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Insel Verlag Leseprobe Hesse, Hermann Mit Hermann Hesse durch Italien Ein Reisebegleiter durch Oberitalien Herausgegeben von Volker Michels. Mit zahlreichen Fotografien © Insel Verlag insel taschenbuch 4784 978-3-458-36484-9

Ein Reisebegleiter durch Oberitalien Hesse, Hermann · 2020. 6. 15. · Hesse besuchten und in seinen Schriften erwähnten Orten. ÜBER DIE ALPEN Das ist ein Wandern,wenn der Schnee

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Page 1: Ein Reisebegleiter durch Oberitalien Hesse, Hermann · 2020. 6. 15. · Hesse besuchten und in seinen Schriften erwähnten Orten. ÜBER DIE ALPEN Das ist ein Wandern,wenn der Schnee

Insel VerlagLeseprobe

Hesse, HermannMit Hermann Hesse durch Italien

Ein Reisebegleiter durch OberitalienHerausgegeben von Volker Michels. Mit zahlreichen Fotografien

© Insel Verlaginsel taschenbuch 4784

978-3-458-36484-9

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insel taschenbuch 4784Mit Hermann Hesse durch Italien

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»Angesichts dieser Kultur und dieses Lebens sinkt mein Natio-nalgefühl auf Null«, schrieb Hermann Hesse 1901 in einemBrief von seiner ersten Italienreise. Seitdem hat er bis 1914 die-ses Land immer wieder bereist, oft zu Fuß oder in Eisenbahn-abteilen dritter Klasse, um soviel wie möglich zu erleben undnicht nur mit der Kunst, Kultur und Landschaft Italiens, son-dern auch mit der Bevölkerung unmittelbaren Kontakt zu be-kommen.Venedig, Florenz, die Toskana und Umbrien hat Hesse so auf

ganz untouristisch eigenwillige Weise für sich entdeckt underwandert.Worüber »Baedeker unverantwortlich schweigt«,fin-den wir in seinen Tagebüchern und Reiseskizzen so anschau-lich und poetisch geschildert, daß es ein Abenteuer ist, dieLandschaften, Städte und Sehenswürdigkeiten Ober- und Mit-telitaliens mit diesem alternativen Reisebegleiter zu erleben.»Das jahrelang sehnlich erträumte Betreten italienische Bo-

dens gab mir ein so intensives erhöhtes Glücksgefühl, wie iches bis dahin kaum gekannt hatte und wie es mir vielleicht niewieder zuteilwerden wird.« Hermann Hesse

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MIT HERMANN HESSE DURCH ITALIENEin Reisebegleiter durch Oberitalien

Herausgegeben von Volker MichelsMit zahlreichen Fotografien

Insel Verlag

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Erste Auflage 2020insel taschenbuch 4784Deutsche Erstausgabe

© dieser Ausgabe Insel Verlag Berlin 2020Für die Texte von Hermann Hesse alle Rechte vorbehaltendurch den Suhrkamp Verlag, Berlin, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oderunter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlagabbildung: Severino Trematore,Reiseplakat Gardasee, Italien, 1924

Foto: GraphicArtis/Bridgeman Images, BerlinUmschlaggestaltung: hissmann, heilmann, hamburgSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-36484-9

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INHALT

Reiselust 9Über die Alpen 13Spaziergang am Comer See 14Die Zypressen von San Clemente 20Bergamo 21Tagebuchnotizen aus Mailand 29Ankunft in Cremona 33Abend in Cremona 34Tagebuchnotizen aus Genua 45Bei Spezia 48Meermittag 49Tagebuchnotiz aus Livorno 51Hafen von Livorno 52Odysseus 53In Pisa 55Vom Zauber einer alten, untergegangenen Kunst 57Florenz: 63»Ars Florentiae Docet« 63Ostern in Florenz 64Ein Opernabend 69Wenn ich an Florenz denke … 71Il Giardino di Boboli 72Ein Stadtrundgang mit Hesses Reisetagebuch 77Toskanischer Frühling 102Anemonen bei Fiesole 103Fiesole 106Im Norden 111Initialen 112

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Certosa di Val d’Ema 116Prato ist ein famoses Städtchen 117Tagebuchnotiz aus Pistoia 119Bologna 120Padua 122Eine der charakter- und stimmungsvollsten Städte 124Venedig: 127Stadt des Müßiggangs, der Liebe und der Musik 127Ankunft in Venedig 129In den Kanälen Venedigs 131Piazzetta 139Venedig 140Die venezianische Gondel 141Die Lagune 142Barcarole 147Ein Stadtrundgang mit Hesses Reisetagebuch 148Auf der Gräberinsel bei Venedig 159In Venedig empfehle ich Ihnen … 162

Ravenna 164Eindruck von Unzerstörbarkeit und Ewigkeit 166Siena mit seinem schwarz-weißen Banner 168Montefalco 170Reiselied 175Gubbio 176Jetzt war es Zeit, abzureisen … 183Zu diesen Italienwanderern gehöre ich 186

Nachwort 189Textnachweis 204Bildnachweis 207

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Daß mein Reisen, Sehen und Erleben unabhängig von Modeund Reisehandbüchern war, wird man leicht sehen können.Wer auf Reisen wirklich etwas erleben, wirklich froher undinnerlich reicher werden will, wird sich die geheimnisvolleWonne eines ersten Schauens und Kennenlernens nicht durchsogenannt »praktische« Reisemethoden verderben. Wer mitoffenen Augen in ein fremdes, bis dahin nur aus Büchern undBildern gekanntes, aber seit Jahren geliebtes Land kommt,dem wird jeder Tag unerwartete Schätze und Freuden geben,und fast immer behält in der Erinnerung dieses naiv und im-provisiert Erlebte die Oberhand über das planmäßig Vorbe-reitete.

[1904]

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REISELUST

Es istmitten imWinter, der Schnee wechseltmit Föhn und dasEis mit Schmutz, die Feldwege sind ungangbar, man ist vonder nächsten Nachbarschaft abgeschnitten …

Ich trete häufig für einige Augenblicke ins Schlafzimmer,wo an der Wand die große Karte von Italien hängt, und strei-fe mit begehrlichem Auge über den Po und Apennin hinweg,durch grüne toskanische Täler, an blau und gelben Strand-buchten der Riviera hin, schiele auch etwa nach Sizilien hinabund verirre mich dabei gegen Korfu und Griechenland hin.Lieber Gott,wie ist das alles nah beieinander! Und wie schnellkann man überall sein. Und pfeifend kehre ich in die Studier-stube zurück, lese entbehrliche Bücher, schreibe entbehrlicheArtikel und denke entbehrliche Gedanken.Im vergangenen Jahre war ich sechs Monate auf Reisen, im

vorhergehenden fünf Monate, und eigentlich ist das für einenFamilienvater, Landmann und Gärtner ziemlich reichlich, undals ich neulich das letztemal heimkehrte, nachdem ich unter-wegs in der Fremde krank geworden, operiert worden und einegute Weile gelegen war, da schien es mir an der Zeit, nun fürlange hinaus, wenn nicht für ewig, Frieden zu schließen undheimisch und häuslich zu werden. Allein, kaumwar die ärgsteAbmagerung und Müdigkeit überwunden und ersetzt, kaumhatte ich mich wieder ein paar Wochen mit Büchern befaßtund Schreibpapier verbraucht, da schien eines Tages die Son-ne wieder so unheimlich gelb und jung auf die alte Landstra-ße, und über den See lief ein schwarzer Nachen mit einemgroßen schneeweißen Segel, und ich bedachte die Kürze desMenschenlebens, und plötzlich war von allen Vorsätzen und

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Wünschen und Erkenntnissen nichts mehr da als eine unheil-bare, tolle Reiselust.Ach, die echte Reiselust ist nicht anders und nicht besser als

jene gefährliche Lust, unerschrocken zu denken, sich die Weltauf den Kopf zu stellen und von allen Dingen, Menschen undEreignissen Antworten haben zu wollen. Die wird nicht mitPlänen und nicht aus Büchern gestillt, die fordert mehr undkostet mehr, man muß schon Herz und Blut daran rücken.Vor meinem Fenster wühlt der weiche, laue Westwind im

schwarzen See, ohne Zweck, ohne Ziel, in seiner Leidenschaftrasend und sich verzehrend, wild und unersättlich. So wildund unersättlich ist die wahre Reiselust, der Erkenntnis- undErlebensdrang, den kein Erkennen stillt und kein Erleben sät-tigt. Der ist stärker als wir und als alle Ketten, und über wen erherrscht, von dem will er immer wieder Opfer haben. Gibt esnicht Menschen, die toll und wild bis zum äußersten Wagnisund bis zum Untergang nach Geld jagen und nach Frauen-gunst und nach Fürstengunst? Nun, so jagen wir, wir Reise-lustigen, nach einem Erfassen und Erleben der Mutter Erde,nach einem Einswerden mit ihr, nach einem so völligen Besit-zen und Sichhingeben,wie es nicht zu haben und nicht zu er-jagen, wie es nur zu träumen, zu begehren, zu ersehnen ist.Und vielleicht ist diese unsre Jagd und Leidenschaft nicht vielanders und um nichts besser als die des Spielers, des Spekulan-ten, des Don Juan, des Strebers. Im Hinblick auf die Abend-stunde aber scheint mir unsre Leidenschaft doch besser undwertvoller zu sein als manche andre. Wenn uns die Erde ruft,wenn uns Wanderern die Heimkehr, uns Rastlosen die Ruhe-statt winkt, so wird das Ende kein Abschiednehmen und zagesSichergeben sein, sondern ein dankbares und durstiges Schlür-fen des tiefsten Erlebens. Wir sind neugierig auf Südamerika,auf unentdeckte Buchten der Südsee, auf die Pole der Erde,

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auf das Verstehen der Winde, Ströme, Blitze, Lawinen – aberwir sind noch unendlich viel neugieriger auf den Tod, aufdas letzte und kühnste Erlebnis dieses Daseins. Denn wir glau-ben zu wissen, daß von allen Erkenntnissen und Erlebnissennur die wohlverdient und befriedigend sein können, um diewir gern das Leben hingeben.

[1910]

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0 40 80 120 km

Neapel

Rom

TriestTurin

Ancona

Rimini

Mantua

Modena

Trient

Verona

UMBRIEN

LOMBARDEI

LIGURIEN

TOSKANA

VENETIEN

EMILIA-ROMAGNA

A d r i a

T y r r h e n i s c h e sM e e r

L i g u r i s c h e sM e e r

I TAL IENKorsika

SardinienCapri

IschiaPonza

Elba

Padua

Chioggia

Mailand

ComoBergamo

Genua

PisaLivorno

Spoleto

AssisiMontefalco

Gubbio

Florenz

Certaldo

PistoiaPrato

Perugia

BolognaRavennaLa Spezia

CremonaVenedig

Siena

Reiserouten mit den vonHesse besuchten und in seinenSchriften erwähnten Orten

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ÜBER DIE ALPEN

Das ist ein Wandern, wenn der SchneeDer Alpenberge kühl erglänzt,Indes der erste blaue SeeItaliens schon die Sicht begrenzt!

Durch Höhenwind und herbe LuftWeht eine süße Ahnung herVon violettem FerneduftUnd südlich übersonntem Meer.

Und weiter sehnt das Auge sichZum hellen Florentiner DomUnd träumt nach jedem HügelstrichAufsteigend das beglänzte Rom.

Schon formt die Lippe unbewußtDer fremden schönen Sprache Laut,Indes ein Meer verklärter LustDir schauernd warm entgegenblaut.

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SPAZIERGANG AM COMER SEE

Der Spätnachmittag schwankte unentschlossen zwischen böi-ger Heiterkeit und stillem Regen, es war kühl, und von den Ber-gen blickte frischer bleicher Schnee herab. Ich war in Comoausgestiegen, weil mir das der schönste Eintritt ins italieni-sche Land scheint, wenn man vom Gotthard kommt. Man istden Bergen noch nahe und spürt doch schon mit ahnendemVerlangen Ebene und weite, stille Fruchtbarkeit, und das Städt-chen Como ist vom guten oberitalienischen Typ, sauber undwohlhabend, freundlich und gastlich.Im Gegensatz zu Lugano und allen den berühmten Seestädt-

chen wendet Como dem See den Rücken zu, und man hatselbst an dem hübschen kleinen Hafenplatz nicht das langwei-lend beängstigende Gefühl, auf dem Sperrsitz einer wohlar-rangierten Landschaft gegenüber zu sitzen, mit dem Billettin der Tasche und mit der Verpflichtung, die Sache schön zufinden. Das einzig Mißglückte an Como ist der steile Berg mitBrunate* oben, mit den meist protzig öden Bauten und denhaushohen Plakatbuchstaben für »Tor« und »Fernet-Branca«.Man wendet ihnen und dem See den Rücken und schlendertharmlos in einer hübschen lebendigen Stadt, die reich genugan alter Schönheit ist und doch nirgends den Eindruck einesMuseums macht. Der Fremde ist hier freundlich geduldet, erwird weder als Wundertier bestaunt noch als Spekulationsob-jekt mißbraucht. Und schon hier hat das Leben der Gasse ita-lienischen Zauber, singende Handwerker arbeiten im Freien,und schöne, leichtfüßige Mädchen und Frauen bewegen sich

* Villenvorort mit zahlreichen Sommerhäusern der Mailänder.

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in den hübschen Straßen wie wohlbeschaffene Vögel in ihremWalde, ohne Schwere und ohne andere Gefallsucht als die desVogels und Schmetterlings.Als ich nach einem stillen Gang durch die Gassen auf den

leeren Platz am Hafen kam, schien das Wetter eine gute Stun-de zu versprechen, und da gerade ein kleines Dampfschiffleinbereit lag und zur Abfahrt pfiff, lief ich rasch über den Stegund fuhrmit, noch ohne zu wissen,wohin es gehe. Wir fuhrenaus dem bescheidenen Becken von Como, das eigentlich nurein großer Hafen ist, an Villen und Frühlingsgärten vorüberin den größeren Seearm, der Wind fegte kalt über das kleineDeck, und die paar Reisenden drängten sich bei der Maschinezusammen. Ich habe diesen See niemals richtig lieben können,er ist gar zu schön und glänzend, er bietet seinen Reichtum all-zu willig dar, und es fehlt ihm das Schönste,was ein See habenkann, ein ruhiges, schöngebreitetes Ufer. Die Berge sind drük-kend hoch und fallen erbarmungslos steil herab, oben wildund kahl, unten überreichmit Dörfern, Gärten, Sommersitzenund Gasthöfen bedeckt, alles ist herrliche, nahe, prangendeWirklichkeit, alles schmettert und glänzt von Pracht und Fül-le, nirgends ist ein Ort für Traum und Ahnung geblieben, einschilfiges Moor oder ein schlafender Weidenstand, eine nasseUferwiese oder eine lockende Buschwildnis.Dennoch zog und bestrickte mich die satte Schönheit auch

diesmal wieder stark, die Felsenromantik steilhängender Dör-fer, der selbstbewußte Ernst aristokratischer Villen mit Gar-ten, Park und Bootshafen, die gesellige Nachbarlichkeit derLandgüter und Bauten. Eines von den Dörfern, es hieß Torno,lag sogar so fein und apart auf seiner koketten Landzunge,daß ich beinahe ausgestiegen wäre. Das Schiff lief nahe beimUfer einer launigen Bucht nach, hinter dem dünnen Grün jun-ger Buchen floß zauberhaft weiß und schleierig ein langer, ge-

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räuschloser Wasserfall herab, so verborgen und still, wie iches hier nirgends gesucht hätte. Das Dorf selber lag klein undleicht ansteigend am Hügel und bot dem See eine entzückendreingestimmte Schauseite dar: ein Landungs- und Wäsche-platz mit breiten, flachen Steinstufen, angebundene Boote zuFüßen, ein grünbewachsenes Haus mit Torbogen und kleinenBalkonen, ein stiller heller Steinplatz und dahinter Fassadeund Turm einer schönen Kirche, eine sanfte halbrunde Hafen-mauer mit jungen Bäumen darauf. Es war ein vollkommenes,wohl abgewogenes Bild, und es war so lieblich, daß ich im letz-ten Augenblick mich nicht entschließen konnte, es mir viel-leicht zu zerstören. Ich blieb auf meinem Platz und ließ daskleine Juwel vorüberziehen und sich verschieben und kleinerwerden, nickte ihm dankbar zu und nahm leichten Abschied.Die »Liebe auf den ersten Blick« habe ich bei Gemälden undnamentlich bei Architekturen häufiger bewährt gefunden alsbei Landschaften.In Moltrasio, überm Seearm drüben, hielt das Schiff, und

ich erfuhr, daß es hier eine Stunde liegen bleibe, um dannnach Como zurückzufahren. So stieg ich denn aus und schlen-derte ins Dorf, mit einem angenehmen Fremdlingsgefühl. Au-ßer einer imponierend großen, stillen Villa mit geschlossenenFensterläden in der glatten, ruhigen Fassade war nichts Ver-lockendes zu sehen. Ich stand am hohen Eisengitter des Por-tals und sah in den streng symmetrischen, ruhig ansteigendenGarten, wo über einem kleinen ovalen Teiche Kamelien blüh-ten und blaue Sternblumen im Rasen und wo ein breiter fürst-licher Parkweg hinauf zum Hause führte.Dann ging ich weiter und den ersten Pfad berganwärts. Er

führte über ungezählte Steinstufen an einer hohen unend-lichen Steinmauer hin, und über der Mauer stiegen strengund regelmäßig in kleinen Terrassen die hohen Zypressen mit.

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Häuser tauchten auf, ein fallendes Wasser wurde hörbar, ver-worren mit dunklen Menschenlauten aus nahen Gassen, derPfad führte eng und unter dunkelnden Dächern hindurch aufden kleinen Vorplatz einer Kirche. Ich ging hinein, sie warleer, ich verweilte Augenblicke vor einem Chor mit hübschen,schönfarbigen Fresken, ging zurück und unter einer Bogenhal-le weiter, und plötzlich stand ich auf einer kleinen, schwachgebogenen Brücke, über mir stürzte steil und schäumend einwilder Bach herab, der unterhalb, wieder unter schwebendenBrücken hin, in drei, vier kühnen Fällen zwischen bemoostenMauern und grünen Gartenhecken das Tal erreichte. Hüb-sche Mädchen trugen Wasser in Kupferkesseln auf dem Kop-fe, schwebten balancierend über eine der Brücken und ver-schwanden im feuchten Dunkel der engen Gäßchen.Ich ging in der Höhe weiter, an frisch bestellten Gemüsegär-

ten hin, da und dort tat sich der Blick in die Tiefe und nach derSeeweite auf. Meine Stunde war bald abgelaufen, ich begannmich nach einem Weg zur Schifflände umzusehen.Da geriet ich unversehens auf einen grasigen Weg zwischen

hohen Zypressen, oben und unten die begrünten Mauern gro-ßer Gärten, daneben grau und verwittert ein baufälliger Glok-kenturm, alles schweigend und kühl und märchenhaft ver-schlafen. Suchend ging mein Blick über die lange Gartenmauerzur Linken, ich fand sie von einem fensterartigen, schwarz-drohenden Loch unterbrochen und trat näher. Da gähnte imalten Steinwerk eine tiefe finstere Nische, mit einem eisernenGitter verschlossen, und hinter dem Gitter in kalter Dämme-rung glomm und schien etwas seltsam Bleiches in unfroherHelle, und da ich näher zusah, war es eine große Pyramidevon Totenschädeln, die hier, zu Gedächtnis und Mahnung auf-gestellt, im Düstern den Zeiten standhielten. Der Anblick warmir nicht fremd, ich hatte in Österreich und im Elsaß mehr-

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mals solche Schädelpyramiden gesehen und sie nie sonderlichgeschätzt. Diese aber entzückte mich und bleibt mir unver-geßlich. Denn das finstere schwarze Gitter, hinter dem die Zei-chen der Vergänglichkeit in ihrer steifen Ordnung grinsten,war von Kinderhänden über und über mit frischen, hellblut-roten Kamelienblüten besteckt, und in meiner Erinnerung iststärker als Seefahrt und Uferpracht, stärker als Wasserfall undfriedlich bemalter Kirchenchor das lichte, kindliche Blumen-spiel am Schädelgitter eingegraben geblieben.

[1913]

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Blick über den Comer See auf Tremezzo.

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DIE ZYPRESSEN VON SAN CLEMENTE

Wir biegen flammend schlanke Wipfel im Wind,Wir schauen Gärten, welche voll Frauen sindUnd voll Spiel und Gelächter. Wir schauen Gärten,Wo Menschen geboren und wieder begraben werden.

Wir sehen Tempel, welche vor vielen JahrenVoll von Göttern und voll von Betenden waren.Aber die Götter sind tot und die Tempel sind leerUnd im Grase liegen gebrochene Säulen umher.

Wir sehen Täler und sehen silberne Weiten,Wo Menschen sich freuen, müde werden und leiden,Wo Reiter reiten und Priester Gebete sagen,Wo Geschlechter und Brüder einander zu Grabe tragen.

Aber des Nachts, wenn die großen Stürme kommen,Werden wir traurig und bücken uns todbeklommen,Stemmen die Wurzeln angstvoll und warten leise,Ob der Tod uns erreiche, oder vorüberreise.

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