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Russell ist ein ganz normaler Mensch. Nur leider ist das jeder andere doppelt so sehr wie er.
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Russell saß nun seit zwei Stunden in seinem dun-
kelroten Lieblingssessel, den er ans Fenster ge-
stellt hatte. Die Jalousien waren heruntergelassen
und so geöffnet, dass er einen spaltbreit auf die
Straße hinab sehen konnte, wenn er sich vorbeug-
te. Die meiste Zeit jedoch saß er mit gesenktem
Kopf und hängenden Schultern da und starrte in
seinen Schoß. Er dachte über seinen Doppelgän-
ger nach. Wo dieser wohl sein könnte.
Ebenso wie Russell dürfte sein Doppelgänger
kaum auffallen. Zumindest er fiel nicht auf. Russell
war klein und schmächtig, hatte schütteres brau-
nes Haar und kleine, engzusammenstehende Au-
gen in einem Gesicht, dem es an markanten Zü-
gen fehlte. Ebenso wie seine Statur war sein Auf-
treten unaufdringlich. Er wurde übersehen, wenn
er es darauf anlegte. Und meistens auch, wenn
nicht.
Konnte es so einen Doppelgänger überhaupt ge-
ben? Einen grauen Jedermann? Einen Krümel,
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wie er sich selbst in seinen schwachen Momenten
nannte. Er hätte keine Lust, ein Doppelgänger ei-
nes solchen Typen zu sein. Falls so was denn ei-
ne Rolle spielte.
Russel beugte sich vor und spreizte zwei Lamel-
len der Jalousie mit Zeige- und Mittelfinger aus-
einander. Auf der Straße sah er ein junges Paar
Hand in Hand den gegenüberliegenden Bür-
gersteig entlang gehen. Sie blieben vor einem
Obst- und Gemüseladen stehen und unterhielten
sich mit dem pausbackigen Besitzer, der den Geh-
weg vor seiner Tür fegte. Aus dem Laden trat der
zweite, genau gleiche pausbackige Besitzer und
reichte dem Paar lachend eine kleine Obsttüte.
Sie klopften sich kreuzweise zum Abschied auf die
Schultern. Als die beiden Ladenbesitzer nebenein-
ander standen und synchron winkten, ließ Russell
die Lamelle mit einem scharfen Seufzer zusam-
menfahren.
Er warf sich in seinen Sessel zurück und presste
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die Hände vor die Augen die Augen. Er hatte sich
niemals einreden wollen, dass ihn Szenen dieser
Art anekelten, aber er hatte in den letzten Mona-
ten entdeckt, dass ihm dieses Gefühl besser ge-
fiel, als die Traurigkeit, die sich sonst in ihm breit
gemacht hatte. Also hatte er versucht, alle sich
gefundenen Doppelgänger zu hassen. Und hatte
feststellen müssen, dass er auch dafür nicht der
Typ war.
Russell war eigentlich kein Einzelgänger gewe-
sen. Vor einiger Zeit hatte er einen Freundeskreis
gehabt. Wahrscheinlich niemanden, der für ihn
durchs Feuer gegangen wäre, doch immerhin eini-
ge Leute, die ihn mochten und ihn akzeptierten
wie er war. Denn er war anpassungsfähig und un-
kompliziert. Kein bedingungsloser Ja-Sager, aber
doch einer, der eher mit seiner Meinung zurück
hielt. Er war glücklich gewesen, mit dem, was er
hatte. Einladungen zu Abendessen, Firmentreffen,
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eine zweiwöchentliche Dartliga. Und am Anfang
war er ja auch wie die Mehrheit der anderen Men-
schen gewesen. Ja, ganz zu Beginn war er
schließlich wie jeder andere Mensch gewesen!
Russell spürte die scharfen Tränen, die ihm in
letzter Zeit so oft hinter den Lidern standen, wenn
er an Dinge dieser Art dachte. Er wischte sich wü-
tend über die Augen und ging in seine Küche,
setzte sich Teewasser auf und suchte nach einer
beruhigenden Blattmischung. Er hasste es, wie
seine Hände in letzter Zeit leicht zitterten, wenn er
an den Unterschied von früher zu heute dachte.
Er hatte nie so ein Hysteriker werden wollen. Egal,
was ihm passierte. Er wollte seinen Händen etwas
zu tun geben und fand nichts, seine Küche war
wie immer in einem tadellosen und kaum genutz-
ten Zustand.
Russell trat an die Fenstertür, öffnete sie aber
nicht. Der winzige Küchenbalkon lag zur Straße
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hin, auf der immer noch die beiden Ladenbesitzer
damit beschäftigt waren, Passanten gekühltes
Obst aufzuschwatzen. Er versuchte sich zu erin-
nern, wie die beiden hießen. Früher hatte er es
gewusst, war er selbst Kunde des kleinen Ladens
gewesen. Als Herr7 Decker, genau, noch allein
gewesen war. Er ging in der Erinnerung zurück,
suchte nach dem letzten Mal, als er in Herrn De-
ckers Laden gekauft hatte. Es war sicherlich ge-
wesen, als sein Doppelgänger bereits aufgetaucht
war. Er hatte ja nichts gegen Doppelgänger. Aber
irgendwann war ihm der Weg zu schwer gewor-
den, hatte er ein drückendes Gefühl dabei bekom-
men, wenn er den Laden betreten hatte. Wenn in
dem kleinen Verkaufsraum die beiden Herren De-
cker gestanden hatten, und vielleicht noch ein
oder gar zwei weitere Doppelgängerpärchen am
einkaufen waren, dann hatte Russell diese Be-
klommenheit gefühlt, eine Platzangst, die nicht
durch die Zahl der Leute zu erklären war. Irgend-
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wann hatte er nicht einmal mehr auf der Straße et-
was gekauft. Stattdessen hatte er schon zwei Stra-
ßenecken vorher die Seite gewechselt.
Der Teekessel pfiff und schreckte Russell aus sei-
nen Gedanken auf. Mit immer noch zitternden
Händen griff er die Kanne und übergoss seine
weißen Teeblätter. Er starrte die vollen zwei Minu-
ten Ziehzeit auf seine Tasse und konzentrierte
sich darauf, wie der Tasseninhalt sich gelb ver-
färbte. Danach waren seine Hände wieder ruhig.
Vor vier Jahren hatte er wie jeder andere um ihn
herum reagiert: Die ersten Berichte über Doppel-
gänger in den Boulevardmagazinen hatte er kaum
wahrgenommen, belächelt höchstens. Als dann
immer mehr Menschen auftauchten, die ihrem tat-
sächlichen Doppelgänger begegnet waren, wurde
er wie fast jeder Mensch beunruhigt. Niemand
wusste schließlich, wo sie herkamen. Noch heute
wusste es niemand sicher. Man stand an einer
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Bushaltestelle und plötzlich stand man selbst ne-
ben sich. Überrascht waren beide. Gesucht hatte
man sich nicht. Und plötzlich war man da und dort
und so genau gleich.
Und obwohl das Misstrauen groß war, obwohl
Menschen anfänglich in Panik gerieten, war da
doch immer diese Sympathie zwischen Doppel-
gängern. Man war einander gleich und man wuss-
te es.
Nach wenigen Jahren gab es so viele Doppelgän-
gerpaare, dass sie den Hauptteil einer jeden Ge-
sellschaft ausmachten. Hatten sich zwei von ihnen
gefunden, blieben sie meistens in gegenseitiger
Nähe, arbeiteten zusammen, lebten zusammen.
Russell erinnerte sich noch an die Liveübertra-
gung der ersten Doppelgänger-Doppel-Hochzeit.
Doppelgänger waren normal geworden. Russell
hatte seinen nicht gefunden. Er war nicht der Ein-
zige. Einer seiner engsten Freunde war wie er al-
leine. Dieser Zustand schweißte sie zusammen.
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Für über ein Jahr war Peter sein ständiger Beglei-
ter. Sie waren sich sehr ähnlich gewesen, darüber
hatten sie oft Scherze gemacht: Die ersten wah-
ren Charakterdoppelgänger der Welt. Vor drei Mo-
naten war Peter in einem Fitnessstudio dann sei-
nem echten Doppelgänger begegnet. Vor zwei
Monaten war der Kontakt zu Russell bis auf kurze
Anrufe und leere Floskeln abgebrochen.
Es kam der Tag, an dem die Magazine die ersten
Berichte über Menschen brachten, die ihrem Dop-
pelgänger noch nicht begegnet waren. Mark Tings
war Russells Wissen nach der Erste gewesen, der
vor die Kamera getreten war. Der Beitrag war
scherzhaft gestaltet, Mark erzählte, dass er sich
eigentlich ganz normal fühle und das ja auch sei.
Doch irgendwie sei es schon lustig, sich als gan-
zer Kerl wie eine halbe Portion zu fühlen. Die Sen-
dung hatte damit geendet, dass Mark halb gewit-
zelt seinen Doppelgänger dazu aufgerufen hatte,
beim Sender seine Adresse zu hinterfragen.
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Russell hatte sich nach der Show an den Kopf ge-
griffen und fassungslos lachend um sich geguckt.
Doch da war schon niemand mehr da gewesen,
mit dem er sich hätte amüsieren können.
Er nahm einen vorsichtigen Schluck von seinem
Tee. Obwohl er ihn nicht zu lange hatte ziehen
lassen, schmeckte er bitter. Auf dem Weg zurück
in seinen Sessel klingelte es an der Tür. Er hatte
dieses Geräusch so wenig erwartet, dass er etwas
von dem Tee auf seine bestrumpften Füße ver-
schüttete. Sein Aufschrei musste auch draußen zu
hören gewesen sein. Einen kurzen Moment
lauschte er auf Geräusche vor der Tür. Ob sich je-
mand entfernen würde. Er stand da wie ein ge-
blendetes Wild. Sofort kam er sich lächerlich und
erbärmlich vor. Den Tee abstellend öffnete er die
Tür, ohne durch den Spion zu sehen.
„Guten Tag, meine Name ist Yvonne. Ich bin Mit-
glied des Fähnleins Weidengrund hier aus der
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Nachbarschaft.“, stellte sich ein ungefähr zehnjäh-
riges Mädchen in einer blauen Pfadfinderuniform
vor. Sie machte tatsächlich einen kleinen Knicks.
Russel wäre amüsiert gewesen, wenn nicht das
kleine, ebenfalls ungefähr zehnjährige Mädchen
neben Yvonne auch geknickst hätte.
„Ich verkaufe Kekse und unsere Pfadfinderzeit-
schrift. Das alles ist für einen guten Zweck. Für die
Hälfte des Erlöses kann unser Fähnlein im Herbst
auf eine Freizeit fahren, die andere Hälfte spen-
den wir einer Stiftung.“, sagte die zweite Yvonne,
die sie unübersehbar war. Russell konnte nicht
antworten. Die Hand, mit der er immer noch die
Türklinke festhielt, zitterte stärker als den ganzen
Tag zuvor.
„Die Kekse sind von allen Eltern gebacken. Sie
sind echt gut. Und kosten gar nicht viel.“ Das Lä-
cheln der beiden war ehrlich, gewinnend und syn-
chron. Russell bemerkte, dass sie beide auf der
linken Wange mehr Sommersprossen zu haben
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schienen, als auf der rechten. Er wollte fragen,
seit wann sich die beiden kannten und wer zu
wem gekommen war. Er tippte auf die Rechte,
denn diese hatte erst als Zweite gesprochen. Aber
er wusste, dass das nichts zu bedeuten hatte. Er
wusste auch, dass die Frage, die er stellen wollte,
ungehörig war, selbst wenn man sie ungefähr
zehnjährigen Mädchen stellte. Und er spürte, dass
sein Mund im nicht gehorchte, dass er jetzt zu
sprechen anfangen würde.
„So7 Kekse. Ja! Ich mag Kekse. Dann nehme ich
wohl eine Packung. Habt ihr unterschiedliche Sor-
ten? Ach nein, sind ja selbst gebacken, also wohl
eher nicht. Na ja, eine also. Und natürlich ein Ma-
gazin, klar!“ Er fummelte hektisch in seiner Hosen-
tasche herum, bekam seine Brieftasche nicht zu
fassen. Die rechte Yvonne reichte ihm eine Pa-
ckung Kekse, die linke das Pfadfindermagazin.
Seine Hand zitterte beim entgegennehmen so
stark, dass die Kekse in der Packung raschelten.
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Er drückte der rechten Yvonne einen Schein in die
Hand, ohne ihn angesehen zu haben.
„Stimmt schon so, was? Ist ja alles für einen guten
Zweck. Also, Mädchen, viel Spaß auf euerer Frei-
zeit, nicht?“ Seine Versuche, nicht abgehackt zu
sprechen, waren erbärmlich. Er schloss die Tür
vor den unverändert grinsenden Yvonnes und leg-
te wie aus Reflex noch die Kette vor. Mit einer
Hand abgestützt wartete er auf die sich entfernen-
den Schritte. Doch zuerst kam ein leises Tu-
scheln, dass er nicht ganz verstehen konnte. Aber
was sollte schon sein? Er musste wie ein alter
Kauz gewirkt haben.
Russell ging langsam ins Wohnzimmer. Dort an-
gekommen, lachte er halblaut über sich selbst.
Seine Stimme klang so schrill, dass er erschrak.
Er ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und be-
merkte, dass er seinen Tee im Flur stehen lassen
hatte. Doch er wollte jetzt nicht aufstehen. Nicht in
die Nähe des Treppenhauses zurückgehen, wo
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die beiden Mädchen vielleicht gerade vor der ge-
genüberliegenden Wohnungstür standen. Er riss
die Kekspackung auf und griff sich ein paar Plätz-
chen. Gierig kaute er den Mürbeteig, ohne auf den
Geschmack zu achten. Er stopfte neun Kekse in
sich hinein, dann war sein Mund so voll von Teig
und Speichel, dass er kaum noch kauen konnte.
Er verschluckte sich und spuckte einen Keksklum-
pen vor sich auf den Boden, direkt auf das Cover
der Pfadfinderzeitschrift. Vorne übergebeugt blieb
er sitzen, schwer atmend. Dunkel war ihm be-
wusst, dass er gerade in den ersten Wellen eines
echten hysterischen Anfalls steckte. Er kämpfte so
gut es ging dagegen an, doch vor seinen ge-
schlossenen Augen marschierten Reihen von
Pfadfindermädchen-Doppelgängerinnen in einer
gleichmäßig grinsenden Prozedur an ihm vorbei.
Was für ein Selbstverständnis! Nur eine der bei-
den hatte sich vorgestellt! Das ging doch nicht!
Das gehörte sich doch nicht! Sie müssen sich
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doch beide vorstellen!
Russell glitt von seinem Sessel und kniete ver-
krampft vor dem Pfadfinderheft. Mit einer Hand
wischte er die Keksspuckemasse zur Seite und
wagte sich mit zu Schlitzen geöffneten Augen an
das Titelbild. Es zeigte eine Portraitaufnahme vom
Fähnlein Weidengrund und seinen rund vierzig
Mitgliedern, auf einer Wiese geschossen. Yvonne
und Yvonne standen in der ersten Reihe, flankiert
von anderen Doppelgängern.
„Ihr müsst euch doch einzeln vorstellen!“, schrie
Russel das Bild an. Kekskrümel spritzten dabei
aus seinem Mund.
„Das verlangt der Respekt!“. Er riss die Titelseite
vom Magazin ab, knüllte sie zu einem Ball zusam-
men und schleuderte diesen durch seine Woh-
nung. Tränen standen in seinen Augen.
„Es gibt immer noch Einzelne!“
Russell lehnte mit dem Rücken an seinem Sessel,
streckte die Beine aus und ließ seine Arme hän-
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gen. Die restlichen Kekse lagen um ihn herum
verstreut.
„Es gibt uns noch.“, sagte er, dem Magazin entge-
gen. Das erste Mal seinen Tränen nachzugeben
war ein keineswegs befreiendes Gefühl für Rus-
sell. Er spürte den Hass auf alle Doppelgänger, er
spürte seinen Neid auf sie. Er spürte seine tiefe
Traurigkeit, alleine zu sein, so verdammt alleine.
Nein, da waren keine Gefühle in Russell, die be-
freiend hätten wirken können.
Er saß so eine ganze Weile und draußen däm-
merte es. Die beiden Herren Decker scherzten
miteinander, als sie ihren Laden abschlossen. Mit
einem Lachen ihrer tiefen Baritonstimme gingen
sie nach Hause. Russell legte den Kopf in den Na-
cken, auf die Sitzfläche seines Sessels.
„Es gibt mich noch“, sagte er, leise, ausgeweint,
kurz vor dem einschlafen. Er würde sich beim Auf-
wachen nicht an seinen letzten, nur halbbewuss-
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ten Gedanken, erinnern können: „Wo gibt es mich
noch?“
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