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Evangelische Perspektiven Das Magazin der Landeskirche Braunschweig 1 | 2014 www.landeskirche-braunschweig.de Mit vereinter Kraft für Flüchtlinge In Lelm bei Königslutter helfen Kirchengemeinde, Kommune und Vereine gemeinsam Flüchtlingen aus Afrika | Sie geben ihnen ein Dach über dem Kopf, spenden Möbel und Kleidung und erteilen ehren- amtlich Deutschunterricht | Ein bewegendes Beispiel für Zivilcourage und praktizierte Nächstenliebe.

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Evangelische PerspektivenDas Magazin der Landeskirche Braunschweig 1 | 2014

www.landeskirche-braunschweig.de

Mit vereinter Kraft für FlüchtlingeIn Lelm bei Königslutter helfen Kirchengemeinde, Kommune und Vereine gemeinsam Flüchtlingen aus Afrika | Sie geben ihnen ein Dach über dem Kopf, spenden Möbel und Kleidung und erteilen ehren-amtlich Deutschunterricht | Ein bewegendes Beispiel für Zivilcourage und praktizierte Nächstenliebe.

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Editorial | Inhalt

ImpressumHerausgeber Pressestelle der Landeskirche Braunschweig I Redaktion

Michael Strauß (mic) I Anschrift Dietrich-Bonhoeffer-Straße 1, 38300 Wolfenbüttel, Tel. 05331-802108, Fax 05331/802700, [email protected], www.landeskirche-braun-schweig.de I Druck MHD Druck und Service GmbH, 29320 Hermannsburg | Titel-foto Susanne Hübner

Liebe Leserinnenund Leser,

Flüchtlinge gehören zu den Ärmsten der Armen. Oft haben sie nicht viel mehr als das nackte Leben. Sie brau-chen, wenn sie es denn überhaupt schaffen, Deutschland zu erreichen, unsere Hilfe. Niedersachsen genoss lange Zeit nicht gerade den Ruf, Flüchtlingen gegenüber beson-ders menschlich zu agieren. Spät erst gab es hier eine Härtefallkommission, und noch viel später beginnt diese nun, im Zweifel für die Asylsuchenden zu entscheiden. Doch immer wieder gibt es auch bewegende Geschichten, wie Bürgerinnen und Bürger aus Zivilcourage Flüchtlingen die Hand reichen. Unser Titelthema erzählt eine davon.Zu den stärksten Befürwortern einer humanen Flücht-

lingspolitik gehört die Konföderation evangelischer Kir-chen in Niedersachsen. Das soll so bleiben, wenngleich die Konföderation einen Rückbau ihrer organisatorischen Gestalt beschlossen hat. In Zukunft soll die öffentliche Mitwirkung ohne das kirchliche Parlament, die Konföde-rationssynode, erfolgen. Schlank werden und mühselige Abstimmungen abspecken, heißt die Devise. Auch darüber berichten wir in dieser Ausgabe.

Und nicht zuletzt markieren wir das Ende der Amtsperi-ode von Landesbischof Friedrich Weber. Zum letzten Mal lesen Sie hier seine regelmäßige Kolumne. Mit einem posi-tiven Blick zurück sagt er adé. Und im Interview spricht er von den Veränderungen, die sich in den vergangenen zwölf Jahren im Braunschweiger Land und in der Landeskirche ereignet haben. Für seine neue Lebensphase wünschen wir ihm Gottes Segen.

Ihr

Michael Strauß

In dieser Ausgabe4 Koordinatorin mit guter Laune Anja Koch ist Propsteisekretärin in Vechelde und bearbeitet die

Vorgänge zwischen Landeskirche und Gemeinden.

6 Mit vereinter Kraft für Flüchtlinge In Lelm bei Königslutter helfen Kirchengemeinde, Kommune

und Vereine gemeinsam Flüchtlingen aus Afrika.

10 Das Klima ist besser geworden Die Stimmung im Braunschweiger Land und zwischen den Kir-

chen in Niedersachsen ist besser geworden, sagt Landesbischof Weber im Interview.

12 Die Reformation – Motor der Moderne Kultur und Kirche im Braunschweiger Land wollen das Refor-

mationsgedenken 2017 zu einem öffentlichen Ereignis machen.

16 Verschlankte Konföderation Die evangelischen Kirchen haben einen neuen Vertrag für die

künftige Zusammenarbeit unterzeichnet.

17 Blick zurück in Dankbarkeit In seiner Amtszeit habe er viele gute Erfahrungen gemacht,

sagt Landesbischof Weber in seiner letzten Kolumne für unser Magazin.

18 Die Religion säkular verwalten Ein neues Buch von Horst Dreier bietet wichtige Klärungen im

Verhältnis von Staat und Kirche.

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Die gute Nachricht

Kreuzzeichen des LichtesEine Helmstedter Initiative zeigt Installationen des Künstlers Ludger Hinse

Kreuzinstallationen des Künstlers Ludger Hinse (Recklinghausen) sind vom 27. April bis 9. Juni im Braun-schweiger Land zu sehen. In Zusammenarbeit mit dem Kon-vent des Helmstedter Klosters St. Marienberg sind die Kir-chen und Gemeinden St. Ludgeri (Helmstedt), Klosterkirche Mariental, St. Johannis (Süpplingenburg), Kaiserdom St. Peter und Paul (Königslutter) und die Dorfkirche in Hemkenrode an dem Projekt beteiligt. Unter dem Motto „Zeichen des Lichtes“ werden überall Werke von Ludger Hinse zu sehen sein. Die Schirmherrschaft hat Landesbischof Friedrich Weber.

Parallel zur Ausstellung ist ein Begleitprogramm mit Konzerten, Werkstätten, Vorträgen, Meditationen und Füh-rungen geplant. Die Eröffnung findet unter Beteiligung von Ludger Hinse am Sonntag, 27. April, um 17 Uhr mit einem Gottesdienst in der Klosterkirche St. Marienberg statt. Am Freitag, 2. Mai, 19 Uhr, ist hier ein Vortrag des Berliner Kir-chengeschichtlers und ehemaligen Präsidenten der Hum-boldt Universität Christoph Markschies vorgesehen. Am Mitt-woch, 7. Mai, erwarten die Veranstalter den Schriftsteller Arnold Stadler zu einer Lesung im Kloster St. Marienberg.

Mechthild von Veltheim, Domina des Klosterkonvents St. Marienberg und Kuratorin der Ausstellung, unterstreicht, dass sich Ludger Hinse wie „kaum ein zweiter Künstler sei-ner Generation“ mit dem Kreuzzeichen auseinander gesetzt habe. Es sei für ihn Mahnmal und Denkmal, Ausrufezeichen und Meditationsort. Seit 1988 habe der 65-jährige Künstler über 150 Ausstellungen durchgeführt.

„Ich bin begeistert von den Arbeiten Ludger Hinses, die zu neuer Begegnung mit dem Kreuz provozieren“, sagt Lan-desbischof Friedrich Weber. „Sie führen an den Kern, den Grund des christlichen Glaubens, der uns mit Hoffnung für uns und diese Welt beseelt.“ Hinses Installationen, so Weber, wiesen über das alltägliche Leben und das ausweglose Lei-den hinaus: „Sie sagen an, dass Alter, Leiden und Tod, das Versagen und Sinnleere des Lebens nicht das Letzte sein und bleiben müssen, sondern dass im Kreuz der Anfang des neuen Lebens liegt.“

Wer Weiteres zu dem Kunstprojekt erfahren möchte, hat dazu auf einer eigens entwickelten Internetpräsenz die Mög-lichkeit: www.zeichen-des-lichtes.de. | mic

Lichtkreuze, die zur Auseinandersetzung mit dem Grund des christlichen Glaubens anregen, präsentiert der Künstler Ludger Hinse.

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Fast immer gut gelaunt, managt Anja Koch die Büroangelegenheiten der Propstei Vechelde.

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Porträt

Koordinatorin mit guter LauneAnja Koch ist Propsteisekretärin der Propstei Vechelde. Als bunt und vielfältig beschreibt sie ihren Berufsalltag. Sie koordiniert die Vorgänge zwischen dem Landeskirchenamt und den Gemeinden der Propstei.

Anja Koch ist eine Frohnatur. Egal ob am Telefon oder im direkten Gespräch – die 46-Jährige verbreitet gute Laune und vermittelt dem Gegenüber das Gefühl, in ihrem Büro willkommen zu sein. „Noch vor einigen Jahren hätte ich nie daran gedacht, das hier einmal beruflich zu machen“, sagt Anja Koch lachend. Seit 2011 ist sie Propsteisekretä-rin in Vechelde und unterstützt die Arbeit von Pröpstin Pia Dittmann-Saxel.

Als „bunt und vielfältig“ beschreibt sie ihren Arbeitsalltag. Von ihrem Schreibtisch aus hat sie die Gemeindearbeit direkt im Blick. Durchs Bürofenster kann die Propsteisekretärin in die angrenzenden Gebäudeteile blicken: vormittags auf den Spielkreis, nachmittags auf Frauenchor und Bibelgruppe der örtlichen Kirchengemeinde. „Hier im Propsteisekreta-riat habe ich eine Art Vermittlerrolle“, umschreibt Anja Koch ihre Tätigkeiten. Als Ansprechpartnerin koordiniere sie Vor-gänge zwischen dem Landeskirchenamt und den einzelnen Gemeinden der Propstei. „Da geht vieles hin und her.“

Mit einem Schmunzeln fragt sie: „Wer hat sich eigent-lich das Ablagesystem in Hängeordnern ausgedacht? Das ist im Arbeitsalltag völlig unpraktisch.“ Finden auch ihre Kolleginnen in den anderen Propsteien. Mit ihnen tauscht sich Anja Koch zweimal im Jahr bei einem Treffen aus, auch das koordiniert sie.

Zudem betreue sie die Internetpräsenz der Propstei, mache die Pressearbeit, bereite Veranstaltungen mit vor, zum Beispiel Propsteisynoden und den beliebten Gottes-dienst im Grünen zu Pfingsten. 18 Stunden in der Woche ist Anja Koch in ihrem Büro erreichbar, dreimal vormittags und einmal nachmittags. In Vertretung ihrer Gemeindekollegin fertige sie dabei auch schon mal kirchliche Bescheinigungen aus. „Ansonsten gibt es hier aber weniger Publikumsverkehr als in einem Gemeindebüro.“

Doch auch diese Arbeit kennt sie genau, denn vor ihrem Start in Vechelde hatte Anja Koch bereits ein Jahr lang als Sekretärin im Pfarrbüro in Salzgitter-Hallendorf gearbei-tet. „An die Stelle bin ich damals durch Zufall über einen befreundeten Pfarrer gekommen“, erinnert sich Anja Koch. Ursprünglich hatte sie nach dem Abitur eine Ausbildung zur Industriekauffrau beim Naturfarbenhersteller Auro in Braunschweig absolviert.

„Schwerpunkt Druckvorlagen und technische Merkblät-ter“, erinnert sich die Propsteisekretärin. So verschlug es

sie anschließend zu einem Dienstleister für Druckvorlagen und von dort zu einer Eventagentur. „Fortan zählten zum Beispiel das Braunschweiger ATP-Turnier und das 24-Stun-den-Rennen in Oschersleben zu meiner Welt.“

Vom Motorsport war es dann nur ein kleiner Schritt zur Daimler AG in Braunschweig, wo Anja Koch einige Jahre Marketing und Öffentlichkeitsarbeit betrieb. Doch mit der Geburt ihres Sohnes 2004 wurde es mit solch einem beruf-lichen Pensum schwierig: „Bis zu 25 Wochenendveranstal-tungen im Jahr, das ging nicht mehr.“

Ausgleich findet sie gemeinsam mit ihrem Mann, einem Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, in ihrem ländlich geprägten Heimatort Salzgitter-Bleckenstedt. „Mit einem Zwerghahn, sechs Hühnern, Pferd, Pony und Meerschweinchen“, ergänzt Anja Koch lachend.

Viel Zeit erfordert ihr ehrenamtliches Engagement im Vorstand des Trägervereins der christlichen Heinrich-Albertz-Schule in Salzgitter-Watenstedt mit ihren 90 Schü-lerinnen und Schülern. „Ich finde es wichtig, dass Kinder auch über den Kindergarten hinaus an den christlichen Glau-ben herangeführt werden“, sagt sie. | Michael Siano

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Seit 2011 Propsteisekretärin: Anja Koch

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Titelthema

Mit vereinter Kraft für FlüchtlingeIn Lelm bei Königslutter helfen Kirchengemeinde, Kommune und Vereine gemeinsam Flüchtlingen aus Afrika. Sie geben ihnen ein Dach über dem Kopf, spenden Möbel und Kleidung und erteilen ehrenamtlich Deutschunterricht. Ein bewegendes Beispiel für Zivilcourage und praktizierte Nächstenliebe.

Der Flüchtlingsstrom von Afrika nach Europa reißt nicht ab. Verschlungene Fluchtwege führen oft tausende von Kilome-tern durch fremde Länder – und sind nicht selten mörderisch: tagsüber quälende Hitze, nachts eisige Kälte. Kaum Wasser, wenig Nahrung. Und überall Korruption. Doch selbst wer es bis ans Mittelmeer geschafft hat, das Schlimmste steht dort noch bevor: 2.000 US-Dollar kostet eine Überfahrt, mindes-tens. Schlepper vergewaltigen Frauen und foltern Männer.

Seeuntüchtige Nussschalen lassen die Überfahrt ins „gelobte Europa“ schnell zu einer tödlichen Katastrophe werden, wie die Tragödien vor der italienischen Insel Lam-pedusa immer wieder zeigen. Mindestens 17.000 Flüchtlinge sollen laut offiziellen Schätzungen in den vergangenen zehn Jahren ums Leben gekommen sein: ertrunken in den Wel-

len des Mittelmeers, unbemerkt von der Weltöffentlichkeit.Mukhtar Adam hat die Flucht überlebt. 20 Jahre sei er

alt, berichtet er in einem Mix aus gebrochenem Deutsch und Englisch. Seine Heimat liege in der Krisenregion Dar-fur im Westen des Sudans. Warum er sie verlassen habe?

„Viel Bouum, Bouum“, lautmalt er und ahmt gestikulierend Bombenangriffe nach. Familienangehörige seien in den Bür-gerkriegswirren getötet worden. Irgendwann habe er nur noch weg gewollt. Weg aus einer Hölle von Krieg, Tod, Hun-ger und Leid.

Dass der junge Afrikaner heute so unbefangen berichten kann, verdankt er nicht zuletzt der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Maria in Lelm. Im Mai 2013 hatten in dem beschaulichen 700 Einwohner zählenden Örtchen nahe

Im Gespräch mit den Flüchtlingen aus Afrika.

Weg aus einer Hölle von Krieg, Tod und Leid.

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Aufmerksame Schülerinnen und Schüler findet der Deutschunterricht im Dorfgemeinschaftshaus.

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Titelthema

Königslutter 15 afrikanische Asylbewerber aus dem Sudan Zuflucht gefunden. Ursprünglich sollten die Männer im Alter von 19 bis 54 Jahren gemeinsam mit 15 weiteren Flüchtlin-gen in der Asylbewerberunterkunft von Königslutter unter-gebracht werden.

Doch das marode und zugige Gebäude mit Schimmel-befall wollte der dortige Bürgermeister Alexander Hoppe den Flüchtlingen nicht zumuten. Stattdessen kamen 15 von ihnen, darunter auch Mukhtar Adam, nach Lelm, wo drei Wohnungen im Gemeindehaus leer standen.

„Die Angst und Unsicherheit unter der Dorfbevölkerung war sehr groß“, erinnert sich die Vorsitzende des Kirchen-vorstands, Friederike Schmidt. „Aber bei den Asylbewer-bern auf der anderen Seite war sie mindestens genauso groß.“ So wurden Ortsbürgermeisterin Ilona Maushake und die damalige Ortspfarrerin Stéphanie Gupta aktiv: „Wir hol-

ten die Flüchtlinge gemeinsam vom Bahnhof in Königslutter ab und gingen mit ihnen durch unser Dorf, um es ihnen zu zeigen“, erzählt die Pfarrerin.

Kirchenvorsteherin Friederike Schmidt ergänzt: „Dieser Rundgang wurde von der Bevölkerung genau beobachtet. Dass Pastorin und Bürgermeisterin gemeinsam mit den Flüchtlingen durchs Dorf gingen, gab beiden Seiten viel Sicherheit und trug zur Beruhigung der Gemüter bei.“

Einwohner, die dem Tross über den Weg liefen, wurden sogleich mit Handschlag begrüßt sowie den neuen Gästen vorgestellt und umgekehrt. Aus diesen Erfahrungen heraus begrüßen die Asylbewerber in Lelm auch heute noch jeden, den sie begegnen, freudig mit Handschlag.

„Reden, reden, reden – und Brücken bauen“, so beschrei-ben Ortsbürgermeisterin und Pfarrerin ihr Erfolgsrezept, mit dem es gelang, die Flüchtlingsgruppe in dem kleinen Dorf zu integrieren. „Wir haben die Vereine mit ins Boot geholt.“ Bis

auf die Betten war in den Wohnungen nichts vorhanden, alles wurde gebraucht: Möbel, Kleidung, Bettdecken, Geschirr und Besteck. Für fast alles fanden sich Spender. Maßgeb-lich half auch das Helmstedter Diakonie-Kreisstellenteam, allen voran Diakoniebeauftragter Ekke Peter Seifert.

Eine Familie spendete sogar einen Fernseher mit Satel-litenanlage. Und es gab Fahrräder. „In Lelm gibt es kei-nen Laden, keine Post, keinen Kiosk, keinen Arzt, deshalb waren die Fahrräder für die Flüchtlinge das Allerwichtigste“, erklärt Friederike Schmidt. Die nächste Einkaufsmöglichkeit existiert im fünf Kilometer entfernten Königslutter. Doch auch das Fahrradfahren musste zunächst erlernt werden.

„Manche hatten noch nie zuvor ein Fahrrad gesehen.“Schlimm war für die Flüchtlinge in Lelm von Anfang an

die Abgeschiedenheit. Zum Glück fand sich mit Friederike Schmidt, Christine Kuntze-Teichler und Dorothee Polatzek ein ökumenisches Lehrerinnentrio – die ersteren beiden evangelisch, letztere katholisch –, das sich bereit erklärte, den Asylbewerbern ehrenamtlich Deutschunterricht zu erteilen. Unterstützt werden sie dabei von der Evangelischen Erwachsenenbildung (EEB). Seitdem werden montags und mittwochs jeweils zwei Stunden Deutsch im Dorfgemein-schaftshaus unterrichtet.

Mit beeindruckendem Erfolg: Zwar noch holprig, aber doch verständlich können sich die Flüchtlinge mitteilen.

„Aber nur zweimal die Woche zwei Stunden ist viel zu wenig, um die Sprache zu erlernen“, bedauert Friederike Schmidt.

„Als Lehrerin höre ich mir die Sorgen der Asylbewerber an,

„Reden, reden, reden – und Brücken bauen“, so beschreiben Ortsbürgermeis-terin und Pfarrerin ihr Erfolgsrezept.

Die Flüchtlingsgruppe hat sich verändert: Zusätzlich zu den Afrikanern ist eine iranische Familie nach Lelm gekommen.

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sie fühlen sich ernst genommen und respektiert. Probleme und Konflikte können angesprochen und oft auch gleich gelöst werden.“

Die Flüchtlingsgruppe beteiligt sich an Dorfaktionen, pflanzt Krokusse im Dorf und pflegt den Garten an der Kir-che. Dankbar reagiert die Gruppe auf die Kontaktaufnahme durch islamische Gemeinden und Vereine, feiert Rama-dan – nimmt aber auch gern Einladun-gen ihrer christlichen Gastgeber an.

„So haben die Flüchtlinge an unserem Adventskonzert teilgenommen und mit Musikstücken aus ihrer afrikani-schen Heimat bereichert“, freut sich der Gemeindevorstand.

Inzwischen hat Pfarrerin Stéphanie Gupta ihre Lelmer Gemeinde verlassen und wirkt in einer Kirchengemeinde in Braunschweig. Ihr Nachfolger ist der 30-jährige Tobias Crins, der nach dem Vikariat nun in Lelm seine erste Pfarrstelle angetreten hat: „Für mich als junger Pfarrer ist die Situation in der Gemeinde sehr spannend.“ Mit

Lampedusa-Flüchtlingen sei er erst-mals als Vikar in Hamburg-St.-Pauli in Berührung gekommen. Dort habe der bekannte Flüchtlingspfarrer Peter

Oldenbruch etwa 80 Asylbewerbern Unterschlupf gewährt.

Doch auch in der Lelmer Flüchtlings-gruppe hat es Veränderungen gegeben. Fünf von ihnen sind aufgrund von Kon-takten zur islamischen Gemeinde inzwi-schen nach Königslutter gezogen, neh-men aber weiterhin am Deutschkurs in Lelm teil. Dafür kam eine iranische Flüchtlingsfamilie neu nach Lelm: Ali Daeijavad mit seiner Frau Lida Paeiz

und den gemeinsamen kleinen Töch-tern Hanieh und Hana. „Wir mussten unser Land aus politischen Gründen verlassen“, berichtet der Familienva-ter. Ihre Flucht-Odyssee habe sie über Syrien und die Türkei bis nach Deutsch-land geführt. Auch die iranische Familie freut sich über die gastfreundliche Auf-nahme durch die Lelmer.

Was sich die Beteiligten noch wün-schen? „Kostenlose Busfahrten wären hilfreich“, fällt Kirchenvorsteherin Frie-derike Schmidt spontan ein. „Gerade wenn die Kinder der Flüchtlingsfamilie krank werden, müssen sie mit dem Bus bis Helmstedt fahren.“ Überhaupt wäre ein wenig mehr Unterstützung überge-ordneter Ebenen hilfreich, findet Pfar-rerin Stéphanie Gupta. „Als Initiative von unten zeigen wir, dass Integration funktionieren kann.“ Einen Umstand bedauern alle besonders: Wohin es die Flüchtlinge nach ihrem Anerkennungs-verfahren verschlagen wird, wisse nie-mand. Eines Tages werde ihre Odyssee weitergehen. | Michael Siano

„Als Initiative von unten zeigen wir, dass Integra-tion funktionieren kann“, sagt Pfarrerin Stéphanie Gupta.

Ernst genommen und respektiert: die Flüchtlingsgruppe mit ihren Unterstützern in Lelm.

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Interview

Das Klima ist besser gewordenDie Stimmung im Braunschweiger Land hat sich aufgehellt, und auch das Klima zwischen den evangelischen Kirchen in Niedersachsen ist besser geworden. Zu dieser Einschätzung kommt Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber im Interview.

Evangelische Perspektiven: Herr Prof. Dr. Weber, mehr als zwölf Jahre hatten Sie das Amt des Landesbi-schofs im Braunschweiger Land inne. Welche Veränderungen haben Sie in dieser Zeit wahrgenommen?

Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber: Die Region hat sich in so fern verändert, als die Stimmung bei vielen Akteuren wesentlich positiver gewor-den ist. Sie haben den Eindruck, Braun-schweig und das Braunschweiger Land befinden sich in einem Aufbruch. Auch städtebaulich hat sich manches getan, bis hin zum Braunschweiger Schloss. Außerdem ist die Qualität des Kulturel-len erkennbarer geworden, vor allem im Blick auf musikalische Aktivitäten. Das gilt nicht nur für die sogenannte Hochkultur, sondern auch für viele klei-nere Initiativen und Gruppen, die auf hohem Niveau agieren.

Nicht zu vergessen der wissen-schaftliche Sektor, oder?

Wissenschaft aus Braunschweig ist europaweit berühmt. Es gibt ein klar identifiziertes Thema, das hier im Vordergrund steht: die Mobilität. In die-sem Zusammenhang ist viel investiert worden, das konnte ich an der Techni-schen Universität persönlich mitverfol-gen. Nicht zu vergessen ist aber auch der Ausbau von sozialen Initiativen, zum Beispiel die Tafeln für Bedürftige. Wobei hier deutlich wird, dass wir es zunehmend mit prekären Lebensver-

hältnissen zu tun haben. Außerdem schwindet die Zahl der kleinen Land-wirte, die wichtig waren für die Dorfkul-tur und die Weitergabe von Traditionen. Wir bekommen eine Landwirtschaft, die stark industriellen Charakter hat.

Wie hat sich denn die Landeskirche verändert?

Als ich vor zwölf Jahren kam, hat sie auf nahezu alle Herausforderungen mit hauptamtlichem Personal reagiert. Es gab gesamtkirchliche Dienste, die wir

in den vergangenen Jahren weitgehend aufgeben mussten, weil die Landeskir-che durch rückläufige Steuereinnah-men in eine bedrohliche Lage geraten war. Geholfen haben in dieser Situation nur Kürzungen, die sehr schmerzlich waren und die keiner der Verantwort-lichen leichten Herzens vorgenommen hat. Gleichzeitig haben wir Umbaumaß-nahmen eingeleitet. So sind wir noch stärker als früher eine Landeskirche geworden, die sich von den Gemeinden her versteht und die sich wesentlich in

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Als Landesbischof zwölf Jahre im Braunschweiger Land: Friedrich Weber.

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Interview

den Gemeinden abbildet. Das heißt aber auch, dass die übergemeindliche Begleitung der Gemeinden schwächer geworden ist.

Verbindet sich mit dieser Entwick-lung Ihre Beschreibung der Landeskir-che als „Kirche dritten Typs“?

Braunschweig ist keine Kirche wie die hannoversche oder die hessen-nas-sauische. Sie ist aber auch keine Kir-che wie Schaumburg-Lippe. Die erst-genannten halten etwa ein Fünftel ihrer Pfarrstellen als Sonderdienste vor, wohingegen Schaumburg-Lippe eine reine Gemeindekirche ist, wo selbst der Bischof bis vor kurzem eine halbe Pfarrstelle wahrnahm. Die Landes-kirche Braunschweig ist etwas dazwi-schen. Wenn sie eigenständig bleiben will, muss sie Kooperationen suchen, denn ohne Hauptamtliche im überge-meindlichen Bereich steht die Kirche in der Gefahr, ihren Horizont einzubüßen. Schließlich ist die Kirche stets mehr als das, was vor Ort erkennbar ist. Sie hat einen Zug ins Universale.

Wie ist es um die Zusammenarbeit zwischen den evangelischen Kirchen in Niedersachsen bestellt?

Das Klima zwischen Braunschweig und Hannover ist qualitativ besser geworden und mittlerweile stark von Vertrauen geprägt. In den vergange-nen Jahren haben wir miteinander eine ganze Reihe von Kooperationen entwi-ckelt: zum Beispiel beim Predigerse-minar, in der Umweltarbeit oder bei der Diakonie. Hier sehe ich einen großen Unterschied zu 2002.

Die Landeskirche hat Anteil an den gesellschaftlichen Veränderun-gen, denen sich die Kirche insgesamt

ausgesetzt sieht. Das Zeitalter der Volkskirche scheint sich dem Ende zuzuneigen. Gehen wir stärker einer freikirchlichen Entwicklung entge-gen?

Zumindest dürfen wir in den Lan-deskirchen das Funktionieren unse-rer Apparate nicht mit lebendigem christlichen Leben verwechseln. Mit Sorge höre ich zum Beispiel bei Visi-tationsbesuchen, wie gering häufig der Gottesdienstbesuch ist. Wobei wir in Norddeutschland eine andere Form von Kirchenbindung haben als in Süddeutschland. Es ist ein nüch-ternes Zugehörigkeitsgefühl, das sich nicht immer in den üblichen religiösen Praktiken ausspricht. Es wird erwartet, dass sich die Kirche zu gesellschaftli-chen Themen öffentlich äußert. Dabei soll sie aufgrund ihrer Glaubensprinzi-pien erkennbar sein und nicht einfach als ein weiterer politischer Akteur.

Ist das in unserer Region gelun-gen?

In den vergangenen Jahren konn-ten wir das bei vielen Themen deutlich machen: sei es beim Sonntagsschutz, der Präimplantationsdiagnostik, bei sozialen und Bildungsfragen, oder auch bei der Integrations- und Flüchtlings-politik.

Die Wirksamkeit der Kirche hängt in unserer stark von Medien gepräg-ten Gesellschaft nicht zuletzt vom Bischofsamt ab. Wie viel Macht hat ein evangelischer Bischof?

Der Bischof ist und bleibt Pfarrer. Insofern übt er vor allem anderen ein geistliches Amt aus. Das Bischofsamt ist aber auch ein Vehikel, um Themen zu transportieren, die uns in der Kir-che und im christlichen Glauben bewe-gen. Ein Landesbischof wird mit einem höheren medialen Interesse wahrge-nommen als ein Regionalbischof oder ein Propst. Er hat umfassende Möglich-keiten, sich zu äußern, aber er darf nicht daraus schließen, dass alle machen, was er sagt. Letztendlich muss auch der Bischof mit seinen Argumenten überzeugen. Allein durch die Autori-tät seines Amtes kann er kaum etwas durchsetzen. Seine Macht ist kommuni-kativer Art, mit der er hochverantwort-lich umgehen muss.

Ihre Amtszeit im Braunschweiger Land endet, eine neue Lebensphase beginnt. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?

Wenn man wie ich 42 Jahre haupt-amtlich in der Kirche tätig war, ist eine solche Zäsur ambivalent. Das, was die Wochen und Monate strukturiert hat, fällt plötzlich weg. Auch die prakti-sche Unterstützung vieler Menschen fällt weg. Deswegen habe ich nie nach-gelassen, möglichst selbstständig zu bleiben. Ich weiß zum Beispiel, wie ein Computer funktioniert. Außerdem muss man sich klarmachen, dass das, was kommt, etwas anderes ist als das, was war. Sonst empfindet man das Neue als Verlust. Ich bin Gott sei Dank gesundheitlich in der Lage, neue Auf-gaben anzupacken. So empfinde ich es als großes Geschenk, in den nächsten Jahren weiter als geschäftsführender Präsident für die Gemeinschaft Evan-gelischer Kirchen in Europa tätig blei-ben zu können. Diese evangelische Ökumene ist für mich ein Schlüssel meiner beruflichen und theologischen Existenz. | mic

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Das Bischofsamt ist ein Vehikel, um Themen zu transportieren, die uns in der Kirche bewegen.

Bielda und Friedrich Weber.

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Chronik

Die Reformation – Motor der ModerneKultur und Kirche wollen das Reformationsgedenken 2017 zum öffentlichen Ereignis machen

Das Gedenken zum 500. Jahrestag der Reformation im Jahr 2017 soll auch im Braunschweiger Land ein besonderes öffentliches Ereignis werden. Eine Veranstaltung im Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig brachte zahlreiche Akteure aus Kultur und Kirche zusammen, um eine mög-lichst abgestimmte Vorgehensweise auf dem Weg ins Jahr 2017 zu gewährleisten.

Der Legende nach hatte Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel der römisch-katholischen Kirche an die Tür der Schlosskirche in Witten-berg genagelt. Seit 2008 rückt die evangelische Kirche im Rahmen einer Reformationsdekade jedes Jahr ein neues Thema in den Blickpunkt. 2014 heißt das Motto „Reforma-tion und Politik“.

Als Gastredner hatte ein Initiativkreis um Generalinten-dant Joachim Klement, Kulturdezernentin Dr. Anja Hesse und Oberlandeskirchenrat Thomas Hofer den emeritierten Geschichtsprofessor Heinz Schilling (71) aus Berlin gewon-nen. Er zeichnete mit wissenschaftlicher Akribie einen Mar-tin Luther, der uns heute fremd ist.

In vormoderner Weise habe Luther die Universalität der Kirche im Sinn gehabt. Geprägt von einem „fundamentalis-tisch-absoluten Religionsverständnis“ trete in seiner Person

immer wieder etwas „Raufboldhaftes“ und „Abstoßendes“ hervor. Wie zum Beispiel in seinen antijüdischen Schriften. Das moderne Verständnis von Toleranz sei Luther fremd gewesen. Trotzdem, so Schilling, sei ein „Luther-Bashing“ verfehlt, denn der Reformator müsse als Mann in seiner Zeit verstanden werden.

Zudem dürften seine dunklen Seiten die hellen Seiten nicht überdecken. Luther habe die Religion aus ihrer „sepa-rierten Sakralität“ geholt und zur Leitkultur des privaten und öffentlichen Lebens gemacht. Durch ihn sei die Religion

„welthaftig“ geworden und habe so die Modernisierung der Gesellschaft gefördert. Die Welt sei ein Ort des Heilsgesche-hens geworden, an dem sich der Mensch durch sein ganzes Leben, auch in Ehe und Beruf, als Christ zu bewähren habe.

Die Reformation habe eine „kulturelle Differenzierung“ hervorgebracht, die nach dem Verständnis von Schilling als „Kirchenspaltung“ nur unzureichend gekennzeichnet ist. Luther, so der Historiker, sei der Garant einer neuzeit-lichen Religiosität, die auch die römisch-katholische Kirche würdigen müsse, wenn sie modern sein wolle.

Der Redner kritisierte auch die Vorstellung, das Luther-tum habe eine unpolitische Obrigkeitshörigkeit als spezi-fische Politikkultur gefördert. Vielmehr belege gerade die Geschichte Braunschweigs, dass man von einem „civic Lutheranism“ sprechen könne, einer anti-obrigkeitlichen und zivilgesellschaftlichen Ausrichtung des Luthertums.

Schließlich seien es häufig die Städte gewesen, die der Reformation gegen die Herzöge und Fürsten zum Durch-bruch verholfen hätten.

So sei eine lutherisch geprägte Bürgerreligion entstan-den, die der Freiheit und Selbstbestimmung den Weg geeb-net habe. Das stadtbürgerliche Luthertum, so Schilling, sei das Vorbild für die Zivilgesellschaft heutiger Zeit.

Vor diesem Hintergrund riefen Oberlandeskirchenrat Thomas Hofer und auch Landesbischof Friedrich Weber zu einer breiten Beteiligung der Akteure in der Region auf, das 500-jährige Reformationsgedenken mitzugestalten. | mic

Diskussion im Staatstheater zum Reformationsgedenken 2017.

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In den Städten ist eine lutherisch geprägte Bürgerreligion entstanden, die der Freiheit und Selbstbestimmung den Weg geebnet hat.

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„Initiative für die Zukunft“Vier evangelische Kirchen starten in Braunschweig das Diakonische Werk in Niedersachsen

Das neue Diakonische Werk in Niedersachsen hat am 31. Januar in Braunschweig als einer der größten Wohlfahrtsverbände des Bundeslan-des seinen Zusammenschluss gefei-ert. In der Diakonie sind rund 50.000 hauptberuflich Beschäftigte in etwa 3.000 sozialen Einrichtungen tätig. Der Ratsvorsitzende der Konfödera-tion evangelischer Kirchen in Nieder-sachsen, Landesbischof Ralf Meister, nannte die Fusion beim Gottesdienst im Braunschweiger Dom „eine Initia-tive für die Zukunft“.

Diakonie-Vorstandssprecher Chris-toph Künkel aus Hannover sagte, die Diakonie spreche künftig „mit einer Stimme in allen Belangen“. Die han-noversche und die braunschweigische Landeskirche lassen ihre bisherigen Werke in dem neuen Zusammenschluss aufgehen. Die Diakonie der Evangelisch-reformierten Kirche sowie der Lan-deskirche Schaumburg-Lippe bleiben eigenständig. Beide sind aber zugleich Mitglieder im landesweiten Werk.

Die Diakonie der oldenburgischen Kirche beteiligt sich zunächst nicht am Zusammenschluss. Sie wird vom niedersächsischen Diakonischen Werk aber als politischer Spitzenverband vertreten. Die fünf Einzelwerke waren bisher durch einen Verein locker mit-einander verbunden.

Der hannoversche Landesbischof Meister hob die Sozialpartnerschaft hervor, die die Diakonie mit der Dienst-leistungsgewerkschaft ver.di und dem Marburger Bund anstrebt. In Nieder-sachsen wird sie künftig direkt mit den Gewerkschaften Tarifverhandlungen führen. Sie setzt damit eine Forderung des Bundesarbeitsgerichts nach einer Neuregelung des kirchlichen Arbeits-rechts um.

Auch der niedersächsische Minis-terpräsident Stephan Weil (SPD)

begrüßte die angestrebten Tarifver-träge. Viele Träger von sozialen Ein-richtungen seien in „arge wirtschaft-liche Probleme“ geraten, ohne etwas dafürzukönnen. Mit dem Diakonischen Werk werde die soziale Verantwortung

im Bundesland gebündelt. „Wir sehen in der Diakonie einen starken und sehr vertrauten Partner.“

Durch die Fusion der Diakonischen Werke von Braunschweig und Han-nover sei kein Arbeitsplatz verloren

gegangen, betonte der bisherige han-noversche Diakonie-Direktor Künkel. Die Mitgliedseinrichtungen und auch die Politik profitierten künftig von einer spezialisierten Beratung, beispiels-weise bei Fragen der Entlohnung oder im Qualitätsmanagement. „Die sozia-len Fragen werden immer komplizier-ter.“

Der braunschweigische Landesbi-schof Friedrich Weber sagte, die Diako-nie in Niedersachsen werde hörbar und präsent „noch gemeindenaher als bis-her für die Menschen in Niedersachsen wirken“. Damit sei die Diakonie auch für die Kirchen vorbildhaft. Zum drei-köpfigen Vorstand des neuen Werkes gehören Künkel und sein Stellvertre-ter Jörg Antoine. Als Vertreter aus der braunschweigischen Landeskirche ist Oberkirchenrat Cornelius Hahn in dem Gremium. | epd

Chronik

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Die Diakonie in Nieder-sachsen soll hörbar und präsent noch gemeinde-naher als bisher für die Menschen wirken.

Die Bischöfe segnen den Vorstand des neuen Diakonischen Werkes ein.

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Chronik

Die Trennung überwindenBundestagspräsident Lammert forderte im Braunschweiger Dom die Einheit der Kirche

Mit einem flammenden Appell hat Bundestagspräsident Norbert Lam-mert die Einheit von evangelischer und katholischer Kirche gefordert. Wer die Unterschiede weiter als kirchentren-nend betrachte, verwechsle Zweit- und Drittrangiges mit Erstrangigem, sagte er beim Jahresempfang der Landeskir-che Braunschweig im Braunschweiger Dom. Das sei sehr ärgerlich. Genauso wenig wie Christus zerteilt sei, dürfe die Kirche getrennt sein, betonte der Bun-destagspräsident in einer Rede, der seine innere Beteiligung anzuspüren war. Lammert ist katholischer Christ.

Die organisatorische Trennung sei den Kirchen oft wichtiger als die Gemeinschaft im Glauben, kritisierte

er. Dabei seien doch alle Christen durch die Taufe eins. Vor diesem Hin-tergrund plädierte Lammert auch für

ein gemeinsames Abendmahl von Evangelischen und Katholiken. Die

Einladung dazu sei wichtiger als die Frage, durch welches Amt es verwal-tet werde. Damit grenzte er sich gegen die offizielle theologische Linie seiner eigenen Kirche ab, die eine Gültigkeit des Abendmahls vom römisch-katho-lischen Ritus abhängig macht. Der Vor-wurf, diese Haltung sei typisch protes-tantisch, sei ihm „gleichgültig“, sagte Lammert. Es handele sich hier um

„theologische Spitzfindigkeiten“.Die Einheit der Kirche dürfe nicht

den Theologen überlassen werden. Ihnen gehe es häufig um die eigene Unersetzlichkeit und die Bedeutung des eigenen Amtes. Die Kirche sei als Ins-titution eine „zutiefst menschliche Ein-richtung“ und für viele ein „Haupthin-dernis des Glaubens“. Lammert zitierte in dieser Hinsicht Papst Benedikt XVI., der 1968 in seinem Buch „Einführung ins Christentum“ der Kirche vorgewor-fen hatte, mit menschlichem Machtstre-ben das amtliche Christentum zu ver-walten, anstatt dem wahren Geist des Christentums Raum zu geben.

Der Bundestagspräsident bezwei-felte, dass immer noch theologische Gründe einer kirchlichen Einheit von Evangelischen und Katholiken ent-gegenstehen. Die Kirchentrennung in Folge der Reformation habe vor allem politische Gründe gehabt, die heute keine Rolle mehr spielten. Er warnte davor, sich in der Trennung weiter häuslich einzurichten: „Die Spaltung widerspricht dem Willen Christi.“

Lammert dankte Landesbischof Friedrich Weber für dessen „pastora-les Wirken und bewundernswürdigen Einsatz für die Ökumene“. Er habe die Einladung zur Rede im Dom auch des-halb besonders gerne angenommen, weil es der letzte Jahresempfang war, zu dem Landesbischof Weber eingela-den hatte. | mic

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Der Bundestagspräsi-dent bezweifelte, dass immer noch theologi-sche Gründe einer kirch-lichen Einheit von Evan-gelischen und Katholiken entgegenstehen.

Bundestagspräsident Norbert Lammert forderte in Braunschweig mehr Ökumene.

1 | 2014 Evangelische Perspektiven | 15

Chronik

Cornelia Götz wird DompredigerinKirchenregierung entscheidet sich für Persönliche Referentin des Landesbischofs

Pfarrerin Cornelia Götz (45), Persönliche Referentin des Landes-bischofs aus Wolfenbüttel, wird neue Dompredigerin am Braunschweiger Dom. Sie tritt die Nachfolge von Joa-chim Hempel an, der am 30. Juni in den Ruhestand geht. Das hat die Kirchen-regierung beschlossen. Cornelia Götz setzte sich in geheimer Abstimmung gegen Pfarrer Dr. Axel Heike-Gmelin von der Dreieinigkeitsgemeinde Salz-dahlum-Apelnstedt-Volzum in Wolfen-büttel durch. Beide hatte die Kirchen-regierung zunächst für die Stelle des Dompredigers in Aussicht genommen. Am 9. und 16. Februar hatten sie sich in Gottesdiensten im Braunschweiger Dom öffentlich vorgestellt.

Cornelia Götz ist seit 2005 Per-sönliche Referentin von Landesbi-schof Friedrich Weber. Zuvor war sie Pfarrerin im Probedienst in Gielde und Neuenkirchen (Propstei Schöp-penstedt). Nach Übernahme in die Landeskirche Braunschweig im Jahr 1999 absolvierte sie ihr Vikariat in der Kirchengemeinde St. Jürgen in Braun-schweig-Ölper. Geboren in Chemnitz, erwarb sie zunächst ein Staatsexa-men an der Medizinischen Fachschule in Erfurt als Audiologie-Phoniatrie-Assistentin, bevor sie Evangelische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena studierte. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei Kin-dern.

Neuer Leiter der TelefonseelsorgeDompfarrer Christian Kohn tritt die Nachfolge von Jörg Willenbockel an

Dompfarrer Christian Kohn (54) aus Braunschweig wird neuer Leiter der Telefonseelsorge Braunschweig. Das hat die Kirchenregierung beschlossen. Sein Dienstbeginn wird noch durch das Lan-deskirchenamt festgesetzt. Kohn tritt die Nachfolge von Pfarrer Jörg Willen-bockel an, der zum März als Landeskir-chenrat ins Landeskirchenamt in Wol-fenbüttel wechselte.

Christian Kohn ist seit 2007 Pfarrer am Braunschweiger Dom, gleichzei-tig aber auch als Pastoralpsychologe tätig. 2005 erhielt er von der Syste-mischen Gesellschaft (SG) eine Zerti-fizierung als Systemischer Therapeut

und Berater. Er ist außerdem Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Pas-toralpsychologie (DGfP) und seit 2006 stellvertretender Vorsitzender der intersektionellen Konferenz der Pas-toralpsychologischen Dienste der Lan-deskirche Braunschweig.

Vor seiner Tätigkeit am Braun-schweiger Dom war Kohn Pfarrer in den Gemeinden St. Johannes, Dietrich-Bonhoeffer und St. Martini in Braun-schweig. Nach einem Theologiestu-dium in Göttingen absolvierte er sein Vikariat in der Kirchengemeinde St. Andreas und St. Vitus in Seesen.

Pfarrerin Cornelia Götz.

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Pfarrer Christian Kohn.

1 | 2014 Evangelische Perspektiven | 16

Chronik

Neues Amt für Jörg WillenbockelLeiter der Telefonseelsorge Braunschweig wird Referatsleiter im Landeskirchenamt

Pfarrer Jörg Willenbockel (52) aus Braunschweig wird neuer Lei-ter des Gemeindereferates (Referat 21) im Landeskirchenamt Wolfenbüt-tel. Er übernimmt die Aufgabe von Cornelius Hahn (58), der künftig als Oberkirchenrat aus der Landeskirche Braunschweig im Vorstand des neuen Diakonischen Werkes in Niedersachsen (DWiN) mitwirkt.

Willenbockel war seit 2001 Leiter der Telefonseelsorge Braunschweig

und davor Gemeindepfarrer in Helm-stedt. Er ist im Landeskirchenamt Wolfenbüttel zuständig für Fragen der Gemeindearbeit und der Gemeinde-seelsorge. Dazu gehören unter ande-rem die Kinder- und Jugendarbeit, die Konfirmandenarbeit sowie die Män-ner- und Frauenarbeit. Außerdem ressortierten bei ihm die Spezial-seelsorge, die Beratungsdienste, die Kirchenmusik sowie die Diakoninnen und Diakone.

Verschlankte KonföderationDie evangelischen Kirchen in Niedersachsen haben ihr gemeinsames Parlament aufgelöst

Die fünf evangelischen Kirchen in Niedersachsen schaf-fen ihr gemeinsames Parlament ab und öffnen der Diakonie den Weg zu Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften. In ihrer voraussichtlich letzten Sitzung beschloss die Synode der Konföderation am 8. März in Hannover, sich ab 2015 ersatzlos aufzulösen. Die Zusammenarbeit der Kirchen soll so vereinfacht und verschlankt werden. Die Bischöfe der ein-zelnen Kirchen unterzeichneten nach fünfjährigen Beratun-gen einen neuen Konföderationsvertrag.

Die Idee einer landesweiten gemeinsamen Kirche wird damit vorerst nicht verwirklicht. Die evangelisch-lutheri-schen Kirchen von Braunschweig, Hannover, Oldenburg, Schaumburg-Lippe sowie die Evangelisch-reformierte Kir-che hatten sich 1971 zur Konföderation zusammengeschlos-sen, um ihre Interessen gegenüber dem Land Niedersach-

sen gemeinsam zu vertreten und Gemeinschaftsaufgaben wahrzunehmen. Sie repräsentieren zusammen knapp 3,8 Millionen Protestanten. Davon gehören rund drei Viertel zur hannoverschen Landeskirche.

Kritiker vor allem aus der hannoverschen Landeskirche hat-ten immer wieder einen zu hohen Abstimmungsbedarf zwi-schen den Kirchen bemängelt. Der neue Vertrag sieht zahlrei-che Vereinfachungen bei der Gesetzgebung vor. Zudem soll der zehnköpfige Rat der Konföderation gestärkt werden. In neun Jahren werden die Reformen ausgewertet.

Die konföderierte Synode beschloss daneben ein neues Arbeitsrechtsmodell für rund 30.000 Beschäftigte in der Dia-konie. Damit können die diakonischen Arbeitgeber künftig direkte Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund aufnehmen. Das Ziel sind „kirchen-rechtlich legitimierte Tarifverträge“. Mit der neuen Regelung legen Kirche und Diakonie einen jahrelangen Konflikt bei, der sich vor allem am Streikrecht festmachte. Streik oder Aus-sperrung sind im kirchlichen Arbeitsrecht nicht vorgesehen.

Vor drei Jahren verließen die Mitarbeitervertreter jedoch die Kommission und forderten Tarifverträge, wie sie in ande-ren Branchen üblich sind. Dabei baten sie die Gewerkschaften um Unterstützung. 2012 bestätigte das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil das kirchliche Arbeitsrecht, räumte aber den Gewerkschaften ein stärkeres Mitspracherecht ein.

In Niedersachsen nahmen beide Seiten daraufhin Verhand-lungen auf. Formell verzichten die Gewerkschaften weiterhin nicht auf das Streikrecht. Allerdings haben sich beide Seiten auf ein verbindliches Schlichtungsverfahren geeinigt. | epd

Die Bischöfe bei der Unterzeichnung des Konföderationsvertrages.

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Landeskirchenrat Jörg Willenbockel.

1 | 2014 Evangelische Perspektiven | 17

Kolumne

Blick zurück in DankbarkeitNach zwölf Jahren geht Friedrich Weber als Landesbischof der braunschweigischen Landeskirche in den Ruhestand. Er blickt auf diese Zeit mit Dankbarkeit zurück. Sie sei voller guter Erfahrungen gewesen, wie er in seiner letzten Kolumne für unser Magazin schreibt.

So manchen Abschied von guten Freunden, Kollegen und Kolleginnen und Nachbarn haben meine Frau und ich in den Jahren unserer Berufstä-tigkeit als Lehrerin und Pfarrer erlebt. Und jedes Mal war neben der Wehmut des Abschieds auch etwas vom Zauber des Neuanfangs zu spüren. Nun geht es uns wieder so. Nach mehr als zwölf Jahren im Braunschweiger Land geht es nach Greetsiel in Ostfriesland. Dort haben wir vor mehr als 42 Jahren den Dienst in Schule und Kirche begon-nen; dort sind Wurzeln, die uns immer genährt haben.

Die Jahre hier waren schön, aus-gefüllt und voller guter Erfahrungen. Meine Frau hat gerne an der Schule in Groß-Denkte unterrichtet, wir haben neben wunderbaren berufli-chen Erfahrungen Freunde gefunden, die uns wichtig sind und bleiben. Ich habe in den zurückliegenden Jahren die Schätze dieser Region kennengelernt. Sie haben mich immer wieder begeis-tert: Natur und Technik, Wissenschaft

und Kultur, Bibliotheken und Galerien, Musik …

Und ich habe in vielen Bereichen ehrenamtlich wirken können: in der exzellent aufgestellten Stiftung Braun-schweigischer Kulturbesitz, der hoch-geachteten Technischen Universität, der wunderbaren Herzog August Bibliothek. Die Diskussionsreihe „Wolfenbütte-ler Gespräche“, die dort ihren Ort hat, belebt und bereichert die Zivilgesell-schaft ebenso wie die neue Evangelische Akademie Abt Jerusalem und das Theo-logische Zentrum. Ich bin begeistert von dem Engagement, mit dem Menschen hier ehrenamtlich tätig sind.

Als Landesbischof hatte ich Anteil an den nötigen Reformprozessen unse-rer Kirche und bin dankbar dafür, dass die Pfarrer und Pfarrerinnen, genau

wie die Kirchenvorstandsmitglieder und Synodalen, die Herausforderungen unserer Zeit sehen. Sie erarbeiten die Bedingungen, unter denen die Kirche das Evangelium verkündigen und nahe bei den Menschen sein kann.

Ich bin stets dafür eingetreten, dass die Landeskirche eigenständig bleibt. Das bedeutet aber nicht, dass sie nur bei sich bleiben kann. Sie ist ein Teil der Kirche Jesu Christi und muss darum in Verbindung sein. Sie muss kooperie-ren und sich mit anderen Kirchen in der Ökumene und im Land Niedersachsen austauschen. Wenn ihr das gleichgültig

wird, ist sie ein Verein wie viele andere, aber eben nicht die Kirche Jesu Christi.

Ich habe sehr gerne in der Landes-kirche gearbeitet, Gemeinden besucht, gepredigt, Themen transportiert und wenn es sein musste, auch sachlich gestritten. Für den Sonntagsschutz zum Beispiel oder eine humane Asyl-politik. Und das Wissen um das „Pries-tertum aller Gläubigen“, also die fun-damentale Bedeutung der „Laien“ für die evangelische Kirche, hat mich dazu bewegt, die Prädikanten und Lektoren zu stärken und das neue Amt der Kura-toren auf den Weg zu bringen.

Die Leitungsorgane unserer Kirche haben in den zurückliegenden Jahren gut zusammengearbeitet und damit auch Wege eröffnet, krisenhafte Entwicklun-gen zu bewältigen. Und nicht zuletzt bin ich dankbar für die vielen wunderbaren Gottesdienste in unseren Kirchen.

Nun nehmen wir Abschied und wis-sen – mit den Worten Hilde Domins –, dass man weggehen können muss und

„sein wie ein Baum: als bleibe die Wur-zel im Boden, als zöge die Landschaft und wir stünden fest. Man muss den Atem anhalten, bis der Wind nachlässt und die fremde Luft um uns zu krei-sen beginnt, bis das Licht von Spiel und Schatten, von Grün und Blau, die alten Muster zeigt und wir zu Hause sind, wo es auch sei, und niedersitzen können …“.

Weggehen und doch die eigenen Wurzeln nicht verlieren, halten und gehalten werden im Wandel des Lebens, darum geht es immer wieder im Kern. Für Weggeleit und Freundschaft, für wunderbare Jahre, dafür danke ich Vie-len in der Landeskirche Braunschweig. Ihr und ihren Gemeinden wünsche ich Gottes Segen.

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Die Leitungsorgane haben Wege eröffnet, krisenhafte Entwicklungen zu bewältigen.

1 | 2014 Evangelische Perspektiven | 18

Die Religion säkular verwaltenEin neues Buch bietet wichtige Klärungen im Verhältnis von Staat und Kirche. Es warnt vor einer religiösen Aufladung politischer Ordnungen.

Die Lage der Kirche ist para-dox: Einerseits verliert sie jedes Jahr tausende Mitglieder und ver-zeichnet einen Abbruch christ-licher Traditionen, andererseits hatte sie noch nie so gute Chan-cen wie heute, ihrem biblischen Auftrag gemäß in unserem Land zu wirken. Der freiheitliche Ver-fassungsstaat bietet dazu Mög-lichkeiten, die kirchengeschicht-lich ihresgleichen suchen. Freilich, er privilegiert die Kirche nicht, er hält sich weltanschaulich zurück. Gerade so aber ebnet er der Kir-che den Weg für ihre Arbeit. Nicht zuletzt deshalb kann sie die Säku-larisierung als Gewinn verstehen.

Diese nur als einen Rück-gang gelebter religiöser Praxis zu beklagen, wird dem Phänomen jedenfalls nicht gerecht. Ohne die Ausdifferenzierung und Autonomi-sierung sozialer Systeme und die Loslösung der Religion von der Politik wären die Errungenschaf-

ten unserer modernen Gesellschaft kaum denkbar. Deswe-gen scheint es gerade in der Kirche immer wieder nötig zu sein, für einen Perspektivwechsel zu werben.

Der Würzburger Rechtsphilosoph Horst Dreier bietet dafür eine gute Anleitung. Sein Essay „Säkularisierung und Sakralität“ ist einerseits eine hervorragende Lektion in Staatsbürgerkunde, andererseits – und vor allem – schärft er unser Urteilsvermögen mit Blick auf das Verhältnis von Kir-che und Staat in Deutschland. Nüchtern beschreibt er unse-ren Staat und unsere Verfassung als eine neutrale Ordnung, die ihre Geltung aus sich selbst bezieht, gerade deshalb aber religionsoffen ist.

Dreier stimmt zwar einerseits zu, dass das Christentum „ein wesentlicher Faktor bei der Ausprägung der modernen Rechtsordnung“ gewesen sei. Andererseits beharrt er auf dem Unterschied zwischen Entstehung und heutiger Ver-bindlichkeit. Seiner Auffassung nach haben die Rechtsnor-men und Rechtsinstitute im Laufe der Jahrhunderte eine „Art von Statuswechsel“ vollzogen: „der religiöse Geltungsgrund

wird durch die Normgebung des säkularen Staates ersetzt“.Besonders eindrücklich beschreibt er diesen Sach-

verhalt bei der Durchsetzung von Menschenrechten und Menschwürde. Auch wenn diese heute einen Schwerpunkt christlicher Ethik darstellten, hätten christliche Lehren dabei lange Zeit keineswegs eine exklusive, kaum eine relevante und oft sogar eine verzögernde Rolle gespielt. Was wir heute unter Menschenwürde verstehen – Vorrang des Einzelnen vor dem Staat, gleiche Freiheit aller, umfassender Autono-miestatus des Individuums –, sei „bis weit in das 20. Jahr-hundert hinein“ auf die Ablehnung der Kirchen gestoßen.

Stattdessen hätten die Kirchen der Menschenwürde zuwi-derlaufende politische Ordnungen unterstützt: den Stände-staat, die absolute Monarchie und die Aristokratie. Selbst Sklaverei und Menschenhandel seien lange von den Kirchen gerechtfertigt worden: „Es war eben ein langer Weg von der Gleichheit aller Menschen vor Gott zur Gleichheit aller Men-schen im Staat, vom Gottesrecht zum Menschenrecht.“

Dreiers Sorge gilt einer religiösen oder weltanschauli-chen Aufladung staatlicher Ordnungen, auch des freiheitli-chen Verfassungsstaates, wie wir ihn in Deutschland ken-nen. Eine Tendenz dazu sieht er bei denen, die seit einigen Jahren eine postsäkulare Gesellschaft (Jürgen Habermas) diagnostizieren sowie die Wiederkehr des Religiösen und der Religionen als Kräfte des öffentlichen Lebens behaupten.

Dreier plädiert dafür, eine solche Wiederkehr säkular zu verwalten: „Der moderne, freiheitliche Verfassungsstaat bedarf keiner sakralen Aura und keines Mythos.“ Die letzte Instanz in weltlichen Dingen seien wir selbst. Eine kluge Analyse, die wir nicht unter den Verdacht menschlicher Selbstüberhebung stellen müssen, sondern als notwendigen Hinweis verstehen sollten, wie wir unter den Bedingungen gesellschaftlicher Plu-ralität eine „friedensstiftende und freiheitsermöglichende Ord-nung“ gestalten und bewahren können. | mic

Rezension

Horst Dreier:Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2013, 151 Seiten, 14,00 Euro

Dreiers Sorge gilt einer religiösen oder weltanschaulichen Aufladung staatlicher Ordnungen, auch des freiheitlichen Ver-fassungsstaates, wie wir ihn in Deutsch-land kennen.

1 | 2014 Evangelische Perspektiven | 19

Kleine Kirchenkunde

Eine Frage der VerbundenheitDie Weitergabe des christlichen Glaubens in der Familie ist nicht mehr selbstverständlich. Das zeigt eine neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.

Von Generation zu Generation schwindet die Verbundenheit mit der evangelischen Kirche – selbst bei den eigenen Mitgliedern. Das geht aus einer neuen Untersuchung der Evan-gelischen Kirche in Deutschland (EKD) hervor. Danach sinkt nicht nur die Zahl der Kirchenmitglieder kontinuierlich. Es wächst auch die Gruppe derjenigen Menschen, die zwar der Kirche angehö-ren, sich aber kaum noch mit ihr iden-tifizieren.

Nach den Ergebnissen der 5. Kir-chenmitgliedschaftsuntersuchung füh-len sich 32 Prozent der Protestanten in Deutschland der Kirche allenfalls sehr schwach verbunden. 15 Prozent gaben an, der evangelischen Kirche sehr verbunden zu sein. Bei der Mitglied-schaftsuntersuchung von 1992 hat-ten sich lediglich 27 Prozent als kaum oder gar nicht verbunden eingeschätzt. Allerdings war damals auch der Anteil der sehr Verbundenen noch geringer und lag bei elf Prozent. Es wüchsen die Extreme, das Mittelfeld der immerhin noch schwach Verbundenen dünne aus,

sagt der Religionssoziologe Detlef Pol-lack.

Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider äußerte sich bei der Vorstel-lung der Ergebnisse besorgt: „Wir müs-

sen ganz nüchtern konstatieren, dass es eine zunehmende Indifferenz bei Kirchenmitgliedern gibt.“ Das müsse Anlass sein, sich ernsthaft mit der Situ-ation auseinanderzusetzen.

Der hessen-nassauische Kirchen-präsident Volker Jung sagte, Mitglied einer Kirche zu sein, werde zunehmend zur Frage „eines klaren Ja oder Nein“. Die zunehmende Zahl der Kirchenfer-nen sei nicht von kontroverser Ausein-

andersetzung und Abgrenzung geprägt, „sondern von nahezu vollständiger Gleichgültigkeit“, sagte Jung.Gleichzei-tig betonten die Theologen das Wach-sen an der anderen Seite der Skala, auf der sich immer mehr hochverbundene Mitglieder finden. „Drei von vier Mitglie-dern denken nicht daran, unsere Kirche zu verlassen“, unterstrich Schneider.

Einen Kirchenaustritt lehnen nach der aktuellen Studie inzwischen 73 Pro-zent der Protestanten ab, 1992 waren es nur 55 Prozent. Pollack weist aller-dings auch hierbei auf das Wachsen des anderen Extrems hin: Während vor 10 bis 20 Jahren nur eine kleine Gruppe von zwei bis vier Prozent angegeben habe, bald aus der Kirche austreten zu wollen, „sind wir jetzt bei acht Prozent.“

Als Grund für das Wachsen der Gruppe der kirchenfernen Mitglieder nennt die Studie, dass eine religiöse Erziehung auch in evangelischen Fami-lien nicht mehr die Regel ist. Von den Evangelischen ab 60 Jahren wurden nach eigenen Angaben etwa 83 Prozent religiös erzogen. Von den Kirchenmit-gliedern unter 30 Jahren sagen das nur noch 55 Prozent.

„Religiöse Sozialisation erfolgt in der Familie. Doch die Weitergabe des Glaubens von Generation zu Genera-tion ist keine Selbstverständlichkeit mehr“, sagt Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover.

Für die Untersuchung hat das Emnid-Institut Ende 2012 insgesamt 2016 Protestanten und 1011 Konfes-sionslose befragt. Die evangelische Kirche legt seit 1972 im Abstand von jeweils zehn Jahren umfassende Mit-gliederstudien vor. Ende 2012 gehörten 23,4 Millionen Menschen der evangeli-schen Kirche an. | epd

Religiöse Sozialisation erfolgt in der Familie. Aber die Weitergabe des Glau-bens ist keine Selbstver-ständlichkeit mehr.

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Weltbürgerin Reformation in Goslar

Unter dem Motto „Weltbürgerin Reformation“ war Goslar im März Gastgeberin einer internationalen Begegnung von Kirchenver-tretern. Neben dem Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Pfarrer Martin Junge (Genf), waren die Bischöfe der Partnerkirchen der Landeskirche Braunschweig aus Indien, Namibia, Japan, Eng-land und Tschechien gekommen, um an die Errungenschaften der Reformation zu erinnern. Schülerinnen und Schüler des Goslarer Ratsgymnasiums warben mit szenischen Stücken für ein friedli-ches Miteinander der Religionen.

Foto: Agentur Hübner