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Filmstil, Differenzqualitäten, Emotionen Thomas Schick Zur affektiven Wirkung von Autorenfilmen am Beispiel der Berliner Schule Film, Fernsehen, Medienkultur

Filmstil, Differzaät, E...bestärkt, an einem Dissertationsprojekt zu arbeiten. Die Stipendien der ‚DEFA-Stiftung‘ und des Erlanger Graduiertenkollegs ‚Kul-turhermeneutik im

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Filmstil, Differenzqualitäten, Emotionen

Thomas Schick

Zur affektiven Wirkung von Autorenfilmen am Beispiel der Berliner Schule

Film, Fernsehen, Medienkultur

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Herausgegeben vonL. Mikos, Potsdam, DeutschlandM. Wedel, Potsdam, DeutschlandC. Wegener, Potsdam, DeutschlandD. Wiedemann, Potsdam, Deutschland

Film, Fernsehen, Medienkultur

Schriftenreihe der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“

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Die Verbindung von Medien und Kultur wird heute nicht mehr in Frage gestellt. Medien können als integraler Bestandteil von Kultur gedacht werden, zudem ver-mittelt sich Kultur in wesentlichem Maße über Medien. Medien sind die maß-geblichen Foren gesellschaftlicher Kommunikation und damit Vehikel eines Diskurses, in dem sich kulturelle Praktiken, Konflikte und Kohärenzen struktu-rieren. Die Schriftenreihe der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF knüpft an eine solche Sichtweise von Medienkultur an und bezieht die damit verbun-denen Themenfelder ihren Lehr- und Forschungsfeldern entsprechend auf Film und Fernsehen. Dabei werden unterschiedliche Perspektiven eingenommen, in denen es gleichermaßen um mediale Formen und Inhalte, Rezipienten und Kom-munikatoren geht. Die Bände der Reihe knüpfen disziplinär an unterschiedliche Fachrichtungen an. Sie verbinden genuin film- und fernsehwissenschaftliche Fragestellungen mit kulturwissenschaftlichen und soziologischen Ansätzen, dis-kutieren medien- und kommunikationswissenschaftliche Aspekte und schließen Praktiken des künstlerischen Umgangs mit Medien ein. Die theoretischen Aus-führungen und empirischen Studien der Schriftenreihe erfolgen vor dem Hinter-grund eines zunehmend beschleunigten technologischen Wandels und wollen der Entwicklung von Film und Fernsehen im Zeitalter der Digitalisierung gerecht werden. So geht es auch um neue Formen des Erzählens sowie um veränderte Nutzungsmuster, die sich durch Mobilität und Interaktivität von traditionellen Formen des Mediengebrauchs unterscheiden.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12512

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Thomas Schick

Filmstil, Differenzqualitäten, EmotionenZur affektiven Wirkung von Autorenfilmen am Beispiel der Berliner Schule

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Thomas SchickBerlin, Deutschland

Film, Fernsehen, Medienkultur ISBN 978-3-658-19142-9 ISBN 978-3-658-19143-6 (eBook)DOI 10.1007/978-3-658-19143-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa-tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral.

Dissertation an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, Medienwissen-schaft, 2015

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

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V

Danksagung

Während der Zeit der Entstehung dieser Arbeit wurde ich von vielen Menschen begleitet und unterstützt. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich dan-ken. Prof. Dr. Gunther Witting und Prof. Dr. Henri Schoenmakers von der Fried-rich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg danke ich, dass sie mich zu dieser Dissertation ermutigt und mit mir meine ersten Ideen diskutiert haben, ebenso danke ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Doktorandenkolloquien in Erlangen. Joris Freisinger, Barbara Glökler, Christina Hein, Jan Keller, Tobias Ott, Martin Paul, Julia Rupprecht und Nina Stazol waren in dieser Anfangszeit und auch darüber hinaus als Freundinnen und Freunde für mich da und haben mich bestärkt, an einem Dissertationsprojekt zu arbeiten.

Die Stipendien der ‚DEFA-Stiftung‘ und des Erlanger Graduiertenkollegs ‚Kul-turhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz‘ ermöglichten mir erste vorbereitende Recherchen und eine erste Orientierung im Themenfeld mei-ner Arbeit.

Die entscheidenden Impulse für meine Dissertation erhielt ich durch meine Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Film und Fern-sehen „Konrad Wolf“, der jetzigen Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Bei Prof. Dr. Peter Wuss bedanke ich mich herzlich für seinen unermüdlichen Zuspruch, weiter an meinem Dissertationsprojekt zu arbeiten, für seine zahlrei-chen Anregungen und Hinweise in Gesprächen und für seine inspirierenden Vor-lesungen, aus denen ich viele Denkanstöße mitgenommen habe. Meine Kollegin-nen und Kollegen von der Filmuniversität Arne Brücks, Dr. Susanne Eichner, Dr. Jesko Jockenhövel, Anna Luise Kiss, Prof. Dr. Lothar Mikos, Prof. Dr. Martina Schuegraf, Claudia Töpper, Prof. Dr. Chris Wahl, Prof. Dr. Claudia Wegener und

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VI Danksagung

Yulia Yurtaeva sowie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Doktorandenkol-loquiums haben meine Arbeit an der Dissertation in den letzten Jahren in vielfälti-ger Weise unterstützt, wofür ich mich bei ihnen ebenso herzlich bedanken möchte. Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek und Mediathek der Filmuniversität gilt mein Dank. Sie waren mir jederzeit bei der Beschaffung von Literatur, Filmen und Material für mein Dissertationsprojekt behilfl ich. Prof. Dr. Dieter Wiedemann, Dr. Uta Becher, Michael Flügger und Astrid v. Gliszczynski ermöglichten mir den Besuch zahlreicher Tagungen, bei denen ich meine For-schungsarbeit vorstellen und diskutieren konnte.

Mein besonderer Dank gilt Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann. Er hat die Arbeit aufmerksam gelesen und mit vielen Anmerkungen verbessert; außerdem hat er mich immer bestärkt, nicht aufzugeben und meine Forschungen weiter zu ver-folgen.

Besonders herzlich möchte ich mich bei Prof. Dr. Michael Wedel für seine kompetente Betreuung, sein unermüdliches Engagement, seine Geduld und sei-ne Ermutigungen bedanken, ohne die ich diese Arbeit wohl nicht beendet hätte. Die Gespräche mit ihm, seine gründliche Lektüre verschiedener Textfassungen und seine Kommentare und Anregungen haben entscheidend zur Entstehung der Arbeit beigetragen. Prof. Dr. Jens Eder gilt mein Dank für die Übernahme des Zweitgutachtens und seine Hinweise und Anmerkungen.

Für Aufmunterungen, Ablenkungen vom Alltag am Schreibtisch und für Zu-spruch in Zeiten, in denen das Durchhalten manchmal schwerfi el, bedanke ich mich bei meinen Berliner Freundinnen und Freunden, insbesondere bei Nicole Binner, Evelin Haible, Johanna Hasse, Patrick Kleinschmidt, Jana Meyerrose und Christine Wallesch. Als Freundinnen und Freunde standen mir auch immer Mar-tina Fries, Doreen Orda, Matthias Orda-Klöß, Heike Tagsold, Christian Tagsold und Eva-Karen Tittmann zur Seite; zusätzlich danke ich ihnen herzlich, dass sie die Arbeit sorgfältig Korrektur gelesen haben.

Abschließend möchte ich mich bei meiner Familie bedanken, die mich auf dem langen Weg von den ersten Ideen bis zur fertigen Dissertation begleitet hat. Mei-ne Schwester Andrea Zumkeller und meine Eltern Gerlinde und Wilhelm Schick hatten immer ein offenes Ohr für mich. Meine Eltern waren es auch, die mir mein Studium ermöglicht, immer an mich geglaubt und mir dadurch die Kraft gegeben haben, meine Dissertation zu beenden. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

Berlin, im April 2017

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Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

1 Einleitung: Kunstwerke und affektives Erleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Vom antiken Theater zum Kino

2 Filmrezeption und affektives Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.1 Philosophisch-ästhetische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192.2 Psychologisch-kognitivistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

3 Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313.1 Was ist eine Emotion?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313.2 Evolutionstheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373.3 Neurologische Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383.4 Sozialkonstruktivistische Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393.5 Bewertungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393.6 Integrative Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

4 Theorien zu Filmrezeption und affektivem Erleben . . . . . . . . . . . . . . 43Ein Überblick4.1 Ed Tan: Der Spielfi lm als ‚Emotionsmaschine‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 434.2 Murray Smith: ‚Engagement‘ mit Figuren zur Lenkung der Emo-

tionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484.3 Torben Grodal: Evolution, Kultur und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . 574.4 Greg Smiths ‚mood cue approach‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

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VIII Inhaltsverzeichnis

4.5 Carl Plantingas kognitiv-perzeptueller Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764.6 Die Hauptelemente der Theorien –

eine kritische Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894.6.1 Objekte fi lmischer Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904.6.2 Zuschauermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 934.6.3 Spielfi lme als emotional vorfokussierte Texte . . . . . . . . . . . . . 954.6.4 Der klassische Spielfi lm als primärer Untersuchungsgegen-

stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964.6.5 Figuren und affektive Wirkungen von Spielfi lmen:

Sympathie, Empathie und Identifi kation . . . . . . . . . . . . . . . . . 994.6.6 Erzählstrukturen und stilistische Konstruktionen . . . . . . . . . . 1014.6.7 Genres und emotionale Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044.6.8 Kulturelle Einfl üsse und affektive Wirkungen von Spielfi lmen 105

5 Jenseits des ‚klassischen‘ Spielfi lms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111Innovation, Abweichung und Differenzqualität5.1 Was bedeutet Differenzqualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1115.2 Herausforderung der Wahrnehmung und der

Erwartungen des Zuschauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1175.3 Der ‚klassische Spielfi lm‘ als Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

5.3.1 Das Prinzip der fi gurenzentrierten Kausalität . . . . . . . . . . . . . 1295.3.2 Zielorientiert handelnde Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1325.3.3 Die Rolle von Konfl ikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335.3.4 Doppelte Struktur: ‚Private‘ und ‚gesellschaftliche‘ Hand-

lungslinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1355.3.5 Der ‚unsichtbare‘ Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1355.3.6 Die Stabilität des klassischen Paradigmas . . . . . . . . . . . . . . . . 1395.3.7 Grenzen der Stabilität des klassischen Paradigmas:

Das postklassische Kino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1415.4 Der europäische Autorenfi lm und das ‚Art Cinema‘: Differenz-

qualitäten und Innovationspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1495.4.1 Merkmale des Autorenfi lms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1515.4.2 Die Rolle des kulturellen und institutionellen Kontextes . . . . . 163

5.5 Das Feld der Differenzqualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1775.5.1 Fallbeispiel: Tom Tykwers LOLA RENNT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1825.5.2 Fallbeispiel: Jean-Pierre und Luc Dardennes LE FILS . . . . . . . . 1865.5.3 Fallbeispiel: Cristi Puius MOARTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU . . . . 190

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IXInhaltsverzeichnis

6 Differenzqualitäten und affektives Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1996.1 Differenzqualitäten, Diskrepanzen und Schemata:

George Mandlers Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2006.2 Konfl ikte, Problemlösungsprozesse und das Bedürfnis

nach Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2086.3 Affektive Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

6.3.1 Filmstrukturen und affektive Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2196.3.2 Dispositionen des Zuschauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2226.3.3 Der Begriff des affektiven Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2266.3.4 Mentale Strukturen: Integration verschiedener

Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2296.3.5 Filmische Strukturen und Darstellungsebenen . . . . . . . . . . . . . 2366.3.6 Dominanten und Interaktionen im affektiven Feld . . . . . . . . . 266

7 Thesen zum affektiven Erleben von Spielfi lmen mit Differenzqualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

8 Differenzqualität und affektives Erleben bei den Filmen der Berliner Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2898.1 Die ‚Berliner Schule‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

8.1.1 Entstehung und Vertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2918.1.2 Die Themen der Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3068.1.3 Stilistische Gemeinsamkeiten der Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . 3128.1.4 Leitfragen für die Analyse der Fallbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . 322

8.2 Thomas Arslans DER SCHÖNE TAG (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3258.2.1 Entstehung und Kontext des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3258.2.2 Die Erzählstruktur des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3298.2.3 Dominante Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3378.2.4 Affektive Mikrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3568.2.5 Affektive Makrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3828.2.6 Zur affektiven Gesamtwirkung von DER SCHÖNE TAG . . . . . . . . 395

8.3 Angela Schanelecs MEIN LANGSAMES LEBEN (2001) . . . . . . . . . . . . . . 3988.3.1 Entstehung und Kontext des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3988.3.2 Die Erzählstruktur des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4058.3.3 Dominante Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4138.3.4 Affektive Mikrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4348.3.5 Affektive Makrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4508.3.6 Zur affektiven Gesamtwirkung von MEIN LANGSAMES LEBEN . . 464

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X Inhaltsverzeichnis

8.4 Christian Petzolds GESPENSTER (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4698.4.1 Entstehung und Kontext des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4698.4.2 Die Erzählstruktur des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4778.4.3 Dominante Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4878.4.4 Affektive Mikrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5128.4.5 Affektive Makrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5388.4.6 Zur affektiven Gesamtwirkung von GESPENSTER . . . . . . . . . . . 560

8.5 Valeska Grisebachs SEHNSUCHT (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5658.5.1 Entstehung und Kontext des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5658.5.2 Die Erzählstruktur des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5738.5.3 Dominante Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5848.5.4 Affektive Mikrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6078.5.5 Affektive Makrofelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6358.5.6 Zur affektiven Gesamtwirkung von SEHNSUCHT . . . . . . . . . . . . 662

9 Schlussbemerkungen: Spielfi lme, Differenzqualitäten und affektives Erleben . . . . . . . . . . . . 669

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693

Filmografi e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Standbilder aus LE FILS (DER SOHN), B/F 2002, Regie: Jean-Pierre Dardenne/ Luc Dardenne (Screenshots von DVD, Filmgalerie 451, Revolver Edition, 2006) . . . . . . . . . 188

Abb. 2: Standbilder aus MOARTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU (DER TOD DES HERRN LAZARESCU), Ro 2005, Regie: Cristi Puiu (Screenshots von DVD, Tartan Video, 2006) . . . . . 193

Abb. 3: Standbilder aus 4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI ȘI 2 ZILE (4 MONATE, 3 WOCHEN, 2 TAGE), Ro 2007, Regie: Cristian Mungiu (Screen shots von DVD, Concorde Home Entertainment, 2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Abb. 4-7: Standbilder aus KLASSENVERHÄLTNISSE, BRD/F 1984, Regie: Jean-Marie Straub/Danièle Huillet (Screenshots von DVD, fi lm & kunst, Edition fi lmmuseum 11, 2007) . . . . . . . . . . . 259-263

Abb. 8-33: Standbilder aus DER SCHÖNE TAG, D 2001, Regie: Thomas Arslan (Screenshots von DVD, Filmgalerie 451, 2011) . . . 343-393

Abb. 34-46: Standbilder aus MEIN LANGSAMES LEBEN, D 2001, Regie: Angela Schanelec (Screenshots von DVD, Film-galerie 451, 2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416-448

Abb. 47-76: Standbilder aus GESPENSTER, D/F 2005, Regie: Christian Petzold (Screenshots von DVD, Piffl Medien, good! movies, o.J.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508-537

Abb. 77-114: Standbilder aus SEHNSUCHT, D 2006, Regie: Valeska Grisebach (Screenshots von DVD, Piffl Medien, good! movies, 2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577-641

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1Einleitung: Kunstwerke und aff ektives Erleben

Vom antiken Theater zum Kino

Kunstwerke haben zweifelsohne das Potential, bei den Rezipienten affektive Zu-stände verschiedenster Art hervorzurufen. Ein Musikstück kann Freude erzeugen, die Lektüre eines Romans zu Tränen rühren oder ein Gemälde den Betrachter in eine melancholische Stimmung versetzen. Es ist meist sogar eine der Haupt-intentionen der Künstler, durch ihre Werke Emotionen auf Seiten der Leser, Hörer oder Betrachter1 zu erzeugen, sie zu erheitern, aufzurütteln oder gar in Angst und Schrecken zu versetzen.

Die genauen Prozesse zu erfassen, die bei der Entstehung von Emotionen im Rahmen der Wahrnehmung von Kunst ablaufen, und die Art der erlebten Emotio-nen zu bestimmen, ist jedoch kein leichtes Unterfangen. Die affektive Wirkung2 eines Kunstwerkes wird oft als subjektiv, zutiefst persönlich und nicht verallge-meinerbar angesehen. Hierin mag auch einer der Gründe liegen, warum lange Zeit die Untersuchung von Emotionen – seien es Emotionen im alltäglichen Leben oder bei der Kunstrezeption – vernachlässigt wurde. Erst in letzter Zeit fi ndet eine ver-stärkte Beschäftigung mit dem Thema Emotion in den verschiedensten Bereichen statt, wie etwa der Psychologie, Philosophie oder Kulturwissenschaft.3

1 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in dieser Arbeit, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

2 Die Termini ‚Affekt‘ und ‚affektiv‘ verwende ich als Oberbegriff für verschiedene ‚affektive‘ Phänomene wie Emotionen, Stimmungen oder Empfindungen. Im Laufe der Arbeit werde ich noch genauer auf die jeweiligen Unterschiede eingehen (vgl. u.a. Kapitel 3.1 und Kapitel 6.3.3).

3 Vgl. z.B. de Sousa 2009, Damasio 2010, Frevert u.a. 2011, Plamper 2012.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018T. Schick, Filmstil, Differenzqualitäten, Emotionen, Film,Fernsehen, Medienkultur, DOI 10.1007/978-3-658-19143-6_1

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2 1 Einleitung: Kunstwerke und aff ektives Erleben

Die Ansätze zur theoretischen Fassung von Emotionen sind hierbei mannig-faltig und nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Dennoch fi nden sich einige grundlegende Aspekte in vielen Emotionstheorien wieder (vgl. Robinson 2004): Emotionen sind von begrenzter Dauer und entstehen, wenn grundlegende Inter-essen, Wünsche oder Bedürfnisse angesprochen werden. Situationen werden also hinsichtlich ihrer Bedeutung für ein Individuum bewertet. Erweist sich eine Situa-tion als relevant, kann der Emotionsprozess in Gang gesetzt werden mit der Folge, dass eine physiologische Reaktion bzw. eine Handlungstendenz entsteht, um ad-äquat auf diese relevante Situation zu reagieren. Je nach Art der Bewertung werden verschiedenartige und verschieden intensive Emotionen entstehen.

Der Prozess als solcher wird sich hierbei bei Alltagssituationen und Situatio-nen, die im Rahmen der Kunstrezeption auftreten, nicht grundlegend unterschei-den. Das Objekt der Bewertung ist jedoch von verschiedener Art, wie etwa eine fi ktive Figur, eine bestimmte Farbgebung oder eine spezifi sche Darstellungsweise von Ereignissen, die ein Kunstwerk auszeichnen. Dennoch kann ein Kunstwerk genauso wie eine Alltagssituation bestimmte Interessen, Wünsche und Ziele einer Person ansprechen.

Die Auffassung, was ein Kunstwerk ist und welche affektiven Wirkungen von ihm ausgehen sollen, hat sich im Laufe der Zeit ständig verändert und ist stark vom historischen und kulturellen Kontext abhängig. Bereits in der Antike wurden Kunstwerke mit emotionalem Erleben verbunden, auch wenn sie zu dieser Zeit häufi g noch mit kultischen Elementen versehen waren, andere Funktionen als heu-te übernahmen und noch nicht als ‚Kunstwerke‘ im heutigen Sinne des Begriffes angesehen wurden. Am bekanntesten sind in diesem Zusammenhang wohl Aristo-teles Ausführungen zur Tragödie:

„Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachah-mung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern her-vorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ (Aristoteles 1993, 19)

Eingebunden in kultische Festveranstaltungen, etwa die Dionysien in Athen, hat-te diese affektive Komponente der Tragödie somit auch eine klare gesellschaft-liche Funktion: So sollte durch die gemeinschaftliche Rezeption der Schauspiele das ‚emotionale Gleichgewicht‘ der Zuschauer gewährleistet werden, sie also von negativen Zuständen gereinigt und dadurch quasi ‚geheilt‘ werden. Nicht zuletzt waren die Orte, an denen diese antiken Theater-Festspiele stattfanden, oft in direk-

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ter Nachbarschaft von Heilstätten angesiedelt, so z.B. bei einem der bekanntesten noch erhaltenen antiken Theaterbauten in Epidauros.

Auch im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren Kunstwerke noch häufi g in rituelle oder kultische Umgebungen eingebettet und sollten Heilung oder Linde-rung von Krankheiten bewirken. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Isenheimer Altar, der 1506 bis 1515 von Matthias Grünewald geschaffen wurde und dessen Funktion Oliver Grau folgendermaßen beschreibt:

„Aufgabe des in der Isenheimer Kirche des Krankenpfl egerordens der Antoniter aufgestellten Altars war es, dies ist in der Forschung unstrittig, durch die visuell-magische Verbindung zu Christus für Infi zierte von Pest und Antoniusfeuer Heilung zu bewirken oder zumindest den Sterbenden durch die Hoffnung auf baldige Auf-erstehung ihr Los zu erleichtern. So berichtet die Überlieferung der Zeit, dass die Begegnung mit den Bildern wiederholt Heilungen bewirkte, wie sie das Mittelalter sonst etwa in der Berührung bedeutender Reliquien suchte […]. Traditionsgemäß wurden die Kranken daher in der Hoffnung auf ein sich vollziehendes Wunder vor den Altar gebracht, dem folglich therapeutische Funktion zugeschrieben wurde. Erst im Anschluss daran erhielten diese durch die Ordensärzte auch medikamentöse Be-handlung. Noch vor der Medizin rangierte mithin der Glaube an den wundertätigen Christus und die mediale Verbindung des Bildes, das, um physische Heilung auszu-lösen, die Kranken im Innersten emotional berühren musste.“ (Grau 2005, 74)

Auch wenn heute zumeist keine Heilung von Krankheiten durch die Betrachtung des Altars erwartet wird, hat er dennoch nach wie vor eine starke emotionale Wir-kung:

„Heute noch bewirkt der Isenheimer Altar mit seiner grauenhaften Vision des Ge-kreuzigten einen bedrängenden Eindruck, und es bedarf einiger Minuten, um Ab-stand von den Emotionen zu fi nden, die das mitreißende Bilderlebnis in uns hervor-ruft.“ (Grau 2005, 72)

Beim Isenheimer Altar ging es dem Künstler Grünewald also darum, durch eine spezifi sche Art der Darstellung religiöser Szenen Emotionen bei den Betrachtern auszulösen und sie dadurch in ihrem Glauben zu bestärken. Seine Intention be-stand nicht primär darin, möglichst eigene, persönliche Emotionen durch sein Werk zu manifestieren.

Dies ändert sich jedoch später, etwa in der Romantik, in der Kunstwerke bereits von ihrer rein rituellen Funktion befreit waren und vor allem die Emotionen des Künstlers zum Ausdruck bringen und dennoch auch die Rezipienten bewegen soll-ten. Auf diese Verschiebung weist etwa Jenefer Robinson hin: „’Expression theory’ took its rise from the Romantic movement, with its emphasis on the artist’s emotions,

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rather than those of the spectator or audience. […] In other words, one of the chief goals of the Romantic artist is the sincere expression of his own emotions in his art.“ (Robinson 2004, 178) Eines der bekanntesten Beispiele dieser ‚Ausdruckskünstler‘ ist wohl Caspar David Friedrich. Seine Gemälde zeigen häufi g weitläufi ge Land-schaften, in denen die oft in Rückenansicht dargestellten und in die Ferne blickenden Figuren allein und verloren scheinen, der Natur und ihren Gewalten hilfl os ausge-setzt. In Bezug auf Friedrichs Gemälde „Mönch am Meer“ stellt Klaus Herding fest:

„Sowohl die furchtbaren wie die zarten Gemütsbewegungen sind zunächst Gefühle; sie gehen den Einzelnen etwas an, aber das Bild macht sie emotional verfügbar, diskursfähig. Caspar David Friedrichs Mönch am Meer ist als einsam dargestellt, aber ein partielles Miterleben ist nicht nur möglich, sondern die raison d’être des Bildes. Erhabenheit, die Gefühle der Ohnmacht oder der scheinbaren Vernichtung des Einzelnen vor der Natur (vor allem angesichts von Meer und Hochgebirge), die bekanntlich im Aufwallen des Gemüts dann in einem zweiten Schritt die Brust dem Erlebnis des Göttlichen öffnet, dieses Gefühlserlebnis wird durch das Kunstwerk mitteilbar gemacht.“ (Herding 2004, 340)

So schwingt in diesen Kunstwerken der Romantik, obwohl sie vom rituellen Cha-rakter bereits befreit und auf die Emotionen des Künstlers fokussiert sind, dennoch der göttliche Gedanke mit. Die Komponente des Glaubens und der emotionalen Erschütterung hinsichtlich des Glaubens ist daher nicht vollkommen aus den Wer-ken verschwunden, sondern nur auf andere Aspekte verlagert worden.

Kunstwerke können somit einerseits Ausdruck von Emotionen des Künstlers sein, andererseits gleichzeitig den Betrachter emotional affi zieren. Die Darstel-lungen des Künstlers werden zu Objekten für Emotionen des Rezipienten. Dies ist auch in der Literatur der Fall, wie Robinson anhand von Leo Tolstois „Anna Karenina“ darlegt:

„What Tolstoy succeeds in doing so masterfully is in getting us to fi nd our own wants, interests, and values to be at stake in Anna’s story, so that we respond emotio-nally to her. […] We may weep for Anna, moan and groan, tremble, sweat, and tense muscles, as a result of an ‘evaluation’ of her situation as pathetic and an intense wish to help the poor woman.” (Robinson 2004, 185)

Durch die Darstellung der Situation Annas können somit Emotionen auf Seiten des Lesers ausgelöst werden. Diese erlebten Emotionen müssen dabei kein Selbst-zweck sein, sondern sind potentiell durchaus auch wesentlich für das Verstehen des rezipierten Werkes. So stellt Robinson wiederum unter anderem anhand von „Anna Karenina“ fest:

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„Very often, important facts about the characters and events depicted in a novel or painting are made manifest to us through our emotional responses to them. Thus my sorrow and pity for Anna Karenina may be what alert me to her vulnerability. My feelings of shock and alarm in front of Munch’s The Scream may sensitize me to the alienation and anguish expressed in the painting.“ (Robinson 2004, 186)

Es lassen sich folglich verschiedene Ebenen und Wirkungsweisen in Bezug auf die affektive Erfahrung bei der Rezeption von Kunstwerken feststellen. Einerseits kann der Künstler seine emotionalen Erfahrungen in seinem Werk zum Ausdruck bringen, indem er für diese Emotionen typische Situationen beschreibt, malt oder auf die Bühne bringt. Diese dargestellten Emotionen, seien es konkrete Emotionen von Figuren oder eher abstrakte Stimmungen in Gemälden, werden zu Auslösern von Emotionen auf Seiten des Betrachters, Lesers oder Zuschauers, indem dessen Interessen, Ziele oder Bedürfnisse angesprochen werden. Die beim Rezipienten entstehenden Emotionen müssen dabei nicht deckungsgleich mit den Emotionen sein, die der Künstler bei der Produktion seines Werkes im Sinn hatte. Zugleich tragen diese Emotionen in einem nicht zu unterschätzenden Maße zum Verstehen des Kunstwerks bei.

Neben diesen Komponenten des emotionalen Erlebens lassen sich noch weitere Funktionen erlebter Emotionen in Bezug auf Kunstwerke ausmachen, die die Re-zeption der Werke motivieren. So stellt Robinson fest:

„How do works of art ‘teach us about life’? One way that novels and movies are often said to do this is by enlarging our emotional range. Novels, for example, present us with characters and situations that we have never met in fl esh but which are recog-nizably human. Stories often hinge on emotional encounter: a love affair, a loss, a wrong. They show us the emotional experiences of the characters, the way they view the situation in which they fi nd themselves, and their response to those situa-tions. Good stories demonstrate how emotions grow out of social contexts and the interactions of different people, and they detail the clash of different people’s goals, wants and interests, including moral interests […]. In this way good novels expand our emotional repertoire by giving us a better understanding of the many varieties of fear, anger, love, anxiety and the other emotions that have names in our language, as well as illustrating emotional states for which there may be no word in our lexicon.” (Robinson 2004, 187f)

Kunstwerke, und dies ist nicht nur bei Romanen der Fall, bieten demnach die Mög-lichkeit, Situationen und Emotionen zu durchleben, mit denen man im alltäglichen Leben nicht konfrontiert werden würde oder die nicht einfach in Worte zu fassen sind. Die Erweiterung der eigenen emotionalen Bandbreite durch das quasi ‚vir-tuelle‘ Erleben von Emotionen im geschützten Bereich der Kunstrezeption bildet

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somit einen der Anreize, Kunstwerke zu rezipieren. Gleichzeitig weisen Robinsons Ausführungen darauf hin, dass auch der soziale und gesellschaftliche Kontext, in dem Emotionen sowohl im Bereich der Kunst als auch im alltäglichen Leben ent-stehen, für die Art der jeweilig erlebten Emotionen wichtig ist.

Insgesamt lassen sich im Hinblick auf Emotionen, die bei der Konfrontation mit einem Kunstwerk entstehen, drei Dimensionen von Bedeutung unterscheiden: die persönliche Dimension, die kulturell-historische Dimension und die Dimension des Verstehens von Kunstwerken.

Im Rahmen der persönlichen Dimension spielen zum einen vor allem die Interes-sen, Ziele, Wertvorstellungen oder Bedürfnisse des Rezipienten eine wichtige Rolle. Sie werden durch das Kunstwerk angesprochen und ermöglichen somit erst eine af-fektive Reaktion; das Kunstwerk fungiert in diesem Fall als Objekt, das emotionale Prozesse in Gang setzt. Zum anderen sind, zumindest wenn Kunstwerke aus ihrem religiös-rituellen Kontext befreit sind, die persönlichen Emotionen des Künstlers in sein Werk eingeschrieben und nehmen Einfl uss auf die entstehenden Emotionen beim Betrachter. Zur persönlichen Dimension zählt auch die Möglichkeit, durch die Rezeption eines Kunstwerks das eigene emotionale Repertoire und Verständnis zu erweitern, indem im Kunstwerk Situationen repräsentiert werden, die im all-täglichen Leben nicht erlebt oder von vornherein vermieden werden würden. Die Kunst rezeption bildet dabei einen ‚geschützten Raum‘, da sie jederzeit beendet und damit die emotionsauslösende Situation verlassen oder vermieden werden kann.

Die kulturell-historische Dimension darf bei der Betrachtung von Emotionen in Bezug auf Kunstwerke ebenfalls nicht vernachlässigt werden. So löst die Betrach-tung des Isen heimer Altars auch in der heutigen Zeit noch starke emotionale Reak-tionen aus, diese werden im Normalfall jedoch nicht mehr als heilend von todbrin-genden Krankheiten angesehen werden. Auch eine antike Tragödie besitzt nach wie vor eine affektive Dimension, wenn sie in einer zeitgenössischen Inszenierung auf die Bühne gebracht wird. Die gesellschaftliche Bedeutung der emotionalen Reaktion auf Seiten der Zuschauer hat sich jedoch verändert. Meist wird es die Absicht des Regisseurs sein, in seiner Inszenierung die für die heutige Gesellschaft relevanten Aspekte des Stückes zu betonen, hierfür müssen aber nicht unbedingt Jammer und Schaudern als ‚reinigende Emotionen‘ beim Zuschauer entstehen.

Die kulturell-historische Dimension verweist dabei bereits auf die Ebene des Verstehens. Emotionen tragen maßgeblich zum Verstehen von Kunstwerken bei. In-dem etwa gesellschaftliche Befi ndlichkeiten durch Figuren auf der Bühne oder im Film ausgedrückt werden, die häufi g nicht einfach in Worte zu fassen sind, werden durch das affektive Nacherleben dieser gesellschaftlichen Situationen diese selbst für die Rezipienten einsichtiger und verständlicher. Im Idealfall wird der Zuschauer dementsprechend zur Refl exion über diese Zustände und Befi ndlichkeiten angeregt.

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Diese drei Dimensionen sind auch in Bezug auf das affektive Erleben von Fil-men von Bedeutung. Dass insbesondere Spielfi lme starke affektive Wirkungen bei den Zuschauern auslösen können, steht außer Frage. Nicht zuletzt besteht eine der Hauptmotivationen für den Kinobesuch darin, Emotionen zu erleben; und zwar insbesondere solche Emotionen, die im alltäglichen Leben nicht ohne weiteres er-fahrbar sind. Auch bei einem Filmkunstwerk gilt die doppelte Unterscheidung der Emotionsdimension: zum einen werden Emotionen auf der Leinwand dargestellt, zum anderen intensive Emotionen von den Zuschauern erlebt. So widmet Hugo Münsterberg bereits 1916 in seinem Text „Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie“ den Emotionen einen eigenen Abschnitt. Dort schreibt Münsterberg etwa: „Die Darstellung von Emotionen muß das Hauptanliegen des Lichtspiels sein.“ (Münsterberg 1996, 65) Und auch auf Seiten der Zuschauer sind Emotionen seit Beginn der Filmkunst ein wichtiger Faktor des Kinoerlebnisses. In Franz Kafkas Tagebuch am 13. November 1913 fi ndet sich etwa der mittlerweile berühmt gewor-dene Eintrag: „Im Kino gewesen. Geweint.“ (Kafka 1986, 242)

Dabei war es zu Zeiten Münsterbergs und Kafkas noch keineswegs selbstver-ständlich, ‚Film‘ als ‚Kunst‘ anzusehen. 1915 bemerkt Münsterberg in seinem Auf-satz „Warum wir ins Kino gehen“:

„Aber können wir wirklich davon sprechen, daß der Film uns Kunst im höheren Sinne des Wortes bringt? War es nicht für eine ganze Weile unter Kunstliebhabern Mode, auf die Tricks des Films herunterzublicken und sie als unkünstlerisch zu ver-achten? Wer es sich leisten konnte, das echte Theater zu besuchen, empfand es als unter seinem Niveau, sich mit einem b illigen Ersatz abzugeben, dem die Herrlichkeit der Bühne mit dem gesprochenen Wort fehlte. Diese Zeit liegt aber weit hinter uns. Selbst die kunstsinnigste Öffentlichkeit hat gelernt, ein hochklassiges Lichtspiel zu genießen. Ich gebe offen zu, daß ich selbst zu diesen snobistischen Nachzüglern gehörte. Bis vor einem Jahr habe ich niemals ein wirkliches Lichtspiel gesehen. Ob-wohl ich immer ein passionierter Theaterliebhaber war, hätte ich es als unter der Würde eines Harvard-Professors angesehen, eine Kinovorstellung zu besuchen, ebenso wie ich in keine Vaudeville-Schau, in kein Wachsfi gurenkabinett oder in kein Phonographenkonzert gegangen wäre.“ (Münsterberg 1996, 107)

Die Entstehung der Filmkunst fällt somit in eine Zeit, in der die Auffassung, was als ‚Kunst‘ gilt, sich wiederum entscheidend verändert. Kunstwerke werden von ihrem ‚elitären‘ Charakter befreit und fi nden Eingang in die Massen- und Populär-kultur4, die nicht nur einer zahlungskräftigen Mittel- und Oberschicht zugänglich ist, sondern auch der breiten Bevölkerung, die sich etwa einen Theaterbesuch oft

4 Zum Themenbereich der Massen- und Populärkultur vgl. z.B. Carroll 1998, Hecken 2012.

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nicht leisten konnte. Nicht zuletzt durch die im Entstehen begriffene Filmkunst er-gibt sich zusätzlich eine Verbindung von Kunstwerken zur industriellen Fertigung, da Film von Anfang an nicht ‚nur‘ Kunst, sondern immer auch schon ein ‚Ge-schäft‘ war, das ökonomischen Kriterien folgen musste. In den 1910er und 1920er Jahren sollte der Begriff des ‚Art Cinema‘ oder des ‚Autorenfi lms‘ im Sinne der Verfi lmung ‚künstlerisch wertvoller‘ literarischer Vorlagen dementsprechend etwa dazu dienen, neue Zuschauergruppen zu erschließen und den Kinobesuch auch für das Bürgertum attraktiv zu machen (vgl. z.B. Neale 1981).

Der ‚rituelle‘ und ‚göttliche‘ Charakter von Kunstwerken, der in der Kunstauf-fassung der Romantik noch mitschwang, scheint nun vollkommen zu verschwin-den. Elemente der Massenunterhaltung können in die Kunst einfl ießen. Nicht zu-fällig bezieht sich Eisenstein 1923 in seinen ersten Überlegungen zur „Montage der Attraktionen“, die er bei seiner Arbeit am Theater des Proletkult entwickelte, auf „Music-hall und Zirkus“ als Vorbilder für eine neue Theaterkunst (Eisenstein 1988a, 14).

Auch wenn sich die Auffassung wandelt, was als Kunstwerk gilt, und sich da-mit die Wahrnehmung von Kunst verändert, bleibt die affektive Erfahrung nach wie vor ein zentraler Bestandteil der Kunstrezeption. Dies gilt insbesondere für die Filmkunst. In seinem Aufsatz „Montage der Filmattraktionen“, in dem er sein Attraktions-Konzept weiterentwickelt und auf den Film überträgt, schreibt Eisen-stein 1924:

„Betrachtet man den Film als einen Faktor emotionaler Einwirkung auf die Massen (und mit dieser Frage befassen sich selbst die Kinoki, die den Film um jeden Preis aus dem Ensemble der Künste ausklammern wollen), so sollte man ihn unbedingt in diesem Ensemble verankern; und bei der Suche nach Wegen zum Aufbau einer Filmkunst gilt es, die Erfahrungen und neuesten Errungenschaften aus dem Bereich jener Künste weitgehend zu nutzen, die sich ähnliche Aufgaben stellen.“ (Eisenstein 1988b, 17)

Eine jener Künste ist für Eisenstein das Theater, das er ja wie bereits erwähnt mit Elementen der Massenkultur ergänzt hat, wobei er gleichzeitig auf ‚die Er-fahrungen‘ dieser Kunstform zurückgreifen konnte. Auch wenn Eisenstein als sowjetischer Künstler nicht von ungefähr nach neuen Wegen in der Kunst sucht, um auch ‚die Massen‘ anzusprechen, spiegelt sich in seinen Überlegungen auch eine Verschiebung der Kunstauffassung im Allgemeinen und damit einhergehend der Kunstwahrnehmung wider. Und ebenfalls nicht von ungefähr nimmt die Er-zeugung von Emotionen im Rahmen der Kunst- bzw. Filmrezeption eine zentrale Stellung in seinen Theorien zur Filmkunst ein.

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Obwohl sich also die ‚Pioniere‘ der Filmtheorie wie Münsterberg und Eisen-stein bereits intensiv mit dem Zusammenhang von Film und Emotion auseinan-dergesetzt haben, fand in der Filmwissenschaft lange Zeit keine systematische Beschäftigung mit dem Themenbereich des affektiven Erlebens von Filmen statt. Erst seit den 1990er Jahren widmen sich fi lmwissenschaftliche Untersuchungen verstärkt der theoretischen Modellierung affektiver Wirkungen, die bei der Re-zeption von Filmen entstehen. Auch in der vorliegenden Arbeit wird die Frage, wie Spielfi lme – insbesondere solche, die vom sogenannten ‚klassischen Modell‘ abweichen – auf Seiten des Zuschauers affektiv erfahren werden, im Zentrum des Interesses stehen. Im folgenden Kapitel werde ich daher zwei wichtige Hauptsträn-ge der fi lmwissenschaftlichen Theoriebildung zu Emotionen, die von Spielfi lmen ausgehen, kurz skizzieren: Zum einen phänomenologisch und psychoanalytisch orientierte Ansätze, zum anderen Ansätze, die auf die kognitive Psychologie und kognitivistisch geprägte Beschreibungsmodelle zurückgreifen. In diesem Kapi-tel werde ich zudem begründen, warum ich mich im weiteren Verlauf der Arbeit hauptsächlich auf die psychologisch-kognitivistischen Ansätze stütze.

Kapitel 3 stellt verschiedene psychologische Emotionstheorien und deren Defi nitionen des Begriffs ‚Emotion‘ vor. Diese evolutionstheoretischen, neuro-logischen, sozialkonstruktivistischen, bewertungstheoretischen und integrativen Ansätze zur theoretischen Erfassung emotionaler Prozesse bilden eine wichtige Grundlage verschiedener kognitivistisch geprägter Theorien zum affektiven Erle-ben von Spielfi lmen, die im vierten Kapitel überblicksartig dargelegt und kritisch hinterfragt werden. Bei verschiedenen Gemeinsamkeiten setzen diese Ansätze da-bei jeweils eigene Schwerpunkte und unterscheiden sich etwa auch darin, welche Defi nition von Emotion als Ausgangspunkt für die jeweils entwickelten theore-tischen und analytischen Modelle herangezogen wird. Ed Tan sieht den ‚klassi-schen Spielfi lm‘ als ‚Emotionsmaschine‘. Mit Hilfe des bewertungstheoretischen Ansatzes Nico Frijdas argumentiert er, dass durch den ‚diegetischen Effekt‘, also die kohärente, fi ktionale Welt, die im Fall eines nach klassischen Mustern konstru-ierten Spielfi lms entsteht, Emotionen vor allem von dieser fi ktionalen Welt, deren Figuren und den in ihr verhandelten Themen ausgehen. Murray Smith konzent-riert sich ebenfalls auf die Figuren, die in Spielfi lmen auftreten. Die emotionale Wirkung der Filme ist für ihn eng mit der moralischen Bewertung dieser Figuren verbunden. Sein theoretischer Ansatz stellt den Begriff der ‚Identifi kation‘ mit Figuren in Frage und entwickelt ein Modell des ‚engagement‘ bezüglich Film-Figuren, das auch die affektive Wirkung, die von ihnen ausgeht, mit einbezieht. Torben Grodal baut seine Theorie auf evolutionstheoretische Emotionsansätze auf und bezieht gleichzeitig neurowissenschaftliche Erkenntnisse in seine Über-legungen ein. Sein Ansatz zeichnet sich durch eine biokulturelle Sichtweise aus,

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versucht also auch die Rolle des kulturellen Kontextes für das emotionale Erleben von Spielfi lmen zu berücksichtigen und setzt unter anderem einen Schwerpunkt auf der affektiven Wirkung von Genres. Der ‚mood-cue approach‘ wurde von Greg Smith entwickelt. Dieser Ansatz geht neben Emotionen auch auf Stimmungen ein, die durch Spielfi lme hervorgerufen werden, und postuliert eine enge Interaktion zwischen Stimmungen und Emotionen. Sein ‚assoziatives Netzwerkmodell des Emotionssystems‘ geht von einer Vielzahl verschiedener Reize aus, die affektive Prozesse in Gang setzen können. Daher ist in seinen Überlegungen auch die ge-naue Bestimmung der fi lmischen Strukturen zentral: Filme liefern verschiedene ‚Emotionscues‘, also gleichsam verschiedene Reize, um Emotionen zu aktivieren. Ein Fokus seines Modells liegt dabei ebenfalls auf Filmgenres und wie diese das affektive Erleben eines Films prägen können. Ähnlich wie bei Greg Smith betont Carl Plantinga in seinem Ansatz, dass für die Erfassung der emotionalen Wirkung von Filmen deren Strukturen präzise untersucht werden müssen. Sein Modell baut auf einen kognitiv-perzeptuellen Emotionsansatz auf, wobei er verschiedene Ty-pen von Emotionen ausdifferenziert. Die emotionale Gesamtwirkung eines Films entsteht nach Plantinga unter anderem durch das Zusammenspiel von narrativen Szenarien, Figurenhandlungen und Figurendarstellungen. Seine Untersuchungen beschränkt er dabei bewusst auf den amerikanischen ‚Mainstreamfi lm‘.

Zum Abschluss von Kapitel 4 werde ich einzelne Elemente der vorgestellten Ansätze gegenüberstellen und kritisch hinterfragen. Als gemeinsames Moment kristallisiert sich dabei der Rückgriff auf kognitiv orientierte Theorien heraus, die von einem aktiven Zuschauer ausgehen. Zudem liegt der Fokus der jeweili-gen Ansätze meist auf dem sogenannten ‚klassischen Spielfi lm‘, der häufi g anhand der von Bordwell und Thompson geprägten neoformalistischen Ansätze defi niert wird. Spielfi lme, die von diesen klassischen Mustern abweichen, werden meist nicht oder nur am Rande behandelt.

An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Im Mittelpunkt meiner Untersuchungen werden Filme stehen, die von klassischen Mustern abweichen. Ich werde zeigen, dass neben der fi ktionalen Welt, den Themen und Figuren auch stilistische Merkmale, insbesondere solche, die von etablierten Konventionen ab-weichen, eine wichtige Rolle für das affektive Erleben auf Seiten der Zuschauer spielen. Meine Ausgangsannahme ist dabei, dass solche Spielfi lme – entgegen der verbreiteten Ansicht – nicht distanziert, intellektuell und weitgehend ohne affek-tive Reaktionen rezipiert werden, sondern ein spezifi sch ‚andersartiges‘ affektives Erleben beim Zuschauer hervorrufen. Weiterhin werde ich zeigen, dass diese af-fektive Wirkung wichtig für das Verstehen der Filme ist und für die theoretische Erfassung der potentiell erzeugten Affekte der jeweilige kulturelle Kontext mit-berücksichtigt werden muss.

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Hierfür werde ich ein Analysemodell entwickeln, das auf psychologischen und fi lmtheoretischen Ansätzen aufbaut, die sich mit Emotionen und affektiven Wirkungen während der Filmrezeption beschäftigen. Für das Modell werde ich einerseits auf Elemente der existierenden, in Kapitel 4 dargelegten Theorien zu-rückgreifen und sie für die Analyse von Spielfi lmen, die nicht ausschließlich klas-sischen Mustern folgen, adaptieren, zum anderen weitere Ansätze heranziehen, und somit die anhand klassischer Spielfi lme aufgestellten Theorien erweitern.

Ein erster Schritt auf dem Weg zu diesem Analysemodell besteht darin aufzu-zeigen, wodurch sich Spielfi lme, die von klassischen Mustern abweichen, überhaupt auszeichnen. Als hilfreich erweist sich hierzu der Begriff der ‚Differenzqualität‘, der im 5. Kapitel erläutert wird. Geprägt wurde der Begriff in den 1920er Jahren im Rahmen der Literaturtheorie der russischen Formalisten. Differenzqualitäten entstehen durch Abweichungen von etablierten Konventionen, dadurch erzeugen sie Innovation und Originalität. Durch diese Abweichungen wird die Wahrneh-mung herausgefordert, in der Terminologie der russischen Formalisten ‚entauto-matisiert‘. Diese ‚Entautomatisierung‘ der Wahrnehmung stellt für die russischen Formalisten das Wesen der Kunst dar, also Dinge und Vorgänge, die im Alltag durch Gewöhnung eigentlich nicht mehr wahrgenommen werden, wieder bewusst und empfi ndbar zu machen. Eng verbunden mit dem Begriff der Differenzqualität ist der des Differenzempfi ndens, dem durch das ‚Empfi nden‘ bereits eine affektive Komponente eingeschrieben ist.

Bordwells und Thompsons neoformalistische Filmtheorie greift unter anderem auf die Kunstauffassung und Terminologie der russischen Formalisten zurück. Auf der Grundlage der neoformalistischen Theorie wird dargelegt, was unter einem ‚klassischen Spielfi lm‘ zu verstehen ist. Die Grenzen der neoformalistischen Film-theorie werden dabei ebenfalls kurz thematisiert, etwa, dass sie die Eigenschaften postklassischer Spielfi lme nur unzureichend erfassen kann und nicht eingehend genug berücksichtigt, dass die Abgrenzung zwischen klassischen oder Main-stream-Filmen und dem Art Cinema beziehungsweise Autorenfi lm immer schwie-riger zu treffen ist.

Auf der Folie der Bestimmung der Merkmale des klassischen Spielfi lms treten die Differenzqualitäten der Spielfi lme, die von klassischen Mustern abweichen, deutlicher hervor. In Kapitel 5 stelle ich daher auch die Merkmale des Art Cinema beziehungsweise Autorenfi lms dar und gehe darauf ein, welche Differenzqualitä-ten diese Art von Filmen aufweisen. Sowohl im Fall des klassischen Spielfi lms als auch des Autorenfi lms beziehe ich mich auf kurze Fallbeispiele, um deren Merk-male zu verdeutlichen.

Als ersten Schritt für mein Analysemodell entwickle ich aus den Darstellungen der Merkmale des klassischen Spielfi lms und des Autorenfi lms das Konzept eines

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‚Feldes der Differenzqualitäten‘, das sich zwischen den Polen ‚klassischer Spiel-fi lm‘ und ‚Autorenfi lm‘ aufspannt. In dieses Feld lassen sich Spielfi lme je nach den Merkmalen, die sie aufweisen, einordnen, also auch solche, die Merkmale beider Filmarten in sich vereinen und als Mischformen somit zwischen beiden Polen ste-hen, wie z.B. viele postklassische Spielfi lme.

Gerade im Fall von Spielfi lmen, die deutlich zum Pol des Autorenfi lms ten-dieren und daher Differenzqualitäten nicht nur aufgrund der von ihnen erzählten Geschichten, sondern auch durch ihre spezifi sche, unkonventionelle stilistische Konstruktion an den Tag legen, stoßen die in Kapitel 4 dargelegten Ansätze zur affektiven Wirkung von Spielfi lmen an ihre Grenzen.

An diesem Punkt gilt es anzusetzen und das in dieser Arbeit entwickelte Analy-semodell weiter auszudifferenzieren. Daher wird im sechsten Kapitel der Zusam-menhang zwischen Differenzqualitäten und affektivem Erleben von Spielfi lmen dargelegt. Zunächst werden in diesem Kapitel zwei weitere Ansätze vorgestellt, die für diesen Zweck hilfreich sein können. George Mandler geht davon aus, dass durch Unterbrechung von laufenden Handlungen und Diskrepanzen in der Wahr-nehmung Emotionen entstehen können. Solche Unterbrechungen und Diskrepan-zen bilden sich etwa durch die Missachtung etablierter Schemata, also abgespei-cherter Wissensformen, heraus. Mithilfe meines Modells werde ich aufzeigen, dass in Spielfi lmen Unterbrechungen und Diskrepanzen durch Differenzqualitäten hervorgerufen werden. Diese Differenzqualitäten treten durch die Verletzung von Schemata hervor, wie z.B. narrativer oder stilistischer Schemata, wodurch letztlich das affektive Erleben der Filme beeinfl usst wird.

Der zweite Ansatz stammt von Peter Wuss, der Konfl ikte als wichtige Grund-lage für emotionale Wirkungen bei der Rezeption von Spielfi lmen ansieht. Wuss unterscheidet verschiedene Arten von Konfl ikten, z.B. interpersonale, intraperso-nale, lösbare oder unlösbare Konfl ikte. Für mein Modell ergänze ich diese Kon-fl iktarten durch einen weiteren Typ, den der stilistischen Konfl ikte, womit Kon-fl ikte gemeint sind, die durch die Missachtung stilistischer Schemata entstehen. Diese unterschiedlichen Konfl iktarten bilden in einem Spielfi lm spezifi sche Kon-fl iktfelder aus, in denen Konfl ikte interagieren und sich somit auf die affektive Er-fahrung des Films durch den Zuschauer auswirken. Für die Analyse der affektiven Wirkung eines Spielfi lms gilt es, diese Konfl iktfelder näher zu bestimmen.

Grundlage für Aussagen über potentielle affektive Wirkungen von Spielfi lmen bildet in meinem Modell daher immer eine genaue Analyse der Filmstrukturen und welche Differenzqualitäten durch diese erzeugt werden, da durch diese Struk-turen eine ‚affektive Vorfokussierung‘ des jeweiligen Spielfi lms stattfi ndet. Damit diese Vorfokussierung beim Zuschauer wirksam werden kann, muss dieser be-stimmte Dispositionen aufweisen, die ebenfalls in Kapitel 6 dargelegt werden. Bei

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von klassischen Mustern abweichenden Filmen mit Differenzqualitäten, die auf unkonventionelle stilistische Konstruktionen zurückzuführen sind, muss der Zu-schauer bereit sein, sich auf diese Abweichungen und Herausforderungen seiner Wahrnehmung einzulassen. Zudem muss er über ein spezifi sches Wissen verfü-gen, um die Abweichungen erkennen und mit ihnen umgehen zu können: Er sollte also auch in der Lage sein, den ‚tieferen Sinn‘ zu begreifen, warum der Filme-macher auf solche Strukturen zurückgreift, z.B. um gesellschaftliche Missstände ‚wieder wahrnehmbar‘ zu machen.

Letztlich operiert mein Modell mit einem hypothetischen Zuschauer, da sich die jeweiligen Dispositionen individuell unterscheiden werden. Aufgrund dieser unterschiedlichen Dispositionen wird es nicht immer möglich sein, die genaue Qualität und Intensität der Emotionen zu bestimmen, die bei der Rezeption eines Spielfi lms entstehen. Filme liefern immer eine ‚Einladung zum Fühlen‘, der der Zuschauer nicht unbedingt folgen muss. Spezifi sche Reizkonfi gurationen, die durch die fi lmischen Strukturen erzeugt werden und die zu potentiellen affektiven Wirkungen führen, können und sollen jedoch mit meinem Analysemodell erfasst werden.

Dieses ‚Möglichkeitsfeld‘ affektiver Wirkungen beschreibe ich in meinem Mo-dell mit dem Konzept des ‚affektiven Feldes‘, das ich auf die vorigen Darlegungen aufbauend ebenfalls in Kapitel 6 genauer charakterisiere. Meine Ausgangsannah-me ist hierbei, dass affektive Wirkungen bei der Spielfi lmrezeption auf verschie-denen Ebenen entstehen und in Interaktion zueinander treten. Gerade diese Inter-aktionen sollen mit Hilfe des affektiven Feldes erfasst werden. Für analytische Zwecke unterscheide ich hierbei zwischen affektiven Mikro- und Makrofeldern, also zwischen Feldern, die im Rahmen von Episoden, Segmenten oder Sequenzen auftreten, und Feldern, die sich über einen ganzen Film erstrecken und sich aus dem Zusammenspiel affektiver Mikrofelder konstituieren können. Welche Felder jeweils betrachtet werden, hängt vom gewählten Analysefokus ab. Das Konzept des affektiven Feldes dient demnach dazu, nicht nur einzelne affektive Reaktionen zu betrachten, sondern auch deren Interaktion und gegenseitige Beeinfl ussung zu analysieren.

Wie können diese Interaktionen mit Hilfe affektiver Felder nun erfasst werden? Hierzu unterscheide ich zunächst zwischen mentalen Verarbeitungsstrukturen und fi lmischen Strukturen. Die fi lmischen Strukturen sprechen mentale Verarbei-tungsstrukturen an und erzeugen dadurch affektive Reaktionen. Sowohl bei den fi lmischen als auch bei den mentalen Verarbeitungsstrukturen können verschie-dene Ebenen ausdifferenziert werden. Bei den mentalen Strukturen sind dies die Verarbeitungsprozesse auf der Ebene der Reiz-Reaktionsmuster, der Schemaebene und der symbolischen Ebene, wobei Bewertungsprozesse auf allen drei Ebenen

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ansetzen können. Die fi lmischen Strukturen unterteile ich in drei Darstellungsebe-nen: Die Ebene des Dargestellten (z.B. Themen, Figuren, Schauplätze), die Ebene der Darstellungsweise (z.B. Narration, Figurenkonstruktion, Genremuster) und die Ebene der Darstellungsmittel (z.B. Kamera, Montage). Dabei handelt es sich um eine heuristische Unterscheidung für analytische Zwecke, um fi lmische Strukturen möglichst exakt beschreiben zu können, da die Darstellungsebenen immer in enger Beziehung zueinander stehen.

In affektiven Feldern sind dabei zahlreiche Interaktionen zwischen Verarbei-tungsebenen und Darstellungsebenen möglich, die durch mein Analysemodell genauer erfasst werden können. Zudem macht es das Modell möglich, auch Wech-selwirkungen zwischen affektiven Reaktionen, die im Rahmen affektiver Felder auftreten, zu beschreiben.

Für eine noch genauere Bestimmung der fi lmischen Strukturen und der Wech-selwirkung affektiver Wirkungen greife ich auf ein weiteres Konzept der russi-schen Formalisten zurück – das der Dominante. Mit dem Begriff der Dominante wird die exponierte Stellung einzelner struktureller Elemente oder einer Gruppe von Elementen bezeichnet. Die Erfassung von dominanten Strukturen ist ein wich-tiger erster Schritt bei der Anwendung meines Analysemodells. Zu klären ist, wel-che Differenzqualitäten als dominante Strukturen fungieren und welche affektiven Wirkungen potentiell von diesen dominanten Strukturen ausgehen. Dominanten können dabei zum einen auf verschiedenen Darstellungsebenen auftreten, zum anderen sich im Verlauf eines Films verändern, z.B. dadurch, dass die Funktion einer dominanten Struktur erkannt wird, sich also gleichsam innerhalb des Films während der Rezeption ‚neue Konventionen‘ herausbilden, die für den analysierten Film Geltung haben.

Bei einer Analyse müssen demnach Dominanzverhältnisse – das heißt, in welchem Bezug dominante Strukturen zu anderen dominanten oder nicht-domi-nanten fi lmischen Strukturen stehen – und Dominanzverläufe bestimmt werden. Grundlegende Analysefragen bei Filmen, die von klassischen Mustern abweichen, sind daher, welche Differenzqualitäten, also welche unkonventionellen fi lmischen Strukturen, als dominant auftreten und wie sie das affektive Erleben des Films beeinfl ussen. Die Analyse affektiver Felder, dominanter Strukturen, Dominanz-verhältnisse und Dominanzverläufe dient letztlich dazu, die affektiven Potentiale eines Films, sein ‚affektives Möglichkeitsfeld‘ auszuloten.

Kapitel 7 fasst die in den vorangehenden Kapiteln dargelegten theoretischen Überlegungen in Form von Thesen nochmals kompakt zusammen, denen im fol-genden Kapitel mit Hilfe des entwickelten Analysemodells anhand konkreter Fall-beispiele nachgegangen werden soll. Eine der grundlegenden Thesen bildet hier-bei die Annahme, dass Spielfi lme, die von klassischen Mustern abweichen, also

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Differenzqualitäten aufgrund ihrer stilistischen Konstruktion aufweisen, nicht emotionslos, distanziert und rein intellektuell rezipiert werden, sondern von ih-nen vielmehr, verglichen mit klassisch konstruierten Filmen, eine ‚andersartige‘ affektive Wirkung ausgeht. Diese Wirkung wird dabei nicht allein durch die in der fi ktionalen Welt auftretenden Themen und Figuren erzeugt, sondern auch durch die spezifi sche, unkonventionelle stilistische Konstruktion der betreffenden Spiel-fi lme.

Als Korpus, an dem diese Annahme bestätigt werden soll, dienen Filme der sogenannten ‚Berliner Schule‘, die ich in Kapitel 8 mit meinem Analysemodell untersuchen werde. Die Berliner Schule entstand ab Mitte der 1990er Jahre in Deutschland. Zu ihr werden Regisseure wie Thomas Arslan, Angela Schane-lec, Christian Petzold, Henner Winckler, Valeska Grisebach, Ulrich Köhler oder Christoph Hochhäusler gezählt, die sich meist explizit als Autorenfi lmer verstehen. Als Korpus zur Überprüfung der Ausgangsthese sind ihre Filme unter anderem deshalb geeignet, weil sie deutliche Differenzqualitäten auf allen Darstellungsebe-nen aufweisen, etwa in ihrer Narration, der Kameraästhetik, der Montage – also in ihrer stilistischen Konstruktion. Zudem werden sie von der Kritik – obwohl meist sehr wohlwollend aufgenommen – häufi g als zu intellektuell, ‚verkopft‘ und emo-tionslos beschrieben, was ich durch meine Analysen widerlegen oder zumindest relativieren werde.

Die Filme der Berliner Schule eignen sich somit aus mehreren Gründen als Fallbeispiele für die Anwendung meines Analysemodells und zur Überprüfung der Ausgangsthese. So tendieren sie im Feld der Differenzqualitäten ganz offen-sichtlich zum Pol des Autorenfi lms und weisen daher potentiell deutliche Diffe-renzqualitäten und signifi kante dominante Strukturen auf. Durch diese auffällige, unkonventionelle stilistische Gestaltung lässt sich gut aufzeigen, dass affektive Wirkungen nicht nur von Figuren und Themen, sondern auch von stilistischen Konstruktionen ausgehen. Schließlich weist die beschriebene Rezeption durch die Filmkritik bereits darauf hin, dass die Filme der Berliner Schule wohl ein ‚anders-artiges‘ affektives Erleben erzeugen.

Zu Beginn des 8. Kapitels werde ich zunächst einen kurzen Überblick über die Berliner Schule, ihre Entstehung und ihre Situierung im kulturellen Kontext geben. Daran anschließend werde ich mich vier konkreten Analysebeispielen widmen: Thomas Arslans DER SCHÖNE TAG (D 2001), Angela Schanelecs MEIN LANGSAMES LEBEN (D 2001), Christian Petzolds GESPENSTER (D/F 2005) und Valeska Grise-bachs SEHNSUCHT (D 2006). Bei jedem der Beispielfi lme werde ich zunächst dessen Entstehung und Kontext kurz skizzieren, bevor ich in einem ersten Arbeitsgang die jeweilige Erzählstruktur analysiere. Anhand der Darstellung der Erzählstruktur lassen sich spezifi sche Differenzqualitäten und dominante Strukturen bereits er-

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kennen. Im nächsten Schritt gehe ich auf verschiedene exemplarische, jedoch für den Film charakteristische dominante Strukturen ein. Darauf aufbauend werde ich unter Anwendung meines Analysemodells verschiedene, wiederum exemplarische affektive Mikro- und Makrofelder näher betrachten und ausdifferenzieren, wie in den Feldern fi lmische Strukturen interagieren und dadurch affektive Wirkungen erzeugen und wie wiederum diese affektiven Wirkungen innerhalb der Felder in Wechselwirkungen treten und dadurch die affektive Gesamtwirkung des Films erzeugen. Diese affektive Gesamtwirkung und damit auch die Interaktion der af-fektiven Mikro- und Makrofelder untereinander werde ich abschließend zu jeder Analyse des Beispielfi lms zusammenfassend beschreiben.

Durch die Analysen werden zum einen Gemeinsamkeiten, aber auch Unter-schiede der Filme erkennbar, wodurch auch ihre Zugehörigkeit zu einer gemein-samen ‚Schule‘ kritisch hinterfragt werden kann. Zum anderen wird sich zeigen, dass die analysierten Filme spezifi sche affektive Möglichkeitsfelder aufweisen, sie also nicht nur rein intellektuell und distanziert vom Zuschauer rezipiert wer-den, sondern bei ihm ein ‚andersartiges‘ affektives Erleben erzeugen, das auf die jeweiligen dominanten Strukturen und Differenzqualitäten zurückgeführt wer-den kann.

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2Filmrezeption und aff ektives Erleben

Bereits seit seiner Entstehung ist das Medium ‚Film‘ eng mit dem Erleben von Emotionen verbunden. Tom Gunning spricht in Bezug auf den frühen Film von einem „Kino der Attraktionen“, bei dem noch weniger das Erzählen von Geschich-ten und die Erzeugung einer kohärenten fi ktionalen Welt im Mittelpunkt standen, sondern das vielmehr die neuen Möglichkeiten und die neue Technik des Films zur Schau stellte (vgl. Gunning 1996). Es sollte ein Spektakel vor den Augen des Zuschauers entstehen, das seine Aufmerksamkeit fordert, seine visuelle Neugier weckt und nicht zuletzt – Vergnügen bereitet. Bis heute bleibt das affektive Erleben ein elementarer Bestandteil der Rezeption von Filmen, auch wenn mittlerweile die präsentierten Geschichten einen wesentlich höheren Anteil am Filmvergnügen haben als zu Frühzeiten des Kinos, ja in der Regel sogar im Zentrum der Aufmerk-samkeit des Zuschauers stehen. Emotionen zu erfahren wird von den Rezipienten eines Spielfi lms erwartet und das ‚affektive Erleben‘, das durch Filme hervorgeru-fen wird, bildet einen der Hauptgründe, warum diese rezipiert werden.

Trotz dieser zentralen Stellung von Emotionen im Rahmen des Filmerlebens wurden die affektiven Aspekte der Filmrezeption in der theoretischen Beschäf-tigung mit Film lange Zeit vernachlässigt. Eine systematische fi lmtheoretische Refl exion affektiver Prozesse, die während der Filmrezeption auftreten, fand größtenteils nicht statt. Als Ausnahmen und Beispiele für eine frühe Auseinander-setzung mit diesem Themenfeld sind Hugo Münsterberg, Rudolf Arnheim, Jean Epstein oder Sergei Eisenstein zu nennen (vgl. Tröhler/Hediger 2005, 7). Vor allem Eisenstein hat sich Zeit seines Lebens in seinem praktischen künstlerischen Schaf-fen und seinen theoretischen Ausführungen zu Film und Kunst mit Emotionen auf Seiten des Zuschauers beschäftigt, etwa im Zusammenhang mit seinen Überle-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018T. Schick, Filmstil, Differenzqualitäten, Emotionen, Film,Fernsehen, Medienkultur, DOI 10.1007/978-3-658-19143-6_2

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18 2 Filmrezeption und aff ektives Erleben

gungen zum ‚Pathos‘, die sich bis in sein Spätwerk ziehen. Nicht von ungefähr ent-lehnt Gunning den Begriff der ‚Attraktion‘ von Eisenstein. So schreibt Eisenstein bereits 1924 in seiner Defi nition von ‚Attraktion‘:

„Eine Attraktion […], wie wir sie verstehen, ist jeder zu demonstrierende Fakt (jede Handlung, jeder Gegenstand, jede Erscheinung, jede bewußte Kombination), der durch Druckausübung eines bestimmten Effekts auf die Aufmerksamkeit und Emo-tion des Zuschauers überprüft und bekannt wurde und der, kombiniert mit anderen, dazu geeignet ist, die Emotion des Zuschauers in diese eine oder in eine andere, vom Ziel der Aufführung diktierten Richtung hin zu verdichten.“ (Eisenstein 1988b, 18)

Auch wenn diese Defi nition deutlich von behavioristischen Auffassungen geprägt ist und heute etwas ‚mechanistisch‘ wirkt, sind an ihr vor allem zwei Aspekte inte-ressant: Zum einen postuliert Eisenstein, dass Emotionen durch den Film gelenkt werden, zum anderen setzt er Aufmerksamkeit und Emotionen in einen Zusam-menhang und sieht sie nicht als sich gegenseitig ausschließend an. Emotionen len-ken demnach nicht die Aufmerksamkeit ab, sondern vielmehr in eine bestimmte Richtung. Denken und Fühlen werden hier nicht als antagonistische Pole gedacht, sie sind miteinander verzahnt und bedingen sich gegenseitig.

Erst in den 1990er Jahren setzt schließlich eine systematische Beschäftigung mit dem Thema Emotion in der Filmtheorie ein, bei der diese Aufhebung des Gegensatzes von Denken und Fühlen, von Emotion und Verstand wiederum eine zentrale Rolle spielt. Tröhler und Hediger weisen darauf hin, dass dieses verstärk-te Interesse für den Zusammenhang von Emotionalität und Film „eine allgemei-ne Tendenz in den Geistes- und Kulturwissenschaften spiegelt“ (Tröhler/Hediger 2005, 7). Ihr kurzer historischer Abriss der Entwicklung der Filmwissenschaft mündet in eine für sie spekulative, aber dennoch durchaus plausibel erscheinende Erklärung für diese in den letzten Jahren deutlich verstärkte Aufmerksamkeit hin-sichtlich emotionaler Prozesse:

„Es fällt auf, dass die Wendung hin zur Emotion einhergeht mit einer Krise ge-sellschafts- und kommunikationstheoretischer Modelle, die in erster Linie auf die Verständigungsleistungen eines vernunftgeleiteten Diskurses abstellen. Tatsächlich wird die integrative Kraft der emotionalen Anteilnahme theoriefähig in dem Mass [sic!], in dem sich erweist, dass der vernünftige Diskurs allein die Lösung der Kon-fl ikte nicht (mehr) bewerkstelligen kann, die sich charakteristischerweise in moder-nen Gesellschaften ergeben.“ (Tröhler/Hediger 2005,17)

Auch wenn sich somit nicht zuletzt in der Filmwissenschaft dieser Trend zur Be-schäftigung mit affektiven Prozessen abzeichnet, sind die einzelnen, sich entwi-