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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Feature am Sonntag Der Wahrheitssucher Georg I. Gurdjieff Von Daniel Guthmann Sendung: Sonntag, 11. Dezember 2016, 14.05 Uhr Redaktion: Walter Filz Regie: Felicitas Ott Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Feature am Sonntag können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/feature.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Feature am Sonntag sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Feature am Sonntag Der Wahrheitssucher Georg I. Gurdjieff

Von Daniel Guthmann Sendung: Sonntag, 11. Dezember 2016, 14.05 Uhr Redaktion: Walter Filz Regie: Felicitas Ott Produktion: SWR 2016

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Feature am Sonntag können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/feature.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Feature am Sonntag sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradio s SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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INTRO

Musik (Oriental Suite, ruhige Passage)

Stimme G: Im Augenblick sitze ich hier. Ich bin völlig außerstande, mich meiner zu erinnern, und habe keine Ahnung, was das ist. Doch ich habe davon gehört. Ein Freund erzählte mir heute, dass es möglich sei.

(Musik runter)

ATMO GURDJIEFFS KÜCHENKAMMER

Zitatorin 1: (Solange Claustres) Eines Tages war ich allein mit Herrn Gurdjieff in seiner kleinen Küchenkammer und während ich mit ihm Kaffee trank, vertraute ich ihm an, dass ich gelegentlich unter Angstzuständen leide. Er antwortete, fast beiläufig, dass die Angst entweder von den Gedanken kommen könne oder vom Körper oder von den Gefühlen.

Zitatorin 1: (Solange Claustres) Er sagte nichts weiter. Vielleicht wartete er darauf, dass ich noch etwas hinzufügen würde. Ich aber dachte nach. Mir war nicht klar, wo meine Angst herkam. Ich versuchte, in mich hineinzusehen, aber da schien mir alles durchmischt. Ich konnte nichts unterscheiden.

Musik setzt wieder ein

Stimme G: Ich habe darüber nachgedacht und bin zu der Überzeugung gelangt, dass wenn ich mich meiner lange genug erinnern könnte, ich dann weniger Fehler machen und mehr vorteilhafte Dinge vollbringen würde. (kleine Pause)

Ich will mich jetzt erinnern, aber jedes Geräusch, jeder Mensch, jeder Laut, lenkt meine Aufmerksamkeit ab - und ich vergesse es.

(Musik runter)

ATMO GURDJIEFFS KÜCHENKAMMER

Zitatorin 1: (Solange Claustres) Herr Gurdjieff fuhr fort, in aller Ruhe seinen Kaffee zu trinken. Dann nahm er das Musikinstrument, auf dem er oft spielte: ein Harmonium, wie es im Orient verbreitet ist.

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Musik 2: Gurdjieff spielt Harmonium (langsames ruhiges Stück)

Zitatorin 1: (Solange Claustres) Behutsam begann er, auf die Tasten zu drücken. So saßen wir eine längere Zeit. In mir bleibt der tiefe und sanfte Eindruck dieser besonderen Musik, die ich so oft gehört habe und die mich stets in einen Zustand großer Ruhe versetzte, der wirkliches Nachdenken möglich machte.

Musik steht in bisschen

Ansage: Der Wahrheitssucher. Georg Iwanowitsch Gurdjieff. Ein Feature von Daniel Guthmann.

Musik: Gurdjieff spielt Harmonium, geht über in:

Atmo: Ausschnitte aus den Atmosphären 48/49 mit Gurdjieffs Originalstimme

Erzähler: Paris - im Jahr 1949. Eine Wohnung in einer kleinen Straße nicht weit vom „Arc de Triomphe“ ist zu einer Art Pilgerort von meist ausländischen Besuchern geworden. Ein alter Man lebt hier, halb Grieche, halb Armenier, von dem es heißt, er habe besondere spirituelle Erkenntnisse aus dem Orient nach Europa gebracht. In seiner Wohnung herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, bis tief in die Nacht finden langausgedehnte Lesungen statt.

Atmo Gurdjieffs Kräuterkammer

Zitator 1: (Kenneth Walker) Abseits des täglichen Tohuwabohu in der Rue des Colonels Renard gab es, kaum bemerkbar, eine tiefere Ebene. Ab und zu kam diese an die Oberfläche und offenbarte sich. Dies geschah am ehesten dann, wenn zwei oder drei von uns zum Kaffee mit Herrn Gurdjieff in seine Kammer eingeladen waren. Dieser nahezu heilige Ort war im Herzen seiner Wohnung gelegen. Genau genommen handelte es sich dabei um eine Art Vorratskammer neben der Küche, aus der würzige Düfte herausströmten, die seinen Flur durchdrangen.

Zitatorin 2: (Dorothy Phillpotts) Das erste Mal, als ich ihn sah, kam er langsam ins Zimmer herein, ein alter Mann von 76 Jahren, nicht sehr groß und von etwas schwerfälliger Statur. Er lächelte, als er einen Freund begrüßte, und strahlte dabei eine außergewöhnliche Wärme aus. Man konnte erkennen, dass obwohl ihm äußerlich Energie zu fehlen schien, er doch gleichzeitig über eine große innere Kraft und Beherrschung seines Körpers verfügte.

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Erzähler: 1949 ist das letzte Jahr im Leben des Weisheitslehrers, der als Schriftsteller, Komponist und Choreograph zahlreiche Werke hinterlassen hat. Seit fast 30 Jahren lebt Gurdjieff zu diesem Zeitpunkt in Frankreich. Auf der Flucht vor den Sowjets war er aus seiner Heimat, dem Kaukasus, emigriert.

Zitatorin: (Dorothy Philpotts) Lange Zeit wussten nur Gurdjieffs engste Freunde, welche Nationalität er hatte. Man hielt ihn wahlweise für einen Russen, für einen Armenier oder für einen Tartaren, einige sogar für einen Inder. In Wirklichkeit stammte die Familie seines Vaters aus dem griechischen Ionien. Geboren wurde er 1872 im Griechenviertel der Stadt Alexandropol, im russisch beherrschten Kaukasus. Sein Vater war ein Barde, der berühmt war für seine Kenntnis alter assyrischer und sumerischer Legenden.

Musik

Erzähler: Gurdjieff war nicht allein nach Frankreich gekommen, sondern mit einer stattlichen Gefolgschaft von Schülern und Familienangehörigen. Gemeinsam mit ihnen hatte er 1922 in einem alten Schloss in Fontainebleau, 60 Kilometer südlich von Paris ein Aufsehen erregendes „Institut“ gegründet.

Zitator: (Zeitungsüberschrift) Das Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen

Zitator: (Zeitungsüberschrift) Der mystische Tempel einer neuen Religion mitten im Wald von Fontainebleau.

Erzähler: Hunderte von Schülerinnen und Schülern hatten sich in Frankreich um Gurdjieff geschart, selbst in England und in Amerika hatten sich Gruppen gebildet, die daran glaubten, dass der kaukasische Guru sie auf dem Weg zu höherer Erkenntnis leiten könnte.

Zitator: (Zeitungüberschrift) Ein neues Evangelium aus dem Mittleren Osten!

Zitator: (Zeitungsüberschrift) Griechischer Guru behauptet, der Mensch bestehe aus drei Persönlichkeiten. Hat Methode entwickelt, diese in Einklang zu bringen.

Erzähler: Zu Gurdjieffs Schülern gehörten bekannte Künstler, wie die neuseeländische Schriftstellerin Katherine Mansfield oder der amerikanische Stararchitekt Frank Lloyd

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Wright. Sie alle schworen auf Gurdjieffs Methode der Selbstbeobachtung und Selbsterinnerung. Atmo Gurdjieffs Küchenkammer

Zitator 1: (Kenneth Walker) An den Wänden seiner Vorratskammer befanden sich hölzernen Regale, bis an die Decke reichend und allesamt vollbepackt mit jeglicher erdenkbarer Ware: unzählbare Dosen mit Kräutern und Gewürzen, Päckchen mit Süßigkeiten, Säcke mit Mehl, Haferflocken, Rosinen und Zucker, Brandy- und Wodkaflaschen. An einem kleinen Tisch sitzt Gurdjieff. Dicht über seinem imposanten Kopf schwingt ein großer, mit glänzender Aluminiumfolie überzogener Schokoladenfisch.

Zitatorin 2: (Dorothy Philpott) Sein Kopf, auf dem er meistens einen Fez trug, erregte Aufmerksamkeit. Er war wohlproportioniert, mit hoher Stirn, und stets glattrasiert. Seine dunklen Augen schienen treffsicher und blitzschnell den tieferen Sinn jeglicher Materie zu erfassen. Sein langer weißer Schnurrbart, den er in türkischem Stil trug, zierte ein für einen Mann in seinem Alter ungewöhnliches Gesicht, dessen honigfarbener Teint überraschend faltenlos erschien.

Zitator 1: (Kenneth Walker) Das also war Gurdjieff! Der Mann, der, als er jung war, mit einer Gruppe von Gleichgesinnten ausgezogen war, die Wahrheit zu suchen. Und der auf dieser Suche 12 Jahre lang durch das wilde Zentralasien gezogen war! Und was noch wichtiger war: der tatsächlich gefunden hatte, was er gesucht hat und Erkenntnisse von höchstem Wert von seinen Reisen mitgebracht hat, nicht nur für sich selbst, sondern auch für uns. Ich bestaunte den Mann auf seinem Stuhl so wie Leser orientalischer Legenden Harun al Raschid bestaunen würden, wenn er plötzlich vor ihnen erschiene.

Atmo: Wohnung, ruhige Passage

Erzähler: In seine Pariser Wohnung war Gurdjieff 1936 eingezogen, nachdem er sein Institut aufgegeben und sich von einigen seiner wichtigsten Schüler getrennt hatte. Hier hatte er die Kriegs- und Besatzungszeit überstanden, unterstützt durch einen französischen Großindustriellen, dessen Frau er von einer Krankheit geheilt hatte. Nur noch ein knappes Dutzend französischer Schüler war Gurdjieff in dieser Zeit geblieben. Erst in den Nachkriegsjahren hatte er wieder richtig Zulauf. Aus Amerika und England kamen Schüler, die zum Teil schon jahrelang seinen Lehren gefolgt waren, ohne den Meister selbst je kennen gelernt zu haben. Wie zum Beispiel Kenneth Walker und Dorothy Philpotts:

Zitator 1: (Kenneth Walker) Madame de Salzmann sitzt dort an seiner Seite, um für uns schwierige Abschnitte in seiner Mischung aus Französisch, Englisch, und Russisch

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zu übersetzen. Währenddessen sitzt der Rest von uns um ihn herum auf kleinen, dünn gepolsterten Stühlen oder umgedrehten Warenkisten.

Zitatorin 2: (Dorothy Philpott) Man muss zugeben, dass es fast immer schwer war zu verstehen, was Gurdjieff sagte. Dies war nicht nur auf seine besondere Art der Ansprache zurückzuführen – auch das rein physische Sprachhindernis spielte eine Rolle.

Historische Atmo Gurdjieff spricht in seinem sehr schwer verständlichen Kauderwelsch….

O-Ton 1: (Gert-Jan Blom) if you listen to the tape, (...) in the beginning I thought, wow, I can't even make out one word, because he speaks French, Russian, a little bit of English, German … all at the same time.

Übersetzer: Als ich mir die Aufnahmen zum ersten Mal anhörte, dachte ich: das gibt’s doch nicht. Ich verstehe kein einziges Wort, von dem, was er redet.

Erzähler: Gert-Jan Blom ist Musikhistoriker und lebt in Amsterdam. Ihm ist es zu verdanken, dass akustische Spuren von Gurdjieff für die Nachwelt erhalten geblieben sind. Dabei handelt es sich um Tonbandaufnahmen aus den letzten beiden Lebensjahren von Gurdjieff, die Blom vor einigen Jahren veröffentlicht hat.

O-Ton 2: (Blom) When the tape passed the playback head in a lot of instance the coating peeled off, the tapes were dead old and they were very badly stored, there were spiders, insects and stuff was dropping from the tapes because they were stored in a pool house somewhere in Spain. And so when the coating peels off, it means your tape just died, but fortunately for us it happened after playback, so the transfer was okay, in the computer it was safe, but the tape itself, there was nothing on it, it was just blank.

Übersetzer: Wenn die Bänder am Tonkopf vorbeiliefen, blätterte oft die Beschichtung ab. Die Bänder waren über 50 Jahre alt und äußerst schlecht gelagert gewesen, nämlich in einem Gartenhaus irgendwo in Spanien. Sie waren voller Spinnen und anderem Getier. Wenn die Beschichtung beim Abspielen abblättert, ist die Aufnahme natürlich zerstört. Glücklicherweise passierte das jedoch erst NACH der Wiedergabe, so dass wir den Inhalt gerade noch auf Computer speichern konnten.

Erzähler: Auf den Tonbändern waren in erster Linie Gurdjieffs Improvisationen auf dem Harmonium aufgezeichnet. Manchmal lief das Tonband aber auch nebenher und zeichnete, eher zufällig, Gesprächsfetzen mit Gurdjieff auf.

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O-Ton 3: (Blom) there is a recording where somebody demonstrates the tape recorder to Gurdjieff. And I found that recording. And he gets so enthusiastic that at the end of it he says, he orders three tape recorders, because he sees that he can make a recording of either his harmonium playing or his speech and he can send that tape to New York, and he can stay in Paris. So he sees potential and so he says to the person who broad the thing, he says: „You buy me three of those.”

Übersetzer: Es gibt eine Aufnahme, auf der jemand Gurdjieff ein neues Tonbandgerät vorführt. Und er ist so begeistert davon, dass er am Schluss sagt, dass er drei davon bestellen will. Gurdjieff verstand das Potential dieser Erfindung. Nun würde es ihm möglich sein, Aufnahmen von seiner Musik oder seinen Reden nach New York zu schicken, ohne selbst dorthin reisen zu müssen.

Erzähler: Leider scheint es in Gurdjieffs Nähe niemanden gegeben zu haben, der sich mit Aufnahmetechnik auskannte. Auf Fotos sieht man, dass das Mikrofon in ungünstiger Position fast auf Bodenhöhe angebracht war. Trotzdem hat Gert Jan Blom mit viel Ehrgeiz versucht, Redepassagen von Gurdjeff zu verstehen.

O-Ton 4: (Blom) What I would do was, I would take, for instance, one sentence, I had it in Pro Tools, in the software program So I would loop one sentence and I would just hear the same sentence like one hundred times, when I would be cooking food or doing the dishes or... and then sometimes one word would stick out, oh, maybe that’s what he’s saying!

Übersetzer: Mit Hilfe einer Software habe ich das Material Satz für Satz entschlüsselt. Dazu habe ich mir einzelne Sätze immer wieder in Endlosschleifen angehört, beim Kochen oder beim Abwaschen. Manchmal gelang es mir, einzelne Worte zu verstehen und so konnte ich Schritt für Schritt das Gesprochene rekonstruieren.

Atmo: Gurdjieff spricht, steht kurz

O-Ton 5: (Gert-Jan Blom) I've was always wondering, those people who were in that room in 1948 or 49, with him, talking the way he did, so that I needed to listen to a sentence for at least a hundred times before I could understand what he meant … How did they understand there? And how did they get so much out of that? That became a real question to me.

Übersetzer: Ich habe mich immer gewundert: wenn ich mir schon jeden einzelnen Satz mindestens hundertmal anhören musste, um das Gesagte zu rekonstruieren, wie

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konnten ihn dann bloß die Leute, die 1948/49 um ihn herum waren, verstehen? Und auch noch so viel für sich da herausziehen?

Musik: (Oriental Suite) steht ca. 15 sec, dann darüber

Stimme G: Vor mir liegt ein Papier, worauf ich mit Bedacht „Selbsterinnerung“ geschrieben habe, damit es mir als ein Schock dient und mich an mich erinnert. Aber das Papier erweist sich als nicht hilfreich. Solange meine Aufmerksamkeit darauf konzentriert ist, erinnere ich mich. Sobald sie aber abgelenkt wird, blicke ich auf das Papier und kann mich meiner nicht erinnern.

Ich versuche es auf eine andere Weise. Ich wiederhole mir gegenüber: „Ich will mich meiner erinnern“ Doch auch das hilft mir nicht. Zuweilen bemerke ich, dass ich es mechanisch wiederhole, meine Aufmerksamkeit indes ist nicht da.

Musik steht noch ein bisschen

O-Ton 6: (Paul Taylor) when you first sit down and Gurdjieff starts to talk, it’s confusing, because he spoke with a strange accent, he spoke with a grammar that was more Russian, if you like, than English. But inside five or ten minutes, you understood everything.

Übersetzer: Wenn Gurdjieff zu sprechen begann, war es zunächst wirklich verwirrend. Er hatte einen merkwürdigen Akzent und die Grammatik seiner Sätze entsprach eher dem Russischen. Aber nach fünf oder zehn Minuten hatte man sich darauf eingestellt und konnte alles verstehen.

Erzähler: Paul Taylor ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, die Gurdjieff näher gekannt haben. Taylor wurde 1930 geboren und lebt heute als emeritierter Professor für mittelalterliche Literatur in einem Vorort von Genf. O-Ton 7: (Paul Taylor) when Gurdjieff talked, everybody in the room thought he was talking to them only. Or what he said was specifically for them. I thought it too, I had met. Because when he said things it seemed to me he was talking to something that was on my mind. But everyone did. They all thought the same thing. He was addressing THEM. And that is the reason why he picked up this extraordinary following.

Übersetzer: Wenn Gurdjieff sprach, hatte jeder, der sich im Raum befand, den Eindruck, er würde sich direkt an ihn wenden. Mir ging das auch so. Es schien, als ob er mit dem, was er sagte, Bezug nahm, auf das, was man gerade dachte. Er hatte eben diese

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besondere Gabe. Und das ist sicherlich auch der Grund, warum er so eine große Gefolgschaft hatte.

Erzähler: Paul Taylors Mutter war in den zwanziger Jahren nicht nur eine Schülerin Gurdjieffs, sondern zugleich seine Geliebte. Eine Konstellation, die bei Gurdjieff kein Einzelfall war und aus der gelegentlich Kinder entstanden. So auch Paul Taylors ältere Schwester.

O-Ton 8: (Taylor) Gurdjieff had her marry a man named Cesar Swaska, who was Czechoslovakian. They were married at the end of august in 1928 and she gave birth to my sister in november. Then my mother moved back to the Prieure hoping that Gurdjieff – a bit silly of her – would feel like a father and a husband. Well, that wasn’t his style at all. And she was very frustrated and moved to New York.

Übersetzer: Gurdjieff besorgte meiner Mutter einen Ehemann, einen Tschechen. Sie heirateten pro forma und drei Monate später kam meine Schwester zur Welt. Dann zog meine Mutter zurück nach Fontainebleau, in der naiven Hoffnung, Gurdjieff würde sich wie ein Vater und Ehemann fühlen. Das aber war nun überhaupt nicht seine Sache. Völlig frustriert zog sie nach New York.

Erzähler: So kam es, dass Paul Taylor in den USA aufwuchs. In seiner Kindheit und Jugend hörte er viele Geschichten über seinen berühmten kaukasischen Stiefvater. Aber erst nach dem Krieg, als seine Mutter sich mit Gurdjieff versöhnt, ergibt sich für Paul die Chance, ihn näher kennen zu lernen.

O-Ton 9: (Taylor) She went back in march 1948 (…) and she was devoted to him. She had learnt over the years and she began to understand Gurdjieff a little bit better. He was a father to every child, not just to her child. And he was a husband to many. Not a husband. He never used that term. He used the term (russisch), a householder.

Übersetzer: Sie kehrte 1948 zurück zu ihm und war ihm von da an wieder sehr zugetan. Über die Jahre hatte sie begonnen, Gurdjieff besser zu verstehen. Er war eben ein Vater für alle Kinder, nicht nur für ihr Kind. Und er war ein Ehemann für viele Frauen. Oder besser gesagt kein Ehemann, denn diesen Ausdruck benutzte er nie. Er sagte vielmehr, er sei der Hausherr.

Erzähler: Viele Monate lang lebt der 18-jährige Paul Taylor mitten im engsten Kreis um Gurdjieff in Paris.

O-Ton 10:

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(Taylor) There were always beautiful young women, I was the only young man in that whole group in Paris who would come from England or from the United States to work with him and do the movements and so forth.

Übersetzer: Es waren immer schöne junge Frauen dort. Ich war der einzige junge Mann in dieser Gruppe von Engländern und Amerikanern, die zu ihm kamen, um von ihm zu lernen.

Erzähler: Größere Gruppen von Schülern empfängt Gurdjieff in seinem Wohnzimmer.

Zitator 1: (Kenneth Walker) Was für ein merkwürdiger Raum das war! Mit seinem Sammelsurium von verschiedensten Möbelstücken, seiner exzentrischen Sammlung von Gemälden und der chaotischen Anordnung von allem, was sich sonst noch darin befand, wirkte der Raum eher wie ein Ramschladen als wie ein Wohnzimmer. Nachdem wir den Raum betraten und ihn bestaunt hatten, setzten wir uns in Sessel oder auf einen der kleinen hölzernen Klappstühle, die dort bereit standen. Die Leute, die früher angekommen waren, hockten bereits auf diesen Stühlen und wirkten auf mich wie Seehunde, die auf ihren Dompteur warten.

Erzähler: Jeden Nachmittag wird aus Gurdjieffs Büchern vorgelesen, die zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieben. So auch sein mehr als 1000 Seiten umfassendes Hauptwerk „Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel“. Die Science-Fiction-Allegorie spielt auf einem Raumschiff, auf intergalaktischer Reise, weit außerhalb menschlicher Zeitdimensionen. Während dieser Reise berichtet Beelzebub seinem Enkel Hassin von seinen Aufenthalten auf dem Planeten Erde und seinen Abenteuern mit jenen sonderbaren „dreihirnigen Wesen“, die Menschen genannt werden. Beelzebubs Erzählungen umfassen nahezu die gesamte Menscheitsgeschichte und verstehen sich als eine, so der Untertitel, „objektiv unparteiische Kritik des Lebens der Menschen“.

Stimme G: In diesem Buch ging es mir darum, eine radikale und schonungslose Überwindung einiger seit Jahrhunderten tief im menschlichen Bewusstsein verankerten Überzeugungen herbeizuführen, die meiner Meinung falsch sind und im Widerspruch zur Wirklichkeit stehen.

Erzähler: Nach den Lesungen gibt es gemeinsame Mahlzeiten und Gelegenheit für Gespräche mit dem alten Meister. O-Ton 11: (Taylor) The thing about Gurdjieff that bothered me very much is, one time, when I was young and I was always very serious, is that he was so patient with people who, I thought, were ridiculous. And people would ask him silly questions and he was normally very, very, very open. I wrote about this funny bit about a woman from England who sat across from him at luncheon and … every time he would say

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something, she would say, „certainement, Monsieur Gurdjieff, certainement.” And finally he stopped, he looked at her and he said, „Madam, you need to learn to masturbate.” Sometimes he would do things like that, to shock people into questioning, what in the world they are saying and what they are doing.

Übersetzer: Als ich jung war, war ich immer ziemlich ernsthaft und was mich an Gurdjieff störte, war, dass er unglaublich geduldig war mit Leuten, die ich einfach nur lächerlich fand. Die konnten ihm die dümmsten Fragen stellen und er ließ sich trotzdem nicht aus der Ruhe bringen. Da gab es zum Beispiel so eine komische Frau aus England, die ihm beim Essen gegenüber saß und jedes Mal, wenn Gurdjieff etwas sagte, sagte sie „aber sicher, Herr Gurdjieff, aber sicher“. Irgendwann unterbrach sich Gurdjieff, schaute sie an und sagte: „Madame, Sie sollten lernen zu masturbieren!“ So war er manchmal. Er provozierte, damit die Leute über den Unfug, den sie redeten und taten, einmal nachdachten.

Erzähler: Nur sehr selten ist Paul Taylor wirklich allein mit Gurdjieff. Eine dieser Gelegenheiten hält er in seinem Tagebuch fest:

Atmo Paris Straßencafe

Zitator Tayl: Ich war gerade auf dem Weg die Rue d’Armaille hinab, als ich ihn allein in einem Café an der Ecke sitzen sah. Er sah mich ebenfalls, winkte mich herbei und lud mich ein, mit ihm einen Kaffee zu trinken. Freundlich fragte er mich, ob ich einen schönen Sommer verbracht hätte, und ich entgegnete die üblichen Banalitäten. Dann endlich traute ich mich, ihn zu fragen, was mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf ging: „Wie halten Sie es nur aus mit so vielen oberflächlichen Menschen um Sie herum?“ Sehr langsam hob er seinen Kopf und schaute mich an. Kein Lächeln.

Stimme G: Diese Leute - Du meinst diese „Idioten“ – Du glaubst, dass sie zu mir kommen, um zu hören, was ich weiß? Nein. Mein einziges Wissen besteht in der Fähigkeit, ihnen beizubringen, wie sie sich selbst zuhören können. Denn sie hören allen möglichen Dingen zu: dem Radio, dem Schallplattenspieler, Liebesliedern, jedoch vergessen sie, auf sich selbst zu hören. Ich kann nicht hören, was in ihrem Inneren ist. Ich kann sie nur lehren, sich an das zu erinnern, was sie vergessen haben. Ich lehre sie, die Musik in sich selbst zu hören.

Musik

Stimme G: Die Selbstbeobachtung ist sehr schwierig. Je mehr Sie es versuchen, umso mehr werden Sie dies einsehen. Im Augenblick sollten sie sich darin üben, und zwar nicht um eines Ergebnisses willen, sondern um zu verstehen, dass Sie sich nicht beobachten können. Bisher haben Sie sich eingebildet, sich zu sehen und zu

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kennen. Wenn sie einfach feststellen, dass Sie sich nicht beobachten können, dann ist es richtig. Ihr Ziel ist es, dorthin zu gelangen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen sie es immer wieder versuchen. Falls Sie es versuchen, so wird das Ergebnis nicht Selbstbeobachtung im eigentlichen Sinn des Wortes sein. Aber schon der Versuch stärkt ihre Aufmerksamkeit. Sie werden lernen, sich besser zu konzentrieren. Später wird dies alles von Nutzen sein. Nur dann werden sie anfangen können, sich Ihrer selbst zu erinnern

Musik

Zitator 2: (Carl Bechhofer) Er war ein Mann von beeindruckender Erscheinung. Klein und dunkelhäutig, mit durchdringendem, klugen Blick. Niemand konnte lange Zeit in seiner Gesellschaft verbringen, ohne von seiner Persönlichkeit beeindruckt zu sein.

Erzähler: Der englische Journalist und Schriftsteller Carl Bechhofer lernt Gurdjieff 1919 in Tiflis kennen. Er ist der einzige Westeuropäer, der über Gurdjieff schon vor dessen Ankunft in Frankreich geschrieben hat.

Zitator 2: (Carl Bechhofer) Auch wenn man nicht notwendigerweise glauben musste, dass er unfehlbar sei, so gab es doch keine Zweifel an seiner außergewöhnlichen, allumfassenden Intelligenz.

Erzähler: Mit einer Gruppe von russischen Schülern ist Gurdjieff gerade im Begriff, in der georgischen Hauptstadt ein erstes Institut zu gründen.

Zitator 2: (Carl Bechhofer) Glücklicherweise war Gurdjieff gutherzig genug, nicht mit mir über Theosophie zu sprechen, wie ich befürchtet hatte, sondern mir einige Seiten von Tiflis zu zeigen, die andere Besucher nicht zu sehen bekommen. Unter anderem besuchten wir einige abgelegene Restaurants, sowohl georgische als auch persische, wo wir appetitliche Speisen in eher unappetitlicher Atmosphäre aßen.

Erzähler: Einige Jahre zuvor war Gurdjieff in Moskau und St. Petersburg als Außenseiter in theosophischen Kreisen bekannt geworden.

Zitator 2: (Bechhofer) Russland ist ein großartiges Land für professionelle Mystiker, und Gurdjieff hatte dort offenbar in verschiedensten Kreisen verkehrt. Seine Gegner nannten ihn einen „verhinderten Rasputin“, auch wenn ihnen jegliche Legitimation für die üble Unterstellung abging, die in jener Bezeichnung anklang. Gurdjieff behauptet, dass er einen großen Teil seines Lebens in Tibet, Afghanistan und Indien verbracht habe und

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dort in Klöstern die uralte Weisheit des Orients studiert habe. In Moskau hatte er vor der Revolution bereits einen Kreis von Schülern, von denen ihm viele 1917 in den Kaukasus gefolgt sind und seitdem mit ihm umherwandern.

Erzähler: Zu Gurdjieffs Schülern der ersten Stunde gehören auch renommierte Künstler und Intellektuelle, von denen einige für Gurdjieffs Wirken entscheidende Bedeutung bekommen. So wird der Philosoph Piotr Demianowitsch Ouspensky zum herausragenden Theoretiker von Gurdjieffs Weltanschauung. Und der Komponist Thomas de Hartmann zu Gurdjieffs kongenialem Partner bei der Niederschrift seiner Musik.

Zitator 2: (Bechhofer) Noch immer war er umgeben von dieser seltsamen Gefolgschaft von Philosophen, Ärzten und Künstlern. Von ihnen allen wurde er als Wegweiser zu den Geheimnissen des Universums angesehen, ja sogar fast abgöttisch verehrt.

Erzähler: In Tiflis schlossen sich weitere Künstler dem Kreis um Gurdjieff an. Unter ihnen der Maler und Bühnenbildner Alexander de Salzmann und seine Frau Jeanne, geborene Allemand, Pianistin und Ballettlehrerin. Sie hatten sich in Hellerau bei Dresden kennengelernt, wo beide mit dem Begründer der rhythmisch-musikalischen Erziehung, Émile Jaques-Dalcroze, zusammen arbeiteten. Nun betrieben sie in de Salzmanns Heimatstadt Tiflis eine Tanz- und Musikschule, an der auch Gurdjieff seine Tänze zu lehren begann.

Musik: Oriental Suite

Zitator 2: (Bechhofer) An den Abenden ging ich oft zu Georg Iwanowitschs Institut, um ihm bei der Probe eines Balletstücks zuzusehen, das er selbst entworfen, komponiert und vertont hatte. Die Geschichte hatte ein manichäisches Motiv – der Streit zwischen weißen und schwarzen Magiern. Die Tänze, so verkündete er, basierten auf Bewegungen und Gesten, die in den tibetischen Klöstern, in denen er sich aufgehalten hatte, überliefert wurden. Auch die dazu gehörige Musik stammte aus geheimnisvoller Quelle.

Stimme G: Mein Ballett ist kein Mysterium. Ich hatte die Absicht, ein interessantes und schönes Schauspiel zu schaffen. Natürlich ist unter der äußeren Form eine gewisse Bedeutung verborgen, aber es war nicht mein Ziel, diese Bedeutung herauszustellen und zu betonen.

Erzähler: Viele Zitate von Gurdjieff aus der Zeit vor 1920 wurden von seinem Schüler, dem Philosophen Ouspensky nahezu wörtlich festgehalten.

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Stimme G: Einen wichtigen Teil nehmen gewisse Tänze ein. Ich will Ihnen das kurz erklären. Nehmen wir einmal an, dass zum Zwecke des Studiums der Bewegung himmlischer Körper, zum Beispiel der Planeten des Sonnensystems, ein besonderer Mechanismus konstruiert würde, um die Bewegungsgesetze zu veranschaulichen und dem Gedächtnis einzuprägen. In diesem Mechanismus befindet sich jeder Planet, der durch eine Sphäre

entsprechender Größe dargestellt wird, in einer gewissen Entfernung von der Zentralsphäre, welche die Sonne bedeutet. Der Mechanismus wird in Betrieb gesetzt und alle Sphären beginnen sich auf den vorgeschriebenen Bahnen zu drehen und fortzubewegen. Dadurch stellen sie sichtbar die Gesetze dar, nach denen sich die Planetenbewegungen vollziehen. Ähnlich verhält es sich mit manchen Tanzrhythmen. In den genau festgelegten Bewegungen und Kombinationen der Tänzer werden bestimmte Gesetze veranschaulicht, die von denen, die sie kennen, verstanden werden. Solche Tänze nennt man „heilige Tänze“.

Atmo: Movements–Stunde in Köln, 2016

O-Ton 12: (Karoline) Es gibt ganz viele verschiedene Movements, die verschiedene Absichten haben, also die Multiplikationen, oder Dervishmovements, oder Gebete, also das Hallelujah,

Erzähler: Karoline Kupperroth leitet eine Gurdjieff-Gruppe in Köln. Gemeinsam mit einem guten Dutzend Teilnehmern übt sie gerade eine der mehr als 200 „movements-Choreographien“, die von Gurdjieff überliefert sind.

O-Ton 13: (Karoline) Gurdjieff hat diese Tänze mitgebracht von seinen vielen Reisen, aber die beschreiben eigentlich universelle Gesetzmäßigkeiten, wie das Gesetz der Drei oder das Gesetz der Sieben. Was man aber erstmal ….damit ist man erstmal nicht beschäftigt, wenn man diese Tänze lernt… ich bin erstmal beschäftigt mit der,Koordination vom rechten Arm, linken Arm, die was völlig unterschiedliches machen, vielleicht auch noch in verschiedenen Rhythmen.

O-Ton 14: (Manfred) Es ist eine Abfolge von Bewegungen in denen verschiedene Körperteile unterschiedliche Bewegungen machen, die man im Alltag überhaupt nicht machen kann, so dass man eigentlich sich auf mehrere Sachen gleichzeitig konzentrieren muss.

O-Ton 15: (Manfred) Bei den Movements machen die Beine etwas anderes, als die Arme, der Kopf macht wieder etwas anderes, gleichzeitig ist das intellektuelle Zentrum dabei

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vielleicht eine Abfolge von Zahlen oder sinnlosen Anführungsstrichen, sinnlosen Begriffen zu formieren, was ein Höchstmaß an Eigenwillen und Konzentration erfordert

O-Ton 16: (Karoline) Das heißt, das braucht sehr viel Aufmerksamkeit, und ich kann meine Gedanken nicht gehen lassen, weil dann fliege ich sofort aus den Tänzen raus.

Erzähler: Gurdieffs 'heilige Tänze' sind mehr als nur Übungen, die wie im Yoga oder im T'ai chi von einer Gruppe im Gleichtakt vollzogen werden. Es handelt sich um subtile Choreographien komplexer rhythmischer Bewegungen die sich im Raum entfalten, gegenläufig und nicht unbedingt symmetrisch im Takt der schrittweisen, feierlichen Musik. Manchmal zeichnet sich die zentrale Figur eines Vortänzers ab, manchmal schiebt sich ein Einzelner in den Raum, der um den Vortänzer entsteht, umrundet ihn mit konvulsiven Bewegungen, alle Glieder ausschüttelnd und schließlich erschöpft am Boden endend, um dann wieder seinen Platz in der tanzenden Gruppe einzunehmen.

O-Ton: (Karoline) Und wenn man diese Tänze dann übt und dabei auch das Selbstbeobachten wieder üben kann, das wirkt sich auch aus, also irgendwie geschieht da etwas, dass ich versuche diese Arbeit, die ich bei den Tänzen mache, die versuche ich mitzunehmen mit in die praktische Arbeit. O-Ton 17: (Manfred) meine Erfahrung war und die von Vielen auch ist, dass man hinterher konzentrierter ist, man fühlt sich konzentrierter, nicht auf etwas, sondern man ist konzentrierter.

Erzähler: Manfred Soppok gehört zu den regelmäßigen Teilnehmern der Kölner Gurdjieff Gruppe.

O-Ton: (Manfred) Man ist wacher, kohärenter vielleicht. Und nicht so zerfasert in die vielen Teilen, die einen zerstreut machen im Alltag. Das ist ein Kampf gegen die Zerstreutheit.

Musik: Oriental Suite, steht mindestens 15 Sekunden

Stimme G: Versuchen Sie zu begreifen, dass, was sie gemeinhin „Ich“ nennen, nicht das Ich ist. Es gibt viele Ichs und jedes Ich hat einen anderen Wunsch. Versuchen Sie, dies selber zu erfahren. Sie wollen sich wandeln, aber welcher Teil von Ihnen hat diesen Wunsch? Es gibt in ihnen viele Teile, die alle vielerlei wünschen, doch nur ein Teil ist wirklich. Der Versuch, gegen sich selbst aufrichtig zu sein, wird Ihnen sehr helfen.

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Aufrichtigkeit ist der Schlüssel, der die Tür öffnet, wo hindurch Sie Ihre einzelnen Teile sehen werden, und Sie werden etwas völlig Neues erblicken. Sie müssen mit dem Versuch, aufrichtig zu sein, beharrlich fortfahren. Jeden Tag setzen Sie sich eine Maske auf; die müssen Sie mit der Zeit abnehmen.

Musik

Erzähler: Die Gurdjieff-Gruppe in Köln trifft sich regelmäßig zu Abendsitzungen und Ganztags-Seminaren. Manchmal finden auch Workshops statt, die fünd bis zehn Tage dauern können. Dann ist Wim van Dullemen dabei, ein niederländischer Lehrer, der die „movements“ von Solange Claustres, einer direkten Schülerin Gurdjieffs überliefert bekam.

O-Ton 18: (Wim van Dullemen) Wenn eine Person eine Geschichte erzählt an drei Leuten und die drei Leuten erzählen das nächste Woche weiter, dann haben die drei Geschichten miteinander am Ende nicht mehr so viel zu tun.

Erzähler: Da Gurdjieff seine „movements“ nicht aufgezeichnet hat, existieren sie nur als praktische Überlieferung. Dabei gibt es verschiedene Varianten, die auf verschiedene Schüler zurückgehen.

O-Ton 19: (Wim van Dullemen) Das ist in der Weitergabe von Gurdjieffs Movements und auch sehr stark in der Weitergabe von seinen Ideen, wichtig, weil die Ideen, die sind empfangen worden durch mehrere Menschen, die das auf ihre Art verstanden haben und auf ihre Art weitergeben. Und Movements ist ein ideales Domain, um das scharf zu untersuchen – da sieht man dann auch, dass mehrere Schüler, die selbst bei Gurdjieff in seiner Klasse standen, machen ein Movement total anders.

Erzähler: Das gemeinsame Üben der „Movements“ steht während der Workshops im Mittelpunkt.

O-Ton 20: (Karoline) Die wenigsten und zwar die allerwenigsten kommen aus irgendeiner Körperarbeit oder Tanz, oder so, sondern viele kommen aus intellektuellem Interesse oder emotionalem Interesse. Wenn man dann an zwei größeren Tänzen arbeitet, dann ist man schon mit den Movements täglich drei, vier Stunden ungefähr beschäftigt. Dann beginnt so ein Morgen mit einer Morgenmeditation, um sich gut vorzubereiten für den Tag und seine Aufmerksamkeit zu schulen, vielleicht wieder die Fähigkeit des Beobachtens und Erinnerns zu vertiefen.

Erzähler:

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Die Movements sind jedoch immer eng eingebunden in andere Aspekte der Gurdjieff-Arbeit. Lesungen, Meditationen, praktische Arbeit, gemeinsame Mahlzeiten und „innere Übungen“.

O-Ton 21: (Karoline) Es gibt z.B. eine Übung, also eine innere Übung, die am Anfang eines Seminars gegeben wird, oder wenn man ein Wochenseminar hat, gibt es täglich eine neue innere Übung, weil wir ja auch dazu geneigt sind, wieder zu vergessen. Also, das heißt, wenn man so eine Übung, so eine innere Übung gemeinsam macht und dann später darüber sich austauscht, ist das dann ein Anreiz, um nicht wieder einzuschlafen oder in meine Automatismen reinzufallen, sondern sich immer wieder daran erinnern da war etwas, was ich innerlich zu tun habe

Erzähler: Praktizierende Gurdjieff-Gruppen gibt es bis heute in vielen Ländern. Einige davon in Deutschland, mehr noch in der englischsprachigen Welt, in Südamerika, in Frankreich, der Schweiz oder in Russland. Jedoch ist von diesen Gruppen im Allgemeinen sehr wenig zu hören oder zu sehen. Die meisten von ihnen gehören der so genannten „Gurdjieff Stiftung“ an, einer großen Organisation mit hierarchischer Struktur. Sie wurde nach dem Tod Gurdjieffs von Jeanne de Salzmann, seiner langjährigsten Schülerin, gegründet.

O-Ton 22: (Taylor) The Foundation in New York runs every Foundation in the world. They have the money, they have the power. It’s structured like a sect, although they do not like hear it called like that, but it’s nothing.

Übersetzer: Die Stiftung in New York steht an der Spitze aller Stiftungen. Sie haben das Geld, sie haben die Macht. Sie sind strukturiert wie eine Sekte, auch wenn sie das nicht gerne hören.

Erzähler: Seit seiner Emeritierung vor 20 Jahren hat sich Professor Paul Taylor ganz dem Studium Gurdjieffs verschrieben und mehrere Bücher zu verschiedenen Aspekten von Leben und Werk seines berühmten Stiefvaters veröffentlicht. Dabei scheut sich Taylor nicht, auch sehr kritischen Fragen nachzugehen:

O-Ton 23: (Taylor) Roerich wrote about his travels in Tibet and throughout that whole Mongolia and that whole area. And every time he came to a particular town, they would say, they would remember that a certain French explorer, British explorer had been there before. Gurdjieff's name was never mentioned! But now that records are open, in the ports of Mumbai or Bombay and Calcutta, there are records of every European who went through in the 1890s, what they carried, the arms, what they had in their trunks, everything had to be declared and their names were registered – Gurdjieff's name does not exist anywhere in Central Asia or in India or China or Mongolia, which only means, that either he invented all these stories, one thing or he travelled under another name.

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Übersetzer: Nikolas Roerich, der Philosoph und Schriftsteller, schrieb über seine Reisen nach Tibet und durch große Teile der Mongolei. Immer, wenn er irgendwo hinkam, erzählte man ihm von den anderen Forschern, die zuvor schon dort gewesen waren. Gurdjieffs Name taucht da jedoch nie auf. Und inzwischen sind auch Archive zugänglich aus Hafenstädten wie Mumbai, Bombay oder Kalkutta, in denen jeder Europäer, der dort in den 1890er Jahren vorbei kam, genau registriert wurde. Es wurde sogar aufgeschrieben, was die Reisenden in ihrem Gepäck hatten. Gurdjieffs Name taucht nirgends auf, nicht in Zentralasien, nicht in Indien, China oder der Mongolei. Das bedeutet entweder, dass Gurdjieff seine Aufenthalte dort nur erfunden hat oder dass er unter falschem Namen reiste.

Erzähler: Wichtige Hinweise zu solch essentiellen Fragen wären möglicherweise in Gurdjieffs Nachlass zu finden. Der befindet sich jedoch größtenteils in den Händen der Gurdjieff-Stiftung, die keinen geregelten Zugang zu ihren Archiven ermöglicht. Paul Taylor ist dort ein nicht gern gesehener Forscher. Ihm werden sogar Dokumente aus dem Nachlass seiner eigenen Mutter vorenthalten.

O-Ton 24: (Taylor) My mother had letters from Gurdjieff, no one else had letters from Gurdjieff and some of these things were put into, they were entombed in the archives. (…) And yet I said: can’t I see the catalog of what is in the archives? He said; that won’t interest you. I said: why don’t you let ME decide that?

Übersetzer: Meine Mutter hatte Briefe von Gurdjieff - niemand sonst hat Briefe von ihm. Und einige davon sind in das Archiv der Stiftung geraten, wo sie aber verschwanden. Ich habe gefragt, ob ich mal den Gesamtkatalog des Archivs sehen darf. Darauf hieß es, das wäre für mich nicht so interessant. Ich sagte: warum lassen Sie das nicht mich entscheiden?

O-Ton 25: (Blom) There is a lot of secrecy in that world with these foundations and the Paris Institute and wherever they are. And this is actually an interesting subject to me, has been over the years, is why can I go to see the Mevlevi Dervishes turn once a year in a theatre in Amsterdam but I can't do the same with the Movements.

Übersetzer: Es gibt viel Geheimniskrämerei in der Welt dieser Gurdjieff-Stiftungen. Und für mich hat sich im Laufe der Zeit immer stärker die Frage herauskristallisiert: Warum kann ich mir eigentlich einmal im Jahr in Amsterdam die sich drehenden Mevlevi-Derwische ansehen, Gurdjieffs Movements aber nicht?

Erzähler:

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Gurdjieffs heilige Tänze öffentlich aufzuführen, ist bei Gruppen, die der Stiftung angehören, verpönt. Wenn freie Gruppen es doch tun, werden sie dafür ebenso angefeindet wie Gert-Jan Blom, als er Gurdjieffs Tonbandaufnahmen herausbrachte:

O-Ton 26: (Blom) Sometimes people from the so called Work would call me up and express their anger or discomfort with the idea that I was going to publish, release this music that they called „ours.” They said, „this is our music”, and I would be very polite, if I would say, no, it's not, it's not your music, you don't own that music, it's his music and he's dead. And the copyrights have expired. And I'm not doing it in a very commercial way, I'm doing it in a very respectful way, but I just want this to not disappear in the mist of time. I want future generations to have access to this music.

Übersetzer: Ab und zu riefen mich Leute an, die ihren Unmut darüber zum Ausdruck brachten, dass ich diese Musik, die sie „unsere“ nannten, veröffentlichte. Sie sagten „das ist unsere Musik“, worauf ich noch sehr höflich war zu entgegnen „Nein, das ist sie nicht, es ist nicht EURE Musik, sie gehört euch nicht, es ist SEINE Musik und er ist tot. Und die Urheberrechte sind abgelaufen.“ Mein Interesse ist schließlich kein kommerzielles. Mir geht es ganz einfach darum, dass diese Musik nicht in Vergessenheit gerät.

Erzähler: Die Aufnahmen von Gurdjieffs Improvisationen auf dem Harmonium bilden eine einzigartige Ergänzung zu den mehr als 200 Klavierstücken, die von ihm und Thomas de Hartmann überliefert sind. Vielen ist Gurdjieff heute überhaupt nur noch als Komponist bekannt. Seine öffentliche Wirkung als Philosoph und als Choreograph ist sehr eingeschränkt, nicht zuletzt weil sich die Gurdjieff-Stiftung so bedeckt hält.

O-Ton 27: (Blom) In 1923 Gurdjieff was not shy about his work. He went on a podium, he said, look, this is what we do, come join us, we're at the Prieuré in Fontainebleau. (...) He would invite journalists onto the Prieuré, they could stay for like a week, they had access to every activity that was done there. There's no point in asking that question now to any of those foundations because you know the answer is gonna be no. Because they don't want to go into the newspapers, they don't want to be interviewed for your radio programme. They don't even have a website.

Übersetzer: 1923 war Gurdjieff selbst überhaupt nicht zurückhaltend, was die Öffentlichkeit anging. Er hat sogar Journalisten in sein Institut in Fontainebleau eingeladen, die eine ganze Woche bleiben durften und Zugang zu allen Aktivitäten hatten. Ganz anders verhalten sich die Gurdjieff Stiftungen heute. Man braucht gar nicht erst bei ihnen anzuklopfen, ihre Antwort wird Nein lauten. Die wollen nämlich nicht in der Zeitung auftauchen, und die wollen auch nicht für deine Radiosendung interviewt werden. Die haben nicht einmal eine Internetseite.

Musik:

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Oriental Suite, steht mindestens 15 sec

Stimme G: Unter Befreiung ist diejenige Befreiung gemeint, die zu allen Zeiten das Ziel aller Schulen ist und aller Religionen. Diese Befreiung kann fürwahr sehr groß sein. Alle Menschen sehnen sich und streben danach. Doch sie ist nicht erreichbar ohne die erste Befreiung, die kleinere Befreiung. Die große Befreiung meint Befreiung von den äußeren Einflüssen. Die kleinere Befreiung ist die Befreiung von inneren Einflüssen. Die inneren Einflüsse, die innere Sklaverei stammen aus vielerlei Quellen, denn wir haben viele Feinde. Die Zahl dieser Feinde ist so groß, dass ein Leben nicht ausreichen würde, müsste man mit jedem Feind einzeln kämpfen, um sich so von ihnen zu befreien. Deshalb gilt es, eine Methode, eine Arbeitsweise zu finden, die es uns ermöglicht, diese inneren Feinde in größtmöglicher Anzahl gleichzeitig zu vernichten.

Musik

Zitator 2: (Carl Bechhofer) Ende 1922 begann das „Institut für die Harmonische Entwicklung des Menschen“ in Fontainebleau die Arbeit mit 60 oder 70 Schülern. Von diesen waren beinahe die Hälfte Russen aus Tiflis und Konstantinopel, Männer, Frauen, und Kinder, ein oder zwei sogar noch aus den frühesten Moskauer Zeiten. Die meisten anderen Schüler kamen aus England. Die Franzosen im Ort akzeptierten das Institut als wirtschaftlich nützlich, taten es aber ansonsten als „maison de fous“ ab, als Irrenhaus.

Erzähler: Carl Bechhofer gehört zu den ersten Journalisten, die eingeladen werden, über das neu gegründete Institut zu berichten.

Zitator 2: (Carl Bechhofer) Es scheint mir, dass sich zwischen den frühen Tagen in Tiflis und der heutigen Herrlichkeit Fontainebleaus grundsätzlich nicht viel verändert hat. Der Umfang des Vorhabens ist um ein Vielfaches größer, die Anzahl der Schüler ist wesentlich höher, und die Bandbreite der Tätigkeiten ist viel ausgedehnter. Wie schon damals fordert Gurdjieff absoluten Gehorsamkeit von jedem einzelnen seiner Schüler. Sein Wort ist Gesetz und er herrscht als Tyrann unter ihm ergebenen Sklaven.

Erzähler: Das Leben in Fontainebleau war in den ersten Jahren von intensiver körperlicher Arbeit geprägt. Unter Anleitung von Gurdjieff begannen seine Schüler, den Ort nach seinen Vorstellungen herzurichten und zu bewirtschaften.

Zitator 2:

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(Carl Bechhofer) Die Philosophie des Instituts kann von verschiedenen Blickwinkeln her beschrieben werden. Alles fußt auf der Annahme, dass so wie der Mensch heute ist, alles, was er denkt, fühlt und tut eine rein mechanische Reaktion auf äußere Einflüsse ist. Es bin nicht ich, der denkt, sondern etwas denkt durch mich hindurch. Es bin nicht ich, der fühlt, sondern äußere Umstände bestimmen meine Gefühle. Der Mensch ist wie ein Schiff ohne Besatzung, das nur durch den Zufall verschiedener Strömungen durch das Wasser hin und her bewegt wird. Wie kann der Mensch Herrschaft über sich selbst gewinnen? Das ist die Frage, auf die Gurdjieff zentralen Wert legt. Und da sein Weg dahin in erster Linie über Selbstbeobachtung und Selbstwahrnehmung führt, arrangiert Gurdjieff in seinem Institut alles dahingehend, dass seine Schüler immerzu Gelegenheit finden, sich selbst zu beobachten. Zum Beispiel lässt er die Intellektuellen schwere körperliche Arbeit verrichten, damit sie sich unter dieser ungewohnten Belastung beobachten können.

Musik Oriental Suite Zitator 1: (Thomas de Hartmann) Im Sommer und Herbst 1923 arbeiteten wir tagsüber körperlich an der freien Luft. Dazu kam jedoch, dass uns lange Listen von Wörtern gegeben wurden, die wir auswendig lernen sollten. Gurdjieff bestand darauf, dass wir uns dafür nicht separat Zeit nehmen, sondern uns die Wörter während der Arbeit einprägen sollten. Als ich dies versuchte, entdeckte ich etwas für mich sehr wichtiges.

Erzähler: Auch der Komponist Thomas de Hartmann muss neben seinen künstlerischen Aufgaben schwere körperliche Arbeit verrichten.

Zitator 1: (Thomas de Hartmann) Es ist normalerweise so: wenn man sich bei der körperlichen Arbeit selbst betrachtet, besonders bei monotonen Arbeiten wie Graben oder Mähen, dann laufen die eigenen Gedanken frei in Richtungen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben. Es bilden sich Assoziationen und eine folgt relativ wahllos auf die andere. Seit nun Gurdjieff diese Art von Arbeit mit den Gedächtnisübungen anreicherte, gab es keinen Platz mehr für umherwandernde Assoziationen. Manchmal musste man sich wachrütteln und seine Aufmerksamkeit auf das Graben lenken. In anderen Fällen lief es unbewusst ab. Das gemeinsame Merkmal aber war ein vollkommenes Gesammelt-Sein. Nicht der kleinste Teil des Bewusstseins wanderte dabei über die Grenzen der Person hinaus. Alles war im Innern konzentriert.

Musik: steht noch ein bisschen

O-Ton: (Taylor) He was for divided attention. And that is that you can be attentive to something, let’s say a role, but at the same time you must be attentive to yourself paying attention. When you ask truth or relevance of Gurdjieffian ideas in the modern world, all these things are pertinent in many many ways. It all has to do, again, with

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what Gurdjieff called „remembering yourself”. So if you are playing a role, at the same time you must remember yourself.

Übersetzer: Gurdjieff lehrte das Prinzip der geteilten Aufmerksamkeit. Wenn Du zum Beispiel Deine Aufmerksamkeit darauf richtest, eine Rolle zu spielen, musst Du zugleich auch auf Deine eigene Aufmerksamkeit aufmerksam sein. Wenn wir nach der Relevanz von Gurdjieff in der heutigen Welt fragen, dann würde ich auf solche Gedanken verweisen. Alles führt zurück auf seine Idee der Selbsterinnerung. Wenn Du eine Rolle spielst, musst Du Dich zugleich Deiner selbst erinnern.

Erzähler: Gurdjieffs Techniken der Selbstbeobachtung haben berühmte Theaterregisseure und Schauspieler in ihrer Arbeit inspiriert. Jedoch richtet sich Gurdjieffs Gedanke an alle Menschen.

O-Ton: (Taylor) He told people how to play roles. He himself did in his disguises and he told people that they must learn to play a role. Because unless you can’t play a role, you will never know who you really are. (…)

Übersetzer: Er hat den Leuten beigebracht, Rollen zu spielen. Er selbst tat es und erklärte den Leuten, dass sie ebenfalls lernen müssten, Rollen zu spielen. Denn solange Du keine Rolle spielen kannst, wirst Du niemals wissen, wer Du wirklich bist.

Musikakzent

Erzähler: Einer der ersten Franzosen, der Fontainebleau besucht, um über das Institut zu schreiben, ist der Schriftsteller Denis Saurat.

Zitator 3: (Denis Saurat) Man teilt mir mit, dass Gurdjieff mich morgen empfangen und ein Dolmetscher bereit stehen wird. Die Nachricht schlägt ein wie eine Bombe, denn Gurdjieff hat hier noch nie ein Interview gegeben. Die Schüler aus England beauftragen mich, bestimmte Fragen zu stellen. Obwohl sie zum Teil schon seit mehreren Monaten hier leben, hat Gurdjieff noch nie ein Sterbenswort mit ihnen gewechselt. Sie haben keine Ahnung, was sie hier eigentlich machen. Von den Russen bekommen sie nur vage Hinweise. Sie sind alle völlig erschöpft und demoralisiert von der harten körperlichen Arbeit, zu der sie eingeteilt wurden.

Erzähler: Am Sonntag, den 18. Februar 1923 findet das Interview statt.

Zitator: 3 (Saurat) Welche Resultate wollen Sie hier erreichen?

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Stimme G: Es geht darum, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten meiner Schüler zu verbessern. Und sie von ihren Automatismen zu befreien.

Zitator 3: „ Ist Ihnen klar, dass viele Ihrer Schüler hier nah an der Verzweiflung sind?“

Stimme G: Ja. Es gibt etwas Düsteres an diesem Ort. Aber das ist notwendig.

Zitator 3: „Was ist der Sinn all dieser schweren körperlichen Arbeit? Und wird das noch lange so andauern?“ Diese Frage zu stellen, hatten mich die Engländer geradezu angefleht.

Stimme G: Es geht darum, dass sie die äußere Welt beherrschen lernen. Das ist nur eine zeitlich beschränkte Phase.

Zitator 3: Lehren Sie über methodischen Fragen hinaus auch eine bestimmte Weltanschauung?

Stimme G: Ja. Nur wenige Menschen besitzen eine Seele. Niemand kommt bereits mit einer Seele zur Welt, sondern die muss man erst erlangen. Wer das nicht schafft, stirbt für immer. Die Atome zerstreuen sich und nichts bleibt übrig. Manche hingegen schaffen es, sich einen Teil einer Seele zu erarbeiten. Diese Menschen durchlaufen einen Prozess der Wiedergeburt, der ihnen weitere Fortschritte ermöglicht. Schließlich gibt es einige sehr wenige Menschen, die es schaffen, eine unsterbliche Seele zu erlangen. Aber das sind wirklich nur ganz, ganz wenige.

Zitator 3: (Denis Saurat) Gurdjieff hat außerordentlich höfliche Manieren. Während des Gesprächs wirkt er in keinster Weise wie ein Scharlatan. Er versucht, seine Ideen so logisch wie möglich zu erklären und scheut vor keiner Frage.

Zitator 3: (Denis Saurat) Ich frage ihn, ob er noch in Kontakt stehe mit Mitgliedern jener Gruppe von Wahrheitssuchern, mit denen er durch Zentralasien gereist war, wo er die alte Überlieferung wiedergefunden hatte. Er antwortet, dass er noch zwei oder drei von ihnen gelegentlich treffe.

„Und was ist aus ihnen geworden?” Stimme G: Sie üben verschiedene gewöhnliche Berufe aus.

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Zitator 3: „Sind sie keine Lehrer geworden?“

Stimme G: Nein. Ich bin der einzige, der unterrichtet. Das ist mein Beruf.

Zitator 3: Gibt es einen Gott, frage ich. Ja. Und Gurdjieff ist im Kontakt mit ihm. Fast wie ein unabhängiger und eigensinniger Minister mit seinem König.

Eine Frau, so heißt es, hat eigentlich keine Möglichkeit, eine Seele zu erlangen. Außer durch den Kontakt und die sexuelle Vereinigung mit dem Mann… <?>

MUSIK / ATMO: Oriental suite + Atmo Gurdjieff Gruppe heute, steht ein bisschen

Erzähler: Auch in Fontainebleau müssen Gurdjieffs Schüler mehrere Stunden am Tag mit dem Einstudieren der „heiligen Tänze“ verbringen. Gurdjieff plant große Vorführungen - nicht nur in Frankreich, sondern auch in Amerika.

O-Ton 28: (Blom) In several books about Gurdjieff's life or his teaching you find references to the concerts they did in 1923 at the theatre at the Champs-Elysée in Paris and in between January and April 1924 in the United States. And so every so many weeks or months I would come across this reference, that there was orchestral music written by Mr. de Hartmann from the piano music, all movements music… so music to accompany these so called Sacred Dances. And so I started asking around for it, I started asking people whether they know where the sheet music was.

Übersetzer: In Büchern über Gurdjieff werden immer wieder die Vorführungen erwähnt, die 1923 im Theatre des Champs-Elysée in Paris und dann zwischen Januar und April 1924 in den USA stattgefunden haben. Was mich hellhörig machte, war, dass dort immer von Orchestermusik die Rede war, die Thomas de Hartmann auf der Basis der bereits bestehenden Klavierkompositionen speziell für diese Vorführungen geschrieben habe. Eines Tages beschloss ich, mich auf die Suche nach diesen offensichtlich verschollenen Kompositionen zu machen.

Erzähler: Gert Jan Blom hat sie gefunden und inzwischen liegt sogar eine Einspielung dieser Orchesterversionen vor.

O- Ton 29: (Blom) It was in itself a very special moment to hear, while we were recording these charts, to hear those pieces come to life with an orchestra, because, for instance, a

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piece like The Great Prayer I knew very well from the piano recordings, but to hear a 35-piece-orchestra play Great Player, it's like you go from black and white to Technicolor.

Übersetzer: Es war ein ganz besonderes Erlebnis, während unserer Aufnahmen Stücke wie zum Beispiel „Das große Gebet“, das ich sehr gut in seiner Klavierversion kannte, nun erstmals von einem 35-Mann Orchester gespielt zu hören. Das war ein bisschen wie der Übergang von Schwarz-Weiß zu Technicolor.

Musik: Oriental Suite / dann wieder Klavierfassung –

Zitatorin 1: (Dushka Howarth) 1949 konzentrierte Gurdjieff seine bereits nachlassende Energie ganz auf das Einstudieren der „movements“. Das fand nun jeden Abend statt, außer wenn Gurdjieff mit einigen von uns Ausflüge mit seinem Auto machte, was für ihn die einzige Form der Erholung darstellte.

Erzähler: Dushka Howarth war eine der Töchter Gurdjieffs und wurde später in der Nachfolge ihrer Mutter Jessmin zu einer der bedeutenden Lehrerinnen für die „movements“.

Zitatorin 1: (Dushka Howarth) Ansonsten gab es in diesem letzten Jahr für Schüler, die ihn sehen wollten, nur noch die Möglichkeit, an den zeremoniellen Mahlzeiten teilzunehmen. Die fanden jeden Mittag statt und dann nochmal am späten Abend nach den Tanzstunden. Viele stellen sich vor, dass während dieser Mahlzeiten ernsthaft philosophiert worden wäre. Aber keineswegs! Die meiste Zeit verging in lautem Gelächter. Gurdjieffs Gabe der mimischen Darstellung und sein tiefgründiger Humor steckte alle an, ob alt oder jung und von welcher Nationalität auch immer.

Atmo: Gurdjieff in Gesellschaft

Erzähler: Gurdjieff liebt es, die gemeinsamen Mahlzeiten mit Freunden und Schülern lang auszudehnen. Und sie ganz nach kaukasischer Tradition klar zu strukturieren.

Zitatorin 1: (Dushka Howarth) Die Sitzordnung bei Tisch war genau vorgeschrieben. Gurdjieff saß am äußersten Ende und neben ihm zu seiner Linken der „Direktor“ des Mahls. Der Direktor hatte die Aufgabe sicherzustellen, dass alles ruhig vonstattenging, niemand ohne Essen und Trinken blieb und so weiter. Er hatte sich um Gurdjieff zu kümmern und verkündete, wenn die Zeit dafür reif war, die Trinksprüche. Dieses Ritual stammte aus der Wissenschaft der Idiotie, wie Gurdjieff sie nannte.

Erzähler:

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Gurdjieff unterscheidet 21 verschiedene Arten von Idioten, die verschiedene Stufen der Erkenntnis darstellen. Und es macht ihm höllischen Spaß, seine Schüler dementsprechend einzuordnen und sie gehörig damit aufzuziehen.

STIMMEN-MIX (alle SprecherInnen) (die 21 verschiedene Arten von Idioten werden von verschiedenen Stimmen aufgezählt, sich überlappend und sich in einem Crescendo steigernd….)

Gewöhnlicher Idiot / Superidiot / Erzidiot / Hoffnungsloser Idiot / Mitfühlender Idiot / Sich windender Idiot / Quadratischer Idiot / Runder Idiot / Zickzack-Idiot / Erleuchteter Idiot / Zweifelnder Idiot / Prahlender Idiot / Geborener Idiot / Echter Idiot / Genialer Idiot / Polyedrischer Idiot / Meisterlicher Idiot / Perfekter Idiot / Verwirklichter Idiot / Kosmischer Idiot / Einzigartiger Idiot

Musik

Stimme G: Das Wort Idiot hat zwei Bedeutungen. Die wahre Bedeutung, die ihm von den alten Weisen gegeben wurde, war: sich selbst sein. Ein Mensch, der sich selbst ist, sieht aus und benimmt sich für diejenigen, die in der Welt der Illusionen leben, wie ein Verrückter. Jeder, der sich für die Arbeit an sich selbst entscheidet, ist ein Idiot in beiderlei Sinn. Der Weise weiß, dass er nach der Wirklichkeit sucht; die Verrückten denken, er sei von allen guten Geistern verlassen. Wir hier sollten nach der Wirklichkeit suchen – also sollten wir alle Idioten sein. Aber niemand kann aus Ihnen einen Idioten machen. Sie selbst müssen es wünschen und sich dafür entscheiden. (…) Aus diesem Grund machten die alten Weisen Gebrauch von Alkohol: nicht um betrunken zu werden, sondern zur Stärkung ihrer Fähigkeit zu wünschen.

Atmo: Abendessen mit Gurdjieff (viele Stimmen)

O-Ton 30: (Taylor) Gurdjieff always used me for tasks, little tasks, like „go into the bathroom and fill up all the vodka bottles!” Because he was making pink vodka, you know and so. And he had a couple of Russians … in a bath tub, that’s marvellous. And I would pure this pink vodka and the bottles and then, as a reward he gave me a bottle and he said: Drink! And so, he poured out a little bit into a glass. I had to drink all at once, you know, the men had to drink all at once, women could take three. And I put it in my mouth and it was horribly hot, it was peppered vodka, with piment. And he looked at me and he smiled. He always looked at me and smiled when something like that happened.

Übersetzer: Gurdjieff gab mir immer kleine Aufträge, wie zum Beispiel: „geh bitte mal ins Badezimmer und fülle die Wodka-Flaschen auf“ Denn Gurdjieff brannte seinen eigenen Wodka und die Vorrichtungen dazu befanden sich in seinem Badezimmer. Nachdem ich die Flaschen gefüllt hatte, gab er mir eine kleine Flasche als Belohnung. Und daraus goss er mir ein Gläschen ein und sagte: Nun trink! Und ich

Page 27: ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Feature …18402252/property=download/...(Solange Claustres) Herr Gurdjieff fuhr fort, in aller Ruhe seinen Kaffee zu trinken. Dann nahm er

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trank ein Schlückchen und es war furchtbar scharf, denn es war gepfefferter Wodka. Und dann schaute er mich an und lächelte. So schaute er mich immer an, wenn er seine Späße mit mir trieb.

Musik: Gurdjieff spielt Harmonium, steht ein bisschen, der Raum ist zu spüren

Zitator 1: (Kenneth Walker) Es war spät am Abend. Nach dem Abendessen spielte Gurdjieff auf seinem Harmonium eine seiner seltsam eindringlichen Melodien, die in einer unbekannten Sprache etwas tief Vergrabenes anzusprechen schienen. Wir saßen um ihn herum, jeder von uns allein mit seinem eigenen inneren Erleben. Irgendwann hörte er auf zu spielen, aber wir blieben sitzen. Jemand brachte ihm eine Tasse Kaffee, die hielt er in der einen Hand und in der anderen hielt er eine Zigarette.

Es war ganz still, niemand sagte etwas.

Plötzlich war der Gedanke förmlich greifbar, dass vor uns ein alter Mann saß. Sein Kopf senkte sich nach vorn, so wie es bei alten Menschen nun einmal ist. Die Tasse in seiner Hand zitterte und schien kurz davor überzulaufen. In der anderen Hand baumelte die Zigarette, die auf den Teppich zu fallen drohte. Es hatte den Anschein, als sei er ganz in seinem hohen Alter und seiner Schwäche versunken und habe uns allein gelassen. Wir alle starrten ängstlich auf die zitternde Tasse und die baumelnde Zigarette. Viele Hände hielten sich bereit, sie schnell aufzuheben, falls sie herunterfallen sollte.

Wenn man es jedoch schaffte, seine Aufmerksamkeit von der Kaffetasse, der Zigarette und dem Eindruck von Alter und Schwäche nicht gänzlich in Beschlag nehmen zu lassen, konnte man im selben Moment eine Geistesgegenwart spüren, die wie ein Kraftfeld um Gurdjieff lag. Nicht nur schien er ganz genau zu wissen, wo sich die Tasse und Zigarette befanden, sondern sogar, was wir gerade dachten und fühlten.

Im nächsten Moment kam Gurdjieff wieder zu sich. Er nahm sein Harmonium und spielte eine weitere Melodie. Eine Melodie, die von anderen Planeten und Galaxien zeugte, die wir früher einmal gekannt hatten, ohne uns daran erinnern zu können.

Musik: steht noch

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