen Identifikationsmechanismus von dessen vorweggenommener Abbildung liegt, von Anfang an bereits die Möglichkeit auf eine angstfreie Selbstverwirklichung verbaut wird. Denn dadurch ist es erst dazu gezwungen, diese Angst selbst auch verleugnen zu müssen. Das Individuum kann nicht bewusst Einblick nehmen darein, Angst vor einer sich als Natur andrehenden Lebensform zu haben, die sich immer schon grell in es hineinprojiziert, und der es dann als Lebewesen versuchen muss, wie zwanghaft zu entsprechen. Es erstarrt in Adornos Bild also. Das Problem an diesem Bild der Erstarrung aber ist, dass nach der Freudschen Auffassung, die Adorno als maßgeblich übernimmt, Angst in der Verdrängung von Libido entsteht, was dann aber bedeuten müsste: durch einen als solchen aus Angst verdrängten Zwang von außen vollzieht sich im einzelsubjektiven Innen ein Verdrängungsprozess von libidinösen Selbstverwirklichungsansprüchen und das Individuum gerät in einen Zirkel der Angst, in dem es zwanghaft eine Lebensform in sich abbildet, die als verdrängte Entsagung aber erst die Angst zur Folge haben kann, wegen der dieser Zirkel doch bereits in Gang sein soll. Zu dem rigorosen Bild, das Adorno zeichnet muss daher die Gleichgültigkeit der das Individuum umgebenden anderen hinzutreten. Diese Gleichgültigkeit, die freilich im schon geschlossenen Zirkel dann u. U. die kulturindustrielle Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum nachahmt, muss die eigentliche Quelle der Angst sein, und nicht die bereits eine selbsterhaltende Form angenommen habende Verdrängung von Libido. Es ist also die von Adorno verkannte Bedeutung der anderen, die sozialen Einfluss nehmen können auf die „Kulturindustrie“ als unmittelbar-bedrohliche Wirklichkeit und diese relativieren bis transfomieren können, die seinem Bild notwendig hinzugefügt werden muss. Von diesem Faktor aus lässt sich dann auch das popkulturelle Subversionspotential der kulturindustriellen Vergesellschaftungsmechanismen eigentlich erst diskutieren. Zur Diskussion von Gleichgültigkeit als Herrschaft vgl. THEUNISSEN, MICHAEL (1978): Sein und Schein, Frankfurt am Main: Suhrkamp; zu Adornos Auffassung von Angst als verdrängte Libido vgl. FRÜCHTL, JOSEF (1986): a. a. O., S. 46 f.; vgl. FREUD, SIGMUND (1991): a. a. O., Vorlesung XXV, S. 375 ff.

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Das Individuum hätte dann wirklich den „Panzer“186 angelegt. Die Vermittlung

des in Abschnitt 1.3 stehengelassenen ambivalenten Bilds der Verdinglichung als

einer Art aktive Passivität ist daher möglich, wenn man diese Passivität wirklich

als ein aktives Schema denkt. Als die berechnende Versachlichung der anderen ist

sie das Fortwesen einer einsamen Kämpfernatur, von der es in der Gegenwart

nicht zufällig so viele kulturindustrielle Abbildungen gibt. Der mythische Bann,

unter dem für Adorno daher die Gesellschaft steht, ist der einer von zweiter Natur

aus zwanghaft bedrohten Selbsterhaltung. In diesem bestimmten Sinn einer von

den Individuen anzulegenden „Apparatur ihres Survival“187 ist die zweite Natur

daher für Adorno bis heute auch eine Reaktionsbildung auf die einstige Angst der

Menschen vor der ersten Natur geblieben.188 Um darauf aber befriedigend

eingehen zu können, hätte ich den semantischen Gehalt des abendländischen

Schemas der instrumentellen Naturbeherrschung weiter ausdifferenzieren

müssen.189

Adorno, wie in der Einleitung festgehalten, teilt das Interesse am Körper mit den

postmodernen Denaturalisierungsbewegungen. Was Adorno von diesen

Bewegungen unterscheidet, ist ein kritischer Begriff von der mimetischen Natur

des Menschlichen selbst. Die zweite Natur ist überhaupt nur Natur, d. h. kann sich

als diese eindeutige Authentizität inszenieren, weil sie die eigentliche mimetische

menschliche Natur überlagert und verdrängt. Der Mensch ist das Naturwesen, das

gelernt hat, die eigene Form selbstbestimmt zu verändern. Was die bedrohliche

zweite Natur überlagert, ist eigentlich die menschliche Natur.

„Was nicht verdorren will, nimmt lieber das Stigma des Unechten auf sich. Es zehrt von dem mimetischen Erbe. Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert.“190 Adorno teilt daher noch mehr mit den postmodernen Denaturalisierungsbewegun-

gen. Er teilt die Überzeugung, dass das Überleben heute das bewusste Verlassen

186 Vgl. KuG2, S. 490 187 Von der ‚Apparatur des Survival’ aus kann man auch Adornos Aufgreifen der von Anna Freud beschriebenen Struktur der „Identifikation mit dem Agressor“ als Beschreibung eines sich naturgeschichtlich fortschreibenden Traumas interpretieren; vgl. ND, S. 182; vgl. auch Soz.Schr.1, S. 65 ff.; vgl. FREUD, ANNA (1984): a. a. O., S. 85 ff. 188 Vgl. DdA, S. 211 189 Vgl. DdA, S. 217 ff. 190 MM, S. 176

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der verdinglichten Lebensform notwendig macht.191 Für Adorno ist dieses

Verlassen nur das Überleben des Menschlichen selbst. Was daher postmodern als

Denaturalisierung erscheint, ließe sich mit Adorno ungleich mächtiger als die

eigentliche Entfesselung der menschlichen Natur begreifen.

191 Vgl. BUTLER, JUDITH (2003): Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 74

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Page 98: Dirk Schuck-Das Phanomen Der Verdinglichung Bei Georg Lukacs Und Theodor W. Adorno_ Einfuhrung Fur Einsteiger Mit Ausfuhrlichen Darlegungen Zu Weber, Marx, Simmel Und Freud (German

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