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FAST ZUVIEL DES GUTEN Bilanz der Wiener Festwochen 1961 von Franz Willnauer Seit Dr. Egon Hilbert zum Intendanten der Wiener Festwochen bestellt worden ist, hat sich diese Veranstaltung, die Österreichs Bundeshauptstadt seit elf Jahren alljährlich im Juni durchführt, entwickelt und gewan- delt. In früheren Jahren lag das Schwer- gewicht stets bei den Aufführungen klassisch- romantischer Musik, denen Interpreten von Weltruf besonderen Glanz verliehen; die Wiener Theater dagegen hatten nur mit ihrem üblichen Jahresrepertoire, vermehrt um wenige Premieren, einen Anteil daran, und die Ausstellungsstadt Wien schlief auch wäh- rend des Festes ihren gewohnten Dorn- röschenschlaf. Da hat Hilbert gründlich Re- medur geschaffen. Das Musikleben erhielt durch die Aufführung markanter Werke unseres Jahrhunderts — vorab natürlich aus dem Kreis der „Wiener Schule" — neue Akzente; Schauspiel- und Musikbühnen wurden dazu angehalten, ihre Premieren einer jeweils neuformulierten, gemeinsamen Idee zu unterstellen; und selbst die Bildende Kunst fand, unterstützt durch retrospektive Großausstellungen des Lebenswerkes von Munch, Van Gogh, Gauguin und Cezanne, plötzlich aufnahmewillige Galerien und Mu- seen sowie ein schauhungriges Publikum. In diesem Jahr hat Festwochenintendant Hilbert sogar zuviel des Guten getan und erlaubt. In den vier Wochen zwischen 27. Mai und 25. Juni fanden, soweit erfaßbar, 75 Konzerte und 15 Theaterpremieren, 5 aus- ländische Gastspiele und 20 Kunstaustellun- gen statt. Vier Wochen lang hatten die Musen die Spendierhosen an, vier Wochen lang hetzten Einheimische und Ausländer von einem Ereignis zum anderen. Vom Welt- musikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) bis zu den popu- lären Sing- und Tanzabenden der einzelnen Wiener Gemeindebezirke, vom Kongreß des Internationalen Theaterinstituts der UNESCO bis zu den Gastronomischen Wochen reichte die Fülle des Gebotenen. Aus der Demokratie des Kulinarischen, die Hil- bert mit seinem Wahlspruch „Die Wiener Festwochen sind für alle da!" verwirklichen wollte, war eine Diktatur des Zugkräftigen geworden, der sich Wiener und Fremde, Publikum und Kritiker schließlich nur mehr willenlos fügten. Die ganze Vielfalt der musikalischen Veranstaltungen auch nur zu nennen, ist unmöglich; so bleibt nur der andere Weg, unter Vernachlässigung selbst wichtiger Ereignisse wenigstens die Höhe- punkte dieser vier festlichen, allzu festlichen Wochen nachzuzeichnen. Die Hauptlast der Festwochenkonzerte trug in diesem Jahr die Wiener Konzerthaus- gesellschaft, die damit zugleich ihr 10. Inter- nationales Musikfest veranstaltete. In den Rahmen dieser Veranstaltung war auch das 35. Weltmusikfest der IGNM gestellt, das mit seiner anspruchsvollen Überschau über die jüngsten Strömungen der Musik der recht konturlosen Masse des Gefälligen ein Profil von gegenwartsbezogener und also sinn- erfüllter Festlichkeit verlieh. Seiner Ziel- setzung entsprechend weist das IGNM-Fest in die Zukunft, wahrt aber zugleich die Tradition der Neuen Musik. Mit Aufführun- gen Weberns und Bartoks wurden die Brük- ken zur Vergangenheit geschlagen: Während Bartök (Tanz-Suite, 2. Violinkonzert und Concerto) in der Interpretation Ferenc Fric- says, Yehudi Menuhins und des Berliner Radio-Symphonieorchesters in ungebrochener Vitalität erstand, sah das Werk Weberns (die drei Kantaten und die Orchesterwerke op. 1, 6 und 30) nicht seinen ganzen verbindlichen Anspruch erfüllt. Die Brücken zur Zukunft dagegen schlug ein Dutzend junger Komponisten, von denen die meisten in den beiden Kammermusik- abenden des IGNM-Festes zu Wort kamen. Sie alle sind dem Zauber der Klangfarbe verfallen. Wie sich an einer von Norwegen bis Japan reichenden Werkreihe zeigte, legt es die jüngste Musik wieder darauf an, dem Hörer zu gefallen. Die zwanghafte Starre der seriellen Musik hat sich gelockert, die Reize des oft exotischen Instrumentariums werden ausgekostet. Was Boulez und Nono ihrem eigenen Schaffen an Ausdruckswerten mühsam dazugewonnen haben, wird nun von einer internationalen Komponistengarde mit Seichter Hand übernommen, oft auch schlankweg nachgeahmt. Selbst die Ideen von Außenseitern der modernen Musik wurden aufgegriffen: So schloß der Italiener Franco Donatoni mit seinen (von Pfiffen gefolgten) „Strophes" direkt an Edgard Varese an, während sich Egisto Macchi für seine „Com- posizione 3" der Vierteltonmusik Alois Habas erinnerte. Die beiden Hauptwerke des IGNM-Festes, die beide auch stürmisch bejubelt wurden, waren des Polen Krzysztof Penderecki Chor- werk „Dimensionen der Zeit und der Stille", in dem das Spektrum der menschlichen Stimme höchst wirkungsvoll mit den Spek- tren des Instrumentalklanges kombiniert wird, und des Österreichers Friedrich Cerha „Rclazioni fragili" für Cembalo und Kammerorchester. Mit diesem apart klingen- den, in den Strukturen prächtig ausgehörten Stück ist Cerha in die erste Reihe der jungen Komponisten aufgerückt; als Dirigent und Leiter des Ensembles „Die Reihe" hat er überdies — zusammen mit den trefflichen Solisten Marie-Therese Escribano (Sopran), Ivan Eröd (Klavier) und Gertraud Cerha (Cembalo) — entscheidenden Anteil am Gelingen des Wiener Weltmusikfestes. Arnold Schönbergs „Jakobsleiter", einem weiteren Sonderkonzert der IGNM-Veran- staltung anvertraut, war nicht nur die Krö- nung der Wiener Festwochen, sondern eines der bedeutendsten künstlerischen Nachkriegs- creignisse schlechthin. Abgesehen von den realen, physischen und materiellen Anforde- rungen und abgesehen von dem geistigen An- spruch dieses unvollendet gebliebenen Ora- toriums, hob ein Faktum diese späte SchÖn- berg-Uraufführung von dem üblichen Novi- täten-Standard ab: Die „Jakobsleiter" hatte als absolut unaufführbar gegolten, denn selbst das Fragment des Werkes war nie bis zur Partitur-Niederschrift gediehen. In einem für sein Komponieren charakteristischen SchafTenssturm hat Schönberg während knap- per drei Monate im Jahr 1917 den ersten Teil des zweiteiligen Werkes konzipiert und im Particell aufgezeichnet. Trotz mehrfacher Versuche — so 1918 nach der Enthebung vom Militärdienst, 1922 und zuletzt zwischen 1944 und 1951 — wuchs dieses Particell nicht über das symphonische Zwischenspiel hinaus, das die beiden Teile miteinander verbindet. Noch zwei Wochen vor seinem Tode bat SchÖn- berg den ehemaligen Schüler Karl Rankl, wenigstens die Partitur des ersten Teiles zu instrumentieren und „wirkungsvoll aufführ- bar zu machen". Nicht Karl Rankl jedoch, sondern Winfried Zülig, gleichfalls Schönberg-Schüler und heute Leiter der Musikabteilung des Nord- deutschen Rundfunks Hamburg, wurde schließlich von der Witwe Schönbergs beauf- tragt, diesen Versuch zu unternehmen. Eine Entscheidung darüber, ob Zilligs Rekonstruk- tion die endgültige Klangvorstellung Schön- bergs von diesem Werk getroffen hat, wird nie möglich sein. Dagegen darf ihm schon nach dem ersten Anhören bestätigt werden, daß er die vorhandenen Skizzen und Parti- cell-Angaben zu einem verbindlichen Kontext vereinigt und das Fragment mit höchster Ein- fühlung dem Klangstil des Schönberg der atonalen Periode angenähert hat. Zilligs Ver- dienst ist um so größer, als dieses Werk nicht nur von hohem musikalischem Wert ist, son- dern auch große Bedeutung für unsere Kennt- nis von Schönbergs geistiger und musika- lischer Entwicklung hat. Denn es stellt den letzten Baustein dar, der in der Biographie und Werkgeschichte Schönbergs zwischen der atonalen Periode und der Entdeckung des Systems, „mit zwölf nur aufeinander be- zogenen Tönen" zu komponieren, noch ge- fehlt hat. Wie es dieser Mittlerstellung zu- kommt, weist die „Jakobsleiter" zugleich in die Zukunft und in die Vergangenheit. In die Zukunft etwa mit dem Verfahren, ein sechstöniges Motiv zur thematisch-konstruk- tiven Keimzelle der ganzen Komposition zu machen, oder mit der Einführung von Fern- orchestern und Fernchören, deren Klang strereophonisch von allen Seiten in den Saal strömt. Und zurück in die Vergangenheit weist die „Jakobsleiter" mit ihrem musika- lischen Duktus, der in seinen instrumentalen Teilen an den noch tonal gestützten, harmo- nisch satten Stil der „Kammersymphonie", im Vokalen sogar an die „Gurrelieder" an- schließt. Die Bedrohung dieser zumeist inspirierten Musik kommt — vom Text. Schönbergs ge- dankliches Ringen um die Gewißheit Gottes und damit um die Bestätigung der eigenen Berufung ist auch hier nicht zur Dichtung geworden, sondern Reflexion geblieben. Noch dazu stürzen diese Philosopheme oft aus der Hohe biblischer Vergleiche und theologisch- theosophischer Gedanken ins Banale ab. Es war darum keine sonderlich gute Idee, eine 10

FAST ZUVIEL DES GUTEN - fonoforum.de · mit Pierre Boulez am Pult des Komponisten „Pli selon Pli" spielte, besondere Erwähnung. Was technische Perfektion und Virtuosität des Zusammenspiel

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FAST ZUVIELDES GUTENBilanz derWiener Festwochen 1961

vonFranz Willnauer

Seit Dr. Egon Hilbert zum Intendanten derWiener Festwochen bestellt worden ist, hatsich diese Veranstaltung, die ÖsterreichsBundeshauptstadt seit elf Jahren alljährlichim Juni durchführt, entwickelt und gewan-delt. In früheren Jahren lag das Schwer-gewicht stets bei den Aufführungen klassisch-romantischer Musik, denen Interpreten vonWeltruf besonderen Glanz verliehen; dieWiener Theater dagegen hatten nur mitihrem üblichen Jahresrepertoire, vermehrt umwenige Premieren, einen Anteil daran, unddie Ausstellungsstadt Wien schlief auch wäh-rend des Festes ihren gewohnten Dorn-röschenschlaf. Da hat Hilbert gründlich Re-medur geschaffen. Das Musikleben erhieltdurch die Aufführung markanter Werkeunseres Jahrhunderts — vorab natürlich ausdem Kreis der „Wiener Schule" — neueAkzente; Schauspiel- und Musikbühnenwurden dazu angehalten, ihre Premiereneiner jeweils neuformulierten, gemeinsamenIdee zu unterstellen; und selbst die BildendeKunst fand, unterstützt durch retrospektiveGroßausstellungen des Lebenswerkes vonMunch, Van Gogh, Gauguin und Cezanne,plötzlich aufnahmewillige Galerien und Mu-seen sowie ein schauhungriges Publikum.

In diesem Jahr hat FestwochenintendantHilbert sogar zuviel des Guten getan underlaubt. In den vier Wochen zwischen 27. Maiund 25. Juni fanden, soweit erfaßbar, 75Konzerte und 15 Theaterpremieren, 5 aus-ländische Gastspiele und 20 Kunstaustellun-gen statt. Vier Wochen lang hatten die Musendie Spendierhosen an, vier Wochen langhetzten Einheimische und Ausländer voneinem Ereignis zum anderen. Vom Welt-musikfest der Internationalen Gesellschaftfür Neue Musik (IGNM) bis zu den popu-lären Sing- und Tanzabenden der einzelnenWiener Gemeindebezirke, vom Kongreß desInternationalen Theaterinstituts der

UNESCO bis zu den GastronomischenWochen reichte die Fülle des Gebotenen. Ausder Demokratie des Kulinarischen, die Hil-bert mit seinem Wahlspruch „Die WienerFestwochen sind für alle da!" verwirklichenwollte, war eine Diktatur des Zugkräftigen

geworden, der sich Wiener und Fremde,Publikum und Kritiker schließlich nur mehrwillenlos fügten. Die ganze Vielfalt dermusikalischen Veranstaltungen auch nur zunennen, ist unmöglich; so bleibt nur derandere Weg, unter Vernachlässigung selbstwichtiger Ereignisse wenigstens die Höhe-punkte dieser vier festlichen, allzu festlichenWochen nachzuzeichnen.

Die Hauptlast der Festwochenkonzerte trugin diesem Jahr die Wiener Konzerthaus-gesellschaft, die damit zugleich ihr 10. Inter-nationales Musikfest veranstaltete. In denRahmen dieser Veranstaltung war auch das35. Weltmusikfest der IGNM gestellt, dasmit seiner anspruchsvollen Überschau überdie jüngsten Strömungen der Musik der rechtkonturlosen Masse des Gefälligen ein Profilvon gegenwartsbezogener und also sinn-erfüllter Festlichkeit verlieh. Seiner Ziel-setzung entsprechend weist das IGNM-Festin die Zukunft, wahrt aber zugleich dieTradition der Neuen Musik. Mit Aufführun-gen Weberns und Bartoks wurden die Brük-ken zur Vergangenheit geschlagen: WährendBartök (Tanz-Suite, 2. Violinkonzert undConcerto) in der Interpretation Ferenc Fric-says, Yehudi Menuhins und des BerlinerRadio-Symphonieorchesters in ungebrochenerVitalität erstand, sah das Werk Weberns (diedrei Kantaten und die Orchesterwerke op. 1,6 und 30) nicht seinen ganzen verbindlichenAnspruch erfüllt.

Die Brücken zur Zukunft dagegen schlugein Dutzend junger Komponisten, von denendie meisten in den beiden Kammermusik-abenden des IGNM-Festes zu Wort kamen.Sie alle sind dem Zauber der Klangfarbeverfallen. Wie sich an einer von Norwegenbis Japan reichenden Werkreihe zeigte, legtes die jüngste Musik wieder darauf an, demHörer zu gefallen. Die zwanghafte Starreder seriellen Musik hat sich gelockert, dieReize des oft exotischen Instrumentariumswerden ausgekostet. Was Boulez und Nonoihrem eigenen Schaffen an Ausdruckswertenmühsam dazugewonnen haben, wird nunvon einer internationalen Komponistengardemit Seichter Hand übernommen, oft auchschlankweg nachgeahmt. Selbst die Ideen vonAußenseitern der modernen Musik wurdenaufgegriffen: So schloß der Italiener FrancoDonatoni mit seinen (von Pfiffen gefolgten)„Strophes" direkt an Edgard Varese an,während sich Egisto Macchi für seine „Com-posizione 3" der Vierteltonmusik AloisHabas erinnerte.

Die beiden Hauptwerke des IGNM-Festes,die beide auch stürmisch bejubelt wurden,waren des Polen Krzysztof Penderecki Chor-werk „Dimensionen der Zeit und der Stille",in dem das Spektrum der menschlichenStimme höchst wirkungsvoll mit den Spek-tren des Instrumentalklanges kombiniertwird, und des Österreichers Friedrich Cerha„Rclazioni fragili" für Cembalo undKammerorchester. Mit diesem apart klingen-den, in den Strukturen prächtig ausgehörtenStück ist Cerha in die erste Reihe der jungenKomponisten aufgerückt; als Dirigent undLeiter des Ensembles „Die Reihe" hat erüberdies — zusammen mit den trefflichenSolisten Marie-Therese Escribano (Sopran),Ivan Eröd (Klavier) und Gertraud Cerha(Cembalo) — entscheidenden Anteil amGelingen des Wiener Weltmusikfestes.

Arnold Schönbergs „Jakobsleiter", einemweiteren Sonderkonzert der IGNM-Veran-staltung anvertraut, war nicht nur die Krö-

nung der Wiener Festwochen, sondern einesder bedeutendsten künstlerischen Nachkriegs-creignisse schlechthin. Abgesehen von denrealen, physischen und materiellen Anforde-rungen und abgesehen von dem geistigen An-spruch dieses unvollendet gebliebenen Ora-toriums, hob ein Faktum diese späte SchÖn-berg-Uraufführung von dem üblichen Novi-täten-Standard ab: Die „Jakobsleiter" hatteals absolut unaufführbar gegolten, dennselbst das Fragment des Werkes war nie biszur Partitur-Niederschrift gediehen. In einemfür sein Komponieren charakteristischenSchafTenssturm hat Schönberg während knap-per drei Monate im Jahr 1917 den erstenTeil des zweiteiligen Werkes konzipiert undim Particell aufgezeichnet. Trotz mehrfacherVersuche — so 1918 nach der Enthebung vomMilitärdienst, 1922 und zuletzt zwischen 1944und 1951 — wuchs dieses Particell nicht überdas symphonische Zwischenspiel hinaus, dasdie beiden Teile miteinander verbindet. Nochzwei Wochen vor seinem Tode bat SchÖn-berg den ehemaligen Schüler Karl Rankl,wenigstens die Partitur des ersten Teiles zuinstrumentieren und „wirkungsvoll aufführ-bar zu machen".

Nicht Karl Rankl jedoch, sondern WinfriedZülig, gleichfalls Schönberg-Schüler undheute Leiter der Musikabteilung des Nord-deutschen Rundfunks Hamburg, wurdeschließlich von der Witwe Schönbergs beauf-tragt, diesen Versuch zu unternehmen. EineEntscheidung darüber, ob Zilligs Rekonstruk-tion die endgültige Klangvorstellung Schön-bergs von diesem Werk getroffen hat, wirdnie möglich sein. Dagegen darf ihm schonnach dem ersten Anhören bestätigt werden,daß er die vorhandenen Skizzen und Parti-cell-Angaben zu einem verbindlichen Kontextvereinigt und das Fragment mit höchster Ein-fühlung dem Klangstil des Schönberg deratonalen Periode angenähert hat. Zilligs Ver-dienst ist um so größer, als dieses Werk nichtnur von hohem musikalischem Wert ist, son-dern auch große Bedeutung für unsere Kennt-nis von Schönbergs geistiger und musika-lischer Entwicklung hat. Denn es stellt denletzten Baustein dar, der in der Biographieund Werkgeschichte Schönbergs zwischen deratonalen Periode und der Entdeckung desSystems, „mit zwölf nur aufeinander be-zogenen Tönen" zu komponieren, noch ge-fehlt hat. Wie es dieser Mittlerstellung zu-kommt, weist die „Jakobsleiter" zugleich indie Zukunft und in die Vergangenheit. Indie Zukunft etwa mit dem Verfahren, einsechstöniges Motiv zur thematisch-konstruk-tiven Keimzelle der ganzen Komposition zumachen, oder mit der Einführung von Fern-orchestern und Fernchören, deren Klangstrereophonisch von allen Seiten in den Saalströmt. Und zurück in die Vergangenheitweist die „Jakobsleiter" mit ihrem musika-lischen Duktus, der in seinen instrumentalenTeilen an den noch tonal gestützten, harmo-nisch satten Stil der „Kammersymphonie",im Vokalen sogar an die „Gurrelieder" an-schließt.

Die Bedrohung dieser zumeist inspiriertenMusik kommt — vom Text. Schönbergs ge-dankliches Ringen um die Gewißheit Gottesund damit um die Bestätigung der eigenenBerufung ist auch hier nicht zur Dichtunggeworden, sondern Reflexion geblieben. Nochdazu stürzen diese Philosopheme oft aus derHohe biblischer Vergleiche und theologisch-theosophischer Gedanken ins Banale ab. Eswar darum keine sonderlich gute Idee, eine

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von Gustav R. Sellner betreute Leseauf-führung des gesamten Textes der eigentlichenUraufführung vorauszuschicken. Wenn derEindruck der Musik schließlich dennoch überden des Textes dominierte und sich zu einemunerhört starken künstlerischen Erlebnis ver-dichtete, dann war das vor allem das Ver-dienst des Dirigenten Rafael Kubelik, derdas Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, dievereinigten Rundfunkchörc aus Hamburg undKöln und eine Reihe namhafter Solisten (mitder phänomenalen Ilse Hol 1 weg an derSpitze) zu einer ebenso präzisen wie inten-siven Leistung anspornte.

Als Pendant zur „Jakobsleiter" war die Auf-führung der „Gurrcliedcr" Arnold Schön-bergs gedacht. So groß die Spannung auf dieheutige Wirkung dieses Mammut-Oratoriumswar, so enttäuschend verlief die Begegnungselbst. Das Werk, das einst dem Kompo-nisten den einzigen uneingeschränkten Erfolgeingebracht hat, wirkt heute wie ein später,künstlicher Ableger der Romantik. Die Sum-mierung der Mittel dünkt uns nicht mehr alshöchste Steigerung des künstlerischen Aus-drucks, sondern als hohle Äußerlichkeit, vonder Schönberg notwendig weiterfinden mußtezur geistigen Strenge einer neuen musikali-schen Ordnung. Die Aufführung in der Wie-ner Stadthalle erlaubte zudem keine nach-haltigen Eindrücke, da die riesigen Dimen-sionen dieser zum Konzertsaal adaptiertenSporthalle eine irreguläre Akustik mit sichbringen. Soweit die schwül-verzehrendenKlangfluten überhaupt hörbar wurden, schie-nen sie eher lauwarm temperiert als über-hitzt. Der Dirigent Antal Dorati war mitdem Zusammenhalt von 600 Mitwirkenden(Wiener Symphoniker, die vereinigten Chörevon Wiener Singakademie, Singverein undKammerchor) leider so beschäftigt, daß ihmfür die Ausdruckssteigerung der Musik keineKraft mehr blieb.

Von den fünf ausländischen Orchestern, diebei den Wiener Festwochen gastierten, kamendrei aus der Bundesrepublik und je eines ausEngland und der Sowjetunion. Ein Vergleichdieser Ensembles fiel eindeutig zugunsten desWestens aus. Über die Abende der Berlinerund der Kölner Rundfunk-Sinfoniker brauchtnicht mehr gesprochen zu werden; dagegenverdient die mühelose Sicherheit und Aus-druckskraft, mit der das Südwestfunk-Orchester Baden-Baden unter Hans Rosbaudu. a. Schönbergs Orchestervariationen undmit Pierre Boulez am Pult des Komponisten„Pli selon Pli" spielte, besondere Erwähnung.Was technische Perfektion und Virtuositätdes Zusammenspiels anlangt, war aber auchdas London Symphony Orchestra dem„Staatlichen Symphonieorchester der UdSSR"(ehemals: Moskauer Philharmoniker) über-legen. Wenn auch die drei Programme denLondonern keine technischen Höchstleistungenund schon gar nicht einen mutigen Einsatzfür die Moderne abverlangten, so zeigte sichdoch auch an ihren Konzerten, daß die Qua-lität der Wiedergabe direkt abhängig ist vonden Anforderungen, die von den Kompo-nisten an sie gestellt werden. Während imWesten das serielle Kompositionsverfahrenvöllig neue Interpretationsmaßstäbe ge-schaffen hat, die nunmehr schon auf dieWiedergabe „traditioneller" Musik zurück-wirken, hat der sozialistische Realismus imheutigen Rußland — mit seiner Forderungnach „gesunder, volksverbundener und all-gemeinverständlicher Musik" — zu einerLähmung aller schöpferischen und nachschÖp-

oben von links nach rechts: Birgit Nilsson, George London, Inge Borkhunten von links nach rechts: Lovro v. Matacic, Leontyne Price, Hans Rosbaud

ferischen Kräfte geführt. Die sowjetische Mu-sik tendiert nicht zu einer Differenzierung,sondern zu einer Massierung des musikali-schen Materials: den Beweis dafür liefertedas russische Orchester (unter seinen Dirigen-ten Konstantin Iwanow und GennadijRoshdestwenskij) mit so lautstarken Unge-tümen wie Schostakowitschs Elfter Sympho-nie, Prokofieffs Dritter Symphonie und derSymphonie des Tscheremissen Andrei Eschpai.

Zu den zahllosen Konzerten gesellten sichglanzvolle Abende des Musiktheaters. Es gabOpern auf der Bühne, Opern im Konzert-saal, eine Oper auf dem Fernsehschirm undeine Oper — am Lesetischchen. Die WienerStaatsoper selbst lieferte mit eineinhalb Pre-mieren ihren Beitrag. Die ganze Premierewar die Neuinszenierung von Puccinis „Tu-randot", während die Neueinstudierung der„Meistersinger" unter Heinz Wallbergs musi-kalischer Leitung höchstens als halbe Pre-miere gelten konnte. Denn hier handelte essich nur um eine lieblose Auffrischung derInszenierung Herbert Grafs, die schon seit1955 auf dem Spielplan steht. Was bei den„Meistersingern" eingespart worden war,das wurde an die Ausstattung der „Turan-dot" verschwendet. Margarcthe WallmannsRegie, die mit unaufhörlichen Massenum-zügen arbeitete, Nicola Benois' aufwendigeBühnenbilder und die üppigen Kostüme desChinesen Chou Ling degradierten PuccinisOpernletztling zur Ausstattungsoperette gro-ßen Stils. Der Ärger über diese Sinnentstel-lung wurde auch durch das Entzücken überdie Stimmen von Birgit Nilsson (Turandot)und Leontyne Price (Liu) nicht wettgemacht.Mit zwei konzertanten Opernaufführungenerwiesen die Wiener Symphoniker von neuemihre vielseitige Verwendbarkeit und ihre

Qualität. Unter Lovro von Matacic spieltensie ebenso durchsichtig wie dramatischMussorgskys herrlichen „Boris Godunow",der seit Jahren im Repertoire der Staats-oper fehlt. Und mit Josef Krips am Diri-gentenpult rissen sie die „Ägyptische Helena"von Richard Strauss aus dem eher peinlichenBezirk der mythologischen Operette emporin die Höhen schwelgerischer Klangschönheit.In beiden Aufführungen kam der besondereGlanz von den Sängerstimmen: Die „Ägyp-tische Helena" wurde zum Triumph fürInge Borkh, Teresa Stich-Randall und FritzUhl; im „Boris Godunow", der in der vonSchostako witsch rekonstruierten Urfassungaufgeführt und in russischer Sprache gesun-gen wurde, dominierten George London,Evelyn Lear und Ivo Zidek.

Das österreichische Fernsehen beteiligte sichmit einer unerhört packenden Produktion vonJanäceks letzter Oper „Aus einem Toten-haus", für die Peter Hermann Adler alsDirigent und Theodor Gradier als Regisseurverantwortlich zeichneten. Und in Eigen-regic veranstaltete der Festwochenintendanteine Leseaufführung des „Rosenkavaliers1:.Was zunächst als Sakrileg an Richard Strausserschienen war, entpuppte sich bald alsEhrenrettung Hofmannsthals. Denn dieseerstmalige Lesung des Librettos ließ erken-nen, daß die „Komödie für Musik" eigent-lich gar keine große Oper ist, sondern einintimes Lustspiel und eine kostbare Dichtung.So paradox es scheint: in dieser von KätheGold, Helmuth Qualtinger, Albert Ruep-recht und Aglaja Schmid gesprochenen Lesc-aufführung fanden die musikalischen Ver-anstaltungen der Wiener Festwochen 1961ihren beglückendsten, ihren festlichsten Höhe-punkt.

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