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52 WISSENSCHAFT FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 2. JANUAR 2011, NR. 52 55 D arf es das „Neue Hausbuch der Ge- sundheit“ sein, „Die magische 11 der Ho- möopathie“? Oder doch lieber der neue Ratgeber zur „Säure-Basen-Balance“? Gerade am Jahresanfang haben derlei popu- läre Sachbücher enorme Konjunk- tur. Denn die guten Vorsätze sind noch frisch, und beim Kauf fühlt man sich, als ob man es schon fast geschafft hätte, das eigene Leben nachhaltig auf den Gesund-Modus umzustellen. Etwas Gelassenheit gegenüber den allerneuesten Trends kann da- bei nicht schaden. In einem vor fast 1000 Jahren erschienenen und in den Jahrhunderten darauf oftmals neu aufgelegten Werk sind nicht nur die Abbildungen viel besser. Man kann dort auch kurze und knappe Gesundheitstipps finden, die so aktuell, nachvollziehbar und ganzheitlich klingen, dass die druck- frischen Ratgeber-Ausgaben sich ei- niges bei dem Autor abschauen könnten. Die Rede ist von Abu l-Hasan al-Muchtar ibn al-Hasan ibn Abdun ibn Sadun ibn Butlan, den schon seine Zeitgenossen lie- ber kurz und knapp Ibn Butlan nannten. Ibn Butlan wurde irgendwann um die vorletzte Jahrtausendwende als Kind nestorianisch-christlicher Eltern in Bagdad geboren – damals die wichtigste Wissenschaftsstadt des Erdkreises. Er wurde Arzt, be- reiste die Welt, um sich weiterzubil- den, und stritt sich immer wieder erbittert mit seinem Kollegen Ibn Ritwan: darüber beispielsweise, ob das Fleisch von Küken im medizini- schen Sinne als „heißer“ eingestuft werden müsse als das von Hennen, was gar nicht lustig, sondern eine philosophisch und medizinisch fun- damentale Frage war: Nach der da- mals verbreiteten „Säftelehre“ dient diese Einstufung der Ermitt- lung einer optimalen Diät im Krankheitsfall. Schließlich ging Ibn Butlan in ein Kloster und schrieb Bücher, dar- unter „Taqwim al-Sihhah“, später bekannt geworden unter dem latei- nischem Titel „Tacuinum sanita- tis“. Es ist das erste überlieferte Sachbuch, mit dem ein Autor ganz bewusst versucht, knapp, einfach, anwendbar und allgemeinverständ- lich das medizinische Wissen der Klassiker und seiner eigenen Zeit zusammenzufassen. Und das kann man getrost als literarische Revolu- tion bezeichnen. Ibn Butlan erspart seinen Lesern allen theoretischen Ballast aus den enzyklopädischen Abhandlungen von Autoren wie Galen, Dioskori- des oder Hippokrates und dessen Schülern. Die Öffentlichkeit, hat er erkannt, ist der Ausführungen der Gelehrten und ihrer vielen Essays müde. Was der Mensch von der Wissenschaft wolle, sei „Hilfe – und nicht Demonstrationen und Definitionen“, weshalb er versu- che, „lange Abhandlungen zu kür- zen“ und „verschiedene Ansichten zusammenzuführen“. Er ordnet die Informationen tabellenartig – eine Methode, die Ptolemäus einst für mathematische Abhandlungen ein- geführt, die aber in dieser Form nie jemand für ein medizinisches The- ma angewandt hatte. Und er widmet sich nicht allein den klassischen Heilmitteln aus Pflanzen-, Tier- und Mineralien- reich, sondern der gesamten physi- schen und psychischen Umwelt. So hält er nicht nur fest, dass etwa Ha- selnüsse „gut für das Gehirn“ sind – was auch heutige Mediziner ange- sichts ihres Gehalts an Ome- ga-3-Fettsäuren und dergleichen problemlos unterschreiben wür- den. Sondern er geht auch auf Kli- ma, sportliche Aktivität und zwi- schenmenschliche Beziehungen ein. Und bezieht sich dabei auf ei- nen therapeutischen Ansatz, den es in der altgriechischen medizini- schen Tradition in Gestalt der „Diaita“ schon einmal gegeben hat- te, der aber in Vergessenheit gera- ten war. In der Frührenaissance ins Latei- nische und später auch ins Deut- sche als „Schautafeln der Gesund- heit“ übersetzt, wurde Ibn Butlans Schrift zum ersten umfassenden und international publizierten Life- style-Ratgeber überhaupt. Die Ab- bildungen auf diesen Seiten stam- men aus einem Prachtmanuskript, das unter der Signatur MS Latin 9333 in weißes Schweinsleder gebun- den in der Französischen National- bibliothek in Paris liegt und jetzt als Faksimile im spanischen Verlag Moleiro neu erschienen ist. Wahr- scheinlich wurde es für Eberhard im Bart (1445-1496), den seit 1495 re- gierenden ersten Herzog von Würt- temberg und Teck, oder dessen El- tern angefertigt. Wann das war, ist unklar. Fritz Koreny vom Institut für Kunstgeschichte der Universi- tät Wien ordnet den Stil der Minia- turen in die Zeit zwischen 1460 und 1470 ein, während Eberhard König von der Freien Universität Berlin und Stephan Kemperdick vom Frankfurter Städel einen Zeitraum etwa 50 Jahre früher vermuten. Man kann allerdings darüber spe- kulieren, ob Ibn Butlan sich im Grab herumgedreht hätte, wäre ihm diese Version seines Werkes je zu Gesicht gekommen. Denn nicht nur das von ihm als Innovation ein- geführte tabellarische Format ist in dieser wie in den anderen bekann- ten Abschriften verschwunden – auch die schon beim Autor kompri- mierten Informationen sind weiter vereinfacht. Er selbst heißt plötz- lich aufgrund eines fortgeschriebe- nen Übersetzungsfehlers „Elboca- sim von Baldach“, und der eigentli- che Text wird von den Bildern bei weitem in den Schatten gestellt. Kein Zufall: Diese Illustrationen sind nicht nur atemberaubend schön, sondern zum Teil auch gera- dezu frivol mit ihren sich unter Mis- peln oder in den Auberginen ent- kleidenden Paaren mit eindeutigen Absichten, gefährlich rutschenden Bauernhosen und halbwahnsinnig dreinschauenden Busengrapschern. Gerade dieses Manuskript, so schrieb einst der Kunsthistoriker Otto Pächt, sei wie kein anderes Ta- cuinum voller realistischer Darstel- lungen, die vor subtilem Charme geradezu übersprudelten. Aus heutiger Sicht gehört zu die- sem Reiz sicher auch die Kreativi- tät, die der unbekannte Künstler bei Themen offenbart, die er nicht aus eigener Anschauung kannte. Während in anderen Manuskripten manche Seiten ohne Illustration blieben, weil die Künstler nicht recht wussten, was sie malen soll- ten, ließ der schwäbische Meister in solchen Fällen seiner Phantasie freien Lauf. Eine Bananenstaude etwa, da- mals im Württembergischen unge- fähr so verbreitet wie in Karl- Marx-Stadt zu DDR-Zeiten, sieht bei ihm aus wie eine stilisierte Aga- ve mit Früchten, die eher an ver- kehrt herum gewachsene rote Bir- nen erinnern. Auch von Trüffeln wusste der Künstler wohl nur, dass es sich bei ihnen um etwas Pilzarti- ges handelte und zeichnete prompt ein paar riesige Scheiben, die ein Jüngling von einem Felsen pflückt. Und auch viele der eroti- schen Darstellungen fließen dem Künstler aus dem Pinsel, ohne dass der Begleittext auch nur die geringste aphrodisierende Wir- kung erwähnt. Die Erfolgs- und Editionsgeschichte des Tacuinum sanitatis über die Jahrhunderte kann nicht nur Buchliebhaber ins Staunen versetzen. Sie erzählt auch beispielhaft die Wissen- schaftsgeschichte des Mittelalters nach, deren Zentren die islami- schen, oft von Toleranz und philo- sophisch-religiöser Vielfalt gepräg- ten Metropolen Arabiens und des Nahen Ostens waren. Dort wur- den die lateinischen und grie- chischen Klassiker ins Arabische übersetzt, von den Gelehrten wie Ibn Butlan oder auch dem besser als Avicenna bekannten Ibn Sina diskutiert, neu interpretiert und philosophisch sowie empirisch er- gänzt. Die dabei entstandenen Schriften fanden in der frühen Re- naissance ihren Weg über Sizilien nach Italien, in die deutschen Fürs- tentümer und nach Frankreich, wo sie übersetzt und zeitgemäß ediert und illustriert wurden. Wie so häufig bei Manuskripten aus jener Zeit ist die Vorlage, die der deutsche Künstler benutzt ha- ben muss, heute nicht mehr auffind- bar. Ein ähnliches Manuskript, das ebenfalls als Faksimile erhältliche „Wiener Tacuinum“, ist wahr- scheinlich Jahrzehnte zuvor in Ita- lien entstanden, und sein Künstler nutzte dieselbe Vorlage, die mögli- cherweise danach über die Alpen nach Württemberg gelangte. Die aufwendig illustrierten Aus- gaben des Tacuinum sanitatis wur- den lange als pure Unterhaltungsbü- cher der herrschenden Klasse ange- sehen, Kunstwerke, deren Besitzes man sich gerne pries, deren Inhalt aber bestenfalls sekundär war. Der Medizinhistoriker Alain Touvaide von der Smithsonian Institution in Washington, der sich mit allen be- kannten Ausgaben beschäftigt hat, widerspricht allerdings dieser An- sicht. Sie waren, so schreibt Touwai- de, bei denen, die sie besaßen, „für den täglichen Gebrauch gedacht, als illustrierte medizinische Lehrbü- cher“. Die jahrhundertealten Rat- schläge galten auch in Zeiten neu- en wissenschaftlich-medizinischen Aufbruchs noch als korrekt. Und heute? Was selbst Ökotro- phologen und Sozial- und Umwelt- mediziner an Ibn Butlans Zusam- menfassung des Medizin-Wissens vor 1000 Jahren überrascht, sind die zahlreichen Übereinstimmun- gen mit aktuellen Lehrmeinungen – und der den ganzen Menschen berücksichtigende Ansatz. Für den Autor aus Bagdad ist die richtige Ernährung ebenso wichtig wie Sport, ausreichend Schlaf, Klei- dung, zuträgliches Klima, gesunde Heizung und Wohnung. Wie selbstverständlich handelt der mit- telalterliche Autor Aspekte ab, die sich in der modernen Pharmakolo- gie erst durchzusetzen beginnen, seitdem die Genomforschung Er- klärungen dafür gefunden hat – etwa die je nach individueller Kon- stitution, Umweltbedingungen, Jah- reszeit oder individuellem Alter un- terschiedliche Wirksamkeit von Substanzen. Ibn Butlan charakteri- siert sie, nennt ihre Wirkungen und Nebenwirkungen und auch Mittel gegen diese Nebenwirkun- gen, so dass sich die Texte desBu- ches heute wie die gesammelten Beipackzettel der wichtigsten Fakto- ren von Natur und Lebensumwelt lesen. Auch Besonderheiten der menschlichen Physiologie, über de- ren Natur und Zweck Wissenschaft- ler bis heute rätseln, beschreibt er, als ob er den jüngsten Review in ei- ner Fachzeitschrift zusammenfas- sen würde. Schlaf etwa ist für ihn nicht ein Ruhen des Gehirns, son- dern allein ein Ruhen der Sinne – eine Erkenntnis, zu der die Schlaf- forscher des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nach unzähligen Tierversuchen, Hippocampus-Prä- paraten und Tomographie-Scans menschlicher Gehirne inzwischen auch gekommen sind. Und Schlaf hat, wie Granatäpfel, Wein, Brot, Salz und all die anderen Nahrungs- mittel ebenso positive oder negati- ve Wirkungen auf die Gesundheit. Sogar irdisches „Glück“ selbst, im Manuskript des württembergischen Herzogs dargestellt durch ein Paar in Erwartung von Nachwuchs, ist nicht nur legitimes Ziel, sondern hat für sich wieder Rückwirkun- gen. Liest man die kurzen Ausfüh- rungen zu diesem Thema, kom- men sie einem wie die Zusammen- fassung eines modernen Psycholo- giebuches vor: Dass Glück gut für traurige Menschen ist, klingt noch fast banal, dass es im Übermaß zum Tode führt allerdings, ist offen- sichtlich nichts anderes als eine Warnung vor manischen Zustän- den. Und dass man diese Nebenwir- kung am besten vermeiden kann, wenn man sich mit „weisen Men- schen“ umgibt, könnte in leicht ab- gewandelter Formulierung auch heute noch Ergebnis eines Thera- piegespräches sein. Die menschliche Umwelt ordnet Ibn Butlan in sechs Kategorien von durch den Menschen beeinflussba- ren Faktoren: Luft, Essen und Trin- ken, Bewegung und Ruhe des Kör- pers, Schlaf, die Körpersäfte sowie Gefühle wie Freude und Furcht. Der Mensch ist für ihn charakteri- siert durch eine „labile Natur“ und muss deshalb stetig versuchen, ein inneres Gleichgewicht und ein Gleichgewicht mit seiner Umwelt zu bewahren: „Die Erhaltung der Gesundheit liegt in der Balance, ihre Störung erzeugt Krankheit.“ Und wer Ibn Butlans Buch liest, fin- det dort das Wissen seiner Zeit über die Stellschrauben dieses Gleichgewichts – und sogar, wie man an ihnen dreht. Modern ist er auch, wenn er ein- räumt, dass sein Werk trotz all der in ihm enthaltenen Weisheit der „Besten unter den Alten“ sicher nicht ohne Fehler sei und Gott hel- fen möge, diese zu korrigieren. Im arabischen Original fordert Ibn Butlan nachfolgende Medizi- ner- und Forschergenerationen so- gar dazu auf, Unklarheiten durch ri- gorose Experimente auszuräumen und die Ratschläge, wenn es sein muss, zu korrigieren. Derlei ver- misst man in heutigen Gesund- heits- oder Ernährungsratgebern nur allzu oft. Ein Faksimile der Pariser Handschrift des „Tacuinum Sanitatis ist jetzt im Verlag M. Moleiro (Barcelona) erschienen. Ihm sind die Abbildungen auf dieser Seite entnom- men. Im Internet: www.moleiro.com. Ein stark verkleinertes Faksimile von ei- ner der Wiener Handschriften des „Tacui- num sanitatis“ liegt bei der Akademischen Druck- und Verlagsanstalt (Graz) vor: www.adeva.com. Wer im neuen Jahr sein Leben ändern will, kann sich an die üblichen Ratgeber halten. Oder zu einem tausend Jahre alten Buch greifen, dem erstaunlich modernen „Tacuinum sanitatis“ des arabischen Arztes Ibn Butlan. Von Richard Friebe Süße Milch ist gut für Brust und Lunge, schlecht bei Fieber und Kopfschmerz, wenn sie nicht zusammen mit kernlosen Trauben genossen wird. Erbrechen reinigt den Magen, schadet ihm aber auch und den Augen gleich mit. Die Dame demonstriert den Ausweg: Augen zuhalten! Abendgespräche dienen der Verdauung, verwirren aber, wenn zu viele re- den. Die Lösung? Einfach allen außer einem den Mund verbieten. Sommerkammern sollten feucht und kühl sein, um ihren Bewohnern ein gesundes Frühlingsklima zu verschaffen: Das ist gut für die Verdauung. Alle Abbildungen aus: Ibn Butlan, „Tacuinum Sanita- tis“. Faksimile. Verlag M. Moleiro, Barcelona. Die Alraune hilft, wenn man an ihr riecht, gegen Kopfschmerzen und Schlaflo- sigkeit, stumpft aber die Sinne ab. Der Nordwind bläst den Kopf frei, führt aber zu Brustschmerzen und Husten. Baden und passende Kleidung, rät Ibn Butlan. Beischlaf dient der Erhaltung der menschlichen Spezies. Ibn Butlan empfiehlt ihn Heranwachsenden, rät aber Impotenten davon ab. Birnen fördern einen schwachen Magen, behindern aber die Gallenfunk- tionen. Gegenmittel: Knoblauch direkt nach dem Frühstück. Weißbrot nährt, führt jedoch zu Verstopfungen, wenn es nicht gut durch- säuert ist. Empfohlen wird es immer, überall und jedem. Knoblauch hilft gegen Skorpione und Würmer, doch er schadet Augen und Hirn, glaubt Ibn Butlan. Außer, wenn man Essig und Öl zugibt. Glück ist gut für Traurige und Labile, weiß Ibn Butlan, kann aber auch den ums Leben bringen, der sich den Glücksmomenten allzu oft hingibt. Wichtig sind die richtigen Sozialkontakte, „das Wohnen mit den Weisen“. Und der Maler der Pariser Handschrift zeigt deutlich, was für ihn Glück bedeutet: Ein idyllischer Ort im Einklang mit der Natur, Vogelgesang – und die Hoffnung auf Nachwuchs. Der Winter lindert Gallenleiden und stärkt die Verdauung. Leider befördert er Stoffwechselstörungen. Ausweg: ordentlich heizen! Zu viel Glück ist auch nicht gut Nüsse machen warmes Blut, wirken gegen Zahnschmerzen und Gift. Wer keine Pusteln im Mund bekommen will, sollte weiße Mohnkörner dazuessen. Sauerkirschen nehmen der Galle die Schärfe, schaden freilich Nerven und Zähnen. Antidot: süße Mandeln und Weintrauben. Seide, besonders die aus dem Orient, hält warm. Weniger gut ist, wenn sie zu sehr wärmt. Daher rät Ibn Butlan zu Unterwäsche aus Leinen. Der Autor Ibn Butlan, wie man ihn sich im 15. Jahrhundert vorstellte

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Darf es das „NeueHausbuch der Ge-sundheit“ sein, „Diemagische 11 der Ho-möopathie“? Oder

doch lieber der neue Ratgeber zur„Säure-Basen-Balance“? Geradeam Jahresanfang haben derlei popu-läre Sachbücher enorme Konjunk-tur. Denn die guten Vorsätze sindnoch frisch, und beim Kauf fühltman sich, als ob man es schon fastgeschafft hätte, das eigene Lebennachhaltig auf den Gesund-Modusumzustellen.

Etwas Gelassenheit gegenüberden allerneuesten Trends kann da-bei nicht schaden. In einem vor fast1000 Jahren erschienenen und inden Jahrhunderten darauf oftmalsneu aufgelegten Werk sind nichtnur die Abbildungen viel besser.Man kann dort auch kurze undknappe Gesundheitstipps finden,die so aktuell, nachvollziehbar undganzheitlich klingen, dass die druck-frischen Ratgeber-Ausgaben sich ei-niges bei dem Autor abschauenkönnten. Die Rede ist von Abul-Hasan al-Muchtar ibn al-Hasanibn ‘Abdun ibn Sa‘dun ibn Butlan,den schon seine Zeitgenossen lie-ber kurz und knapp Ibn Butlannannten.

Ibn Butlan wurde irgendwannum die vorletzte Jahrtausendwendeals Kind nestorianisch-christlicherEltern in Bagdad geboren – damalsdie wichtigste Wissenschaftsstadtdes Erdkreises. Er wurde Arzt, be-reiste die Welt, um sich weiterzubil-den, und stritt sich immer wiedererbittert mit seinem Kollegen IbnRitwan: darüber beispielsweise, obdas Fleisch von Küken im medizini-schen Sinne als „heißer“ eingestuftwerden müsse als das von Hennen,was gar nicht lustig, sondern einephilosophisch und medizinisch fun-damentale Frage war: Nach der da-mals verbreiteten „Säftelehre“dient diese Einstufung der Ermitt-lung einer optimalen Diät imKrankheitsfall.

Schließlich ging Ibn Butlan inein Kloster und schrieb Bücher, dar-unter „Taqwim al-Sihhah“, späterbekannt geworden unter dem latei-nischem Titel „Tacuinum sanita-tis“. Es ist das erste überlieferteSachbuch, mit dem ein Autor ganzbewusst versucht, knapp, einfach,anwendbar und allgemeinverständ-lich das medizinische Wissen der

Klassiker und seiner eigenen Zeitzusammenzufassen. Und das kannman getrost als literarische Revolu-tion bezeichnen.

Ibn Butlan erspart seinen Lesernallen theoretischen Ballast aus denenzyklopädischen Abhandlungenvon Autoren wie Galen, Dioskori-des oder Hippokrates und dessenSchülern. Die Öffentlichkeit, hat ererkannt, ist der Ausführungen derGelehrten und ihrer vielen Essaysmüde. Was der Mensch von derWissenschaft wolle, sei „Hilfe –und nicht Demonstrationen undDefinitionen“, weshalb er versu-che, „lange Abhandlungen zu kür-zen“ und „verschiedene Ansichtenzusammenzuführen“. Er ordnet dieInformationen tabellenartig – eineMethode, die Ptolemäus einst fürmathematische Abhandlungen ein-geführt, die aber in dieser Form niejemand für ein medizinisches The-ma angewandt hatte.

Und er widmet sich nicht alleinden klassischen Heilmitteln ausPflanzen-, Tier- und Mineralien-reich, sondern der gesamten physi-schen und psychischen Umwelt. Sohält er nicht nur fest, dass etwa Ha-selnüsse „gut für das Gehirn“ sind– was auch heutige Mediziner ange-sichts ihres Gehalts an Ome-ga-3-Fettsäuren und dergleichenproblemlos unterschreiben wür-den. Sondern er geht auch auf Kli-ma, sportliche Aktivität und zwi-schenmenschliche Beziehungenein. Und bezieht sich dabei auf ei-nen therapeutischen Ansatz, den esin der altgriechischen medizini-schen Tradition in Gestalt der„Diaita“ schon einmal gegeben hat-te, der aber in Vergessenheit gera-ten war.

In der Frührenaissance ins Latei-nische und später auch ins Deut-sche als „Schautafeln der Gesund-heit“ übersetzt, wurde Ibn ButlansSchrift zum ersten umfassendenund international publizierten Life-style-Ratgeber überhaupt. Die Ab-bildungen auf diesen Seiten stam-men aus einem Prachtmanuskript,das unter der Signatur MS Latin9333 in weißes Schweinsleder gebun-den in der Französischen National-bibliothek in Paris liegt und jetztals Faksimile im spanischen VerlagMoleiro neu erschienen ist. Wahr-scheinlich wurde es für Eberhardim Bart (1445-1496), den seit 1495 re-gierenden ersten Herzog von Würt-

temberg und Teck, oder dessen El-tern angefertigt. Wann das war, istunklar. Fritz Koreny vom Institutfür Kunstgeschichte der Universi-tät Wien ordnet den Stil der Minia-turen in die Zeit zwischen 1460 und1470 ein, während Eberhard Königvon der Freien Universität Berlinund Stephan Kemperdick vomFrankfurter Städel einen Zeitraumetwa 50 Jahre früher vermuten.

Man kann allerdings darüber spe-kulieren, ob Ibn Butlan sich imGrab herumgedreht hätte, wäreihm diese Version seines Werkes je

zu Gesicht gekommen. Denn nichtnur das von ihm als Innovation ein-geführte tabellarische Format ist indieser wie in den anderen bekann-ten Abschriften verschwunden –auch die schon beim Autor kompri-mierten Informationen sind weitervereinfacht. Er selbst heißt plötz-lich aufgrund eines fortgeschriebe-nen Übersetzungsfehlers „Elboca-sim von Baldach“, und der eigentli-che Text wird von den Bildern beiweitem in den Schatten gestellt.Kein Zufall: Diese Illustrationensind nicht nur atemberaubend

schön, sondern zum Teil auch gera-dezu frivol mit ihren sich unter Mis-peln oder in den Auberginen ent-kleidenden Paaren mit eindeutigenAbsichten, gefährlich rutschendenBauernhosen und halbwahnsinnigdreinschauenden Busengrapschern.Gerade dieses Manuskript, soschrieb einst der KunsthistorikerOtto Pächt, sei wie kein anderes Ta-cuinum voller realistischer Darstel-lungen, die vor subtilem Charmegeradezu übersprudelten.

Aus heutiger Sicht gehört zu die-sem Reiz sicher auch die Kreativi-

tät, die der unbekannte Künstlerbei Themen offenbart, die er nichtaus eigener Anschauung kannte.Während in anderen Manuskriptenmanche Seiten ohne Illustrationblieben, weil die Künstler nichtrecht wussten, was sie malen soll-ten, ließ der schwäbische Meisterin solchen Fällen seiner Phantasiefreien Lauf.

Eine Bananenstaude etwa, da-mals im Württembergischen unge-fähr so verbreitet wie in Karl-Marx-Stadt zu DDR-Zeiten, siehtbei ihm aus wie eine stilisierte Aga-

ve mit Früchten, die eher an ver-kehrt herum gewachsene rote Bir-nen erinnern. Auch von Trüffelnwusste der Künstler wohl nur, dasses sich bei ihnen um etwas Pilzarti-ges handelte – und zeichneteprompt ein paar riesige Scheiben,die ein Jüngling von einem Felsenpflückt. Und auch viele der eroti-schen Darstellungen fließen demKünstler aus dem Pinsel, ohnedass der Begleittext auch nur diegeringste aphrodisierende Wir-kung erwähnt. Die Erfolgs- undEditionsgeschichte des Tacuinum

sanitatis über die Jahrhundertekann nicht nur Buchliebhaber insStaunen versetzen. Sie erzähltauch beispielhaft die Wissen-schaftsgeschichte des Mittelaltersnach, deren Zentren die islami-schen, oft von Toleranz und philo-sophisch-religiöser Vielfalt gepräg-ten Metropolen Arabiens und desNahen Ostens waren. Dort wur-den die lateinischen und grie-chischen Klassiker ins Arabischeübersetzt, von den Gelehrten wieIbn Butlan oder auch dem besserals Avicenna bekannten Ibn Sinadiskutiert, neu interpretiert undphilosophisch sowie empirisch er-gänzt. Die dabei entstandenenSchriften fanden in der frühen Re-naissance ihren Weg über Siziliennach Italien, in die deutschen Fürs-tentümer und nach Frankreich, wosie übersetzt und zeitgemäß ediertund illustriert wurden.

Wie so häufig bei Manuskriptenaus jener Zeit ist die Vorlage, dieder deutsche Künstler benutzt ha-ben muss, heute nicht mehr auffind-bar. Ein ähnliches Manuskript, dasebenfalls als Faksimile erhältliche„Wiener Tacuinum“, ist wahr-scheinlich Jahrzehnte zuvor in Ita-lien entstanden, und sein Künstlernutzte dieselbe Vorlage, die mögli-cherweise danach über die Alpennach Württemberg gelangte.

Die aufwendig illustrierten Aus-gaben des Tacuinum sanitatis wur-den lange als pure Unterhaltungsbü-cher der herrschenden Klasse ange-sehen, Kunstwerke, deren Besitzesman sich gerne pries, deren Inhaltaber bestenfalls sekundär war. DerMedizinhistoriker Alain Touvaidevon der Smithsonian Institution inWashington, der sich mit allen be-kannten Ausgaben beschäftigt hat,widerspricht allerdings dieser An-sicht. Sie waren, so schreibt Touwai-de, bei denen, die sie besaßen, „fürden täglichen Gebrauch gedacht,als illustrierte medizinische Lehrbü-cher“. Die jahrhundertealten Rat-schläge galten auch in Zeiten neu-en wissenschaftlich-medizinischenAufbruchs noch als korrekt.

Und heute? Was selbst Ökotro-phologen und Sozial- und Umwelt-mediziner an Ibn Butlans Zusam-menfassung des Medizin-Wissensvor 1000 Jahren überrascht, sinddie zahlreichen Übereinstimmun-gen mit aktuellen Lehrmeinungen– und der den ganzen Menschenberücksichtigende Ansatz. Für den

Autor aus Bagdad ist die richtigeErnährung ebenso wichtig wieSport, ausreichend Schlaf, Klei-dung, zuträgliches Klima, gesundeHeizung und Wohnung. Wieselbstverständlich handelt der mit-telalterliche Autor Aspekte ab, diesich in der modernen Pharmakolo-gie erst durchzusetzen beginnen,seitdem die Genomforschung Er-klärungen dafür gefunden hat –etwa die je nach individueller Kon-stitution, Umweltbedingungen, Jah-reszeit oder individuellem Alter un-terschiedliche Wirksamkeit vonSubstanzen. Ibn Butlan charakteri-siert sie, nennt ihre Wirkungen

und Nebenwirkungen und auchMittel gegen diese Nebenwirkun-gen, so dass sich die Texte des Bu-ches heute wie die gesammeltenBeipackzettel der wichtigsten Fakto-ren von Natur und Lebensumweltlesen.

Auch Besonderheiten dermenschlichen Physiologie, über de-ren Natur und Zweck Wissenschaft-ler bis heute rätseln, beschreibt er,als ob er den jüngsten Review in ei-ner Fachzeitschrift zusammenfas-sen würde. Schlaf etwa ist für ihnnicht ein Ruhen des Gehirns, son-dern allein ein Ruhen der Sinne –eine Erkenntnis, zu der die Schlaf-forscher des späten 20. und frühen21. Jahrhunderts nach unzähligenTierversuchen, Hippocampus-Prä-paraten und Tomographie-Scansmenschlicher Gehirne inzwischenauch gekommen sind. Und Schlafhat, wie Granatäpfel, Wein, Brot,Salz und all die anderen Nahrungs-mittel ebenso positive oder negati-ve Wirkungen auf die Gesundheit.Sogar irdisches „Glück“ selbst, imManuskript des württembergischen

Herzogs dargestellt durch ein Paarin Erwartung von Nachwuchs, istnicht nur legitimes Ziel, sondernhat für sich wieder Rückwirkun-gen. Liest man die kurzen Ausfüh-rungen zu diesem Thema, kom-men sie einem wie die Zusammen-fassung eines modernen Psycholo-giebuches vor: Dass Glück gut fürtraurige Menschen ist, klingt nochfast banal, dass es im Übermaßzum Tode führt allerdings, ist offen-sichtlich nichts anderes als eineWarnung vor manischen Zustän-den. Und dass man diese Nebenwir-kung am besten vermeiden kann,wenn man sich mit „weisen Men-schen“ umgibt, könnte in leicht ab-gewandelter Formulierung auchheute noch Ergebnis eines Thera-piegespräches sein.

Die menschliche Umwelt ordnetIbn Butlan in sechs Kategorien vondurch den Menschen beeinflussba-ren Faktoren: Luft, Essen und Trin-ken, Bewegung und Ruhe des Kör-pers, Schlaf, die Körpersäfte sowieGefühle wie Freude und Furcht.Der Mensch ist für ihn charakteri-siert durch eine „labile Natur“ undmuss deshalb stetig versuchen, eininneres Gleichgewicht und einGleichgewicht mit seiner Umweltzu bewahren: „Die Erhaltung derGesundheit liegt in der Balance,ihre Störung erzeugt Krankheit.“Und wer Ibn Butlans Buch liest, fin-det dort das Wissen seiner Zeitüber die Stellschrauben diesesGleichgewichts – und sogar, wieman an ihnen dreht.

Modern ist er auch, wenn er ein-räumt, dass sein Werk trotz all derin ihm enthaltenen Weisheit der„Besten unter den Alten“ sichernicht ohne Fehler sei und Gott hel-fen möge, diese zu korrigieren.

Im arabischen Original fordertIbn Butlan nachfolgende Medizi-ner- und Forschergenerationen so-gar dazu auf, Unklarheiten durch ri-gorose Experimente auszuräumenund die Ratschläge, wenn es seinmuss, zu korrigieren. Derlei ver-misst man in heutigen Gesund-heits- oder Ernährungsratgebernnur allzu oft.Ein Faksimile der Pariser Handschrift des„Tacuinum Sanitatis ist jetzt im Verlag M.Moleiro (Barcelona) erschienen. Ihm sinddie Abbildungen auf dieser Seite entnom-men. Im Internet: www.moleiro.com.Ein stark verkleinertes Faksimile von ei-ner der Wiener Handschriften des „Tacui-num sanitatis“ liegt bei der AkademischenDruck- und Verlagsanstalt (Graz) vor:www.adeva.com.

Wer im neuen Jahr sein Leben ändern will,kann sich an die üblichen Ratgeber halten.Oder zu einem tausend Jahre alten Buch greifen,dem erstaunlich modernen „Tacuinum sanitatis“des arabischen Arztes Ibn Butlan. Von Richard Friebe

Süße Milch ist gut für Brust und Lunge, schlecht bei Fieber und Kopfschmerz,wenn sie nicht zusammen mit kernlosen Trauben genossen wird.

Erbrechen reinigt den Magen, schadet ihm aber auch und den Augengleich mit. Die Dame demonstriert den Ausweg: Augen zuhalten!

Abendgespräche dienen der Verdauung, verwirren aber, wenn zu viele re-den. Die Lösung? Einfach allen außer einem den Mund verbieten.

Sommerkammern sollten feuchtund kühl sein, um ihrenBewohnern ein gesundes

Frühlingsklimazu verschaffen: Das ist gut

für die Verdauung.

Alle Abbildungen aus: Ibn Butlan, „Tacuinum Sanita-tis“. Faksimile. Verlag M. Moleiro, Barcelona.

Die Alraune hilft, wenn man an ihr riecht, gegen Kopfschmerzen und Schlaflo-sigkeit, stumpft aber die Sinne ab.

Der Nordwind bläst den Kopf frei, führt aber zu Brustschmerzen und Husten.Baden und passende Kleidung, rät Ibn Butlan.

Beischlaf dient der Erhaltung der menschlichen Spezies. Ibn Butlanempfiehlt ihn Heranwachsenden, rät aber Impotenten davon ab.

Birnen fördern einen schwachen Magen, behindern aber die Gallenfunk-tionen. Gegenmittel: Knoblauch direkt nach dem Frühstück.

Weißbrot nährt, führt jedoch zu Verstopfungen, wenn es nicht gut durch-säuert ist. Empfohlen wird es immer, überall und jedem.

Knoblauch hilft gegen Skorpione und Würmer, doch er schadet Augenund Hirn, glaubt Ibn Butlan. Außer, wenn man Essig und Öl zugibt.

Glück ist gut für Traurige und Labile, weiß Ibn Butlan, kann aber auch den ums Leben bringen, der sich den Glücksmomenten allzu oft hingibt. Wichtig sind die richtigen Sozialkontakte, „das Wohnen mitden Weisen“. Und der Maler der Pariser Handschrift zeigt deutlich, was für ihn Glück bedeutet: Ein idyllischer Ort im Einklang mit der Natur, Vogelgesang – und die Hoffnung auf Nachwuchs.

Der Winter lindert Gallenleiden und stärkt die Verdauung. Leider beförderter Stoffwechselstörungen. Ausweg: ordentlich heizen!

Zu viel Glückist auch nicht gut

Nüsse machen warmes Blut, wirken gegen Zahnschmerzen und Gift. Werkeine Pusteln im Mund bekommen will, sollte weiße Mohnkörner dazuessen.

Sauerkirschen nehmen der Galle die Schärfe, schaden freilich Nervenund Zähnen. Antidot: süße Mandeln und Weintrauben.

Seide, besonders die aus dem Orient, hält warm. Weniger gut ist, wennsie zu sehr wärmt. Daher rät Ibn Butlan zu Unterwäsche aus Leinen.

Der Autor Ibn Butlan, wie man ihnsich im 15. Jahrhundert vorstellte