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MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH gut denken gut entscheiden gut machen Wie kommt Ethik in die Organisation – wie kommt Organisation in die Ethik? Tagungsband zur MTG-Fachtagung Ethik 16. und 17. November 2007

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MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH

gut denken gut entscheiden gut machen

Wie kommt Ethik in die Organisation – wie kommt Organisation in die Ethik?

Tagungsband zur MTG-Fachtagung Ethik16. und 17. November 2007

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2 | Inhalt

Grußworte 3

Tagungsprogramm 6

Tagungsbericht 7

Vorträge

Ethikberatung – Formen und Modelle 9Dr. phil. Arnd T. May

Ethik und Organisation – eine spannende Partnerschaft 19Prof. Dr. Heribert W. Gärtner

Die Bedeutung der Ethik für ärztliche Entscheidungen 28und medizinische BehandlungsprozesseProf. Dr. Stella Reiter-Theil

Die Bedeutung der Ethik in der Personalentwicklung und Kommunikation 40PD Dr. Ulrike Kostka

Henne oder Ei? 48Zur Bedeutung der Ethik für konfessionelle Unternehmen im GesundheitswesenDr. Martin Wichmann

Ethik als identitätsstiftende Kraft im Gesundheitswesen 56Prof. Dr. med. Giovanni Maio

Vom Ethik-Projekt zur ethischen Organisation 64Dipl. Theol., Lic. Theol. Wolfgang Heinemann

Berichte aus den Workshops

Workshop 1: Klinisches Ethikkomitee (KEK) 72Workshop 2: Umgang mit Vorausverfügungen 73Workshop 3: Ethische Fallbesprechung in der stationären Altenhilfe 74Workshop 4: Ethische Fallbesprechung im Krankenhaus 75Workshop 5: Messbarkeit der Ethik 76Workshop 6: Lehrbarkeit der Ethik 78

Vorstellung der Autoren 79

Übersicht Malteser Ethik-Broschüren

ImpressumHerausgeber: MTG Malteser Trägergesellschaft gemeinnützige GmbHKalker Hauptstraße 22-24, 51103 KölnTelefon: 0221 [email protected]: Klaus Schiebel, Claudia Grobbel

© MTG, Köln 2008

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Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

die Malteser Fachtagung greift mit dem Thema Ethikim Gesundheitswesen einen wichtigen Aspekt auf.Eine wesentliche Aufgabe der Ethik ist es, Kriterienfür verantwortliches Handeln auch in kritischen Situationen und die Bewertung von Motiven und Folgen aufzustellen.

Die Herausforderung an alle Träger von Gesundheits-einrichtungen ist groß: Prozessoptimierungen und Verschlankungen zur Verbesserung ihrer Wirtschaft-lichkeit dürfen nicht im Widerspruch zur notwendi-gen Behandlungs- und Betreuungsqualität der Patien-tinnen und Patienten stehen.

Gerade in Medizin und Pflege treten immer wiederethische Grenzsituationen auf, die kompetent und einfühlsam gelöst werden müssen. Hier gilt es, nichtauf zufällige Lösungen zu setzen, sondern die struk-turellen Voraussetzungen in den Einrichtungen so zugestalten, dass die beteiligten Fachleute das für diePatienten bestmögliche Vorgehen erarbeiten können.Erst das macht Qualität im Krankenhaus und in derAltenhilfeeinrichtung aus.

Klare ethische Prinzipien als Qualitätsfaktor für diemedizinische und pflegerische Behandlung sind einwichtiger Aspekt in der anhaltenden Qualitäts-diskussion.

Ihre Tagung setzt hier wichtige Signale und sucht nachinteressanten Ansätzen für die Anwendung konkreterInstrumente. Politik und Einrichtungsträger müssenzusammen daran arbeiten, die gesundheits- und gesell-

schaftspolitische Diskussion hierzu weiter zu beför-dern und gleichzeitig auch für die Umsetzung die not-wendigen Bedingungen im Rahmen der Möglichkeitenschaffen.

Für Ihre Tagung wünsche ich Ihnen spannende Dis-kussionen, einen regen Erfahrungsaustausch und vieleImpulse für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, diesie in ihrem Arbeitsalltag unterstützen.

Karl-Josef LaumannMinister für Arbeit, Gesundheit und Sozialesdes Landes Nordrhein-Westfalen

Grußworte

Grußworte | 3

Wie kommt Ethik in die Organisation – wie kommt Organisation in die Ethik?

Sie haben die Malteser Fachtagung Ethik unter einThema gestellt, das zwei Dinge deutlich macht:Zum einen machen die unterschiedlichen Werthaltun-gen in unserer Gesellschaft, aber auch die immer wei-ter fortschreitenden Möglichkeiten der modernenMedizin die bewusste Thematisierung ethischer Fragenin Einrichtungen des Gesundheitswesens zunehmendnotwendig. Der „Ethik in der Organisation“ einenangemessenen Raum zu geben, ist daher eine Heraus-forderung für die behandelnden Ärzte, die pflegendenTeams, die gesamte Einrichtung und auch die Trägerdieser Einrichtungen.

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4 | Grußworte

Zum anderen erfordern komplexe Versorgungsstruk-turen sowie auch die hohen Anforderungen der Quali-tätssicherung die Etablierung professioneller Ethik-strukturen nicht nur in Krankenhäusern, sondernimmer mehr auch in Pflegeheimen und Einrichtungenfür Menschen mit Behinderungen sowie sonstigen teil-stationären und ambulanten Einrichtungen desGesundheitswesens.

Seit den 1990er Jahren haben sich insbesondere andeutschen Krankenhäusern zahlreiche Formen klini-scher Ethikberatung etabliert. In der Regel sind diesKlinische Ethikkomitees, in denen ethisch schwierigeEntscheidungen in Bezug auf die Behandlung vonPatienten beraten werden. Im Gegensatz zu Ethik-kommissionen, die auf gesetzlicher und berufsrecht-licher Grundlage an den Medizinischen Fakultäten,bei den Landesärztekammern oder unmittelbar aufLandesebene beraten, findet sich die Mehrheit der Klinischen Ethikkomitees in nichtuniversitären Kran-kenhäusern und Pflegeheimen, die Komitees aus eigener Initiative gegründet haben. Die Komitees beraten auf Anforderung der Beteilig-ten, ohne jedoch die Verantwortung und Entschei-dungsbefugnis der behandelnden Ärzte und andererBerufsgruppen einzuschränken. Neben der fallbezo-genen ethischen Beratung erarbeiten sie Empfehlun-gen zum Umgang mit wiederkehrenden ethischen Fragestellungen und bieten zum Teil auch Fort- undWeiterbildungsveranstaltungen für alle Berufsgruppenim Krankenhaus an. Voraussetzung für eine gute klini-sche Ethikberatung sind insbesondere die Glaubwür-digkeit und Ernsthaftigkeit der Beteiligten und dieUnabhängigkeit der Berater, aber auch die Freiwillig-keit der Beratung, der interdisziplinäre Austauschsowie die Einhaltung der Schweigepflicht.

Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärzte-kammer hat im vergangenen Jahr eine Stellungnahmezur „Ethikberatung in der klinischen Medizin“ veröf-fentlicht, in der weitergehende orientierende Informa-tionen zur Gründung, zur Struktur und zu den Aufga-ben von Ethikberatung in der Medizin am BeispielKlinischer Ethikkomitees gegeben werden.

Die Malteser Trägergesellschaft hat bereits seit vielenJahren die Notwendigkeit der Etablierung solcherStrukturen erkannt und ethische Fallbesprechungensowie Ethikkomitees in Krankenhäusern und Einrich-

tungen der Altenpflege eingerichtet. Auch bietet sieeine Vielzahl ethischer Fortbildungen an. Im Namen der Bundesärztekammer wünsche ich IhrerOrganisation – ganz im Sinne des Leitgedankens die-ser Fachtagung – dass Sie in Ihrem Engagement,Strukturen für eine systematische Behandlung ethi-scher Fragestellungen in Organisationen aufzubauen,nicht nachlassen.

Ihrer Tagung wünsche ich eine angeregte und offeneDiskussion sowie den Teilnehmerinnen und Teilneh-mern die Entschlossenheit, das hier Erfahrene in IhreOrganisationen weiterzutragen und den Mut, sich inIhrer Alltagswelt immer wieder neu auf die Suche nachAntworten auf die schwierigen Fragen im Zusammen-hang mit Krankheit, Sterben und Tod zu begeben.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jörg-Dietrich HoppePräsident der Bundesärztekammer

Ethik hat Konjunktur

Ethik ist in den verschiedenen Bereichen der Gesell-schaft, erst recht im Gesundheits- und Sozialsystem,gefragt. Warum eigentlich? Ethik stellt die Frage nachdem Guten. Weniger denn je ist die Antwort darauf imLehnstuhl der individuellen Dauerreflexion zu geben.Es braucht neue gemeinsame und gemeinschaftlichinszenierte, also kollektive „Verständigungssysteme“(Hans Jonas). Die unterschiedlichen Sichtweisen derProfessionellen und vor allem die Perspektive derBetroffenen und ihrer Bezugspersonen müssen konsti-tutiv berücksichtigt und wenn möglich integriert wer-den. Es braucht also angemessene neue Formen, kom-munikative Arrangements, in denen die ethischeReflexion der Arbeit und der Kooperation, die Zielevon Behandlung und Begleitung besprechbar sind.

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Grußworte | 5

Ethik ist ja immer auch Unterbrechung des Alltags,eines Alltags der zusehends ökonomisiert ist, in demnur noch zu zählen scheint, was gezählt werden kann.Es ist ein hoffnungsvolles Signal, wenn die Malteser ineinem solchen Kontext einen programmatischen Kon-trapunkt setzen: „Malteser – weil Nähe zählt!“. UnsereEinrichtungen verkommen ansonsten zu Versorgungs-fabriken, wenn es nicht gelingt, die Spannung vonÖkonomie und Ethik wenigstens aufrecht zu halten – und zwar von den Aufsichtsräten bis hinunter zuden Betten der Kranken und Sterbenden.

Die Malteser haben schon sehr früh diese Herausfor-derungen aufgenommen und sind in der organisa-tionsethischen Entwicklung deutschlandweit undinternational für viele Einrichtungen zu einem Leucht-turm der Orientierung geworden. Dass die Auseinan-dersetzung und der Austausch im Rahmen des Kon-gresses gelingen möge, damit der Mensch nicht zumFall wird und die Versorgung nicht zur Falle, daswünscht

Professor Dr. Andreas HellerFakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbil-dung, Abteilung Palliative-Care und Organisations-ethik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt inWien

„Gut und richtig zu handeln…“

…ist gerade für Anbieter im Gesundheitswesen einAnspruch, dem es gilt gerecht zu werden. Diese ethi-schen Herausforderungen gelten für alle gleicherma-ßen, ganz unabhängig ob es sich um konfessionelle,kommunale oder private Einrichtungen und Trägerhandelt.

Als katholischer Träger von Krankenhäusern, Alten-hilfeeinrichtungen, Ambulanten Pflegediensten sowieEinrichtungen und Diensten der Hospizarbeit und Pal-liativmedizin sehen wir uns in der Malteser Trägerge-sellschaft verpflichtet, uns den ethischen Herausforde-rungen in unseren Einrichtungen zu stellen und nachgeeigneten Lösungen zu suchen. Mit unserer erstenFachtagung zum Thema Ethik möchten wir eine Platt-form bieten, um in einen offenen Dialog über dieFrage „Wie kommt Ethik in die Organisation – wiekommt Organisation in die Ethik?“ einzusteigen.

Unter diesem Titel wollen wir erörtern, warum wirethische Prinzipien in Organisationen brauchen, wel-che Ausdrucksformen sie haben und wie sie dort ver-ankert werden können. Dazu haben wir zum einenausgewiesene Fachleute gewinnen können, die mitihren Beiträgen und der Möglichkeit zur Diskussiondie unterschiedlichen Facetten der Thematik erörternwerden. Zum anderen werden wir uns in zwei Work-shop-Runden mit konkreten Instrumenten und zen-tralen Fragestellungen auseinandersetzen.

Dazu laden wir alle Fachleute und Verantwortlichenaus dem Gesundheitswesen sehr herzlich ein. Wir freuen uns auf Ihr Kommen!

Ihr

Karl Ferdinand von Thurn und TaxisVorsitzender der Geschäftsführung MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH

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ProgrammModeration der Tagung: Karl Ferdinand von Thurn und Taxis

Freitag, 16.11.2007

12:30 Uhr BegrüßungKarl Ferdinand von Thurn und Taxis, Vorsitzender der Geschäftsführung der MTG;Professorin Dr. Dr. hc. mult. Rita Süssmuth,Präsidentin des Deutschen Bundestages a.D.;Prof. Dr. Giovanni Maio, Universität Freiburg;Dr. Rolf Schumacher, Leiter der Abteilung Politik beim Zentralkomitee der Deutschen Katholiken

13:15 Uhr Ethikberatung im GesundheitswesenDr. phil. Arnd T. May, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

14:00 Uhr Ethik und Organisation – eine spannende PartnerschaftProf. Dr. Heribert W. Gärtner,Katholische Fachhochschule NRW

14:45 Uhr Kurzvorstellung der Workshops

15:30 Uhr Workshops

Workshop 1Klinisches Ethikkomitee (KEK)Dr. Barbara Schulte, Georg SchumacherMalteser St. Hildegardis gGmbH, Köln

Workshop 2 Umgang mit Vorausverfügungen Dieter Birr, Dr. Ulrich Gerigk,Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg

Workshop 3Ethikberatung in der Altenhilfe Lieselotte Bischoff, Doreen Mohr,Malteser Betriebsträgergesellschaft SachsenProf. Dr. Winfried Stange,Psychoconsult, Berlin

16:30 Uhr Die Bedeutung der Ethik für ärztliche Entscheidungen und medizinische BehandlungsprozesseProf. Dr. Stella Reiter-Theil,Universität Basel

18:00 Uhr Ende Vortragsprogramm

Samstag, 17.11.2007

9:00 Uhr ImpulsAnne Kruse,Malteser Krankenhaus St. Johannes, Kamenz

9:15 Uhr Die Bedeutung der Ethik in der Personal- entwicklung und KommunikationPD Dr. Ulrike Kostka, Deutscher Caritasverband Freiburg

10:00 Uhr Kurzvorstellung der Workshops

10:30 Uhr Workshops

Workshop 4Ethische Fallbesprechung im Kranken-haus als Beratungsinstrument bei schwierigen EinzelfallentscheidungenMartin Mommsen von Geisau,Dr. Angelika Huber,Malteser St. Franziskus gGmbH, Flensburg

Workshop 5Messbarkeit der EthikP. Victor Gisbertz, Karin Gollan,MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH, Bonn

Workshop 6Lehrbarkeit der Ethik Gabriele Kösters, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-SiegIris Wrede, MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH, Köln

11:15 Uhr Henne oder Ei? – Die Bedeutung der Ethik für konfessionelle Unter-nehmen (im Gesundheitswesen)Dr. Martin Wichmann,Erzdiözese Freiburg

12:00 Uhr Ethik als identitätsstiftende und richtungsweisende Kraft im GesundheitswesenProf. Dr. Giovanni Maio,Universität Freiburg

12:45 Uhr Vom Ethikprojekt zur ethischen OrganisationDipl. Theol., Lic. Theol. Wolfgang Heinemann,MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH, Köln

13:15 Uhr Ende der Tagung

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„Wir müssen die Ethik in die Ökonomie tragen –Ethik ist unverzichtbar!“

Rita Süssmuth unterstützt erste Fachtagung „Ethik imGesundheitswesen“ der Malteser Trägergesellschaft:Malteser fordern verantwortungsbewusstes Handelnin ethischen Grenzsituationen.

Bei der ersten Fachtagung „Ethik im Gesundheitswe-sen“ der MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH(MTG) in Bad Honnef trafen sich mehr als 160 Teil-nehmer. Die Podiumsdiskussion zur Eröffnung derTagung beschäftigte sich mit der Frage „Ethik – Luxusoder Notwendigkeit?“. Mit Bundestagspräsidentina.D. Prof. Dr. Rita Süssmuth diskutierten ProfessorDr. Giovanni Maio, Inhaber des Lehrstuhls für Bio-ethik an der Universität Freiburg, Dr. Rolf Schuma-cher, Leiter der Abteilung Politik des Zentralkomiteesder Deutschen Katholiken (ZDK) und Karl Ferdinandvon Thurn und Taxis, Vorsitzender der MTG-Geschäftsführung.

Im Mittelpunkt der Diskussion standen dabei die Aus-wirkungen der demographischen Entwicklung und desmedizinischen Fortschritts auf das Gesundheitswesenund welche Bedeutung ethischen Erwägungen dabeizukommt. „Wir müssen uns fragen: Wo wird Pflegegebraucht? Wie kommen wir weiter in der Intensivbe-treuung der letzten beiden Lebensjahre der Menschen.Die Antwort kann nicht sein, dass wir die Vorgabenfür die Sterbehilfe lockern und die medizinische Be-

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treuung aussetzen. Im Vordergrund muss stehen, dieMenschen bis zur letzten Lebensminute zu begleiten –und das menschenwürdig!“, betonte Süssmuth dieBedeutung der Hospizarbeit und Palliativmedizin imambulanten und stationären Bereich und stellte klar:„Es gibt keine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischenEthik und Ökonomie, aber eine praktische. ImMoment ist die Technik auf dem Vormarsch und dieEthik tritt in den Hintergrund.“

Noch schärfer formulierte der Bioethiker Maio: „Ichbin besorgt darüber, wie die Medizin sich entwickelt.Das Problem ist, dass die Medizin vergisst, woher siekommt. Ursprünglich waren Krankenhäuser christlichgeprägt. Jetzt werden sie zunehmend zu Reparaturfa-briken. Die Abläufe sollen beschleunigt und rationali-siert werden – alles wie in einem technischen Betrieb.Der Mensch ist aber keine Maschine.“Auch ZDK-Vertreter Dr. Rolf Schumacher verwies aufdie christlichen Wurzeln in Medizin und Pflege: „Diekatholische Kirche will den ethischen Diskurs öffent-lich mitgestalten. Schließlich geht es hier um einenKern des Christentums: Die Sorge um den krankenund sterbenden Menschen.“

Und Süssmuth appellierte eindringlich an alle Verant-wortlichen im Gesundheitswesen: „Die Ethik istunverzichtbar! Welchen Wert hat das Handeln amMenschen denn noch, wenn dahinter keine Ethik ist?Dies ist eine Herausforderung an alle Menschen undan alle Krankenhäuser – nicht nur an die konfessionel-

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len Häuser. Wenn wir nicht selbst die Ethik in dieÖkonomie tragen, dann bleibt der Gegensatz weiterbestehen.“

In kaum einem anderen Bereich gibt es so viele ethi-sche Grenzsituationen zu bewältigen wie im Gesund-heitswesen. Diese ethischen Herausforderungen geltenfür alle gleichermaßen, ganz unabhängig ob es sich umkonfessionelle, kommunale oder private Einrichtun-gen und Träger handelt. Als katholischer Träger sehensich die Malteser verpflichtet, sich den ethischen He-rausforderungen in ihren Einrichtungen zu stellen undnach geeigneten Lösungen zu suchen.

„Mit dieser Tagung möchten wir einen Anstoß dazugeben, die zentralen Fragestellungen rund um dasThema Ethik im Gesundheitswesen bei allen Beteilig-ten auf die Tagesordnung zu setzen. Denn die Gesell-schaft darf sich nicht von dem medizinisch Machba-ren, der demographischen Entwicklung und demzunehmenden Kostendruck in eine rein pragmatischausgerichtete Medizin und Pflege treiben lassen. JedeNeuerung, wie jetzt ganz aktuell das Klonen vonAffen, verstärkt die Notwendigkeit nach einem reflek-tierten und verantwortungsbewussten Handeln. Dasgilt für die „großen“ Fragestellungen genauso wie fürdie vielen Einzelfälle im Klinikalltag“, erläutert vonThurn und Taxis das Anliegen der Malteser.

Dass es dabei nicht bei theoretischen Überlegungenund Diskussionen bleiben darf, zeigte das große Inte-resse an den Tagungs-Workshops zu Themen wie Klini-sche Ethikkomitees, ethische Fallbesprechungen, Pa-

tientenverfügungen, Ethikberatung in der Altenhilfe,Messbarkeit und Lehrbarkeit der Ethik.

„In den vergangenen Jahren haben wir uns intensivdamit beschäftigt, aus unseren ethischen Leitideenkonkrete Instrumente zu entwickeln, die alle Betei-ligten dabei unterstützen, gut und richtig im Interessedes Patienten zu handeln“, so von Thurn und Taxisweiter.

Solche Instrumente tragen dazu bei, Ethik in Kran-kenhäusern und Altenhilfeeinrichtungen zu veran-kern und alltagstauglich zu machen. Eine anspruchs-volle Aufgabe wie auch der Präsident der Bundes-ärztekammer, Professor Dr. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe,in seinem Grußwort zur Tagung ausführt: „Der „Ethikin der Organisation“ einen angemessenen Raum zugeben, ist daher eine Herausforderung für die behan-delnden Ärzte, die pflegenden Teams, die gesamte Ein-richtung und auch die Träger dieser Einrichtungen.“

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheitund Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen beton-te in seinem Grußwort zur Tagung die Bedeutung derEthik als Qualitätsfaktor für die medizinische undpflegerische Behandlung: „Hier gilt es, nicht auf zu-fällige Lösungen zu setzen, sondern die strukturellenVoraussetzungen in den Einrichtungen so zu gestal-ten, dass die beteiligten Fachleute das für die Patien-ten bestmögliche Vorgehen erarbeiten können. Erstdas macht Qualität im Krankenhaus und der Alten-hilfeeinrichtung aus.“

8 | Tagungsbericht

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Vortrag Dr. phil. Arnd T. May | 9

Dr. phil. Arnd T. May

Ethikberatung – Formen und Modelle

1. Die Entwicklung klinischer EthikberatungDer Professionalisierungsprozess klinischer Ethik-beratung in Deutschland ist gekennzeichnet durchunterschiedliche Stadien, die sich teilweise an die Entwicklung in den USA anlehnen. Abzugrenzen von klinischer Ethikberatung im konkreten Einzelfallist die Prüfung von Forschungsvorhaben nach demArzneimittelgesetz (AMG) oder Medizinprodukte-gesetz (MPG) durch die (Forschungs-)Ethikkommis-sion. Mit der Deklaration von Helsinki hat der Welt-ärztebund im Jahre 1964 eine Erklärung ethischerGrundsätze als Leitlinie für Ärzte und andere Perso-nen entwickelt, die in der medizinischen Forschungam Menschen tätig sind. Spezieller werden Anträgeauf medizinische Forschung am Menschen und epi-demiologische Forschung mit personenbezogenen Daten ethisch und rechtlich beurteilt. Eine For-schungsethikkommission trifft damit – anders als Kli-nische Ethikkomitees – verbindliche Entscheidungen.Die Arbeit von Forschungsethikkommissionen ist etabliert und normiert.

Die Anfänge der klinischen Ethikberatung sind inden USA zu verorten; dort wurden in den 1920er

Jahren in katholischen Krankenhäusern „medizinisch-moralische Komitees“ (medico-moral-committees)eingerichtet, da eine moraltheologisch eindeutigeBewertung der sich ständig erweiternden medizini-schen Behandlungsmöglichkeiten zunehmend schwie-riger wurde. Die frühen „medizinisch-moralischenKomitees“ waren in ihren Entscheidungen undPositionierungen eng an die normativen und wert-haften Vorgaben der katholischen Lehre gebundenund trugen zu einer Schärfung des Profils von Kran-kenhäusern in katholischer Trägerschaft bei.

Ab 1949 empfahl die Catholic Hospital Organizationdie Einrichtung von Gremien der Ethikberatung.Damit stellten sich kirchliche Träger der Heraus-forderung, dem in einer zunehmend liberalen Gesell-schaft immer offensiver zutage tretenden Werteplura-lismus religiös geprägte Moralauffassungen entgegen-zusetzen.

Profilbildung der konfessionellen KrankenhäuserIn den letzten Jahren beschäftigt das Motiv der Pro-filbildung eines konfessionellen Krankenhauses kon-fessionelle Träger verstärkt auch in Deutschland.Durch die Entwicklung von neuen Behandlungsmög-lichkeiten wie zum Beispiel der Hämodialyse entstandin den USA in den 1960er Jahren die Notwendigkeitder Entscheidung über den Zugang zu den begrenz-ten Therapieoptionen. Mit der Lösung derartigerProbleme der Verteilungsgerechtigkeit bei knappenBehandlungsmitteln wurden in zunehmendem MaßeKlinische Ethikkomitees betraut.

In dieser Phase der Entwicklung von KlinischenEthikkomitees in den USA war die Entscheidungs-grundlage der Komiteemitglieder intransparent. Fürdie Entscheidungen der Komiteemitglieder gab es nurwenige Leitlinien und somit verwundert es nicht, dassals Kritikpunkt geäußert wurde, die Entscheidungenhätten die moralischen Wertvorstellungen von weißenMittelstandsamerikanern abgebildet. Aufgrund derfür die Betroffenen teilweise existentiellen Entschei-dungen hatten einige Komitees den zweifelhaftenNamen „god committee“. Die Mitglieder des Komi-tees in Seattle waren sich der Bedeutung ihrer Ent-scheidung wohl bewusst und äußerten Unsicherheiten

Vorträge

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10 | Vortrag Dr. phil. Arnd T. May

zu ihren Entscheidungsgrundlagen. Die meisten Mit-glieder wollten für den Bericht im Life-Magazinenicht mit erkennbaren Gesichtern abgebildet werden,um ihre Identität zu schützen. Die bildliche Darstel-lung des Seattle Dialysis Committee im Life-Magazinvor einer hell erleuchteten Bücherwand ist instruktivfür die Arbeitsweise, und der Untertitel des Artikels„They Decide Who Lives, Who Dies“ vermittelt dieexponierte Rolle der Komiteemitglieder.

Einen weiteren Entwicklungsschritt auf dem Weg derProfilierung Klinischer Ethikberatung in den USAmarkiert der Rechtsstreit bezüglich der Behandlungvon Karen Ann Quinlan. Das befasste Gericht emp-fahl die Einschaltung eines Ethikkomitees. Im An-hang des President's Commission Report (1983) zuFragen des Behandlungsabbruchs war ein Modellent-wurf für die Satzung zukünftig einzurichtenderEthikkomitees beigefügt. Dieser Bericht „Deciding toForego Life-Sustaining Treatment“ betont das Prinzipder Interdisziplinarität und die Notwendigkeit ver-schiedener Sichtweisen zur Diskussion einer Fragestel-lung. Weiterhin eng damit verbunden ist die Vorstel-lung der Repräsentativität der in den Behandlungs-prozess eingebundenen Gruppen im Krankenhaus.

Das „Zentrum für Medizinische Ethik“In Deutschland haben sich seit den 1980er Jahren ver-einzelt Gruppen gebildet, die sich mit Medizinethikund klinischer Ethik befassen. Im Jahr 1986 wurdevon Professoren der Ruhr-Universität Bochum dasinterdisziplinäre „Zentrum für Medizinische Ethik“als gemeinnütziger Verein gegründet. Seine Aufgabensind Forschung, Lehre, Publikation und Dokumen-tation in der angewandten und biomedizinischenEthik. Interdisziplinäre und internationale Fragestel-lungen sowie die Entwicklung konkreter Hilfsmittelfür Forschung, Klinik und Praxis bilden einen beson-deren Schwerpunkt. Durch die Mitglieder des Zen-trums für Medizinische Ethik wurden Fallstudienkol-loquien zur ethischen Analyse medizinischer Fälle,insbesondere zu methodischen Aspekten der Integra-tion von ethischer Expertise und technischer Exper-tise durchgeführt. Zur Unterstützung der ethischenFalldiskussionen entstand 1987 der Bochumer Arbeits-bogen zur medizinethischen Praxis.

Am St.-Josef-Hospital Bochum, Universitätsklinik derRuhr-Universität Bochum, führte der damalige Kli-nikseelsorger Dr. Karl-Georg Reploh auf der gemein-sam von Anästhesisten und Chirurgen geführtenIntensivstation „Consensusgespräche über die weitere

Therapie“ durch, um inter- und intraprofessionelleMeinungsunterschiede zu moderieren. In Deutsch-land übte die gemeinsame Empfehlung des Deut-schen Evangelischen Krankenhausverbands e.V. unddes Katholischen Krankenhausverbands Deutschlandse.V. aus dem Jahr 1997 einen richtungsweisendenImpuls auf die Entwicklung der institutionalisiertenEthikberatung in Deutschland aus. Nach dieser Em-pfehlung ist das Ethikkomitee „in einem Kranken-haus angesiedelt, das ethische Konflikte kennt undbewusst angehen will“. Zu diesem Ziel sollen Einzel-fälle besprochen und begutachtet werden, um „nachbestem Wissen und Gewissen im gemeinsamen Dis-kurs die relativ beste Lösung zu finden“. Das Ethik-komitee soll interdisziplinär und ausgewogen mitVertretern des ärztlichen, pflegerischen Bereiches,dem Verwaltungsbereich und dem Sozialdienst be-setzt sein. Als externe Mitglieder sollen ein Bürgermit „gesundem Menschenverstand“ und christlicherGrundhaltung, ein Jurist und ein Seelsorger im Komi-tee vertreten sein. Die Voten des Ethikkomitees sol-len „das Urteil der Entscheidungsträger wohl erhellen,aber nicht ersetzen“. Für die konfessionellen Kran-kenhausverbände entspricht die Einführung vonEthikkomitees „dem Bedürfnis eines christlichenMenschenbildes“.

Ethikberatung bei der Zertifizierung von KrankenhäusernAuch durch die explizite Frage nach Formen derEthikberatung bei der Zertifizierung von Kranken-häusern durch die Kooperation für Transparenz undQualität im Krankenhaus (KTQ) erhalten Kranken-häuser Impulse zur Einrichtung von KlinischenEthikkomitees: „Frage 5.4.1: Durch welche organisato-rischen Maßnahmen ist die Berücksichtigung ethischerProblemstellungen im Krankenhaus gewährleistet (zumBeispiel durch die Einrichtung eines Ethikkomitees imKrankenhaus oder anderer Gruppen mit der gleichenZielsetzung, gegebenenfalls unter Einbeziehung derKrankenhausseelsorge)?“

2. Formen von Ethikberatung in Krankenhäusern Die Organisation von Ethikberatung ist in Kran-kenhäusern unterschiedlich organisiert; daher sollennachfolgend verschiedene Modelle dargestellt werden.Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärzte-kammer beschreibt die Vielfalt der Formen vonEthikberatung wie folgt: „Außer der klassischen Formder Ethikberatung, dem Klinischen Ethikkomitee, bilde-ten sich in den Krankenhäusern unter anderem Ethik-arbeitsgruppen, Ethikausschüsse und Ethikforen. Die

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Vortrag Dr. phil. Arnd T. May | 11

Moderation von Einzelfallberatungen auf Stationübernahmen Untergruppen des Klinischen Ethikkomi-tees, mobile Ethikberatungen oder beauftragte Einzel-personen (Ethikberater).“

Zu den Aufgaben von Ethikberatung in Krankenhäu-sern und speziell von Klinischen Ethikkomitees gehö-ren (1) die Schulung moralischer Urteilskraft inner-halb des Personals sowie die Sensibilisierung zu Fra-gen der Medizinethik, (2) Klinische Falldiskussionenbzw. Fallberatung und (3) Entwicklung von Leit- oderRichtlinien für die Institution als Ausdruck der ge-sammelten Erfahrungen mit wiederkehrenden mora-lisch problematischen Behandlungssituationen. Essind Mischformen möglich, und teilweise erstelleneinzelne Klinische Ethikkomitees Leitlinien, ohnekonkrete Falldiskussionen durchzuführen. Bei ande-ren Klinischen Ethikkomitees verhält es sich umge-kehrt. Teilweise werden Falldiskussionen nicht vonallen Mitgliedern des Klinischen Ethikkomiteesdurchgeführt oder aber es sind – zusätzlich zu einerTeilgruppe von Mitgliedern des Klinischen Ethik-komitees – weitere Personen in der ethischen Fall-beratung tätig. Manche Häuser verfolgen mit derEinrichtung eines Klinischen Ethikkomitees und der Ausbildung von Moderatoren ein zweistufigesModell.

2.1 Ethikberatung durch eine Einzelperson bezie-hungsweise durch einen Ethik-Konsultationsdienst

Am Universitätsklinikum Marburg ist ein Ethik-Konsultationsdienst implementiert, der sich am klini-schen Pragmatismus nach Fletcher orientiert. NachGerdes und Richter gehören die folgenden Punkte zuden generellen Aufgabenstellungen eines klinischenEthik-Konsultationsdienstes: „(...) 1. die Identifika-tion ethischer Probleme, die in der Behandlung konkre-ter, individueller Patienten entstehen können,2. die Analyse der ethischen Problematik in einemDialog mit allen an einem konkreten Fall Beteiligten,die von verschiedenen ethischen Perspektiven beeinflusstwerden kann und unter dem Schlagwort einer kontext-sensitiven Ethik zusammengefasst werden kann, und 3. die kenntnisreiche und rücksichtsvolle Teilnahme andem Lösungsversuch solcher ethischen Probleme imRahmen eines „shared decision making process“ unterBeteiligung aller derjenigen, die in dem konkreten Falldirekt involviert sind.“

Die Einrichtung eines Ethik-Konsultationsdienstesspricht nicht generell gegen die zusätzliche Einrich-tung und Einbindung in ein Klinisches Ethikkomitee.

In Marburg ist der Ethikberater durch die regelmäßi-ge Präsenz in der Klinik und die Einbindung in dasStationsteam während der Ethikvisite oder im Liai-sondienst niederschwellig ansprechbar. Der Ethikerals „Facilitator“ stellt seine Kompetenz sowohl unmit-telbar dem Patienten als auch dem Ärzte-Pflegeteamzur Verfügung. Er versucht, gemeinsam mit allenunmittelbar Betroffenen (Patient, Angehörige, Ärzte,Pflegende) im Prozess des „shared decision making“ethische Probleme zu einer Lösung zu bringen undidentifiziert zum Beispiel während der Teilnahme ander Stationsvisite auch selbst Probleme, die klärungs-bedürftig sind. Dieser Prozess ermöglicht es darüber hinaus, Beratung und Fortbildung miteinander zukombinieren.

2.2 Ethikberatung durch das Klinische EthikkomiteeDie Zusammensetzung und die Arbeitsweise Klini-scher Ethikkomitees weisen in Deutschland eine hoheStreubreite auf. Die Mustersatzung der Empfehlungder konfessionellen Krankenhausverbände gibt Hin-weise auf die Arbeitsweise Klinischer Ethikkomiteesund wurde in Folge von zahlreichen, meist konfessio-nellen Krankenhäusern übernommen. Die Mitgliederdes Klinischen Ethikkomitees sollen für die prozess-orientierte Arbeit des Komitees „ihre Sachkenntnisund ihr Urteil“ einbringen.

Als geeignete Größe eines Klinischen Ethikkomiteesnennt die Empfehlung die Zahl von zwölf Mitglie-dern, wobei die Bereiche ärztlicher, pflegerischer,Verwaltungs- und Sozialdienst „ausgewogen“ vertretensein sollen. Auf externe Mitglieder wird in derEmpfehlung Wert gelegt, und neben einem Juristensoll ein für ethische Fragestellungen offener Bürgerins Komitee berufen werden, der seinen „gesundenMenschenverstand aus seiner christlichen Grundhal-tung“ einfließen lässt. Weiterhin soll als externesMitglied ein Seelsorger Mitglied des Komitees sein,der den „Standpunkt der pastoralen Sorge um denPatienten und seine Angehörigen in das Komitee ein-bringt“. Den Vorsitz soll eine „im Fachbereich Ethikkompetente Persönlichkeit“ innehaben, welche „dienötigen Instrumente einer professionellen Modera-tion beherrscht und für medizinische, pflegerischeund ökonomische Fragestellungen offen ist“.

Zur Arbeitsweise verweist die Empfehlung auf diskur-sive Abwägungsprozesse. Vor dem Hintergrund derErfahrungen mit der Wirkung der Dialyse-Komiteesin den USA schreiben die Autoren der Empfehlungden Mitgliedern des Komitees ins Lastenheft: „Die

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Mitglieder des Komitees müssen wissen und sich gegen-seitig daran erinnern, dass sie kein Tribunal sind, son-dern begründete und ethisch verantwortbare Voten fürbetroffene Antragsteller abgeben sollen. Auch mussdeutlich bleiben, dass sie keine Vertreter ihrer jeweiligenBerufsgruppe sind und insofern keine Standesinteressenzu vertreten haben. Jeder ist auf seine Art Mitglied, dasseinen Anteil an Wissen, Kompetenz und Urteilsfähig-keit in die Findung einer gemeinsamen Meinungsbil-dung einbringt.“

Damit die Mitglieder eines Klinischen Ethikkomiteesihre verantwortungsvolle Aufgabe wahrnehmen kön-nen und eine klinische Ethikberatung „gelingt“, sol-len sich die Mitglieder „unter fachlicher Begleitung mitFragen der allgemeinen Ethik ebenso wie mit den ethi-schen Problemen im Krankenhaus auseinandersetzenund sich praxisnah in Gesprächssituationen um Ent-scheidungsfindung bemühen. Die Mitglieder sollen mitden Definitionen und Arbeitsweisen allgemeiner Ethikvertraut gemacht werden. Sie üben an Fallbeispielen dieRegeln ethischer Entscheidungsfindung ein. Dabei lenensie mit Argumentationsfiguren umzugehen und kontro-vers aber fair verschiedene Standpunkte so zu kennen,dass sie diese mit Distanz in Form von Argumentenund Gegenargumenten in die Debatte einbringen kön-nen. (...) Ein ermutigendes Training ist notwendig undvon einer bestehenden oder noch zu gründenden Arbeits-stelle für Ethik im Krankenhaus zu organisieren.“

Die Bezeichnungen für Gremien der Ethikberatungsind von den sie einrichtenden Organisationen unter-schiedlich gewählt, was eine Analyse der Qualitäts-berichte der Kooperation für Transparenz und Qua-lität im Krankenhaus (KTQ) zeigt. Mit Stand vom14.11.2007 weisen 214 von 393 Berichten das Wort„Ethik“ aus. Die folgenden Begriffe werden mitAngabe der Häufigkeit benutzt: Ethikkomitee (87),Ethikkomitee in Gründung (1), Ethikkommission(64), Ethikkommission in Gründung (7), Ethik-arbeitskreis (9), Ethikbeirat (7), Ethikforum (7),Ethikarbeitsgruppe (7), Ethikberater (5), Ethikrat (4),Ethikkonsil (3), Ethikgruppe (2), Ethikteam (2),Ethikprojektgruppe (1), Ethikkreis (1), QualitätszirkelEthik (2), Ethik-Cafe (1), Gesprächskreis Ethik (1),Seelsorger (3).

Nach der Empfehlung der konfessionellen Kranken-hausverbände dürfen alle Mitglieder des KlinischenEthikkomitees an den Fallberatungen teilnehmen.Ein Klinisches Ethikkomitee kann zur Fallberatungim Einzelfall die Ratsuchenden zur Formulierung

ihres moralischen Problems auffordern, dieses internberaten und abschließend den Anfragenden das Bera-tungsergebnis mitteilen. Dieses Modell der Beratungdurch Experten unter Abwesenheit der Ratsuchendenenthält keine kommunikativen oder argumentativenInteraktionsmöglichkeiten zwischen Ratsuchendenund den Mitgliedern des Klinischen Ethikkomitees.Aufgrund der Intransparenz der Entscheidungswegeder Experten des Klinischen Ethikkomitees wird diesModell mitunter als „Orakel von Delphi“ bezeichnet,was den Charakter als Weissagungsstätte verdeutlicht.

Moralische Konflikte treten aufMoralische Konflikte treten häufig in Arbeitskontex-ten mit mehreren Akteuren auf. Die Mitglieder desKlinischen Ethikkomitees könnten sich darauf geei-nigt haben, dass sie nicht mit allen am Konflikt Be-teiligten die Fallbesprechung durchführen möchten,sondern nur mit Repräsentanten aus dem Arbeits-kontext bzw. der Station. Dabei ist klärungsbedürf-tig, wer zur Fallbesprechung mit den Mitgliedern desKlinischen Ethikkomitees zugelassen wird.

Zum einen wäre denkbar, dass die Mitglieder desKlinischen Ethikkomitees selbst eine Auswahl desGesprächspartners nach Kriterien wie professionellePerspektive oder Nähe zur Situation treffen. Anderer-seits könnte die Vereinbarung dahingehend getroffensein, dass die vom Konflikt Betroffenen selbst eineAuswahl des Gesprächspartners mit den Mitgliederndes Klinischen Ethikkomitees treffen und eine Personzur Fallbesprechung mit dem Klinischen Ethikkomi-tee „abordnen“. Problematisch an diesem Modellscheint die Auswahl des Gesprächspartners und diedamit einhergehende einseitige Sicht auf den morali-schen Konflikt. Die Perspektivenvielfalt und dieunterschiedlichen Argumente der am Konflikt aufStation Beteiligten können schwerlich von einer ein-zelnen Person gleichermaßen vertreten werden.

Erfolgt die Beratung durch eine Untergruppe vonMitgliedern des Klinischen Ethikkomitees, so ist klärungsbedürftig, wer von den Komiteemitgliedernberatungsbefugt ist. In manchen Klinischen Ethik-komitees wird zudem eine spezielle Vorbereitung aufdie ethische Fallberatung gefordert. Sucht nur eineinzelnes Mitglied des Klinischen Ethikkomitees dieStation zur Beratung – ähnlich einem Konsil – auf,bestehen weitgehend Parallelen zum Modell desEthikberaters; der wesentliche Unterschied liegt inder Personenvariabilität der auf Station tätigen Ethik-berater.

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3. Ethische FalldiskussionenDie Anlässe für eine ethische Fallbesprechung sindfür die Ratsuchenden vielfältig. Grundlage ist dafürdie moralische Intuition, dass eine Situation oderBehandlung nicht „adäquat“ verläuft. Als Bezugs-punkte für eine „adäquate Behandlung“ werdengenannt: 1. die medizinische Indikation und damitdas Therapieziel, 2. der Patientenwille und 3. dieWerte der Behandelnden.

Bei der situationsbezogenen Behandlung einer Pa-tientin oder eines Patienten kann in Einzelsituatio-nen die medizinische Indikation und der damit ver-bundene Therapievorschlag professionsintern oderübergreifend Gegenstand der unterschiedlichen Be-wertung sein. Die Einschätzung des weiteren Krank-heitsverlaufs und der sinnvollen Therapiemöglich-keiten ist individuell vorzunehmen und Grundlagezur Klärung der weiteren Behandlung im Gesprächmit den Stellvertretern. Als spezifische Behandlungs-situation haben die Malteser eine zwingende ethischeFalldiskussion festgelegt für folgende Situationen:

- Künstliche Beatmung auf Intensivstation, die länger als 14 Tage währt,

- Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, der voraussichtlich kausal zum Tode des Patienten führt,

- Anlage einer PEG bei Zweifel an der Zustimmung des Patienten.

Der situationsbezogenen Indikationsstellung folgt die Frage nach dem Patientenwillen und damit ver-bunden die Information und Aufklärung des ein-willigungsfähigen Patienten. Sollte dieser nicht mehreinwilligungsfähig sein, so ist der Stellvertreter(Bevollmächtigter oder gesetzlicher Betreuer) ent-scheidungsbefugt. Der Stellvertreter verschafft demPatientenwillen Ausdruck und Geltung. Die Ermitt-lung des mutmaßlichen Willens wird in Einzelsitua-tionen kein einheitliches Bild hervortreten lassen undmag Anlass für eine ethische Fallbesprechung sein.

Zur Strukturierung einer ethischen Fallbesprechungwurde der „Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethi-schen Praxis“ entwickelt. Die Selbstbestimmung desPatienten wird hier nicht von vornherein vorausge-setzt oder bestritten, sondern selbst zum Gegenstandder medizinethischen Diagnose gemacht. Es wird dieFrage nach der Beurteilung gestellt, wieweit der Pa-tient in die Bewertung einbezogen oder sie ihm sogarganz überlassen werden kann.

Die Anwesenheit der Antragsteller bei der Diskussionder Mitglieder des Klinischen Ethikkomitees ist nichtdurchgängig erwünscht, und für Gillen hat das Kli-nische Ethikkomitee nicht die Aufgabe der direktenBeratung der Ratsuchenden, sondern soll zu einemeigenen Votum finden. Somit ist es für Gillen wederratsam noch hilfreich, dass die Ratsuchenden „per-sönlich an allen Etappen der internen Meinungsbil-dung im Komitee teilnehmen“. Die Malteser sehenin der unmittelbaren Teilnahme von Patientenange-hörigen an ethischen Fallbesprechungen die Gefahr,dass diese dadurch „eine[r] emotionale[n] Überforde-rung“ ausgesetzt sind. Die von Gillen vorgenommeneAnalyse ist mahnendes Beispiel dafür, dass im Um-gang mit moralischen Konfliktsituationen in derKlinischen Fallberatung eine Beteiligung der Rat-suchenden notwendig ist, um nicht den problemati-schen Eindruck einer Weisheitsverkündigung undautoritativen Überhöhung entstehen zu lassen.

4. Ethische LeitlinienBei wiederholt in ethischen Fallbesprechungen vor-kommenden Konfliktsituationen kann eine ethischeLeitlinie der betreffenden Organisation erstellt wer-den. Dabei nimmt die Leitlinie Bezug auf normativeVorgaben der Rechtsordnung und der Standesorgani-sationen. Problemsituationen können exemplarischsein: kardiopulmonale Reanimation, Therapieabbruchauf Intensivstationen, Anwendung von PEG-Sondenbei hochbetagten, multimorbiden Patienten oder Um-gang mit Patientenverfügungen. Vereinzelt haben sichKrankenhäuser auch zu Blutübertragungen bei Ange-hörigen der Zeugen Jehovas festgelegt.

5. Organisationsethische Aspekte der Implementierung Klinischer Ethikberatung

Die viel beachteten Empfehlungen der konfessionel-len Krankenhausverbände zu Ethikkomitees aus demJahre 1997 fordern ausdrücklich ein planvolles Vor-gehen zur Einrichtung eines Klinischen Ethikkomi-tees. Vorschläge zur Organisation Klinischer Ethik-beratung sollten im Universitätsklinikum auf mög-lichst breiter Basis mitgetragen werden. Als Raster fürdie Funktionsweise Klinischer Ethikkomitees könnendie vier Regelgruppen (RG1-RG4) nach Kettner/Maygelten.

Die erste Gruppe (RG1) umfasst Regeln der Institutio-nalisierung. Dies sind Praxisregeln, wie ein beratendesEthik-Gremium in einem definierten institutionellenKontext (zum Beispiel einer Klinik) „in Gang ge-bracht“ wird (Implementierungsregeln); wie es Mit-

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glieder, Stellvertreter oder ähnliches rekrutiert undzwischen diesen und weiteren Graden von Zugehörig-keit, zum Beispiel Interessenten und gegebenenfallseinem erweiterten Expertenkreis, unterscheidet (Re-krutierungsregeln); wie es seinen Bestand regelt, zumBeispiel seine Arbeitszeiten, Sitzungsdauer und Häu-figkeit, Zusammensetzung des Mitgliederbestands(Bestandsregeln); und wie es durch geeignete Aktivi-täten der Dokumentation, Weiterbildung und Evalu-ierung die Qualität seiner Arbeit sichert (Qualitäts-sicherungsregeln). Wie kommt ein neues ethisch bera-tendes Gremium in den Kontext bestehender Institu-tionen (bei KEKs das Krankenhaus oder ein Klinik-

verbund) hinein? Wer darf oder soll wie lange und inwelcher Eigenschaft dem Gremium angehören, undwie sollte dessen Normalbetrieb aussehen? Die diesenFragen entsprechenden Regeln sind die Institutiona-lisierungsregeln.

Die zweite Gruppe (RG2) umfasst alle Input-Regeln.Diese beziehen sich darauf, auf welche Weise und vonwem das Ethik-Gremium Eingaben für seine Arbeiterhalten kann (Aktivierungsregeln). Im Falle des KEKstellt sich die Frage, ob nur Krankenhausangehörigeund/oder Patienten das KEK um Rat fragen dürfen.Die Antragsbefugnis kann auf betroffene Mitarbeiterund Patienten beschränkt oder auf „alle an der Pa-tientenversorgung beteiligten und davon betroffenenPersonen, insbesondere Mitarbeiter/innen und Pa-tienten/innen der MHH sowie deren Angehörige“und Gremien des Hauses ausgeweitet sein. Das KEKsollte einen Bereich von Aufgaben abstecken, für den

es Zuständigkeit beansprucht (Zuständigkeitsregeln).Wann, auf welche Weise und in Bezug worauf wirddas Gremium aktiv? Die auf diese Fragen antworten-den Regeln sind die Input-Regeln.

Das KEK wird – als ein beratend tätiges Gremium –in seinen Operationen moralische Überlegungsprozes-se realisieren müssen. Diese werden unter der drittenGruppe (RG3) als Deliberationsregeln zusammenge-fasst. Da sich die Beratungstätigkeit auf Moralfragenspezialisiert, muss das Gremium über eine selektiveWahrnehmung moralischer Probleme verfügen. Undda die Beratungsleistung der verschiedenen Gremien

den Anforderungen angepasst sein muss, die in Ab-hängigkeit vom institutionellen Kontext variieren,werden in die Gruppe der Deliberationsregeln auchRegeln aufzunehmen sein, die die Beratungsleistungdes Gremiums je nach institutionellem Kontext spezi-fizieren. Die Deliberationsregeln lassen sich weiteruntergliedern:

1. Die Wahrnehmung moralischer Probleme erfor-dert Problemsortierungsregeln. Die an das Gre-mium als problematisch herangetragenen Situatio-nen oder Tatbestände tragen ja sozusagen keine Kennzeichnung, anhand deren sie ins Moralfach oder in ein anderes Fach zu sortieren wären. Immer wieder stolpert man in der Literatur über die Forderung, KEKs sollten die ethischen (im Unterschied zu emotionalen, rechtlichen, religiö-sen, professionellen etc.) Seiten einer Problem-situation identifizieren. Das klingt ein wenig nach

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der Aufgabe, unter Äpfeln, Birnen und Pflaumen das Obst zu identifizieren. Denn unter Umstän-den sind es ja gerade die emotionalen, rechtlichen,religiösen, professionellen Seiten einer Problema-tik, die zu moralischer Unsicherheit führen, also normative Fragen aufwerfen. Dennoch muss die Unterscheidung in geregelter Form gehandhabt werden, ob eine – gegebenenfalls was an einer – Problemsituation ein moralisches Problem darstellt(und zwar eines, das in die Zuständigkeit des Gre-miums fällt, siehe RG2) oder nicht.

2. Zu den Deliberationsregeln müssen auch Regeln gehören, die bestimmen, was gemäß dem Selbst-verständnis des Gremiums nicht auf dessen Agen-da kommen soll (Nichtthematisierungsregeln). Eine Begrenzung der Thematisierung ist wegen der stets begrenzten Kompetenzen (vgl. RG2) und Ressourcen (vor allem der Zeit, vgl. RG1) aus prag-matischer Sicht notwendig für den Deliberations-prozess.

3. Ein ethikberatendes Gremium kommt normaler-weise zu Stellungnahmen im Rahmen der als mo-ralisch problematisch wahrgenommenen Situation.Daher muss das Gremium solche Stellungnahmen als Moralurteile verstehen und auch so verstanden wissen wollen. Zur Bildung von Moralurteilen, fürdie Geltungsansprüche erhoben werden können, sind aber normative Grundlagen (im einfachsten Fall: eine bestimmte Moralauffassung) erforderlichund daher Regeln der Integration von normativen Grundlagen in die Deliberation. Hier ist an ethi-sche Grundtheorien zu denken (Utilitarismus, Kontraktualismus, Kantianismus und anderes), an „Moralprinzipien“ wie zum Beispiel die bekannten„vier Prinzipien der Bioethik“ nach Beauchamp/ Childress, an standesmäßige (zum Beispiel ärztli-che) oder auch religiös texturierte Moralauffassun-gen (zum Beispiel christliche Ethik).

Ein Gremium mit utilitaristisch orientierten Über-legungen unter scheidet sich ceteris paribus in sei-nen Regeln der Integration normativer Grund-lagen von einem Gremium, das seine Überlegungen am „Geist des Evangeliums“ orientiert. Aller-dings ist innerhalb der philosophischen Ethik sehrumstritten, wie viel die Orientierung an derart großformatigen ethischen Grundlagen wirklich zurAusstattung von Moralurteilen mit vernünftiger Autorität beiträgt. Aber dass überhaupt normativeGrundlagen – in geeigneten Formaten – einzube-

ziehen sind, ist kaum strittig. Auch werden sich die Überlegungen in ethischen Beratungsorganen oft nicht auf normative Grundlagen im rein mora-lischen Sinne von Normativität beschränken kön-nen, sogar dann nicht, wenn die Überlegungen auf eine Stellungnahme im rein moralischen Sinne von Normativität (nämlich auf ein Moralurteil) hinauswollen. Oft werden nämlich normative Grundlagen nicht moralischer Art zu integrieren sein, zum Beispiel geltendes Recht. Die „Integra-tion“ normativer Grundlagen hat also eine zwei-fache Bedeutung: Wie werden spezifisch morali-sche Standards in die Urteilsbildung einbezogen– und wie werden diese Standards mit anderen

relevanten Standards vermittelt, die andere, außermoralische Weisen der Verbindlichkeit verkörpern (zum Beispiel rechtliche)?

4. Außerdem wird die Gruppe der Deliberations-regeln solche enthalten, die die Überlegungen undsomit die gesamte Beratungsleistung des betreffen-den Gremiums auf den für es spezifisch erwarte-ten Input und Output (siehe RG1, RG2 und RG4) zuschneiden (spezifische Ablaufregeln). Noch eine weitere Gruppe von Regeln (RG4) lässt sich struk-turell bestimmen: die Output-Regeln. Diese regelndie Implikationen, die die Stellungnahmen (Mo-ralurteile), zu denen das Gremium in seinen Über-legungen gelangt, haben oder haben sollten. Stel-lungnahmen müssen den Ratsuchenden, die dem Gremium den Anlass zum Tätigwerden gegeben haben (siehe RG2), in geeigneter Form dargebotenwerden (Darbietungsregeln). Auch wie es mit den Stellungnahmen über die Darbietung hinaus wei-tergehen soll, bedarf der Regelung (Anschluss-regeln).

Anschlussregeln bestimmen zum Beispiel, ob und wenn ja welche Sanktionen sich an Beachtung beziehungsweise Nichtbeachtung einer Stellung-nahme knüpfen. Aber auch wenn ein Gremium seine Stellungnahmen ganz sanktionsfrei und „rein beratend“ zur Geltung bringen will, werden passende Anschlussregeln benötigt, hier zum Bei-spiel solche, die dem Gremium gestatten zu über-wachen, ob die erwünschte Nichtdirektivität in den weiteren Kreisen, die die Darbietung der Stel-lungnahme sozusagen im Leben der Institution zieht, auch durchweg erhalten bleibt.

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6. Ethikberatung in Einrichtungen des Gesundheitswesens

Ethikberatung ist keine Besonderheit von Kranken-häusern. Gleichwohl verfügen Krankenhäuser übereine längere Erfahrung mit Klinischen Ethikkomitees.Die Implementierung von Ethikberatung in Einrich-tungen der stationären Altenhilfe, ambulanten Diens-ten, Hospizen muss den Besonderheiten der Organi-sation Rechnung tragen. Wenn in diesem Beitragüberwiegend Klinische Ethikkomitees behandelt wur-den, dann ist dies motiviert durch die Perspektiven-vielfalt der Mitglieder eines Ethikberatungsgremiums.

Wie die Vielfalt der Organisationsformen gezeigt hatgibt es in Deutschland unterschiedliche Modelle undFormen, die im organisationellen Kontext ihre Be-rechtigung haben. So bietet die Regelmatrix vonKettner/May die Folie, auf der spezielle organisati-onsethische Überlegungen für die Implementierungvon Strukturen von Ethikberatung angestellt werdenkönnen. Wenn gleichwohl Ethikberatung in Kranken-häusern in einzelnen Einrichtungen eine längere Er-folgsgeschichte vorweisen kann, so treten moralischeKonflikte auch in anderen Einrichtungen des Ge-sundheitswesens auf, wie etwa in Einrichtungen derstationären Altenhilfe, ambulanten Diensten undHospizen. Universitätskliniken haben professionelleEthikberatung bislang noch nicht in jedem Universi-tätsklinikum eingerichtet.

Forum zur Diskussion unterschiedlicher MoralurteileKlinische Ethikkomitees bieten ein Forum zur Dis-kussion unterschiedlicher Moralurteile und individu-eller Intuitionen. In Moralurteilen werden Einstel-lungen zu akuten Situationen zum Ausdruck ge-bracht. Die Institution Krankenhaus kann die Dis-kussion dieser unterschiedlichen Moralurteile fördernund ein interdisziplinäres Forum bieten. Bei Entschei-dungen innerhalb der Organisation Krankenhaus wer-den diese transparenter und innerhalb des Gestal-tungsspielraums nachvollziehbarer. Die Präsenz einesEthikkomitees in der Klinik erhöht die Arbeitszufrie-denheit, da die Partizipation die Möglichkeiten zurBewältigung von „moralischem Stress“ verbessert.

In der Erklärung der konfessionellen Krankenhaus-verbände findet sich zum Auftrag der KEKs folgen-der Wortlaut: „Probleme im Krankenhaus entstehendann, wenn die allgemeinen Grundsätze ärztlichen undpflegerischen Handelns entweder zu unspezifisch sind,als dass man daraus eine konkrete Handlungsstrategieableiten könnte, oder wenn sie miteinander kollidieren

(...). Ethikkomitees werden sich in solchen Fällen bemü-hen, nach bestem Wissen und Gewissen im gemeinsamenDiskurs die relativ beste Lösung zu finden. Entschei-dungen „ohne Rest“ wird es hier oft nicht geben. Christ-liche Leitlinie des Handelns wird die aus der LiebeGottes gespeiste Liebe zum Nächsten und zugleich dasBewusstsein der eigenen Vergebungsbedürftigkeit sein.Das schützt vor einer bequemen Selbstgenügsamkeit, diees bei mangelnderKlarheit vorzieht, die eigene und zu-fällige Meinung aufzudrängen, statt nach einer Lösungzu suchen, die mindestens im Komitee und im Kreis derBeteiligten kommunikabel und konsensfähig ist.“

Als Zielsetzung eines Klinischen Ethikkomitees undals erwartete Effekte der Profilbildung – die auch derAbgrenzung dienen bzw. einem Universitätsklinikumzum Wettbewerbsvorteil gereichen kann – nennt dieSatzung des Klinischen Ethikkomitees der Medizini-schen Hochschule Hannover die Veränderung desKlimas und des Stils der Patientenversorgung.

Die Implementierung professioneller Strukturen vonEthikberatung muss in einem organisationsethischenProzess in der betreffenden Institution ablaufen. Einwesentlicher Aspekt dabei ist der professionsüber-greifende Ansatz von Klinischer Ethikberatung. DieVielfalt der in einem Krankenhaus durch die Akteurevertretenen Wertüberzeugungen und Perspektivenspricht für eine ebenso breite Orientierung in einemKlinischen Ethikkomitee. Zumeist beruhen morali-sche Konflikte auf differierenden Ansichten zu aktu-ellen Situationen wie zum Beispiel der Auslegungeiner Patientenverfügung. Eine in der Situation derKlinischen Ethikberatung mögliche Perspektiven-vielfalt durch mehrere Mitglieder der ethischen Fall-besprechung wird dem Ansatz des Diskurses in einerGesprächssituation am besten gerecht. Die Mitgliederdes Klinischen Ethikkomitees sind als Beraterinnenund Berater in den Meinungs- und Positionsfindungs-prozess des Behandlungsteams integriert, ohne demlegitimierten Entscheidungsträger die Entscheidungs-last abnehmen zu wollen oder zu können.

Klinische Ethikberatung wird im Kontext der ethi-schen Fallberatung als methodische und inhaltlicheUnterstützung bei Gewissenskonflikten empfunden.Die Mitglieder einer Klinischen Ethikberatung solltensich vor einer eigenen Meinung nicht scheuen, dennsie können nach einer Grundausbildung ein ethischesProblem erkennen und reflektieren. Dabei hilfreichist die Kenntnis von Begründungsansätzen in derEthik. Für die Akzeptanz Klinischer Ethikberatung

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ist das Selbstverständnis der Ethikberater entschei-dend, denen es nicht um die Bewertung von fremdenmoralischen Positionen gehen darf. Eine eigene Mei-nung als Ethikberater zu vertreten ist verbunden mitder individuellen eigenen Bewertung der von denRatsuchenden und anderen Teilnehmern vorgebrach-ten Argumente. Wenn dies gelingt, so erfüllt Kli-nische Ethikberatung den eigenen Anspruch einerVerbesserung der Zufriedenheit sowohl für Patientin-nen und Patienten als auch der Mitarbeiterinnen undMitarbeiter mit ihrem jeweiligen Arbeitskontext. Klinische Ethikberatung wird zur Sensibilisierung inmoralischen Fragen nur dann beitragen können,wenn konkrete Ansprechpartner zeitnah für eineethische Fallbesprechung zur Verfügung stehen. DieBekanntmachung der Möglichkeit zur Anforderungeiner ethischen Fallbesprechung wird eine der erstenAufgaben für Klinische Ethikberatung sein, nachdemdie Mitglieder des Beratungsteams mit ihrer Aufgabeund damit dem Selbstverständnis der KlinischenEthikberatung vertraut gemacht wurden.

Stärkung des moralischen BewusstseinsOrganisationsethisch bietet ein auf breiter Basis zu-sammengesetztes Klinisches Ethikkomitee gute Aus-gangsbedingungen für die Stärkung des moralischenBewusstseins und des Verantwortungsgefühls in derPatientenbetreuung im eigenen Klinikum, da ausunterschiedlichen Bereichen Rückmeldungen an dasKlinische Ethikkomitee gelangen können. Auch sinddie Mitglieder des Klinischen Ethikkomitees im Kli-nikum präsent und für Kolleginnen und Kollegen ansprechbar. Die persönliche Hemmschwelle für einGespräch mit einem Mitglied des Klinischen Ethik-komitees und gegebenenfalls für die Anforderungeiner ethischen Fallbesprechung ist umso niedriger, je leichter man mit einem Mitglied des KlinischenEthikkomitees ins Gespräch kommen kann. Durchdie Präsenz im Haus wird das Gespräch mit Mitglie-dern des Klinischen Ethikkomitees zur Alltagsrou-tine und nicht zur legitimationsbedürftigen Ausnah-mesituation, die eventuell mit dem Gefühl des eige-nen Versagens verbunden sein kann.

Die Einführung von professionellen Strukturen derKlinischen Ethikberatung ist somit ein Beitrag zurPersonalentwicklung. Konfessionelle Einrichtungenhaben die Professionalisierung von Ethikberatunggeprägt. Für Kostka brauchen Einrichtungen undDienste systematische und strukturierte Formen undOrte der ethischen Reflexion und Beratung. ZurVorbereitung von Mitgliedern des Ethikkomitees hat

der Arbeitskreis der Ethik-Beauftragten kirchlicherTräger im Gesundheitswesen 2007 ein Curriculum zurQualifikation für Mitglieder von Ethikkomitees inkirchlichen Einrichtungen des Gesundheitswesensvorgestellt. Aus Sicht der Malteser ist KlinischeEthikberatung ein Instrument für werteorientierteUnternehmen im Gesundheitswesen. Die bisherigenPionierleistungen der konfessionellen Krankenhäusersollten andere Träger und speziell Universitätsklini-ken zur Ausformung und Etablierung professionel-ler Ethikberatung motivieren und ihnen Vorbild sein.

Literatur

1. Alexander (1962): Shana Alexander, They decide who lives, who dies, Life Magazine 53 (1962), 20, pp. 102-125

2. Beauchamp/Childress (2001): Tom L. Beauchamp, James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, New York 52001

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6. Gillen (2006): Erny Gillen, Wie Ethik Moral voranbringt!, Münster 2006

7. Heinemann (2005): Wolfgang Heinemann, Ethische Fallbesprechung, Eine interdisziplinäre Form klinischer Ethikberatung, Köln, Malteser Trägergesellschaft (Hrsg.), 2005

8. Heinemann (2007): Wolfgang Heinemann, Klinisches Ethikkomitee,Ein Beratungsinstrument für wertorientierte Unternehmen im Gesundheitswesen, Köln, Malteser Trägergesellschaft (Hrsg.), 2005

9. Jonsen (1998): Albert Jonsen, The birth of bioethics, New York 199810. Kostka (2008): Ulrike Kostka: Ethikkomitee und ethische Fall-

besprechung: Ein Beitrag zur diakonischen Profilierung von Alten-hilfeeinrichtungen der Caritas, Beitrag zur Tagung „Ethikkomitee und ethische Fallbesprechung in Einrichtungen und Diensten der katholischen Altenhilfe“, Mainz 17.01.2008

11. KTQ (2004): Kooperation für Transparenz und Qualität im Krankenhaus (KTQ), KTQ Katalog, Düsseldorf 2004

12. May et. al. (2007): Arnd T. May, Georg Beule, Gerhard Franke, Karin Gollan, Wolfgang Heinemann, Brunhilde Oestermann: Curriculum zur Qualifikation für Mitglieder von Ethikkomitees in kirchlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens, Arbeitskreis der Ethik-Beauftragten kirchlicher Träger im Gesundheitswesen (Hrsg.), Koblenz 2007, online unter http://www.edith-stein-akademie.de/ Vorschau%201-2008/Neue%20Dokumente/Ethik-Curriculum%20% DCberarbeitet%20Beule.pdf

13. MHH (2006): Satzung des Klinischen Ethikkomitees der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Hannover 2006, online unter http://www.mh-hannover. de/2398.html

14. Richter (2007): Gerd Richter, Greater Patient, Familiy an Surrogate Involvement in Clinical Ethics Consultation: The Model of Clinical Ethics Liaison Service as a Measure for Preventive Ethics, HEC Forum2007, online first

15. Simon/May/Neitzke (2005): Alfred Simon, Arnd T. May, Gerald Neitzke, Curriculum „Ethikberatung im Krankenhaus“, Ethik in der Medizin 17 (2005), 4, S. 322-326

16. Steinkamp/Gordijn (2003): Norbert Steinkamp, Bert Gordijn, Ethik in der Klinik – ein Arbeitsbuch, Neuwied 2003

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17. Viefhues/Sass (1987): Herbert Viefhues, Hans-Martin Sass, Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis, Bochum 1987 (= Medizinethische Materialien, 2)

18. Vollmann (2008): Jochen Vollmann, Ethikberatung an deutschen Universitätskliniken. Empirische Ergebnisse und aktuelle Entwicklungen, Dominik Groß, Arnd T. May, Alfred Simon (Hrsg.), Beiträge zur Klinischen Ethikberatung an Universitätskliniken, Münster 2008, S. 31-46

19. ZEKO (2006), Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärzte-kammer zur „Ethikberatung in der klinischen Medizin“, Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), 24, S. A1703-1707

20. Zumtobel/Finke (1994): Volker Zumtobel, Ulrich Finke, Universitätsklinik St.-Josef-Hospital Bochum, Hals-Nasen-Ohren-Klinik im St.-Elisabeth-Hospital, in: Medizinische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (Hrsg.), Festschrift zum fünfundzwanzig-jährigen Bestehen der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Bochum 1994

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Vortrag Prof. Dr. Heribert W. Gärtner | 19

Prof. Dr. Heribert W. Gärtner

Ethik und Organisation – eine spannende Partnerschaft

Sehr geehrte Damen und Herren,ich weiß nicht, wie mein Vortragstitel auf Sie wirkt.Da kann man sich ziemlich viel darunter vorstellen.Für einen Referenten natürlich ideal. Er kann sagen,was er sagen will. Man hat mich zu dieser Tagung eingeladen, obwohl ich kein Ethiker bin. Ich lehreManagement und Organisationspsychologie amFachbereich Gesundheitswesen der KatholischenFachhochschule NW in Köln; daneben bin ich ge-lernter Theologe. Die Beschäftigung mit Organisationgehört in Lehre und Beratung zu meinem Tages-geschäft. Aus dieser Perspektive beobachte ich seitlängerem mit großem Interesse das Thema der Ethik,vor allem im Kontext der Unternehmensentwicklungkirchlicher Einrichtungen. Deshalb bin ich gernehierher gekommen und danke für die Einladung.

Ethik ist zurzeit dran. Viele Publikationen, Tagungen,wie diese, Qualifizierungsmaßnahmen zu Ethikbera-tern, alles untrügliche Indikatoren, dass sich hier einneues Thema durchgesetzt hat. Nachdem sich Unter-nehmen zum Teil intensiv mit Wirtschafts- und Un-ternehmensethik beschäftigt haben, hat die Ethikauch die Sozialunternehmen erreicht; nichts wirklichNeues. Das geht mit anderen Themen auch so. Überverschiedene Topoi hinweg entstanden Bereichs-ethiken: Medizinethik, Pflegeethik, diakonischeEthik. Nicht dass man jetzt erst über Ethik spricht;

Lehrstühle zum Beispiel für Medizinethik gibt es nunschon länger und in Fortbildungen kirchlicher Trägerlief das Thema auch ständig mit. Aber nun ist Ethikauch organisational und manageriell hoffähig gewor-den.

Es interessiert nicht nur jene, die zum Beispiel in kli-nischen oder pflegerischen Entscheidungssituationendie Frage nach dem richtigen und guten Handeln stel-len, sondern auch die Träger und das Management;auch Strategie und Führung sind Felder ethischerReflexion. Führungsethik ist kein Fremdwort mehr.Betriebsinterne Routinen zur ethischen Entschei-dungsfindung zu haben, zum Beispiel für Fragen desLebensendes, gehört inzwischen zum Methoden-repertoire zumindest größerer Sozialunternehmen.Aber auch managerielle Routinen sind davon tangiert.So thematisiert zum Beispiel das betriebliche Fehler-management, dass die chronische Ist-Soll-Abweichungin Organisationen eben doch ein Normalfall ist (entgegen der Null-Fehler-Behauptung) und fängt die Abweichung über Verfahren wieder ein.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte überdrei Beobachtungen sprechen, die mir bei dem Zu-sammenhang von Ethik und Organisation aufgefal-len sind.

1. Beobachtung: Zur Oberflächenallianz von Management und EthikDiejenige Funktion, die sich mit Organisation profes-sionell beschäftigt, ist das Management. Deshalb zu-erst zum Management. Wenn man Handbücher desManagements und entsprechende Zeitschriften an-schaut, entdeckt man in jeder Nummer viele interes-sante Beiträge darüber wie Organisation sein soll.Zurzeit sind wir fast gesellschaftsepidemisch mit derQualitätsfrage beschäftigt und mit unterschiedlichenModellen, wie Qualität methodisch herstellbar, zu-mindest jedoch kontrollierbar sei. Keiner kann sicherlauben, sich außerhalb dieser Qualitätsfrage zubewegen; nur unterschiedliche Konfessionen sindzugelassen, DIN ISO, EFQM usw. Damit dies nichtPrivatangelegenheit bleibt wird gesetzlich geregelt undzertifiziert.

Die Bestätigung der Anstrengung kann man dann inder Regel als Zertifikate in Eingangshallen lesen undsehen. Inzwischen haben alle gelernt und wissen, wiedas Management der Zertifizierung und seiner inhalt-lichen und strategischen Vorbereitung, manchmalauch seiner Nachbereitung, geht. Das organisationale

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Leben darf misslingen, aber man hat ein Format indem dieses Misslingen zur Sprache gebracht und na-türlich kontinuierlich verbessert wird. Man ist inständiger Prozessrevision.

Ich selbst habe vor 15 Jahren eine Dissertation zumThema Katholisches Krankenhaus und CorporateIdentity geschrieben. Damals war ich, was sicher fürden Abschluss der Dissertation sinnvoll war, davonüberzeugt, dass Organisationskulturen ziemlich ge-staltbare Größen sind, wenn man das methodisch nur richtig mache. Aus heutiger Sicht etwas naivgedacht, wenn man sich zum Beispiel mit gescheiter-ten Fusionen, auch bei Sozialunternehmen befasst.Dazwischen lagen das Lean Management, dieLernende Organisation usw. Wir haben es also miteiner wellenartigen Bewegung managerieller Formateund Programme zu tun, mit denen wir die Organi-sation in wechselnden Zeitabständen beackern.

Bekehrungsprogramme werden entwickeltLässt man diese manageriellen Etappen an sich vorbeiziehen, kann man zu der Auffassung kommen, dasses beim Management und seiner Reflexion, zumin-dest in seiner öffentlichen Darstellungsseite, gar nichtso pragmatisch, sondern viel eher normativ zugeht.Man macht sich Gedanken über bessere organisatio-nale Zustände und entwickelt die entsprechendenmanageriellen Bekehrungsprogramme, die natürlichwechseln. Es wäre ja grauenhaft immer vor Ähnli-chem zu stehen. Mit Stephan Kühl müsste man jadann vom „Sisyphos“ im Management reden.

Wie man von den neuen Programmen Änderungerwartet, so auch von den Leuten. Es fängt klein an.Die neue Leiterin des ambulanten Dienstes soll eineshinkriegen: Die Antworten auf jene Fragen zu organi-sieren, die der MdK bei der letzten Prüfung gestellthat. Wenn Sie es schafft, kann sie was. Auf jeden Fallkann sie solche Antworten produzieren, die Proble-me lösen. Das Management hält zumeist konsequentan diesen manageriellen Wahrnehmungsmustern festund entwickelt in seiner Meetingkultur die nächsten;das Leben geht ja weiter.

Die Organisation soll ja gestaltet werden und vieleFührungskräfte denken sich das im Paradigma desTöpfers, der den organisationalen Ton modelliert.Das erwartet man auch von ihnen. Verstehen Siemich nicht falsch. Das muss so sein; das Manage-ment braucht eine solche normative Ausrichtung,

sonst kommt man in Organisationen nicht weiter.Offen ist die Frage, was diese Bekehrungsprogram-me mit der Organisation machen, ob es dort zu einerwirklichen Unterschiedsbildung kommt oder nicht.Ist vor dem Programm etwas anders als nach demProgramm?

Ich komme auf diesen Sachverhalt zurück. Woraufich an dieser Stelle hinweise: Das Management ist beigenauerem Hinsehen zumeist normativer als es tut.Es verkauft vielfach Hoffnung auf Veränderung mitden dazugehörigen Programmen und produziert einNetzwerk von Instrumenten, das den Eindruck ver-mittelt die Organisation im Griff zu haben. Von die-sen Hoffnungsgeschäften lebt die Trainer- undBeraterbranche ganz gut.

Wenn man diese Beobachtung der Normativität imManagement teilt, ist der Schritt zur Allianz mit derEthik nicht weit.

Nun zur Ethik: Lassen Sie mich hierzu zuerst einenEthiker zitieren: „Im Griechischen gibt es ja zweiVarianten des Wortes Ethos: ethos mit dem Buch-sta-ben Epsilon meint soviel wie „Wohnstätte, Gewohn-heit, Sitte“; mit dem Buchstaben Eta bedeutet dasWort fast dasselbe, legt aber die Betonung auf „Sitte,Sittlichkeit und Charakter“. Die ethike episteme oderta ethika reflektieren somit darüber, was das Ethos istbzw. wie und warum denn eine bestimmte Sitte ent-steht und besteht. Ethik ist also nicht primär selbstdie Sitte oder ein bestimmtes Verhalten, sondern dieReflexion darüber, obwohl sekundär „Ethik“ danndoch wieder im Sinne von „Sittlichkeit“ gebrauchtwird und man zum Beispiel von einem „ethischen“bzw. „unethischen“ Menschen, Verhalten etc. sprichtund dabei nicht mehr die Reflexion, sondern dieQualität von Handlungen und Einstellungen meint“1.

Die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten sind diepraktizierten mores, so der lateinische Terminus vondem wir unseren Begriff der Moral ableiten. Sie, dieSitten, Gebräuche und Gewohnheiten werden durchdie Ethik auf ihre Gutheit hin befragt werden. Inunserem heutigen Begriff der Moral werden die Sit-ten, Gebräuche und Gewohnheiten bewertet und mitdem Etikett gut und böse oder zu achten oder zumissachten versehen. Die Ethik reflektiert also diepraktizierte Moral und versucht Antworten nach demrichtigen und guten Leben zu organisieren.

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Die Unterscheidung von Ethik und MoralFür mein Thema ist die getroffene und sicher geläu-fige Unterscheidung von Ethik und Moral wichtig.Praktizierte Moral, der Vollzug der mores, der Sittenund Gebräuche haben wir in Organisationen schonimmer. Wir haben es in Organisationen nicht in ers-ter Linie mit Ethik, sondern mit vollzogener Moralzu tun. Die Sitten und Gebräuche, zum Beispiel desberuflichen Handelns, sind in die Alltagsroutinen ein-gegossen und vollziehen sich gewisserweise auf „orga-nisationaler Stammhirnebene“. Man kann zwar indi-viduell von diesen Routinen abweichen, was ihreBedeutung aber nicht mindert. Man kann dann vonder Wirksamkeit der Sitten und Gebräuche ausgehen,wenn Abweichung zumeist durch Führung zur Kennt-nis genommen wird.

Jeder von uns realisiert die mores, die Sitten und Ge-bräuche, wenn er oder sie morgens auf Station, insHeim oder ins Büro geht. Und wir verlassen uns dar-auf, dass die Sitten und Gebräuche uns durch den Tagund seine erforderlichen Entscheidungen steuern. Esist also nicht die Frage, ob es in Organisationen Mo-ral gibt; sie ist immer als konkret vollzogene vorhan-den, sondern ob man mit den vollzogenen mores ein-verstanden ist oder andere will. Man kann also sagen:Wer Ethik will, muss mit der praktizierten Moralrechnen. „Dass moralische Orientierung faktisch inGeltung ist bedeutet nicht bereits, dass sie als gerecht-fertigt beurteilt werden“.2 Die praktizierten moreskönnen also durchaus fragwürdig sein.

Genau hieraus ergibt sich die organisationale Notwen-digkeit der Ethik. Ethik als Reflexion der guten undrichtigen Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten for-muliert oder organisiert andere mores. Insofern gibtes ein massives Spannungsfeld zwischen Ethik undMoral, den vollzogenen mores; vergleichbar mit jen-em von Lernen und Wissen. Das Lernen in Organisa-tionen ist ja der entschiedene Gegner des praktizier-ten Wissens, weil das Lernen das praktizierte Wissenin Frage stellt, ersetzt, lahmlegt oder löschen will.3

Wissen ist in Organisationen in der Regel enttäu-schungsbereit formuliert, kann und soll also überholtund ersetzt werden; jetzt gilt der ExpertenstandardDekubitus und nicht mehr die früher üblichenPraktiken.

Die mores, die Sitten und Gebräuche, welche überAchtung und Missachtung, gut oder schlecht ent-scheiden, sind anderer Natur als das enttäuschungsbe-

reite Wissen, das sich als fachlich richtig oder falschqualifiziert. Die mores sind normativ konzipierteWissensbestände und brauchen für ihre Ersetzungandere Legitimationszusammenhänge als bloß wissen-schaftliche Erkenntnis. Den neuen Mores wird Nor-mativität zugeschrieben und gerade damit deklariert,dass es sich hier um einen Wissensbestand handelt,der nicht so einfach oder auch gar nicht abgelöst wer-den kann. In einem katholischen Krankenhaus kön-nen Abtreibungen kein Regelangebot sein.

Verfahrensethik in OrganisationenWenn man beide bisher vorgetragenen Gedanken-gänge, jene zum Management und jene zur Ethik,zusammenliest, entdeckt man eine interessante struk-turelle Gemeinsamkeit. Sowohl das Management unddie Managementwissenschaft als auch die Ethik den-ken vielfach in rationalitätsgesteuerten Optimierungs-kategorien. Vorhandene Zustände sollen in anderenützlichere bzw. bessere überführt werden. Formalbetrachtet sind beide von einer anderen, erhofften,besseren organisationalen Zukunft angetrieben. Auchmaterialiter entdeckt man Gemeinsamkeiten. Ethik inOrganisationen zeigt sich neben der normativen Aus-flaggung von Einzelfragen vor allem als Verfahrens-ethik. So ordnen sich zum Beispiel Leitfäden für dieethischen Entscheidungen am Leben nahtlos in diesonstigen Verfahrens- und Prozessregeln ein, wie sieim OM üblich sind. Das gleiche gilt für die Flussdia-gramme des Fehlermanagements, welche das chro-nisch vorhandene Abweichungsverhalten von Mitar-beitern in Organisationen zum organisationalen Normalfall erklären und aus der Abweichung eineUmkehrbewegung oder neutraler gesagt daraus Ler-nen oder Konformität machen.

Freundliche Allianz von Ethik und ManagementWir haben es also mit einer freundlichen Allianz vonEthik und Management im Bezug auf ihren Gegen-stand, die Organisation, zu tun. Die Optimierungs-struktur manageriellen Denkens verträgt sich mit denVeränderungsimpulsen der Ethik, die vorhandenemorales durch neue ersetzen will. Sie sind nicht nurdie nützlicheren, sondern die guten, die besseren.Damit ist nachvollziehbar, dass die ethischen Fragenjenseits ihrer Notwendigkeit in einzelnen Entschei-dungsfeldern derzeit so fulminant zum Thema inOrganisationen werden können. Es geht also nichtum Spannung, sondern um Aufgabenteilung im Wis-sensmanagement der Organisation. Die Fachwissen-schaften Management, Medizin, Pflege beackern das

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enttäuschungsbereite Wissen, die Ethik kümmert sichum die normativ konzipierten Wissensbestände undderen Renovierung bzw. Generierung. Sinnvolle Ar-beitsteilung für ein Komplettprogramm, so scheint es.

Zweite Beobachtung: Organisationen sind gegenüber Veränderungs-impulsen oftmals renitent; „organisationaleZweisprachigkeit ist kein Einzelfall“.Ich habe über die Gestaltungsabsicht des Manage-ments und der Ethik im Sinne der Optimierung undden damit verbundenen Programmen und Verfahrengesprochen. Richtet man den Blick vom Managementund von der Ethik auf die Organisation, tauchen je-doch Fragen auf. Viele, die hier sitzen, kennen die an-dere Seite der Optimierung und könnten vermutlichGeschichten hierzu erzählen. Die gewünschte Opti-mierung der Organisation, die Transformation von A nach B, auch die Ablösung der bewährten Sittenund Gebräuche, der mores, stellt sich vielfach nichtein, auch wenn sie von Beratern unterstützt, aufwän-dig erarbeitet wurde.

In einem Krankenhaus wurde ein Rohrpostsystemeingeführt, damit die Leute nicht mehr zum Laborhinunter in den Keller laufen mussten. Die erhoffteOptimierung lag auf der Hand und war in Minuten-werten nachrechenbar. Innerhalb kurzer Zeit erhöhtesich jedoch die Fluktuation im Labor. Die Mitarbeiterim Keller waren plötzlich abgeschnitten und bekamenweniger mit, was im Hause los ist. Die Leute auf Sta-tion verloren den legitimen Spaziergang in den Kel-ler. Jetzt kann man natürlich sagen, da sind endlichKomfortzonen beschnitten worden. Auf jeden Fallwurde die Nebenwirkung dieses Organisationsmedi-kamentes nicht bedacht und mit seinem beabsichtig-ten Nutzen ins Verhältnis gesetzt.

Oder das Zitat eines ärztlichen OP-Managers zu derguten Stimmung und ihrem Erfolg beim OP-Manage-ment („Die Klinik ist gar nicht so weit weg vonhier“). „Wenn wir das machen würden, was wir imHandbuch gemeinsam erarbeitet haben, wären wirnicht so erfolgreich wie jetzt.“ Die OP-Mitarbeiterdieses Krankenhauses einschließlich der Ärzte sindoffensichtlich nicht scharf darauf, die neuen, natür-lich technisch viel besseren und funktionaleren OP-Räume endlich zu beziehen. Gott sei Dank passiertimmer etwas anderes, was dies seit Monaten verhin-dert; über den jetzigen Stand bin ich nicht infor-miert. Und bei der Erstellung des neuen OP-Hand-

buchs sind sie alle dabei gewesen und fanden es gut,was sie sich an optimaler Struktur ausgedacht haben.Aber sie machen es nicht und sind noch froh da-rüber.

Verfahrensanweisungen sind wie SpeisekartenManche Verfahrensanweisung in Organisationen hateher den Status von Speisekarten, die man vor-zeigen kann, denn von Menus, die wirklich gegessenwerden. Natürlich stehen überall die vielen schönenKochbücher, die man mit großer Mühe erstellt hat.Bei den Meetings, wo darüber entschieden wurde, was da reinkommt, haben die meisten auch gesagt:Das schmeckt aber gut und kochen kann man esauch. Bei etwas Nachdenken wird auch deutlich, dassdie Erklärung, man sei vor allem von unverständigenoder unwilligen Dummköpfen umgeben, die nichtkochen wollen oder können, nicht sehr weit reicht.Deshalb braucht man sinnvolle Erklärungsansätzeüber das faktische Wirken von Organisationen undihr unendliches und variantenreiches Renitenz-potenzial.

Die Rationalitätsüberschätzung von Organisationenund ihrer Gestaltung entspricht oft jenen Erwartun-gen, die Chefs von Organisationen gegenüber ihrenFührungskräften und Mitarbeitern haben: Die richti-ge, kompetente Frau oder den dynamischen, cleverenMann geholt und dann muss es klappen. Führungs-kräfte müssen deshalb so tun, als hätten sie den La-den im Griff. Sie sollen die Töpfer sein, die den Tonder Organisation in ihren Händen gestalten.

Führungswechsel als Äuqivalent für StrukturänderungOrganisationen, die als Produktionsprozess personen-bezogene Dienstleistungen, also Interaktionsarbeithaben und dazu noch in Beziehungskategorien sozia-lisiert sind, wie zum Beispiel die Pflege, neigen nach-vollziehbar zu dieser Art von Personalisierung. Wennes chronisch nicht klappt und die Führungskräfte sichnicht rechtzeitig in Deckung bringen, werden dieLeute ausgewechselt. Die Methode heißt: Führungs-wechsel als Äquivalent für Strukturänderung. Deshalbsind Managerinnen und Manager gut darauf trainiert,dort zur Verfügung zu stehen, wo die Adresse für Er-folg gesucht wird, und sich diskret im Hintergrundzu halten, wenn die Zuschreibung Misserfolg zur Ver-fügung steht. Auch wenn alle wissen, dass der neueGeschäftsführer eine fast unlösbare Aufgabe zu stem-men hat, erwartet der Aufsichtsrat von ihm dieLösung – deshalb wurde er geholt. Die Verdauungs-

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fähigkeit von Organisationen und ihre Bereitschaftzur Wiederholung ist dabei erstaunlich groß. In nichtwenigen Fällen bleiben danach die Probleme die glei-chen, bis die Rille in der Schallplatte, wenn sie denantiquierten Vergleich erlauben, unüberhörbar wird.Die sich hartnäckig haltende Idee der rationalen Ge-staltbarkeit und Steuerbarkeit hängt wesentlich mitder Vorstellung zusammen, Organisationen seienoffen gegenüber ihrer Umwelt. Anforderungen undInterventionen von außen ließen sich nach innentransportieren und dort wie eine Kopiervorlage abbil-den. Die Offenheit von Organisationen gegenüberihrer Umwelt gibt es natürlich, sonst gäbe es keinegelungenen Anpassungsprozesse. Organisationen wür-den verdummen und an die Wand fahren. Aber dasist offensichtlich nur die halbe Wahrheit:

Organisationen sind nicht nur offen, sondern auch geschlossen.Niklas Luhmann4 hat darauf verwiesen, dass es ne-ben dem Merkmal der Offenheit bei Organisationenjenes der operativen Schließung gibt. Organisationenseien offen und geschlossen zugleich. OrganisationaleSchließung ist nützlich und notwendig, damit sichein stabiles Innenleben in Organisationen entwickelnkann und es zur internen Strukturbildung kommt.An dem flotten Spruch „Wer nach allen Seiten hinoffen ist, kann nicht ganz dicht sein5“, ist etwas dran.Thematisch entstehen so ein hochspezialisiertes In-nenleben, Strukturen mit Fachsprachen zur Abarbei-tung von Spezialproblemen, die Sematik eines OP-Saales versteht man draußen nicht mehr. Alle ande-ren Dinge spielen im Produktionsprozess dieser Orga-nisation keine Rolle. Im Akutkrankenhaus wird na-türlich auch über Aktien und Sex geredet, aber in derRegel in Stationszimmern und zwischendurch, in Pau-senräumen, auf dem Klo oder auf dem Parkplatz; siegehören nicht zum Produktionsprozess. Also radikaleKomplexitätsreduktion nach Außen mit radikalerKomplexitätserhöhung im Innern.

Betriebsroutinen sind individuellEntscheidend ist dabei, dass die Ausgestaltung derBetriebsroutinen, die das Organisationsthema bear-beiten, radikal organisationsindividuell ist. Das heißt,jedes Krankenhaus entwickelt seine Art, mit welchenRegeln es sein Produktionsthema realisiert. Von dahererklärt sich auch, dass Leitungsleute mit den gleichenVerhaltensweisen in dem einen Haus erfolgreich sindund in dem anderen eine Bauchlandung machen kön-nen. Man kann sich die Organisationsregeln wie ein

unsichtbares Straßennetz vorstellen, auf dem sich dieMitarbeiter in der Organisation bewegen. In den Re-geln drückt sich die Erwartungsstruktur der Organi-sation an erwünschtes und unerwünschtes Verhaltenaus. Man merkt dieses Regelwerk als Erwartungsstruk-tur am deutlichsten, wenn man es verletzt, in dieFettnäpfchen der Organisation tritt oder im erfolgrei-chen Fall mit ihren erogenen Zonen, also mit derErfüllung ihrer Erwartungsstrukturen in Berührungkommt. Damit ist klar, dass diese Regeln nicht mitdem übereinstimmen müssen, was die Organisationin Stellenbeschreibungen, Dienstanweisungen undLeitbildern von sich behauptet.

Die Geschlossenheit von Organisationen wirkt sichentscheidend auf die Reaktionsfähigkeit gegenüberEinflüssen und Anforderungen von außen aus. Inihrer Reaktionsweise auf Impulse von außen sindOrganisationen vor allem von sich selbst abhängig,von ihrer eintrainierten Weise auf Sachverhalte,Störungen und Anforderungen zu reagieren. Diesystemische Theorie sagt hierzu: Sie sind selbstrefe-rentiell, selbstbezüglich. Deshalb sind Organisationenoftmals wie ein angespanntes Gummi, das in seinenUrsprungszustand zurückfällt, wenn man es loslässt.Das heißt, sie sind erst einmal veränderungsresistentund „versuchen“, vorhandene Strukturen aufrechtzu-erhalten, auch wenn sie anderes von sich behaupten.

Wie viel Organisation verträgt die Organisation?Impulse von ihrer Umwelt können Organisationennur mit der Brille lesen, die sie haben, mit keineranderen. Diese Erkenntnis ist hart, weil es dazu füh-ren kann, dass einige in der Organisation sehen, dasseingeschlagene oder nicht eingeschlagene Wege fatalfür das Haus sind. Und trotzdem finden sie kein Ge-hör. Nicht, weil die Leute zu dumm wären, sondernweil die Wahrnehmungs- und Problemlösungskapazi-tät der Organisation nicht passt. Deshalb heißt dieFrage mit Dirk Baecker: „Wie viel Organisation ver-trägt die Organisation?“ Wie viel und welche Art derOrganisation der Ethik verträgt die Organisation?

Die Antwort muss individuell ausfallen. Ist eine Or-ganisation wirklich verfahrenstrainiert, hat sie weni-ger Probleme Neues hinzuzulernen. Wenn man andas kleine Altenheim denkt, das vor allem einemündliche Kultur hat, ergibt sich die Antwort vonselbst. Der geforderte oder auch vom Managementgewünschte Formalisierungsgrad von Organisationenpasst nicht immer zu deren Kapazität. Die Leute sind

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ja oftmals nicht unwillig und machen dann beides.Vor Jahren lernte ich ein Heim in der Eifel kennen;es war nach der Einführung der Pflegeversicherung.Die Dokumentation hatte eine ganz neue Bedeutunggewonnen. Man machte das irgendwie; aber für denpraktischen Vollzug war das alte Übergabebuch, dasin der Schublade versteckt wurde und natürlich nichtmehr so hieß, wichtiger. Man war ja lernfähig. Eshieß: Schau mal ins Schwarze. Die Zeiten sind vorbei,es ist Lernzwang entstanden, aber die Fähigkeit zurdoppelten Buchführung und Zweisprachigkeit istgeblieben.

Wenn man sich auf dieses Verständnis von Organi-sation einlässt, wird deutlich, dass auch die vielstrapa-zierte rationale Zweck- und Zielorientierung nichteinfach eindeutig ist. Natürlich steht in jeder Klinikder Patient in der Mitte, wie man das in vielen Leit-bildern findet. Die dort Arbeitenden wissen jedochintuitiv, dass er dort zugleich am meisten stört. Ichhatte vor wenigen Jahren Kontakt mit einem Hospiz,das gegründet wurde wegen HIV-kranken Menschen.Dann kam die Medikamentenentwicklung und dieLeute sind nicht mehr so schnell gestorben. Das Hospiz habe Probleme mit der Kundschaft. Manhätte sagen können: Für einige Jahre den Zweck guterfüllt; wir machen zu. Sie können sich denken, dass dies nicht geschehen ist. Man hat die Zweckbe-stimmung umdefiniert und erweitert und war dasProblem los. Der Wille zum Überleben der Organi-sation als Organisation war stärker.

Konsequenzen für die OrganisationWenn man dieses dargelegte Verständnis der Organi-sation akzeptiert, ergeben sich für das Verhandeln derEthik in der Organisation folgende Konsequenzen.

1. Die Organisation als Organisation hat für die in-haltliche Bestimmung ihrer normativen Ausrich-tung keine besonderen Rezeptoren, sie ist vor allem an ihrem Weiterleben interessiert, die Wis-senschaft sagt hierzu Autopoiesis. Sie ist am Voll-zug der morales, der Sitten und Gebräuche inte-ressiert. Ihre normative Ausgestaltung ist kein Automatismus, auch nicht bei kirchlichen Einrich-tungen. Man muss sie ausdrücklich wollen und tun. Speisekarten reichen nicht aus, man muss Küchen bauen und schauen, dass gekocht wird. Die Haupttestfrage heißt: Passiert etwas, wenn ich eine Norm nicht erfülle, ein Verfahren nicht an-wende?

Wir haben alle in unserem organisationalen Lebengelernt, dass in natürlichem Wechsel unterschiedliche Themen im Gewand neuer Normen an uns herangetragen werden und testen aus, ob dies ernst gemeint ist. Das heißt, wir schauen, ob es Folgen gibt, wenn wir etwas nicht tun. Das ist sinnvoll und ökonomisch. Es schützt vor orga-nisationaler Psychose. Auf diese Weise existieren inOrganisationen unzählige Betriebsaccessoires, wel-che mit der Steuerung der Organisation nichts zu tun haben. Man bestaunt sie und zeigt sie auch gerne vor. Wenn etwas zur Betriebsroutine oder zur neuen morales werden soll, kommt es darauf an, ob diese als Erwartung verhandelt werden. Er-wartungen, neue organisationale Muster, entstehennur durch wiederholten Gebrauch und Einübung; was in der Regel nur passiert, wenn Menschen, man nennt sie Führungskräfte, wie ein Terrier hin-ter der Einübung her sind oder wenn es so viel Leidensdruck gibt, dass die Veränderung als Erlö-sung oder Befreiung von erlebt wird.

Zum Aufbau von neuen Normen und der Imple-mentierung neuer Strukturen braucht es also Beobachtung und Folgenprogramme. Dann merkt man: Das scheint wirklich wichtig zu sein; nur so kommt es zum Erwartungsaufbau. Man könnte also sagen, der Organisation müssen die neuen Normen abgetrotzt werden. Ethik weicht bisherigemores, Gewohnheiten und Sitten auf; aber das Ergebnis des ethischen Diskurses muss in neue mores überführt werden. Ethik verflüssigt tradier-te Moral und überführt sie in neue Moral. Metho-disch besteht kein Unterschied zu der Anforde-rung an andere Implementierungs- und Transfor-mationsprozesse.

2. Ethik in der Organisation zeigt sich als Systemethik.Nach dem bisher Gesagten muss nun eine These eingeführt werden, mit der ich die ganze Zeit selbstverständlich operiert habe, ohne den Begrün-dungszusammenhang zu nennen. Das dargelegte Organisationsverständnis versteht Organisation alsdurch Erwartungen produzierte Struktur. Sie ist vergleichbar einem in Teilen sichtbaren, aber auch unsichtbaren Straßennetz. Es sind wesentlich die gelebten Betriebsroutinen, auf denen wir uns mehr oder weniger sicher bewegen. Unser Verhal-ten als Mitarbeiter ist Antwort auf diese Erwartun-gen. Dies schließt natürlich ein, dass wir von die-sen Erwartungen auch abweichen können. Wenn

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die Abweichung als Abweichung zu Kenntnis genommen wird, verdeutlicht diese Zurkenntnis-nahme gerade die zugrundeliegende Erwartung. Das bedeutet, dass Ethik in Organisationen nicht nur bei der Einzelperson anzusetzen hat, sondern als Verfahren in die Organisation einzuschleusen ist, wie dies ja praktiziert wird. Das heißt: Ethik wird zum Thema der Weiterentwicklung der Orga-nisation. Ethik ist dann ein organisationales The-ma, wenn es strukturell verankert ist und die Nut-zung der Struktur sich beobachten lässt. Nicht nur: Gibt es einen Leitfaden für ethische Entschei-dungen? Sondern: Wird er verwandt und wie?

Ich bin Mitglied der Ethikkommission eines kirch-lichen Verbandes. Die Kommission hat bisher dreimal qualifiziertes Schaulaufen gemacht; seit eini-gen Jahren wird sie nicht mehr genutzt. Das heißt,sie hat nicht den Status einer Struktur, die ge-nutzt wird, sondern jenen eines Betriebsacces-soires, das man eben hat. Wenn man Systemethik sagt, ist es dann eine Selbstverständlichkeit, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Lage sein müssen mit den Instrumenten ethischer Entschei-dungsfindung angemessen zu verfahren; also Personalentwicklung ist immer mit gesagt. Inso-fern ist es überflüssig, System- und Individual-aspekte gegeneinander auszuspielen. Bleibt das Ethikthema den Individuen überlassen, kann es vorkommen oder auch nicht vorkommen. Ethik

ohne organisationale Verankerung steht in der Gefahr den vorhandenen morales ausgeliefert zu sein. Systemethik macht einiges einfacher. Mit-arbeiter bekommen so auch die Legitimation, Beobachtungen in ihrer Organisation, die sie in moralische Dilemmata bringen, zu formulieren und öffentlichkeitsfähig zu machen.

Dritte Beobachtung:Ethik kann zum Vermeidungsthema des Evangeliumswerden.In meiner bisherigen Argumentation habe ich deutli-che Sympathie für eine verfahrensethische Vorgehens-weise im Sinne der Diskursethik gezeigt. Ein Merk-mal dieses Versuches Ethik in die Organisation zubringen, besteht darin, dass im gemeinsamen Diskursdie ethische Entscheidungsfindung konsensuell voran-getrieben wird. Im strengen Sinn handelt es sich umein formales Vorgehen ohne notwendige inhaltlicheBindung; also ohne Abhängigkeit zu material defi-nierten Kriterien.

In Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft ist mei-nes Erachtens der christliche Glaube die Grundlagefür die ethische Reflexion. Das richtige und gute Le-ben und Handeln eine Größe, die nicht unabhängigvon der christlichen und jüdischen Offenbarung zudenken ist. Hierzu gehört als zentrale Unterstellungdie Existenz eines lebendigen Gottes, der in derGeschichte wirkt und in Jesus, dem Christus sein

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Gesicht gezeigt hat. Das ist mehr und anderes als derContainerbegriff der „christlichen Werteorientie-rung“. Wenn man lebendiger Gott sagt, wird dieBotschaft der Heiligen Schrift zu einer wesentlichenQuelle für das moralische Handeln und die ethischeReflexion.

Ich möchte als Beispiel auf ein Feld der ethischenDebatte verweisen, das mir für die Sozialunterneh-men und ihre Zukunft wichtig erscheint: Die Füh-rungsethik. Die Frage der Führung hat offensichtlichauch die frühen christlichen Gemeinden umgetriebenund hat in den Evangelien ihren Niederschlag gefun-den. Es ist in den Evangelien unstrittig, dass es Erste,also eine Führungsriege gibt. Die Jünger haben ge-stritten, wer der Bedeutendste sei. Jesus hat das mit-bekommen und nachgefragt. Es war ihnen verständli-cherweise peinlich und sie schwiegen. Dann hat er sieaufgeklärt: Wer der erste sein will, soll der letzte seinund der Diener von allen sein (MK 9,37). Die Quali-fizierung der Führungsriege ist eindeutig (MK 9,37;10,45; Mt 23,12). Führen heißt dienen; die erstenwären die letzten; die Grundgeste der Führung ist dieGeste der Fußwaschung (Joh 13).

Man ist durch den Missbrauch dieser Worte seman-tisch und vielleicht auch praktisch weitgehend immu-nisiert und abgebrüht, das ist mir klar. Es handeltsich um glattes Parkett, weil die Worte so abgehörtund abgenutzt sind. Und vielleicht fühlt sich abendsmanchmal ein Geschäftsführer oder Chefarzt wie einSklave seines Betriebes, aber diese Rolle ist dann mitganz anderen Semantiken belegt und zementiert.Sowohl das glatte Parkett als auch die semantischeAbnutzung verändert jedoch nicht die Ausgangslage.Wir haben es hier eindeutig mit einer „radikalenUmwertung der Werte“ zu tun, „die anders ist als dieWertungen der Welt“ und sie gilt für unsere Zusam-menhänge (so Benedikt XVI in seinem Jesusbuch,101). Die Umwertung wird auch dann nicht ausgehe-belt, wenn uns die konkreten Bilder fehlen.

Was kann das organisational heißen: Diener, Sklavesein? Die Bilder sind zu suchen; und so ganz ah-nungslos ist man ja in der Sache auch nicht mehr.Die Metapher des Sklaven, des Dieners wird nurdann einsichtig, wenn sie sich aus dem jesuanischen„Opiso mou“ (Mk 1,17), dem „Auf! Hinter mich, hin-ter mir her“ speist. Diese klare „Platzanweisung“(Alexa Weissmüller) verwendet Jesus bei der Berufungder Jünger. Hinter mich heißt: seinen Blick einneh-

men, mit seinem Blick die Welt sehen. Das hinterihm her gehen ist die grundlegende Figur der Füh-rung in einem kirchlichen Haus.

Wenn sie sich für einen Moment vorstellen, dies seidie Grundbewegung, dann würden alle eine Blickrich-tung einnehmen, die jesuanische. Sie würden mit sei-nen Augen das Haus anschauen. Die gemeinsameBlickrichtung als jesuanische ist die Bewegung aus dersich die Normativität, die Organisation der Achtungund Missachtung, die praktizierten mores, Sitten undGebräuche in einem kirchlichen Haus speisen sollen.Wir stehen da nicht nur vor unklaren Metaphern.Die Bibelwissenschaft kann uns schon sagen, woraufes ihm ankam und um wen es ihm vor allem ging.6

Sein Horizont ist die Bergpredigt, seine Praxis dasHeilen und Dämonenaustreiben, das Essen mit jenen,deren Gesellschaft man aus Reinheitsgründen vermei-det. Es sind nicht nur die Armen. Der Wanderpredi-ger logierte und aß auch bei den wohlhabenderen,den Zöllnern. Die jesuanische Blickrichtung auf dieanderen und die Organisation ist der Vorgang ausdem christliche Unternehmensidentität entsteht. Siebringt jedoch paradoxe Verwirrung ins Haus: DieHerren werden die Diener, die ersten die letzten, inder Schwäche soll die Stärke erscheinen, aus dem Tod entspringt das Leben; das Scheitern wird durchdas Kreuz zur akzeptierten Kategorie.

Und dies alles in einem Haus, das nach den Gesetzender Gesundheitswirtschaft zu funktionieren hat undda auch nicht aussteigen kann; gleichzeitig soll dazudie bestmögliche Medizin und Pflege produziert wer-den. Das „Umsonst“ des Matthäus (Mt 10, 8) ist nichtvorgesehen. Kosmas und Damian, die Standesheiligender Ärzte als „Heiler des Umsonst“ erinnern nochnostalgisch. Es regiert die Gleichzeitigkeit des Ande-ren und produziert erhebliche Spannungsverhältnisse.

Ich kann verstehen, dass man genau an dieser StelleKomplexitätsreduktion betreiben möchte und diejesuanische Irritation kultisch diszipliniert und sie in die Kapelle schickt oder doch wenigstens der Gat-tung Unternehmenskultur zuordnet. Da kann dieEthik gelegen kommen. Handfester und für viele zu-gänglicher bietet sie eine thematische Plattform aufder auch das Normative seinen Raum bekommendarf. Man tut ja dann was, ganz praxisnah. In ihrerFormalität ist die Verfahrensethik diskreter als derjesuanische Blick, der ziemlich positionell ist. Wennman sich auf die Gleichzeitigkeit der Zahlung, des

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jesuanischen Blicks auf den Kranken und die Mitar-beiter und die bestmögliche Medizin einlässt, entste-hen Widersprüche, die nicht auflösbar sind. Deshalbmuss die organisationsethische Reflexion in Sozial-unternehmen paradoxiefähig sein und genau diesemSachverhalt nicht ausweichen.

Ich finde, kirchliche Träger sollten die Frage „Wiekommt das Evangelium in die Organisation?“7 nichtallein durch Ethik ersetzen, sondern ihren notwendi-gen ethischen Diskurs aus einer „Ethik der Nachfol-ge“ heraus organisieren. Dann wird Ethik und Moralzu einem wichtigen Teilbereich in dem sich dieChristlichkeit eines Hauses erweist und nicht zueinem diffusen Ersatztanker für eine Vermeidungs-aufgabe. Genau hierzu können Sie ja morgen nochinteressante Beiträge hören.

Literatur

1 Suda, Max Josef: Ethik. Ein Überblick über die Theorien von richtigen Leben. Böhlau: Wien-Köln-Weimar 2005, 15

2 Moral, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, 932f.

3 Simon, Fritz4 Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung5 Der Autor des Spruches ist mir leider nicht bekannt6 Ebner, Martin: Jesus von Nazareth.

Was wir von ihm wissen können, Stuttgart 20077 Gärtner, Heribert W.: Wie kommt das Evangelium

in die Organisation. In: H. Bohlander u. M. Büscher (Hrsg.): Werte im Unternehmensalltag erkennen und gestalten, München und Mering 2004, 71-84.

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Prof. Dr. Stella Reiter-Theil

Die Bedeutung der Ethik für ärztlicheEntscheidungen und medizinischeBehandlungsprozesseStudienergebnisse und Hilfestellungen der Klinischen Ethik

SchlüsselwörterEthische Probleme am Krankenbett,Entscheidungsfindung, Therapiebegrenzung, Formender ethischen Hilfestellung, ethische Fallbesprechung,Ethikberatung, europäische Perspektiven

1. EinführungIm folgenden Beitrag geht es um die Bedeutung derEthik für die klinische Praxis; diese wird durch einigeaktuelle Studien aus den Arbeitsgruppen der Autorinveranschaulicht und wissenschaftlich fundiert (Reiter-Theil, 2004). Dabei werden zentrale Problemstellun-gen herausgearbeitet. Anschließend wird gezeigt, mitwelchen Angeboten der Klinischen Ethik diesenHerausforderungen begegnet werden kann.

2. Ethische Probleme in der Wahrnehmung von Ärzten und Ärztinnen

Problemkomplex: 1. unklarer Patientenwille, 2. Lebensende und 3. UneinigkeitWenn wir die aufmerksame Wahrnehmung von ethi-schen Problemen in medizinischen Entscheidungenund Behandlungen fördern möchten, brauchen wirdie Sensibilität und Kompetenz von Ärzten und Ärz-tinnen – ebenso wie die von Kranken und ihren An-gehörigen und natürlich allen an Pflege und Therapiefachlich beteiligten Berufsgruppen.

Aktuelle Daten belegen, dass praktisch alle befragtenÄrzte (aus der Inneren Medizin, der Allgemein- undder Familienmedizin) feststellen, sie hätten Erfah-rung mit ethischen Schwierigkeiten am Krankenbett.Aus dieser Befragung von repräsentativen Ärztestich-proben, die wir mit unseren Arbeitsgruppen in derSchweiz, in Italien, Norwegen und Großbritanniendurchgeführt haben, erfahren wir auch, welche ethi-schen Probleme besonders häufig genannt werden(Hurst et al 2007a).

Die Brennpunkte sind: 1. wenn man Therapieentscheidungen bei einem

Patienten zu treffen hat, dessen Entscheidungs-fähigkeit vorübergehend oder auf Dauer beein-trächtigt ist, also kein klarer Patientenwille ermittelt werden kann,

2. wenn es darum geht zu entscheiden, ob eine lebenserhaltende Maßnahme wie die Herz-Kreis-lauf-Wiederbelebung angebracht ist oder unter-lassen werden soll,

3. und wenn über Therapieentscheidungen Uneinig-keit zwischen verschiedenen Beteiligten auftritt; fasst man verschiedene Quellen der Uneinigkeit zusammen (kulturelle, religiöse oder andere), die sich zwischen Behandelnden und Betreuenden und dem Patienten ergeben, so ist die Uneinig-keit sogar der häufigste Auslöser für ethische Schwierigkeiten.

Betrachten wir diesen Problemkomplex aus 1. unkla-rem Patientenwillen, 2. Lebensende und 3. Uneinig-keit genauer und in verschiedenen Bereichen. In einerStudie mit internistischen Intensivmedizinern (Baden-Württemberg) fanden wir erhebliche Unterschiede inden Auffassungen, ob man die mechanische Beat-mung eines Patienten abbrechen dürfe, wenn diePrognose infaust ist und der Patient dies gemäß kla-ren Hinweisen seiner Ehefrau (auf seinen mutmaßli-chen Willen) wünschen würde (Beck et al, 2008).

Beunruhigend fanden wir, dass immerhin ein Drittelder befragten Intensivmediziner (mit unterschiedlichviel klinischer Erfahrung) meinten, eine Beendigungvon mechanischer Beatmung sei in jedem Fall illegalund bedeute „aktive Sterbehilfe“ – was für Deutsch-land nicht zutrifft. Hier handelt es sich vielmehr um

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so genannte passive Sterbehilfe, die, sofern sie im Sinne einer palliativen Therapiezieländerung zumSterben in Würde und mit dem (mutmaßlichen)Patientenwillen begründet werden kann, als ein Ab-brechen von Maßnahmen legal ist. Es gab auch Ge-sprächspartner, die dies zwar für verboten hielten,aber angaben, Beatmungen dennoch manches Malaus Überzeugung zu beenden. Dieser Personenkreisgeht somit von einem irrtümlichen Verständnis (dassAbbruch nicht erlaubt sei) aus und nimmt eine erheb-liche subjektive Belastung in Kauf, nämlich die (irr-tümliche) Annahme, mit einem Abbruch gegen dasGesetz zu handeln. Geeignete Fortbildung oderBeratung könnte hier also durchaus (moralische)Belastungen vermeiden helfen.

Ein ethisches Problem: Reanimation oder nicht? Die Entscheidung, einen Patienten zu reanimieren –oder nicht, wird besonders häufig als ethisches Pro-blem genannt. Wir haben Notärzte und Rettungs-sanitäter ausführlich befragt, wie sie mit diesem Pro-blem umgehen. Aus dieser Studie sei nur ein Ergebnisexemplarisch herausgegriffen: Sehr deutlich nehmendie Befragten das Problem wahr, dass sie mitunterReanimationen durchführen, obwohl sie selbst davonüberzeugt sind, diese sei sinnlos (Lindner et al, 2005).Das Problem verschärft sich dann, wenn Angehörigedes Patienten dabei sind, die Druck auf den Notarztausüben, aktiv zu werden.

Auch in der Behandlung onkologischer und hämato-logischer Patienten haben wir die Problematik nach-gewiesen; wir haben eingehend untersucht, wie dieGesprächskultur, speziell die Information und Ein-beziehung der Patienten in Therapieentscheidungenam Lebensende aussieht, sobald die Heilungschancenreduziert sind (Winkler et al, 2007). Über Diagnoseund Therapiemöglichkeiten werden die Patientenzuverlässig in nahezu 100 Prozent aufgeklärt. Dieseoffene Verständigung ist aber seltener nachzuweisen,sobald es um die Besprechung von palliativen Zielen,einschließlich der Reduzierung von therapeutischenMöglichkeiten geht; dann sind es nur noch etwa dieHälfte der Patienten, die die Informationsgrundlagefür eine Beteiligung am Entscheidungsprozess haben.Dies hängt unter anderem damit zusammen, ob dieärztliche Einschätzung der Therapieziele und dieWünsche des Patienten harmonieren – oder auseinan-der gehen. Diskrepanzen in der Einschätzung werdenvon nicht wenigen Ärzten offenbar damit beantwor-tet, dass sie dem Gespräch ausweichen. Auch dieserBefund ist ein Anlass, die Problematik transparent zu

artikulieren und vermehrt geeignete Hilfestellungenfür die Beteiligten anzubieten.

Diese Beispiele und Daten zeigen, dass der Problem-komplex 1. unklarer Patientenwille, 2. Lebensendeund 3. Uneinigkeit tatsächlich relevant und sogar inganz verschiedenen klinischen Bereichen nachweisbarist. Wir sollten ihn also sehr ernst nehmen und auchin den Hilfsangeboten der Klinischen Ethik gezieltangehen.

Wie wird eigentlich entschieden? Diese Frage habenwir in einer Studie mit der operativen Intensivmedi-zin untersucht; dabei haben wir den Forschungsan-satz des „Embedded Researcher“ eingesetzt (Reiter-Theil, 2004), der sich bereits bei der ethischenAnalyse von Fallserien zu Therapiebegrenzungen inder Neonatologie bewährt hat (Reiter-Theil et al,2005; Hentschel et al, 2006).

In einer unserer systematischen Fallserien analysiertenund identifizierten wir ein „Muster“ der Entscheidun-gen zur Therapiebegrenzung in der Intensivmedizin(Meyer-Zehnder et al, 2007a). Es könnte sein, dass jenachdem, wie ungünstig die Prognose und wie sicherderen Beurteilung erscheint, bestimmte Behandlun-gen als erste unterlassen werden (zum Beispiel Reani-mation) beziehungsweise auch begrenzt oder abgebro-chen werden (zum Beispiel Kreislaufunterstützung),während andere erst „am Ende“ in Betracht gezogenwerden. So fällt es meist sehr schwer, auf eine voll-ständige künstliche Ernährung oder Flüssigkeitszu-fuhr zu verzichten, auch wenn diese dem Patientennicht mehr helfen kann. Im Anschluss an diese Pio-nierarbeit stellen sich Fragen wie: Sind solche Musterstabil und reproduzierbar? Dem gehen wir mit weiter-führenden Studien nach. Wir fragen auch, ob solcheMuster – neben der Ausbildung von Routine – einensinnvollen Beitrag zur Würdigung des Einzelfalls leis-ten, ob sie die Sicherheit und Qualität der Entschei-dungsfindung fördern, oder ob sie eher unerwünsch-ten Schematismus nach sich ziehen könnten. Aufdiese Fragen gehen wir in den ethischen Angebotenein, die wir mit den kooperierenden Abteilungendurchführen.

Wie soll man Angehörige einbeziehen?Ein weiterer Aspekt der ethischen Problemwahrneh-mung betrifft die Art und Weise, wie man Angehö-rige von Patienten einbeziehen kann und soll (Reiter-Theil et al, 2007). Noch zu oft finden sich empirischAnhaltspunkte für Unsicherheit beim ärztlichen (oder

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pflegerischen) Personal: Angehörige werden mituntergefragt, welche Wünsche sie hätten bezüglich deranstehenden (schwierigen) Therapieentscheide einesnicht kommunikationsfähigen Kranken. Dabei soll-ten sie, sofern sie nicht als Stellvertreter autorisiertsind (durch eine Vorsorgevollmacht, als gesetzlicheBetreuer oder natürlich als erziehungsberechtigteEltern), dabei helfen herauszufinden, was der mut-maßliche Patientenwille sein könnte. Eine Vermi-schung zwischen eigenen Wünschen und der Suchenach dem mutmaßlichen Patientenwillen ist dabeiauszuschließen. Das Bewusstsein dafür zu schärfenund praktische Leitfäden für die Gesprächsführungzu erarbeiten, ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe inder ethischen Hilfestellung für die Patientenversor-gung, und diese hat bei uns einen hohen Stellenwert. Zwar haben wir damit schon reichlich Anhaltspunktegesammelt, welche ethischen Probleme für ärztlicheEntscheidungen und Behandlungen besonders wichtigsind, ich möchte aber noch ein etwas anders gelager-tes Problemfeld ansprechen: die so genannte Ratio-nierung am Krankenbett – oder „ärztliche Rationie-rung“. Da dies ein Thema ist, das in der KlinischenEthik noch eher selten systematisch einbezogen wird,soll es einen eigenen Abschnitt erhalten.

3. Rationierung im Einzelfall – Kriterien und vulnerable Patientengruppen

Gemäß unserer eigenen europäischen Befragungscheint der Umgang mit den (begrenzten) Ressourcenin der Patientenversorgung gar nicht zu den Spitzen-reitern der ethischen Problemwahrnehmung der Ärztezu gehören. Die ressourcenbezogenen Fragen rangie-ren etwa im unteren Drittel (Hurst et al, 2007a), z.B.

wahrgenommene Knappheit: rund 50 Prozent, Regeln der Kostenübernahme stehen in Konflikt mit dem gewählten Behandlungsplan: 30 Prozent,der Versicherungsstatus steht mit dem gewählten Behandlungsplan in Konflikt: bis zu 30 Prozent (nur in der Schweiz, die anderen Länder liegen deutlich niedriger).

Mag sein, dass die befragten Ärzte diese Inhalte zu-nächst gar nicht primär als „ethische“ sondern alsökonomische, praktische oder organisatorische Fra-gen ansehen; unterschätzen darf man das Problemaber nicht, wie eine andere Auswertung aus derselbenStudie zeigt.

Wir haben gefragt:„Wie oft haben Sie persönlich während der letztensechs Monate auf Grund von Kosten für dasGesundheitssystem folgende Interventionen unter-lassen, obwohl diese für Ihren Patienten das Bestegewesen wären?“Darauf haben wir breite Evidenz dafür erhalten, dassÄrzte in der Behandlung von Patienten die jeweilsbeste Therapie durchaus nicht immer realisieren kön-nen, und dass dafür Kostengründe für das Gesund-heitswesen eine wichtige Rolle spielen. Rationierungam Krankenbett, also ein Vorenthalten diagnostischeroder therapeutischer Maßnahmen, obwohl sie für denPatienten nützlich wären, wurde von einem großenTeil der antwortenden Ärzte zugegeben; dabei ist esbemerkenswert, dass diese Entscheidungen individuellund situativ getroffen werden – also „am Kranken-bett“ (Hurst et al, 2007b; Reiter-Theil, Albisser, 2007).

Des Weiteren wurden die Ärzte gefragt, welche Krite-rien sie für die Entscheidung heranziehen, ob sieeinem Patienten eine nützliche Maßnahme gewährenoder vorenthalten. Die Antworten belegen eine großeHeterogenität der angegebenen Kriterien. Am häu-figsten wurde folgenden Kriterien für Rationierungs-entscheidungen zugestimmt:

ein geringer erwarteter Vorteil für den Patienten (82,3 Prozent),niedrige Erfolgschancen (79,8 Prozent),Lebensverlängerung bei niedriger Lebensqualität (70,6 Prozent),Patient ist über 85 Jahre alt (70 Prozent).

Das Kriterium „Patient über 85 Jahre“ nannten Ärztein allen Ländern, sie taten dies jedoch unterschiedlichhäufig. Das Kriterium „Das Ziel der Intervention be-steht in der Verbesserung der Lebensqualität bei ei-nem Patienten mit kurzer Lebenserwartung“, wurdevon einigen Ärzten als Grund dafür angegeben, eineIntervention eher nicht einzusetzen (35 Prozent),während andere Ärzte dies im Gegensatz dazu geradeals Grund für die Durchführung der Interventionansahen (35 Prozent). Für alle vier Länder ergab sichzudem, dass – neben dem hohen Alter – auch eine„kognitive Einschränkung“ des Patienten als Grundfür eine Rationierung angegeben wurde; beide Krite-rien werden kontrovers beurteilt und erfordern eineeingehende ethische Diskussion, die auch über dieFachgrenzen hinweg geführt werden sollte.

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Differenziert man nach Bevölkerungsgruppen, so zeigtsich folgendes Bild: Norwegische, schweizerische undbritische Ärzte berichteten zu mehr als 50 Prozent (ita-lienische zu 40 Prozent), dass alten Patienten mit grö-ßerer Wahrscheinlichkeit Therapien vorenthalten wür-den. Eine ähnliche hohe Ausprägung haben nur dreiGruppen: 2. die Gruppe der illegalen Einwanderer (inder Schweiz), 3. die Gruppe der kognitiv beeinträchtig-ten Patienten (in Norwegen) und 4. die Gruppe jenerPatienten, die „teure Behandlung“ brauchen (in Groß-britannien). Die antwortenden Ärzte aus den vier un-tersuchten Ländern stimmten der Auffassung zu, siehätten eine aktive Rolle in der Ressourcenzuweisungam Krankenbett zu spielen. Sie berichteten verschiede-ne Strategien im Umgang mit Ressourcenknappheit,einschließlich des Vorenthaltens potenziell nützlicherMaßnahmen im Einzelfall. Ärzte, die eine Rationie-rung als grundsätzlich akzeptabel bezeichneten, undsolche, die größeren Rationierungsdruck bzw. mehrKnappheit wahrnahmen, berichteten auch mit höhererWahrscheinlichkeit, dass sie selbst am KrankenbettRationierungsentscheidungen fällten.

Die Kategorien, in denen Rationierung am häufigs-ten berichtet wurde, sind:

die Zeit, die man für den Patienten aufbringt,MRT,Screening-Tests,Laboruntersuchungen, (teure) Medikamente

Welche Maßnahmen der Kostenkontrolle findenZustimmung unter den Ärzten?

Über 75 Prozent akzeptieren evidenz-basierte Medizin als Grundlage für die Zuteilung von Maßnahmen.Über 80 Prozent stimmen einer Zuweisung nach Dringlichkeit zu.Über 65 Prozent stimmen Wartelisten bei elektiven Operationen als Instrument der Kostenkontrolle zu.

Weniger akzeptabel finden die antwortenden Ärzte die folgenden Optionen: Schließung von Betten, Be-schränkung des Angebots bei teuren Therapien oderUntersuchungen, allgemeine Priorisierung von Patien-tengruppen durch die Gesundheitsbehörden oder dasErheben von direkten Behandlungsgebühren.

Nach den Daten dieser Studie lässt sich festhalten,dass das Merkmal eines Patienten „über 85 Jahre“

oder „hohes Alter“ diesen einer erhöhten Wahr-scheinlichkeit aussetzt, weniger medizinische Maß-nahmen zu erhalten als jüngere Patienten. Für sichallein genommen belegt dieses Ergebnis nicht, dasshohes Alter perse – unabhängig von der Prognose – als soziale Kategorie auch im Sinne eines Kriteriumsder Zuteilung von Gesundheitsressourcen akzep-tiert wird. Diese ethisch relevante Differenzierung zwischen empirisch-faktischen Wirkungen und be-gründeten Kriterien, die wir in einer qualitativenInterviewstudie herausarbeiten konnten (Albisser,Reiter-Theil, 2007), lässt sich mit solchen quantitati-ven Studien nicht nachweisen. Jedoch erhärten diequantitativen Daten die Vulnerabilität der Gruppeder alten Patienten, die auch in qualitativen Studienaufgezeigt wurde.

Die Unterscheidung zwischen „Alter“ als Faktor, derbei Therapieentscheidungen wirksam wird, und„Alter“ als Kriterium für die Zuteilung oder das Vor-enthalten nützlicher medizinischer Maßnahmen istethisch von großer Bedeutung. In der Ethik ist dieIntention einer Entscheidung oder Handlung – nebenden Konsequenzen – eine zentrale Kategorie. So gese-hen, kann das Alter eines Patienten unbemerkt oderun-reflektiert einfließen, und (erst) bei gründlichererBetrachtung kritisch reflektiert werden. Fragen wiediese zu reflektieren und zu besprechen, damit sichnicht unbemerkt Ungerechtigkeiten in Behandlungs-entscheide einschleichen können, zählen somit zuden wichtigen Aufgaben der Klinischen Ethik; sohaben wir diesem Aspekt auch gezielt ein klinisch-ethisches Kooperationsprojekt gewidmet: Wir erarbei-ten eine wissenschaftlich gestützte medizinethischeLeitlinie für schwierige Entscheidungen, die mit derFrage zusammenhängen, welche die angemesseneBehandlung – nicht zu viel, nicht zu wenig – füreinen Patienten sei.

4. Welche Hilfsangebote kann die Klinische Ethik bieten?

Grundbegriffe und Selbstverständnis Die hier diskutierten Studienergebnisse zeigen, wiewertvoll eine Objektivierung des Bedarfs an ethischerHilfestellung in der Klinik ist und dass eine interdis-ziplinäre Forschung, die auch empirische Methodeneinschließt, für die Entwicklung der Klinischen Ethikwichtig ist (Reiter-Theil, Agich, in press).

In der folgenden Darstellung und in den Referenz-texten zum Thema kommen mehrere Begriffe vor,

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die sich für die hier zur Diskussion stehende Tätig-keit eingebürgert haben; diese werden von manchenAutoren synonym behandelt:

1. Ethikberatung in der Klinik,2. klinische Ethikkonsultation,3. Ethikkonsil,4. klinisch-ethische Beratung.

Die erste Bezeichnung liefert eine sprachliche An-näherung vom Amerikanischen ans Deutsche (Ethicsconsultation in the clinic), die zweite eine direkteÜbertragung von „clinical ethics consultation“; dieBezeichnung „Ethikkonsil“ (3.) lehnt sich v.a. an dieklinische Praxis an, indem sie eine Analogie zwischenverschiedenen Konsildiensten herstellt (zum Beispieldas neurologische Konsil), während die vierte Be-zeichnung meines Erachtens am ehesten deskriptivund auch bescheiden bezeichnet, was versucht wird:nämlich eine Beratung durchzuführen, in der aufethische Fragen von klinischer Relevanz eingegangenwird. Mit diesem Begriff wird somit noch kein Urteilda-rüber gefällt, wo und wie diese Tätigkeit am bestenorganisiert werden sollte, nach welchem Modell undmit welcher theoretischen Grundlage.

Dass eine „Beratung“ mit der Reflexion einer zuvorartikulierten Fragestellung zu tun hat, und dass dieseeine Verständigung über ethische Fragen zu Hilfenimmt, scheint schon vom alltäglichen Sprachge-brauch her eingängig. Ob diese Praxis tatsächlich ex-pliziten Regeln folgt, ist eine offene Frage, die auf derBasis der praktischen Etablierung untersucht werdenkann. Ob sie Regeln folgen sollte, und welche sichdafür am besten empfehlen würden, wird unter demOberbegriff „Methode“ diskutiert (vgl. die Thesenvon George Agich im American Journal of Bioethicsund die daran anschließende Diskussion, 2001, 1, 4:31-59). Dazu gehört auch die Frage, wie man in sol-chen Beratungen mit Werten und Normen umgehensoll (Reiter-Theil, in progress).

Mit klinisch-ethischer Beratung bezeichnen wir einemethodisch strukturierte Unterstützung der Entschei-dungsfindung bei ethisch komplexen Fragen bzw.Problemen in der Patientenversorgung. Eine solcheBeratung über die ethische Dimension von Entschei-dungen und Handlungen kann dann zum Einsatzkommen, wenn in der Patientenbetreuung Probleme,Dilemmata oder Meinungsverschiedenheiten in Bezugauf moralische Wertfragen auftauchen, deren Klärung

besondere Kompetenz, Reflexion oder Unterstützungerfordert. Die Entscheidung darüber, ob dies der Fallist, treffen nach unserem Verständnis

a) die mit der Patientenbetreuung Beauftragten oder b) die Patienten bzw. ihre Fürsprecher

(zum Beispiel Angehörige).Es sind nicht diejenigen, die zur Verstärkung der ethischen Kompetenz herbeigerufen werden (Ethik-berater), welche den „Bedarf“ oder „Anlass“ definie-ren oder auslösen. Eine Abweichung von diesemPrinzip der „Beratung auf Anfrage“ wäre nur danngegeben, wenn eine Beratung „in bestimmtenSituationen“ vorgeschrieben würde, wie dies teilweisein den USA schon zu beobachten ist. Ob dies als eineEntlastung der Beteiligten oder als Fremdbestimmunggewertet wird, hängt von der Perspektive ab. Unterdem Aspekt der Profilierung einer Institution kanndies unter Umständen als Maßnahme der Qualitäts-sicherung angesehen werden. Unsere eigenen Erfah-rungen mit der Beratung in Deutschland und derSchweiz (sowie die Vorgehensweisen unserer engerenKooperationspartner in Europa und den USA) sindvor allem folgende Modelle:

a) freiwillige akute Beratungen, die stets von der Seite der Anfragenden her initiiert werden,

b) freiwillig vereinbarte regelmäßige Treffen zur ethischen Beratung, wie zum Beispiel projekt-bezogene ethische Fallbesprechungen oder so genannte Standortgespräche zu ethischen Fragen (Meyer-Zehnder et al 2007b);

c) als eine Variation kann sowohl die Arbeit von Ethik-Zirkeln angesehen werden, die in manchen Häusern auch auf Anregung „von oben“ ins Lebengerufen wurden, um eine „niederschwellige“ ethi-sche Diskussion über alltägliche klinische Fragen und Fälle zu stimulieren oder Ethik-Liaison-dienste, die nicht auf die Anfrage von Klinikern warten, sondern routinemäßig auf Stationen gehenund dort ethische Fragen aufgreifen.

Die Beratung, von der im Folgenden gesprochen wer-den soll, ist immer auf den konkreten Einzelfall be-zogen und insofern patientenorientiert, auch wenn eshäufig Unsicherheiten oder Konflikte bei den Behan-delnden sind, die den Ausgangspunkt der Gesprächebilden. Dennoch sind diese Problemwahrnehmungenauf die Herausforderungen einer angemessenen Pa-tientenbetreuung und den Auftrag der Personen undder Institution bezogen. Beratung kann auch retro-

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spektiv und für Grundsatzfragen eingesetzt werden,zum Beispiel um anhand eines Falles häufig auftau-chende ethische Fragen der Patientenversorgung zuerörtern; dann kann die Erarbeitung von Regeln oderPolicies hilfreich sein. Charakteristisch ist jedoch,dass Beratung in noch laufenden Entscheidungspro-zessen prospektiv zum Einsatz kommt, weil akutSchwierigkeiten aufgetreten sind, bei deren Bewäl-tigung man sich eine Unterstützung erhofft.

Der Begriff der Beratung hat im Deutschen eine dop-pelte Bedeutung: einerseits eine aktive Tätigkeit, diesich im transitiven Verb „beraten“ ausdrückt:

1. A berät B in einer Angelegenheit, die B beschäftigtund in der er/sie von A etwas wissen möchte oder eine Unterstützung erwartet.

Andererseits gibt es auch eine reflexive Bedeutungvon Beratung:

2. A und B haben eine gemeinsame Frage zu klären und zu entscheiden; sie beraten „sich“ oder berat-schlagen „miteinander“.

Beide Konstellationen können den Ausgangspunktfür eine klinisch-ethische Beratung bilden. Klinisch-ethische Beratung ist häufig eine Mischung aus bei-den Formen und kann sich auch hin und her bewe-gen.

Charakteristischer Weise werden in der Patienten-betreuung solche Fragen zu Auslösern, die weiterePersonen C, D und E existenziell als Patient bzw.Familie betreffen, aber auch die Teammitglieder F, Gund H, die beruflich mit der Entscheidung zu tunhaben. Diese Personen(kreise) können in geeigneterWeise in den Prozess einbezogen werden, soweit diesmöglich ist; Form und Zeitpunkt können variieren.In jedem Fall sind aber die Perspektiven der Betrof-fenen in der Beratung oder „Beratschlagung“ mit zuberücksichtigen, da sie die Entscheidung umzusetzenhaben bzw. diese an sich erleben werden.

Schon diese sprachliche Unterscheidung bahnt denWeg zur Vermeidung oder Korrektur von Missver-ständnissen: Die klinisch-ethische Beratung ist keineEinweg-Kommunikation von Experten zu Empfän-gern guter Ratschläge, die sich ihrer eigenen Verant-wortung entledigen; ganz im Gegenteil: Gute undkompetente Beratung, wie wir sie hier vorstellen wol-len und wie wir sie versuchen zu praktizieren, ist ein

dialogischer Prozess, der die Fähigkeiten und Mög-lichkeiten derjenigen, die eine schwierige Entschei-dung zu treffen haben, unterstützt. Dies geschiehtdurch das Einbringen von Wissen sowie durch dasAufdecken von Lücken, Widersprüchen undZusammenhängen, aber auch durch Fragen undgemeinsames lautes Nachdenken. Welche Aspektenoch dazu gehören, wird Gegenstand der weiterenAusführungen sein (Reiter-Theil, in progress).

Obwohl die klinisch-ethische Beratung in der Kliniklangfristig dann am effizientesten arbeiten kann,wenn sie in gesamtinstitutionelle Strukturen eingebet-tet ist (Agich, 2003; Steinkamp, Gordijn, 2003), istihr spezifischer Aufgabenbereich auf die Kooperationim Einzelfall ausgerichtet. Eine Patienten-orientierteethische Beratung ist daher von anderen Funktionenzu unterscheiden, die Ethik in der Medizin oder imGesundheitswesen sonst erfüllen kann, etwa Aufga-ben wie die Bildung von institutionellen Ethik-Struk-turen in Institutionen des Gesundheitswesens, dieGestaltung von Programmen zur ethischen Qualifi-kation oder die ethische Beurteilung klinischer For-schungsvorhaben in (Forschungs-) Ethikkommissio-nen. Das Potenzial der klinisch-ethischen Beratung soll jedoch gerade auch für nachhaltige Verbesserun-gen in der Patientenversorgung genutzt werden. In vielen Krankenhäusern, die eine solche Beratung eta-bliert haben, ist diese – zusätzlich zu ihrem Beitrag zur Patientenversorgung – auch an der Entwicklungvon Krankenhaus-internen Leitlinien sowie an derEthikfortbildung beteiligt.

In den USA und seit einigen Jahren auch in Europahaben sich verschiedene Ansätze und Modelle der ethischen Beratung entwickelt. Im deutschsprachigenRaum ist die Zahl der Beratungsangebote in Klinikenzwar bislang bei weitem nicht so groß wie in den USA. Dies dürfte sich in den nächsten Jahren jedochändern, zumal viele Kliniken den Aufbau von klinik-internen Ethik-Strukturen im Rahmen von Zerti-fizierungsanforderungen anstreben (müssen).

5. Bedarf, Anlässe und Brennpunkte der Ethikberatung

Bedarf Ethische Zielsetzungen sind ein wesentlicher Bestand-teil des Auftrags, den das Gesundheitswesen und diePatientenbetreuung in der Gesellschaft innehaben;diese ethische Dimension der Medizin wird durch die

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historisch dokumentierte Kodifizierung der Medizin-ethik belegt (Tröhler, Reiter-Theil 1997). Eine systema-tische Gestaltung und Fortentwicklung der KlinischenEthik als „Gebiet“ ist demgegenüber relativ neu:

Dieses hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten inNordamerika stark profiliert und gewinnt in den letz-ten Jahren auch in Europa zunehmend an Bedeutung(siehe die Themenhefte: Ethik in der Medizin 1999;HECForum 2001; 2008; Journal of Medical Ethics2001; Medicine, Health Care and Philosophy, 2003;2008). Die Klinische Ethik stellt eine Patientenorien-tierte Weiterentwicklung der allgemeinen Medizin-ethik („Bioethics“) dar, die sich vor allem praktisch-ethischen Fragen des Alltags zuwendet, dies sowohldurch interdisziplinäre Forschung, in der Aus- undFortbildung, als auch in verschiedenen Formen vonBeratung. Die klinische Ethikkonsultation ist ein zentraler Tätigkeitsbereich des Gebietes, der aktuellviel diskutiert und in verschiedenen Varianten erprobtwird. Der innovative und interdisziplinäre Charakterder ethischen Konsultation am Krankenbett trägt dazubei, dass sich das Gebiet insgesamt sehr dynamischentwickelt; zugleich wird eine Fülle von konzeptionel-len und methodischen Fragen aufgeworfen, die auchdie Ethik als theoretisches Fach herausfordern.

Der Bedarf nach ethischer Beratung im Gesundheits-wesen ergibt sich auch in Europa durch das Zusam-menwirken verschiedener Faktoren: durch die zuneh-mende Pluralität der gesellschaftlichen Werte (reli-giöse, politische, weltanschauliche etc.), die erweiter-ten technischen Möglichkeiten der Medizin, zuneh-mend komplexer werdende Versorgungsstrukturen,

aber auch durch den wachsenden Einfluss rechtlicherAspekte und den erhöhten Kostendruck im Gesund-heitswesen.

Die ersten klinisch-ethischen Beratungen in Form von Ethikkonsultationen entstanden Ende der 60erJahre in den USA, als sich Patienten, Familienange-hörige und klinisches Personal vor dem Hintergrundneuer technischer Möglichkeiten und der wachsendenPluralität gesellschaftlicher Wertvorstellungen zuneh-mend mit ethischen Konflikten konfrontiert sahen(LaPuma, Schiedermayer, 1991). Mehrere US-ameri-kanische Gerichtsurteile der 80er Jahre über schwie-rige und langwierige Prozesse der Patientenbetreuung(zum Beispiel Re C.A. Quinlan und Re ‚Baby Doe')hoben die Bedeutung von klinisch-ethischer Beratungbei schwierigen Entscheidungen am Lebensende her-vor und regten die Institutionalisierung von Ethik-Strukturen in Institutionen des Gesundheitswesensan.

1983 erschien der Bericht der U.S.-amerikanischen„President's Commission for the Study of EthicalProblems in Medicine and Biomedical and BehavioralResearch“, der von politischer Seite die Gründungvon Ethikkomitees als klinisch-ethische Beratungs-struktur empfahl (Kanoti, Youngner, 1995). Dierasche Zunahme an Beratungsdiensten, die dadurchangestoßen wurde, und die deutliche Forderung nachprofessionellen Ausbildungsstandards und Qualitäts-sicherung der klinisch-ethischen Beratung veranlass-ten die wichtigste medizinethische Fachgesellschaftder USA, die American Society for Bioethics andHumanities (ASBH), im Jahr 1998 Empfehlungen zu

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den Anforderungen an die Kompetenzen für die kli-nische Ethikkonsultation herauszugeben (AmericanSociety for Bioethics and Huma-nities/ASBH, 1998;wieder abgedruckt in Aulisio et al, 2003).

In Europa ist die Entwicklung der klinisch-ethischenBeratung bislang noch nicht so weit fortgeschrittenwie in den USA, obwohl es bereits in den 80er Jahreneinige frühe Beispiele der klinisch-ethischen Bera-tung, zum Beispiel in den Niederlanden, gab. InDeutschland kam es mit zeitlichem Rückstand gegen-über den USA zu einer Gleichzeitigkeit: Neben ein-zelnen Universitätskliniken, die hier eine Pionierrolleeinnahmen, waren es vor allem die konfessionellenKrankenhäuser, die gemäß einer Weisung ihrer ge-meinsamen Leitung Strukturen der Ethik in der Kli-nik einrichten sollten und auch eingerichtet haben.Dabei zeigten sich nur wenige Häuser in der Lage,von Beginn an kompetente Strukturen und auchBeratungsdienste zu entwickeln; hier sind zum Bei-spiel die Bemühungen und Ergebnisse der Kranken-anstalten Gilead in Bielefeld als positives Beispiel zuerwähnen. Die meisten universitären Klinken habenzunächst jedoch, bis auf wenige Ausnahmen wie zu-erst Freiburg i.Br. und Marburg, dann zum Beispielauch Hannover oder Heidelberg, lange Zeit eherwenig Initiative in diese Richtung gezeigt. Es hatjedoch schon viel früher, zum Beispiel in der Kinder-heilkunde, Beratungsformen in der Klinik gegeben,die einem spontanen und informellen Ethikkonsilrelativ ähnlich gewesen sein dürften, aber nicht zueiner breiteren Diskussion der Methodik oder Orga-nisation führten.

Durch den Prozess der Akkreditierung der Kranken-häuser wird in den letzten Jahren auch im deutsch-sprachigen Raum eine zunehmende Institutionalisie-rung von Ethik in der Klinik ausgelöst, die jedochnicht immer mit dem Aufbau von konkreten undfunktionierenden Beratungsdiensten verbunden ist.Eine besonders erfolgreiche Ausnahme stellt dasgroße Klinikum Nürnberg dar, welches aus eigenerKraft mit Hilfe von gezielten Projekten – sowohl derOrganisationsethik, als auch der Klinischen Ethik –arbeitsfähige Strukturen geschaffen hat, in denenmotivierte Mitarbeiter/innen auf der Grundlage vonspezifischen Fortbildungsmaßnahmen einen eigenenEthikkonsildienst etablieren konnten.

Klinisch-ethische Beratungsdienste im deutschsprachi-gen Raum stehen miteinander in Kontakt; ein erstes

und zweites Kolloquium zur Vernetzung konnte be-reits 1998 und 2000 von der Autorin (damals noch inFreiburg i.Br. tätig) initiiert und veranstaltet werden(vgl. das Themenheft zur klinisch-ethischen Beratungder Zeitschrift „Ethik in der Medizin“, 1999). Dererste internationale Kongress zur klinisch-ethischenBeratung wurde als gemeinsame Initiative von GeorgeJ. Agich und Stella Reiter-Theil in 2003 Cleveland,USA veranstaltet. Dieser wie auch der 2. Folgekon-gress im März 2005 in Basel haben gezeigt, dass sichinternational, vor allem aber auch im deutschsprachi-gen Raum und in der Schweiz, ein breites Forum fürklinische Ethik und eine damit verbundene Bera-tungstätigkeit entwickelt haben.

Ethikberatung orientiert sich am BedarfDie Aufgaben der Ethikberatung ergeben sich ausdem Beratungsbedarf, der im Wesentlichen durchProblemwahrnehmungen der Behandelnden und Pfle-genden in der Patientenversorgung erlebt und artiku-liert wird einerseits, andererseits durch die Patienten,ihre Familien oder Stellvertreter (Betreuer), die eigeneAnliegen an die Beratung herantragen können oderderen Bedürfnisse wenigstens (und hoffentlich zuver-lässig) in der Beratung reflektiert und berücksichtigtwerden. Ethische Fragen stellen sich dabei nicht nurin der Klinik, sondern auch in den Einrichtungen derAlten- und Langzeitpflege, bei der Betreuung behin-derter Menschen oder in der Begleitung von sterben-den Personen außerhalb des klinischen Kontextes.

Auch eine ethische Beratung im Bereich der nieder-gelassenen Praxen wird diskutiert. Die Beratung inForm von Ethikkonsultationen oder Fallbesprechun-gen (auch in Ethikkomitees) hat sich bislang weitge-hend auf den klinischen Kontext und auf Fragen derBehandlung von individuellen Patienten beschränkt,andere Schwerpunkte wären denkbar. Da ethischeProbleme – wie zum Beispiel Fragen der Ernährungbei Demenz oder Sedierung am Lebensende in Insti-tutionen der Langzeitversorgung aber immer häufigerauftreten und auch wahrgenommen werden, ist zuerwarten, dass ethische Beratung zukünftig auch inPflegeheimen oder Hospizen sinnvoll zum Einsatzkommen wird. Solche Entwicklungen könnten durchdie interessierte Öffentlichkeit unterstützt oder be-schleunigt werden.

Bei der Institutionalisierung von forschungsethischerReflexion und Aufsicht in den 70er Jahren hatten dieMedien, die Öffentlichkeit, und dann auch die Poli-

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tik eine tragende Rolle gespielt, indem sie auf Proble-me und Skandale bezüglich der Beachtung von Pa-tientenrechten in der medizinischen Forschung rea-gierten (Krause, Winslade, 1997). In der Folge wurden(Forschungs-) Ethikkommissionen schließlich auchinternational etabliert. In der klinischen Ethik wäreallerdings zu wünschen, dass es nicht der Ruf nach„Kontrolle“ oder die Vermeidung von „Skandalen“sein wird, welche einer Verbreitung kompetenter ethi-scher Beratung am Krankenbett zum Durchbruchverhelfen. Es könnten zum Beispiel Angehörige vonPatienten einen Einfluss geltend machen und diekompetente Bearbeitung von Anliegen (wie Patien-tenverfügungen oder Stellvertretung bei Patienten amLebensende) in sämtlichen Einrichtungen der Patien-tenbetreuung fordern; dies könnte durch ethischeBeratungsdienste sinnvoll unterstützt werden.

Die zentrale Aufgabe der klinisch-ethischen Beratungist es also, professionelle Unterstützung bei der ethi-schen Orientierung, zum Beispiel in der Entschei-dungsfindung, in konkreten Fällen der Patientenver-sorgung, zu leisten.

AnlässeDen Bedarf nach ethischer Beratung in der Klinikbestimmen nach unserem Verständnis die klinischTätigen und auch die Patienten selbst, wobei publi-zierte Fallstudien, Problemanalysen und Studien zuFragen der Klinischen Ethik zur Sensibilisierungebenso wie zur Präzisierung der Problemwahrneh-mung beitragen. Besonders deutlich ist dies im Pro-blemfeld der Entscheidungen am Lebensende und derThematik der Sterbebegleitung (Sterbehilfe); dieseFragen haben in zahlreichen Ländern dazu beigetra-gen, der Klinischen Ethik den Weg zu bereiten. Wirhaben hierdurch eine teilweise schon differenzierteDatenlage und einschlägige Literatur Orientierunggewonnen, die in der Aus- und Fortbildung sowie derBeratung weitergegeben werden und so zu einer nach-haltigen Verbesserung der ethischen Qualität der Be-treuung am Lebensende beitragen kann.

Gleichwohl bleiben die ethischen und praktischenFragen gerade hier weiterhin als Herausforderungenbestehen und lösen auch weiterhin Beratungsbedarfaus (Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht, 2001).Die häufigsten Anlässe für die Anfragen von Klini-schen Ethikkonsultationen haben wir auf der Grund-lage unserer Erfahrungen in vier grundlegende Kate-gorien zusammengefasst:

Klinische EthikkonsultationKategorien von Anlässen:1. Unsicherheit in der ethischen Beurteilung

einer klinischen Frage,2. Wahrnehmung eines Konfliktes zwischen

ethischen Verpflichtungen – zum Beispiel einer-seits die Selbstbestimmung (beziehungsweise die Versuche) eines Patienten zu respektieren, anderer-seits die bestmögliche Behandlung zu realisieren (welche der/die Kranke ablehnt),

3. Schwierigkeiten mit einem Dissens auf Station über eine klinisch relevante ethische Frage im Kreis der Behandelnden und Betreuenden,

4. Probleme, die sich aus der Haltung beziehungs-weise Kooperation des Kranken oder der Ange-hörigen für das klinische Team ergeben (Reiter-Theil 2000).

Eine kanadische Befragung über Anlässe für dasAuslösen von Ethikkonsultationen zeigt die häufigs-ten Dilemmas der befragten Internisten auf: Fragenam Lebensende („end-of-life issues“), gefolgt von Fra-gen der Patientenautonomie („patient autonomy“)und Konflikt („conflict“). Die Autoren untersuchtenauch, ob der Bedarf eher durch einen Konflikt bzw.Problemdruck („distress“) ausgelöst wurde oder durchGründe, die mit der Reflexion des Betreffenden zu-sammenhängen („more introspective reasons“, e.g.„wants help thinking through ethical issues“) (DuValet al, 2001; S. 125).

Wissen und Fertigkeiten der Ärzte, festgemacht aneiner gewissen Ethik-Fortbildung („6 or more bioet-hics rounds attended“), korrelieren laut DuVal et al.siginifikant mit der Fähigkeit, solche Situationen zuidentifizieren, die einer ethischen Konsultation be-durften (S. 128). Dieser Zusammenhang zeigt auf,dass es bereits einer gewissen Sensibilisierung undbegrifflichen Vorbereitung beim klinischen Personalbedarf, damit beratungsbedürftige ethische Fragenerkannt und beantwortet werden können. Zu unter-scheiden sind demnach einerseits Basiskompetenzender klinischen Ethik, die in allen Berufsgruppen derPatientenversorgung möglichst breit entwickelt wer-den sollten, gegenüber Spezialkompetenzen derjeni-gen, die als Berater/innen Ethikkonsultationen durch-führen. LaPuma und Schiedermayer hatten bereitsvor mehr als einem Jahrzehnt gefordert (1991), dassklinische Ethik-Berater/innen die Identifikation undAnalyse ethischer Probleme beherrschen sollen unddazu ein Kompetenzprofil aufgestellt. Eine ausführli-

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che Beschreibung der erforderlichen Kompetenzenliefert die American Society of Bioethics andHumanities (1998).

Die Feststellung des Bedarfs und der Anlässe für dieAuslösung von Klinischer Ethikkonsultation hängtdemnach eng mit der Formulierung der Zielsetzungzusammen. Die ethische Beratung in der Klinik ist alsBestandteil des Auftrags zu sehen, die Betreuung derKranken professionell und ethisch möglichst optimalzu gestalten; des Weiteren ist es eine instrumentelleZielsetzung, die dafür erforderlichen Voraussetzungenam Arbeitsplatz und die Kompetenz des Personals zuunterstützen. Die Zielsetzungen sind jedoch, auchwenn im Einzelfall das akute Geschehen im Vorder-grund steht, nicht nur kurzfristig zu verstehen, sieenthalten auch das Bemühen um einen nachhaltigenund präventiven Beitrag, zum Beispiel zur Bewälti-gung künftiger ähnlicher Probleme. Zu den Zielset-zungen gehört es nach dem in Basel vertretenen An-satz keineswegs, „die einzig richtige“ Lösung zu defi-nieren; oft kann es mehr als einen vertretbaren Weggeben, den die Entscheidungsverantwortlichen nachAbwägen von Pro und Contra wählen.

Auszuschließen sind jedoch Irrtümer: das heißt,Optionen, welche nicht mit guten Gründen vertret-bar sind, sollen erkannt und verworfen werden; auchder Vergleich von argumentativ schwächer oder stär-ker gestützten Handlungsmöglichkeiten ist Gegen-stand der Beratung. Neben der eigentlichen ethischenAnalyse des Falls und der Handlungsoptionen geht esauch darum, ethisch relevante Wissenslücken oderFehlinterpretationen, zum Beispiel von Richtlinien,zu erkennen, zu artikulieren und zu überwinden. Dafür ist neben Fachkompetenz auch Unabhängig-keit und Courage erforderlich. Die Klinische Ethik-beratung ist somit eine respektvolle und eher zurück-haltende Form der Begleitung und Moderation inner-halb von Eckpunkten der Orientierung (zum Beispielan Patientenrechten), mit einem eifernden Moralisie-ren hat sie meines Erachtens nichts gemeinsam(Reiter-Theil, 2005).

BrennpunkteDie Klinische Ethik und ihre Beratungsformen rea-gieren auf Brennpunkte, die von den klinisch Täti-gen selbst und von den Patienten oder Angehörigenartikuliert werden. Thematisch stehen dabei Entschei-dungen am Lebensende im Vordergrund, insbeson-dere zur Frage einer Therapieänderung von kurativ

nach palliativ. Diese können bei Patienten jeden Le-bensalters auftreten; häufig sind sie in der Intensiv-medizin und der Neonatologie. Weitere Problemfel-der betreffen invasive und operative Verfahren mitfraglichem Erfolg oder hoher Risikobelastung. Auchdie Auswahl und Akzeptanz von Spendern in derOrgan- oder Knochenmarktransplantation löst Bera-tungsbedarf aus, vor allem, wenn Zweifel über dieFreiwilligkeit oder Urteilsfähigkeit bestehen. Die klinischen Felder sind ebenso vielfältig wie die ethi-schen Fragestellungen.

Demgegenüber noch wenig fortgeschritten ist die Kli-nische Ethikkonsultation bisher in anderen Problem-feldern wie dem Umgang mit limitierten Ressourcenim Gesundheitswesen oder der Frage der „Rationie-rung am Krankenbett“. Expandierende technischeMöglichkeiten und tendenziell unbegrenzte Bedürf-nisse kennzeichnen das Problem, das auch individu-elle Behandlungsentscheidungen erreicht. Die Unum-gänglichkeit, dem Patienten mitunter potenziell nütz-liche Maßnahmen vorzuenthalten, weil die Ressour-cen nicht ausreichen oder andere Prioritäten beste-hen, wird zwar vielfach als drängendes Problem be-schrieben und empfunden, aber die Klinische Ethik-konsultation ist noch wenig in Versuche eingebunden,hier angemessene Lösungsmöglichkeiten zu finden.

Eine transparente und an Regeln und Kriterien orien-tierte allgemeine Vorgehensweise wird von manchenangemahnt, von anderen abgelehnt. Faktisch fühlenÄrzte und Ärztinnen sich durch diese Fragen in derKlinik bedrängt und verunsichert, wie eine verglei-chende europäische Studie (Schweiz, Norwegen,Italien, Großbritannien) zeigt (Hurst et al, 2007b);dies gilt analog auch für andere Heilberufe, zumBeispiel die Krankenpflege, die ebenfalls mit limitier-ten Ressourcen umzugehen hat. Verunsicherung undKonflikte in der Klinik bezüglich der Frage, welcheEntscheidungen ethisch am ehesten vertretbar seien,lassen den Wunsch nach einer Hilfestellung und allge-meinen Orientierung, gegebenenfalls auch Beratung,aufkommen (Albisser, Reiter-Theil, 2007).

Auch die vielfach noch zaghafte Auseinandersetzungmit unerwünschten bzw. nachteiligen Ergebnissentherapeutischer Maßnahmen („adverse effects“), mitIrrtümern, Beinahe-Fehlern oder wirklichen Fehlern,die Folgen haben, ist eine Herausforderung im klini-schen Alltag, die ethische Fragen und Beratungsbe-darf auslöst. Wie soll man mit diesen Ergebnissen

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umgehen? Ist Offenheit und Transparenz gegenüberdem Patienten immer richtig oder immer falsch? Wel-che Regeln sind angemessen und helfen, Professiona-lität, Ethos und Vertrauen zu bewahren? Bestehengenügend Möglichkeiten der Prävention und De-Es-kalation von Konflikten, damit gar nicht erst derWeg einer Klage gegangen werden muss? Oder ist dasGerichtsverfahren der Königsweg der Problemlösung?Fragen wie diese finden im Einzelfall durchaus Ein-gang in ethische Beratungen, aber sie werden nochselten systematisch und methodisch angegangen.Aktuelle Projekte zur Entwicklung einer Kultur imUmgang mit Irrtum und Fehler, mit nachteiligenBehandlungsergebnissen sind vielversprechend undbedürfen der Unterstützung im klinischen Alltag,gegebenenfalls auch in Form ethischer Konsultation-en (Smith, Forster, 2000; Ummenhofer et al., 2001).

Die weitere Entwicklung der Klinischen Ethik undihrer Beratungsformen wird zeigen, ob es gelingt,auch für diese Brennpunkte praxistaugliche Ansätzezu entwickeln, die sowohl die Qualität der Entschei-dungen verbessern, als auch den Druck der Beteilig-ten reduzieren helfen.

6. Modell und Vorgehen in BaselEthikkonsultationen, die auf Anfrage von Abteilun-gen des Universitätshospitals Basel von unserem Insti-tut durchgeführt werden, folgen dem Basler Ansatz.Diesen geben wir auch in der Fortbildung weiter under wird von kooperierenden Gruppen anderer Klini-ken übernommen bzw. adaptiert. Als theoretischeund methodische Grundlage dienen vor allem dieKombination des Vier-Prinzipien-Ansatzes und desSystematischen Perspektivenwechsels. Das Vorgehenwurde zum Beispiel 2005 (in deutscher Sprache) be-schrieben (Reiter-Theil, 2005). Die besondere Heraus-forderung, während des Konsultationsprozesses auchzu reflektieren, wie man als Berater/in oder als aktivteilnehmende Person mit der normativen Dimensionumgeht, also ob und wie man selbst Bewertungenvornimmt oder Empfehlungen formuliert, wird ineinem Themenheft der amerikanischen Zeitschrift„Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics“ unter-sucht (Reiter-Theil, in progress).

Wichtig ist die Kooperation mit anderen Beratungs-diensten in der Institution, besonders für ein nochwenig etabliertes und mit nur knappen Ressourcenausgestattetes Gebiet. Chancen dafür sind zum Bei-spiel bei der Krankenhausseelsorge zu sehen, beim

Psychosozialen Dienst und der Rechtsberatung. Es sei darauf hingewiesen, dass sich an jedem Ort unter-schiedliche Konstellationen für Kooperationen erge-ben können, die auch von den beteiligten Personenabhängen.

In der aktuellen Entwicklung der Klinischen Ethikund der Konsultation nehmen die Aktivitäten derQualifizierung und der Qualitätsentwicklung einenbreiten Raum ein, nicht nur in den USA und in Ka-nada, sondern zunehmend auch in Europa. Spezifi-sche Fortbildungen, die auf die Tätigkeit der Klini-schen Ethikkonsultation vorbereiten, werden auflokaler und regionaler sowie internationaler Ebeneangeboten (Webadressen in der Literaturliste). Auchin die grundständige akademische Ausbildung derStudierenden in der Medizin wird die Klinische Ethikbei uns zunehmend einbezogen, indem einschlägigeFallbeispiele problemorientiert bearbeitet und dieGrundlagen der Analyse vermittelt werden. Nachunserer Erfahrung ist es sehr empfehlenswert, wennHäuser und ihre Aktivitäten der Klinischen Ethikdadurch unterstützt werden, dass manche Mitgliederauch eine etwas aufwändigere Fortbildung durchlau-fen (wie zum Beispiel den Fernlehrgang). Für indivi-duelle Bedürfnisse von Institutionen, die eher einebreit angelegte Kompetenzförderung vieler Mitarbei-terinnen und Mitarbieter wünschen als eine Speziali-sierung von wenigen Einzelpersonen, bieten wir eine„maßgeschneiderte“ Begleitung von Gruppen an.

Als Fazit zur aktuellen Situation der Klinischen Ethikund der Konsultation kann man festhalten, dass dieDynamik dieses Gebietes und seiner verschiedenenPraxisformen in Europa angekommen ist. Es gehtnun darum, diese zu nutzen und in fruchtbarer Weiseeinzubetten. Die Klinische Ethik verdrängt die aka-demische Medizinethik nicht, sondern ergänzt sie.Durch ihre unmittelbare Nähe zur Klinik kann siesowohl der Theorie als auch der Praxis positive Impul-se geben; den klinisch Tätigen will und kann sie eineHilfe dabei sein, den Auftrag einer möglichst gutenPatientenversorgung zu erfüllen und dabei auch ethi-sche Herausforderungen zu bestehen.

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PD Dr. Ulrike Kostka

Die Bedeutung der Ethik in derPersonalentwicklung undKommunikation

EinführungIch möchte Sie ganz herzlich begrüßen und freuemich, dass ich bei Ihnen sein kann. Als ich gesternAbend hier ankam, begegnete mir ein sehr begeister-ter Tagungsteilnehmer im Fahrstuhl und sagte: „DieTagung war toll und der Chor war wunderbar!“ Sowurde ich doch direkt auch ein Stück mit reingeholt.

Mein Thema, „Ethik in der Personalentwicklung undKommunikation“, ist, denke ich, ein Thema, was zu-nächst vielleicht etwas überraschend erscheint. Es istüberraschend im Hinblick darauf, dass Personalent-wicklung ja zumeist nicht gerade die Aufgabe derEthikerinnen und Ethiker in einer Organisation ist.Sondern Personalentwicklung wird im Referat Perso-nalwesen in der Abteilung Personal organisiert undkonzipiert. Sie hat sehr viel mit der Einstellung vonMitarbeitenden und mit Führungskräfte-Qualifika-tion zu tun, auch vielleicht mit einer Qualifikations-Datenbank. Mein Fokus soll heute auf der Frage lie-gen, was die Ethik in die Personalentwicklung hinein-bringen kann bzw. inwieweit die Bewegung zur ethi-schen Reflexion ein Teil der Personalentwicklung ist.

Ich möchte mit Ihnen eine Reise in dieses Thema indrei Schritten machen. Zunächst möchte ich in einemersten Schritt noch mal auf die Situation von Einrich-tungen und Diensten in der Caritas eingehen. Das istnatürlich immer ein spannendes Thema: Malteserund Caritas. Aber da wir uns ja alle als Caritas derKirche verstehen und die Malteser ein Fachverbandder Caritas sind, denke ich, dass ich den allgemeinenBegriff der Caritas gut verwenden kann.

Ich möchte nach einer kurzen Situationsbeschreibungauf das Thema „Christliche Unternehmenskultur undPersonalentwicklung“ eingehen. Anschließend will ichin einem zweiten Schritt den etwas gewagten Versuchmachen, einmal zu untersuchen, inwieweit in derBibel Personalentwicklung betrieben wird und wirdaraus auch Anregungen bekommen können. Unddann möchte ich mich einem Thema zuwenden, dasfür uns als Einrichtungen und Dienste der Caritas derKirche besonders wichtig ist. Ich werde diskutieren,inwieweit das Thema Kirchlichkeit der Einrichtung

mit dem Thema Personalentwicklung in der Einrich-tung zu tun hat.

1. Die Situation der Einrichtungen und Dienste derverbandlichen CaritasDie Situation der Einrichtungen und Dienste istIhnen allen gut vertraut, weil Sie in diesen arbeiten.Sie wissen, dass sich die Einrichtungen und Dienstein den letzten Jahren unter einem starken wirtschaft-lichen und auch politischen Druck befunden habenund dass sich die sozialpolitischen Rahmenbedingun-gen, etwa wenn wir an die Einführung von Hartz IVdenken, sehr stark auf unsere Einrichtungen undDienste auswirken. Die Auswirkungen sind vielfältig,und ich denke, man sollte sie nicht gleich als positivoder negativ charakterisieren. Sondern sie sind ein-fach äußerst vielfältig und auch in jedem Arbeitsfeldspezifisch.

Man kann sicherlich zusammenfassen, dass dieEinrichtungen verstärkt unter einem Qualitäts-,Wettbewerbs- und Wirtschaftlichkeitsdruck stehen.Diese Entwicklung hat auch sehr viel Positives ge-bracht. Wenn wir daran denken, dass es heute selbst-verständlich ist, dass Kundenorientierung viel stärkerim Mittelpunkt steht und dass sich nicht der Patientnach dem Krankenhaus zu richten hat, sondern um-gekehrt. Das ist ein guter Prozess. Auf der anderenSeite haben diese veränderten Rahmenbedingungenauch zu einer Leistungsverdichtung geführt, zum Bei-spiel in den Krankenhäusern, und natürlich auch zueiner gewissen Instabilität, zum Beispiel in Form vonArbeitsplatzunsicherheit. Mitarbeitende stehen oftunter einem starken Druck, ihre Arbeit auch mitwenig Personal ausführen zu müssen. Die Leitungenund Träger sind unter dem Druck, ihre Einrichtungenwirtschaftlich zu führen und auf dem Markt der sozi-alen Dienstleistung zu steuern. Das ist natürlichschon eine ganz andere Ausgangssituation als nochvor zehn Jahren.

Und diese Entwicklungen haben auch vielfältigeAuswirkungen auf die Personalentwicklung. Beispiels-weise gibt es immer mehr Mitarbeitende mit befriste-ten Arbeitsverhältnissen. Das führt dazu, dass dasStichwort Personalentwicklung noch mal etwas ganzanderes bedeutet. Es bedeutet, dass Mitarbeitendevielleicht nur ein bis zwei Jahre oder manchmal sogarkürzer bei uns sind.

Die Einrichtungen und Dienste der Caritas derKirche befinden sich auf einem Markt sozialer

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Dienstleistungen mit all den Erscheinungsformen, diedas so mit sich bringt. Es gibt etwa einen „innerver-bandlichen“ Wettbewerb zwischen Trägern. Außer-dem befinden wir uns auch in einer Konkurrenz-situation zu anderen Anbietern (etwa zu privatenAnbietern).

Hoch engagierte Mitarbeitende in den Einrichtungen und DienstenInsgesamt kann man zusammenfassen, dass wir inunseren Einrichtungen und Diensten hochengagierteund fachlich hochqualifizierte Mitarbeitende haben.Mich überrascht es immer wieder: Egal wo ich hin-komme, steht dieses hohe Engagement im Mittel-punkt. Und man spürt so etwas wie einen bestimm-ten Geist, aus dem dieser Dienst gemacht wird.

Auf der anderen Seite haben wir natürlich auchMitarbeitende, die ganz unterschiedliche Vorausset-zungen haben, die aus ganz verschiedenen gesell-schaftlichen Gruppen kommen. Wir können über-haupt nicht von „den“ Mitarbeitenden sprechen.Sondern wir haben ganz unterschiedliche Mitarbei-tende, auch was ihre religiöse und kulturelle Sozia-lisation angeht. Und auch auf diese Situation mussdie Personalentwicklung Rücksicht nehmen. Wirhaben eine ganz heterogene Mitarbeiterschaft. Aberman merkt, dass es einen gemeinsamen Geist gibt.Das gilt auch für Mitarbeiter, die konfessionslos sind.

In Ostdeutschland gibt es in Caritas-Einrichtungenteilweise über 70 Prozent Mitarbeitende ohne christli-

che Konfession. Oft sind es gerade diese Mitarbei-tenden, die das Thema Spiritualität und Ethik starkbetonen. Und dann zeichnet unsere Einrichtungenaus, dass wir gar nicht nur von dem klassischen Bilddes beruflichen Mitarbeitenden ausgehen können,sondern dass wir unzählige ehrenamtlich/freiwilligtätige Mitarbeitende haben.

Hoher Erwartungsdruck an die Mitarbeitenden undvon den MitarbeitendenUnd ich würde den Kreis noch erweitern. Wir habenmittlerweile in unseren Einrichtungen sehr unter-schiedliche weitere Mitarbeitende, die zum Beispieldurch Zusatzjobs, durch das freiwillige soziale Jahr,im Zivildienst, als Praktikanten bei uns tätig undganz unterschiedlicher Couleur sind. Und es ist aucheine Realität, mit der zum Beispiel Stationsleitungen,Pflegedienstleitungen umgehen müssen, nämlich dasssie ganz unterschiedliche Mitarbeitende haben, dieganz verschiedene Voraussetzungen haben.

Was man vielleicht auch noch festhalten kann: Wirhaben von Seiten der Einrichtungen hohe Erwartun-gen an die Mitarbeitenden, was sich durch den Cha-rakter unserer Organisationen ergibt. Aber ich denke,wir haben zudem einen hohen fachlichen Anspruch.Wir haben auch den Anspruch, dass der Mitarbei-tende mehr einbringt als nur seine professionelleKompetenz.

Wir haben auf der anderen Seite auch hohe Erwar-tungen von Mitarbeitenden an die Dienstgeber, nach

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dem Motto: Wenn ich bei der Caritas oder den Mal-tesern arbeite, habe ich auch die Erwartung, dass mitmir in einer besonderen Art und Weise umgegangenwird. Diesen hohen „impliziten“ Anspruch, der vor-handen ist, gilt es immer zu berücksichtigen. Wir ste-hen also schon allein durch die Tradition unserer Ein-richtungen und durch unsere Identität unter einemgemeinsamen gegenseitigen hohen Erwartungsdruck.

Der tarifpolitische KonfliktDann haben wir zurzeit eine Entwicklung, die alleEinrichtungen und Dienste tangiert: Wir befindenuns mitten in einer tarifpolitischen Auseinanderset-zung. Es geht um die Zukunft des Arbeitsrechtes derCaritas. Dadurch, dass der BAT nicht mehr existiertund wir uns dem TvÖD nicht angeschlossen haben,stellt sich die Frage, wie das zukünftige Tarifsystemder Einrichtungen und Dienste aussehen kann. Esmüssen die Belange der Mitarbeiter berücksichtigtwerden und auf der anderen Seite die Einrichtungenund Dienste wirtschaftlich überlebensfähig bleiben.Diese tarifpolitische Situation muss man zurzeit sehrstark berücksichtigen, das spielt in den Einrichtungenoftmals eine große Rolle. Ich würde sagen, der Kon-flikt, der bei der Bahn herrscht, der passiert bei unsauch. Nur er findet nicht in der breiten Öffentlich-keit statt. Das ist das Besondere durch unseren drit-ten Weg.

Es zeichnet sich immer stärker ein weiteres Thema ab,dass für uns alle ganz entscheidend sein wird. Ichweiß durch eigene Beobachtungen, dass es zunehmen-de Schwierigkeiten gibt, geeignete Führungskräfte zufinden bzw. überhaupt den Personalbedarf zu decken.Das Stichwort Fachkräftemangel ist bei uns schonjetzt gut zu beobachten. Der Kampf um die Mitarbei-tenden und die Frage „Wie machen wir eine kontinu-ierliche Personalentwicklung?“ ist eine Zukunftsfrage.

Es gibt in einigen Einrichtungen und Diensten teil-weise eine ausgebaute Personalentwicklung nach mo-dernen Standards, oftmals aber auch nicht. Als ichdie Zentrale der Malteser besucht habe, habe ich er-lebt, dass es bei Ihnen offensichtlich eine recht ent-wickelte Personalentwicklung gibt – auch mit einementsprechend ausgebauten Fortbildungsprogramm.Das fand ich sehr beeindruckend. Aber das ist nichtüberall so.

2. Christliche Unternehmenskultur undPersonalentwicklungDann komme ich zu meinem zweiten Abschnitt

„Christliche Unternehmenskultur und Personalent-wicklung“. Die Träger der Caritas sind ganz besonde-re Organisationen. Sie sind nicht nur Nonprofit-Organisationen, sondern rechtlich gesprochenTendenzbetriebe. Wir unterliegen dem Werte- undNormenhorizont der Kirche. Aber das ist nicht nurein Werte- und Normenhorizont, sondern es ist unserLeitbild.

Ich denke, die Enzyklika „Deus Caritas est“ vonPapst Benedikt XVI. hat das Leitbild der Caritas derKirche noch einmal sehr gut zusammengefasst undbegründet. Wir haben einen Auftrag und eine Sen-dung als kirchliche Einrichtungen und Dienste. Dasist eine wunderbare Berufung, aber es ist auch einegroße Verpflichtung. Es ist ein Zuspruch der Kirche.Es ist wichtig, dass den Mitarbeitenden vermitteltwird, dass wir ein Teil der Kirche sind und nicht ersteinen frommen Mantel umlegen müssen. Das, waswir tun in den einzelnen Diensten und Einrichtun-gen, ist kirchlicher Dienst. Daraus ergeben sich natür-lich viele Herausforderungen für die Personalent-wicklung. Und es bedeutet auch, dass wir selber alsDienstgeber einem hohen Leitbild unterstehen.

Unsere Personalentwicklung und die Unternehmens-leitung müssen sich an diesen Kriterien messen las-sen. Das heißt, das, was wir nach außen hin sagenund fordern, ist auch nach innen zu realisieren. DasBesondere ist, dass wir in den letzten Jahren zuneh-mend unternehmerische Aspekte in unser Handelnintegriert haben. Oft wird das auch als Widerspruchdiskutiert. Gibt es einen Widerspruch zwischen Barm-herzigkeit und wirtschaftlichem Handeln? – Aus mei-ner Sicht Nein, wobei diese Balance zwischen wirt-schaftlichem Handeln und unserer Identität immerneu bestimmt und austariert werden muss. Wir ste-hen unter einem hohen eigenen Qualitätsanspruch.Wir haben insgesamt sehr hochwertige Organisations-ziele.

Personalentwicklung und Unternehmenskultur alsAufgabe der ganzen OrganisationDas Fundament, auf dem wir unsere Arbeit machenkönnen, ist das Engagement unserer Mitarbeitenden.Dies müssen wir uns immer wieder bewusst machen.Wir können noch so schöne Positionen haben undnoch so schöne Sterbezimmer und noch so schönePE-Konzepte. Wenn die Mitarbeitenden sich mitunseren Einrichtungen nicht identifizieren können;wenn die Leitung es nicht schafft, entsprechend zumotivieren und eine Kultur zu entwickeln, die wirk-

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lich einen gemeinsamen Dienst gestaltet, dann wärees um die Caritas schlecht bestellt. Also ist Personal-entwicklung und Unternehmenskultur letztendlichetwas, was den Kern unseres Auftrages berührt.

Wir können also nicht sagen, das Eigentliche ist un-ser sozialer Auftrag und das andere ist ein bisschenHumanressource-Management. Wenn diese beide auseinanderfallen, dann haben wir ein ganz großesProblem, weil wir dann unseren eigenen normativenAnspruch nicht realisieren können. Es ist also einintegraler Bestandteil. Deshalb darf man Personalent-wicklung auch nicht an den Verwaltungsleiter alleindelegieren. Sondern das bedarf eines Gesamtbewusst-seins der Organisation. Das ist ganz entscheidend. PEist keine Aufgabe der PEler, sondern eine gesamt-organisationale Aufgabe.

Fundament unserer Arbeit ist die christliche Bot-schaft. Nur, auch da gilt es: Die christliche Botschaftist nicht etwas, was sozusagen wie in einem schönenRucksack den Mitarbeitenden übergeben wird. Son-dern das gilt es, immer wieder auszubuchstabieren.Und ich finde, das ist auch gerade das Spannende,zum Beispiel in einem Malteser Krankenhaus in derStadt X herunterzubrechen, was diese Botschaft vorOrt bedeuten kann – und nicht nur für die Organisa-tion unter einer Käseglocke, sondern als Organisationim Verbund mit den anderen kirchlichen Akteuren,in der Partnerschaft mit Organisationen und Perso-nen aus dem Sozialraum. Ich finde, das ist eine wahn-sinnig spannende Aufgabe.

3. Personalentwicklung in der BibelNun möchte ich Sie mit einem Text konfrontierenund dabei einmal den Blick wagen auf die Bibel.Wenn man sich die Bibel anschaut, dann ist es ganzauffällig, dass wir dort sehr viele Führungsgeschichtenvorfinden. Es gibt zentrale Führungsfiguren, die sichnicht immer wie ideale Führungspersonen verhalten.Wenn Sie an Petrus denken – bis zum Schluss gerät erimmer wieder in Fallen hinein und lernt dazu. Alsoauch der Führende wird in der Bibel immer als derLernende bezeichnet, der auch nicht vor Fehlverhal-ten geschützt ist, sondern gerade durch das eigeneVersagen lernen kann. Aber der auch berufen ist,Führung wahrzunehmen.

Wir haben tolle weibliche Führungsfiguren, wenn wiran Miriam denken oder an Judith. Führen ist in derBibel keine exklusiv männliche Tätigkeit. Was grund-

sätzlich in diesem Führungskonzept enthalten ist,dass immer die Führung Gottes vorausgeht. Gott istderjenige, der mit uns geht. Diese Führung Gottes istnatürlich eine große Verheißung und führt zu einerspannenden Auseinandersetzung: „Was heißt das jetztfür meine Organisation? Führung Gottes, wo ist dasspürbar?“ Also wenn man sich das mal realistisch vor-stellt - „die Führung Gottes des Malteser Kranken-hauses, der Altenhilfeeinrichtung…“ Was heißt das?Ich finde, das wirkt schon fast ein bisschen unheim-lich. Aber es kann auch eine große Vertrauenszusagesein.

Eine biblische FührungsgeschichteWenn wir an die Führungspersonen in der Bibel den-ken, ist Mose eine zentrale Führungsperson im AltenTestament. Ich möchte Ihnen eine konkrete Füh-rungsgeschichte kurz vorstellen. Es geht um die Exo-dus-Geschichte, wo Moses schon viel erreicht hat. Erhat sein Volk durch Meere und Wüsten geführt, erhat seinem Volk die Gebote Gottes übergeben. Jetztgeht es um die Situation, als Moses als Richter auf-tritt:

„Am folgenden Morgen setzte sich Moses, um für dasVolk Recht zu sprechen. Die Leute mussten vorMoses vom Morgen bis Abend anstehen. Als derSchwiegervater des Moses sah, was er alles für dasVolk zu tun hatte, fragte er: „Was soll das, was du fürdas Volk tust? Warum sitzt du hier allein und die vie-len Leute müssen von Morgen bis Abend vor diranstehen?“ Moses antwortete seinem Schwiegervater:„Die Leute kommen zu mir, um Gott zu befragen.Wenn sie einen Streitfall haben, kommen sie zu mir.Ich entscheide dann ihren Fall und teile ihnen dieGesetze und Weisungen Gottes mit.“ Da sagte derSchwiegervater zu Moses: „Es ist nicht richtig, wie dudas machst. So richtest du dich selbst zugrunde undauch das Volk, das bei dir ist. Das ist zu schwer fürdich. Allein kannst du es nicht bewältigen. Nun hörzu, ich will dir einen Rat geben und Gott wird mitdir sein. Vertritt du das Volk vor Gott, bring dieseRechtsfälle vor ihn, unterrichte sie in den Gesetzenund Weisungen und lehre sie, wie sie leben und wassie tun sollen. Du aber sieh dich im ganzen Volk nachtüchtigen, gottesfürchtigen und zuverlässigen Män-nern um, die Bestechung ablehnen. Gib dem VolkVorsteher für je tausend, hundertfünfzig und zehn.Sie sollen dem Volk jeder Zeit als Richter zur Verfü-gung stehen. Alle wichtigen Fälle sollen sie vor dichbringen, die leichteren sollen sie selber entscheiden.

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Entlaste dich und lass auch andere Verantwortung tra-gen. Wenn du das tust, sofern Gott zustimmt, bleibstdu der Aufgabe gewachsen und die Leute hier könnenalle zufrieden heim gehen.“ Moses hörte seinenSchwiegervater und tat alles, was er vorschlug: Moseswählte sich tüchtige Männer in ganz Israel aus undsetzte sie als Hauptleute für das Volk ein als Vorsteherfür je tausend, hundertfünfzig und zehn. Sie standendem Volk jederzeit als Richter zur Verfügung. Dieschwierigen Fälle brachten sie vor Moses, alle leichte-ren entschieden sie selber. Moses verabschiedete sei-nen Schwiegervater und dieser kehrte in sein Landzurück.“ (Ex 18,13-27)

Wenn man sich die wunderbare Geschichte anschaut,dann ist es wirklich erstaunlich, welche tiefen Aussa-gen zur Führungshaltung, einem konkreten Füh-rungsverhalten und auch zur Personalentwicklunggemacht werden. Es wird gesagt, dass Führungs- oderLeitungspersonen – und das kann man ja auf alleEbenen hinunterbrechen, auch auf den einzelnenMitarbeitenden – Selbstsorge betreiben müssen. Siebrauchen die Fähigkeit zur Verantwortung und zurDelegation.

Es gilt das Prinzip der Subsidiarität. Das bedeutetnatürlich auch für Teams: Wie stärke ich Teams, dasssie das, was sie selber entscheiden und gestalten kön-nen, auch tatsächlich selber gestalten. Es wird kon-krete Personalentwicklung betrieben. Aus zeitge-schichtlichen Gründen sind es hier nur Männer. Esgibt das Vertrauen in die mittlere Führungsebene.Was sie alle verbindet, ist der gemeinsame Werte- und

Glaubenshorizont. Es gibt das Gemeinsame, aus demich entscheide und handele, aus dem ich aber auchvertrauen kann, dass meine Mitarbeitenden auch indieser Art und Weise handeln werden. Und es gibtstets eine Einbeziehung der obersten Führungsebeneeinschließlich Gott. Ich finde, das ist eine wunderbareGrundlage für Personalentwicklung und Nachwuchs-führungskräfte.

Natürlich kann man das nicht eins zu eins übertra-gen, das ist mir völlig klar. Eine biblische Geschichtehat immer ihren eigenen Sinn. Aber ich finde, siegibt viele Anregungen. Ich möchte meine Grundsätzefür die Personalentwicklung und Unternehmenskulturund Kommunikation noch unter dem Stichwort der„Ethik der Veränderung“ zusammenfassen.

Ethik der VeränderungWenn wir uns das Menschenbild der Bibel anschauen,das christliche Menschenbild, dann fällt auf, dass derMensch stets als jemand, der gestalten kann, der Ver-antwortung übernehmen kann, der lernen kann, be-trachtet wird. Ich denke, das ist auch ein wichtigerImpuls dieses Menschenbildes für unsere Personal-entwicklung.

Es heißt, dass ich Menschen als lernfähig und ent-wicklungsfähig betrachte, die aber auch selber Verant-wortung übernehmen können und sollen, für das,was ihren Bereich ausmacht. Wenn ich sie so betrach-te, ist das schon etwas anderes, als wenn ich den Mit-arbeitenden nur als Ressource sehe, die möglichst gutausgenutzt werden soll. Dieses positive Menschenbild

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ist ein wichtiger Impuls für unsere Arbeit. Was diesesMenschenbild aber auch besagt ist, dass der Mensches nicht alleine kann. Die Mitarbeitenden sind daraufangewiesen, dass sie Rahmenbedingungen vorfinden,wo sie sich entfalten können. Es gibt immer dieseSpannung zwischen Personenwohl und Gemeinwohl.

Wir könnten das auch als Spannung zwischen Orga-nisationswohl und Personenwohl betrachten. Es kannnicht sein, dass einzelne Mitarbeitende nur entwickeltwerden und die Organisation nicht mitgeht und ge-nauso umgekehrt. Es geht um ein Herausfinden ge-meinsamer Ziele, aber natürlich auch immer um Zieleder einzelnen Person.

Die nächsten Punkte betreffen eher die Aufgabe derOrganisationen an sich. Das heißt unsere Einrichtun-gen und Dienste sind immer wieder dazu aufgefor-dert, sich damit auseinanderzusetzen: „Was heißtunser Auftrag in unserer Zeit?“ „Malteser bzw.Caritas semper reformanda“ ist dafür ein schönerAusdruck.

Neue Mitarbeitende mit ins Boot holenWir können nicht davon ausgehen, dass unser Auf-trag einfach festgeschrieben ist und den realisierenwir jetzt. Ich möchte das jetzt übertragen auf diePersonalentwicklung. Ich denke, ein ganz wichtigerAnspruch und eine ganz wichtige Aufgabe ist, dasswir neue Mitarbeitende mit ins Boot holen. Dass wirsie, etwa durch Einführungstage für neue Mitarbei-tende, durch eine kontinuierliche Begleitung mitunserer Organisation vertraut machen; aber umge-kehrt auch offen sind für das, was sie mitbringen.

Denn jeder neue Mitarbeitende hat eine ganz eigeneGeschichte, er hat eigene Talente, er hat eigene Ins-pirationen. Diese dürfen wir nicht nur als Größensehen, die wir mit der richtigen Caritas-Identität aus-rüsten müssen, sondern auch als diejenigen, die unse-re Caritas- oder Malteser-Identität weiter ausfaltenkönnen. Ich finde es immer faszinierend, was dieneuen Mitarbeitenden für Ideen und Vorstellungenvon Caritas haben. Daraus nehme ich meistens auchnoch sehr viel mit. Offenheit, sie mitzunehmen, aberauch offen dafür zu sein, was sie bringen, das findeich eine ganz schöne Grundhaltung für diePersonalentwicklung.

Mitarbeitende in die Prioritätensetzung einbindenEine der Hauptaufgaben für die gesamte Organisa-

tion in der Caritas oder bei den Maltesern ist es zur-zeit, eine Offenheit zu entwickeln für die Spannun-gen und Herausforderungen, die sich ergeben. VieleOrganisationen stehen vor der Herausforderung, dasssie nicht mehr alles machen können, was sie machenmöchten. Sie müssen Prioritäten setzen. Im Sinne derPersonalentwicklung und der Kommunikation ist esganz wichtig, die Mitarbeitenden mit auf diesen Wegzu nehmen. Ich erlebe es als eine große Herausfor-derung.

Partizipation bedeutet also auch Kommunikation,soweit es Sinn macht, in den Veränderungsprozessen.Das heißt auch, dass ich die Mitarbeitenden befähi-gen muss zur Veränderung. Es gibt stetig Veränderun-gen. Ich muss den Mitarbeitenden so etwas geben wieein Vertrauen, eine Zuversicht, ich muss sie aber aufder anderen Seite auch veränderungsfähig machen.Das ist immer wieder eine Spannung, weil diese Ver-änderungen (z.B. eine Station zu schließen) zu star-ken Verunsicherungen der Mitarbeitenden führen.Dieses Thema muss kontinuierlich bearbeitet werden.Das hat für mich etwas mit Fürsorge zu tun.

Fürsorge ist Grundprinzip der PersonalentwicklungFürsorge ist ein Grundprinzip in der Personalent-wicklung und diese Fürsorge bedeutet auch, ihnennicht zu versprechen, was nicht zu halten ist. Abereben trotzdem zu schauen, was möglich ist. DieseSpannung zu thematisieren, das ist eine ganz wichtigeAufgabe der Mitarbeiterführung. Partizipation undAustausch habe ich schon beschrieben. Was das kon-kret bedeutet, muss man im Einzelfall klären. Dashängt immer sehr stark von der Organisationskulturder einzelnen Organisation ab. Schwierig ist einefalsch verstandene, überbetonte Partizipation fürMitarbeitende, wo sie nicht selber entscheiden kön-nen. Das heißt, man braucht eine Ehrlichkeit überdie Möglichkeiten der Partizipation, da wo sie auchnicht vorgesehen ist.

Die Themen Zielvereinbarungsgespräche und Fortbil-dungsprogramm gehören für mich unter die Stich-worte Ehrlichkeit und Transparenz. Das möchte ichals Grundprinzipien der Kommunikation noch malgerne festhalten: Ehrlichkeit und Transparenz ist das,was die Mitarbeitenden von uns erwarten dürfen undes ist auch gleichzeitig das, was wir als Träger vonDiensten und Einrichtungen nach innen und außendeutlich zu machen haben.

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Zusammenarbeit zwischen beruflichen und ehren-amtlich/freiwillig tätigen MitarbeitendenWie können wir das, was unser Profil ausmacht, inunseren Organisationen realisieren? Ich möchte dabeibetonen, dass zum Thema Profil sehr stark die Zu-sammenarbeit von Beruflichen und Ehrenamtlichengehört. Vor kurzem wurden die Ergebnisse einer gro-ßen Ehrenamtsuntersuchung in der Caritas vorge-stellt. Da zeigt sich Folgendes: Es gibt eine großeZufriedenheit der Ehrenamtlichen über ihre Arbeits-bedingungen. Es gibt aber ein hohes Misstrauen vonberuflichen Mitarbeitenden gegenüber Ehrenamt-lichen. Und zwar aufgrund der Sorge, dass Ehrenamt-liche ihren Arbeitsplatz gefährden. Oder dass sie sieersetzen könnten.

Das interessante Ergebnis ist, dass je mehr beruflicheMitarbeitende mit Ehrenamtlichen zusammenarbei-ten, umso positiver bewerten berufliche Mitarbeiten-de diese Art der Zusammenarbeit. Es ist ein ganz kla-res Ergebnis dieser Untersuchung, dass die Zusam-menarbeit zwischen ehrenamtlich/freiwillig und be-ruflich tätigen Mitarbeitenden ein Thema der Perso-nalentwicklung ist. Man kann nicht einfach sagen,das ist so, das macht man doch als Stationsleitungoder als Altenheimleitung ganz selbstverständlich,sondern notwendig ist eine Befähigung sowohl derEhrenamtlichen als auch der beruflichen Mitarbeiten-den. Das würde ich als ein ganz zentrales Thema derPersonalentwicklung sehen.

Faire Verteilung der Belastungen bei EinschnittenNoch ein paar Worte zur Dienstgemeinschaft. Wirsprechen ja immer davon, dass wir einen gemeinsa-men Dienst ausführen. Ehrlichkeit und Transparenzhabe ich schon genannt. Was auch ein wichtigesThema ist: Bei den Mitarbeitenden werden, geradewenn es um die AVR neu, also das neue Tarifsystem,gehen wird, Verteilungskämpfe entstehen. Es werdenLeute profitieren, und es werden andere weniger ver-dienen, zumindest neu eingestellte Mitarbeitende. Ichglaube, ein grundsätzliches Prinzip sollte sein, wennes um Verzicht geht, dass es alle Ebenen entsprechendder jeweiligen Belastungsfähigkeit betreffen sollte.Sonst verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit.

Anerkennungs- und FeedbackkulturDann ist unter dem Stichwort Kommunikation eineAnerkennungs- und Feedbackkultur entscheidend.Das zu entwickeln ist auch eine Frage der Personal-entwicklung. Anerkennung und Wertschätzen mussman lernen. Das hat eine Führungskraft auch nicht

unbedingt von zu Hause mitgebracht. Ich merke dasselbst, denn ich bin seit zwei Jahren Abteilungslei-terin und bin in diese Funktion als Frischling hinein-gekommen. Ich kann zwar gut loben, aber ich mussteauch lernen, im richtigen Moment für die richtigeSituation zu loben und genauso auch konstruktiveKritik zu üben. Diese Anerkennungskultur ist nichtnur etwas, das man durch schöne Jubiläen oder durchsolche schönen Tagungen realisieren kann. Sonderndas braucht eine kontinuierliche Befähigung genausowie für die Feedbackkultur. Was ich wichtig finde:Wir neigen manchmal dazu, die Kritik ein bisschen inden Vordergrund zu stellen. Wir sollten einfach stär-ker Erfolge feiern. Das ist für mich ein Grundprin-zip, von dem wir eine Menge lernen können.

Ethische Diskussions- und EntscheidungskulturDann möchte ich noch auf das Stickwort Ethik einge-hen. In jeder unserer Einrichtungen gibt es ethischeKonflikte, ethische Themen und Spannungen. Ichsehe es als eine organisationsethische Verpflichtungder Träger und Leitungen, solche Konflikte zu benen-nen, zu bearbeiten sowie dafür auch organisationaleOrte einzurichten, wo diese ethischen Konflikte bear-beitet werden können. Das bedeutet auch, als Organi-sation und Führungskraft zu lernen, wie kann ich ineiner Vorstandsklausur oder einer Geschäftsführer-Tagung oder mit meinen Bereichsleitern ethischeKonflikte reflektieren. Das ist für mich ein Lernpro-gramm der Organisation.

Wie können Stationsteams ethische Themen bearbei-ten? Dazu sollte sich eine Organisation befähigen.Und genauso auch: Wie kann ich über die Bereichehinaus ethische Themen diskutieren? Das halte ichangesichts der Spannungen und der Themen, mitdenen wir uns beschäftigen, für einen grundsätzli-chen Auftrag von Caritas und Malteser-Einrichtun-gen. Insofern ist diese Tagung auch sehr gut angelegt,da sie wirklich den Organisationsblick einnimmt. Wirhaben bei uns in der Zentrale in diesem Jahr einesozialethische Reihe mit acht Veranstaltungen durch-geführt, an denen alle Führungskräfte und Referen-ten teilnehmen mussten. Jeweils immer zwei Veran-staltungen können sie sich aussuchen, wo wir abtei-lungsübergreifend ethische Prinzipien und ethischeFragen unserer Arbeit diskutieren. Auch die Verwal-tungskräfte waren eingeladen. Ich kann Ihnen sagen,da ist ein richtiger Ball ins Rollen gekommen. Jetztfangen einzelne Referate an, sich ihrer ethischenGrundlagen zu vergewissern und ihre Fachpositionenaus sozialethischer Perspektive neu zu reflektieren.

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4. FazitZum Stichwort Personalentwicklung noch mal kon-kreter: PE ist eine kontinuierliche Aufgabe. Wir brau-chen natürlich auch eine Führungskräfte-Entwick-lung. Wir brauchen Fortbildungen in allen Caritas-Dimensionen. Für mich heißt das zum Beispiel kon-kret, ich habe jetzt gerade drei Tage eine BWL-Fort-bildung gemacht. Ich bin schon Ethikerin, abermeine BWL-Kenntnisse müssen ausgebaut werden.Auf der anderen Seite brauchen Leute, die im Ver-sand arbeiten, auch mal ein ethisches Angebot usw..Wir brauchen also Fortbildungen in allen Caritas-Dimensionen im Sinne der Ganzheitlichkeit für alleMitarbeitenden.

Ebenso brauchen wir spirituelle Angebote, die dieFreiheit des Subjektes berücksichtigen. Und die spiri-tuellen Angebote sollten so gestaltet sein, dass sie dieMitarbeitenden dort abholen, wo sie stehen. Und daskann aus der Sicht eines traditionellen Katholikenvielleicht relativ wenig sein. Aber das ist nicht wenig,sondern das ist die Situation, in der die Mitarbeiten-den stehen. Bei uns heißt das „Exerzitien im Alltag“für die einen, für die anderen „Bibel teilen“. Einebesondere Aufgabe sind die älteren Mitarbeitenden.Sie haben einen Anspruch auf Personalentwicklung.Das ist noch mal eine ganz große Herausforderungfür die Organisation.

Zum Stichwort Familienfreundlichkeit: Das heißt fürmich, Familienfreundlichkeit auch wieder in all die-sen Dimensionen in den Blick zu nehmen und nichtnur die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondernauch die Vereinbarkeit mit Pflegebedürftigkeit – einZukunftsthema. Wie können Organisationen mitMitarbeitenden umgehen, die pflegende (bedürftige)Angehörige haben? Familienfreundlichkeit kann auchkreative Ideen hevorbringen. Wir haben zum Beispieljetzt das Modell von Leih-Omas, das heißt, dassPensionäre sich als Leih-Omas und Leih-Opas zurVerfügung stellen, um Kinder während der Arbeitszeitzu betreuen.

Christliches und kirchliches Profil als Gesamtaufgabeder OrganisationZum christlichen Profil möchte ich noch ein paarStichworte sagen, da ich es für ein Grundthema halte,natürlich auch ein Grundthema in der Personalent-wicklung. Entscheidend ist, dass das kirchliche unddas christliche Profil eine Gesamtaufgabe der Organi-sation ist und damit nicht eine Verpflichtung nur deseinzelnen Mitarbeitenden.

Dieses Grundprinzip meint, dass jede Organisationnach ihren Wegen suchen sollte, wie sie dieses Profilreflektieren und ausgestalten kann. Das bedeutet wie-derum, dass wir diesbezüglich auch ganz unterschied-liche Fortbildungen und Zugänge anbieten müssen.

Dann möchte ich noch sagen, dass es wichtig ist, dassdie Organisationen ethische Positionen entwickeln,die Leitlinien und Orientierung bieten. Diese ethi-schen Positionen sollten so konkretisiert werden, dasssie in der Praxis auch eine Relevanz finden.

Auftrag zur Caritas als GesamtkircheUnsere Einrichtungen und Dienste können ihreArbeit nicht allein machen. Das Gleiche gilt auch fürdie Mitarbeitenden. Sie brauchen dabei die Unter-stützung anderer kirchlicher Partner und Strukturen.Dazu gehören die Gemeinden, dazu gehören andereOrganisationen. Durch Kooperation und Vernetzungkönnen wir auch etwas wie eine gemeinsame Identitätder Caritas der Kirche fördern. Ein kirchliches Kran-kenhaus kann und muss nicht alles alleine leisten.Das christliche Profil kann gerade durch die Zusam-menarbeit mit Gemeinden besser realisiert werden(vielleicht in Form von Besuchsdiensten, gemeinsa-men Gottesdiensten).

Ich habe viele Stichwörter genannt. Das ist mir klar.Es war ein gewisser Blumenstrauß mit verschiedenenIdeen. Vielleicht noch mal mit Moses gesprochen: Eslohnt sich, auf die Führung Gottes zu vertrauen. Undes lohnt sich, eine kontinuierliche Personalentwick-lung zu gestalten. Und die bedeutet Personalentwick-lung in allen Caritas-Dimensionen – einschließlichder Ethik.

Herzlichen Dank!

(Transkribierte Fassung des mündlichen Vortrags beider Tagung am 17. November 2007)

PD Dr. Ulrike KostkaLeiterin der Abteilung Theologische und verbandliche GrundlagenDeutscher Caritasverband, Freiburg

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Dr. Martin Wichmann

Henne oder Ei? Zur Bedeutung der Ethik für konfessionelle Unternehmen im Gesundheitswesen

1. Hinführung: Ethik ersetzt ReligionHaben Sie schulpflichtige Kinder? Kennen Sie derenStundenpläne? Sie könnten dann drei Beobachtungenüberprüfen, für die ich keine empirischen Belege,sondern nur meine subjektive Wahrnehmung anfüh-ren kann. Die erste lautet: Religion ist in der Schulenicht nur ein Nebenfach, sondern ein Randfach. Siesteht im Fächerkanon der Durchschnittsschule amRande und kommt gewissermaßen als Zusatzleistungzu den Kern- und Nebenfächern hinzu. Dies hat, so-weit ich sehen kann, keine inhaltlichen oder politi-schen Gründe, sondern zunächst rein stundenplan-technische. Wo Schulklassen in zwei Konfessionen zuteilen sind und zugleich für diejenigen zu sorgen ist,die sich vom Religionsunterricht abmelden, da bietensich die Randstunden eines Schultages an.

Wo diese Randlage nicht gegeben ist, liegt das häufigdaran, dass an vielen Schulen die Abmeldung vomReligionsunterricht zur Teilnahme am Ethikunterrichtverpflichtet. Diese Konstruktion behebt die stunden-plantechnischen Sachzwänge weitgehend und schiebtallen Drückebergern, die auch den Schulleitungennicht entgangen sind, einen Riegel vor. Ethik ersetztReligion, könnte man zweitens kurz und knapp for-mulieren, jedenfalls in der Schule. Und dies dürfteeine Lehre sein, die alle nebenbei lernen, obwohl sieso nirgends gelehrt wird. Es handelt sich um eine reinpragmatische Erfahrung, nicht um eine inhaltlicheAussage. Sie trifft völlig ungeachtet von der konkre-ten Gestaltung der beiden Fächer zu. Ob der Reli-gionsunterricht interessant und abwechslungsreich,der Ethikkurs sachgerecht und fundiert abläuft, wodie sympathischere Lehrkraft unterrichtet oder gege-benenfalls leichter eine gute Note zu erzielen wäre, alldas beeinflusst vermutlich die konkrete Entscheidungder Schüler/innen. Für unsere Beobachtung spielt eskeine Rolle: Religion und Ethik scheinen synonym.Neudeutsch könnte man formulieren: Ethik undReligion sind in der Schule funktional äquivalent.

Das Umgekehrte gilt übrigens genauso: Wer „in Reli“geht, braucht nicht in Ethik. Für die Gültigkeit dieser

Umkehrung bürgen auch die periodisch aufflammen-den Diskussionen, sobald irgendwo Schüler über dieStränge schlagen. Wenn Schulmobiliar mutwillig zer-stört, wenn Lehrer mit Waffen bedroht und Mitschü-ler verprügelt werden, dann taucht regelmäßig dieForderung nach verbesserter Erziehung zu den Wer-ten unserer Gesellschaft auf. Und man hört das Dik-tum von der Unverzichtbarkeit des konfessionellenReligionsunterrichtes an den Schulen.

Religion ist ein Randfach, eine Zusatzleistung zumKerngeschäft, erstens. Zweitens ersetzt Ethik Reli-gion, gleichsam synonym und funktional äquivalent.Drittens: Religion unterstützt das ethische Bewusst-sein der Gesellschaft bei der Vermittlung der Werte.

Wenn ich auf diesem Umweg zu meinem Thema ge-lange, so deshalb, weil ich damit drei zentrale Begriffeeinführen konnte (Religion, Ethik und Werte), undweil ich hier die genau gegenteiligen Thesen vertretenwill. Ethik und Religion sind nicht austauschbar, we-der in der Schule noch sonst wo. Es ist auch sehrwohl möglich, Ethik und Konfession, Moral undReligion präzise zu unterscheiden und man sollte estun. Ethik scheint nur dort eine Alternative zur Reli-gion zu sein, wo es Religion nicht (mehr) gibt. SofernReligion oder Konfession als weltanschauliche Orien-tierung in einer Familie, in einem kirchlichen Haus,in einer Gesellschaft gelebt wird, kann diese nichtdurch Ethik ersetzt werden. Die Religion ist die Henne, die Ethik das Ei, so nehme ich in pointierterKürze vorweg, was ich im Folgenden ausführen will.

2. Präzisierungen: Ethik und Religion auf AugenhöheSchaut man sich in der Tagespresse (und dort gerneauch mal in den regionalen Blättern) unter der Hin-sicht Unternehmensethik um, so wird schnell deut-lich, dass darunter vielerlei verhandelt wird, was einergründlichen Reflexion nicht standhält. Wenn sichUnternehmen als ethisch bezeichnen, weil das Ma-nagement beschlossen hat, sich zukünftig freiwillig an geltende Gesetze zu halten (auch dort wo nochkein Staatsanwalt ermittelt) und zur Sicherung diesesAnliegens Abteilungen einrichtet, die Verstöße haus-intern aufspüren und ahnden, dann mag das zwar nö-tig und sinnvoll sein. Doch unter dem Label „Ethik“dürfte man schon mehr und Weitreichenderes erwar-ten als das bloße Respektieren der normativen Befug-nisse des staatlichen Gesetzgebers.

Aber auch die Begriffe Konfessionalität und Religionbedürfen des genaueren Hinsehens. Nicht alle neh-

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men diese Bezeichnungen zu Recht für sich in An-spruch. Weil das Feuilleton derzeit gerne über dieWiederkehr der Religion räsoniert, ist eine Präzisie-rung in mindestens zwei Richtungen nötig. Einmal:religiöses Bekenntnis scheint zunehmend zum ver-meintlich legitimen Freibrief für politische Unver-nunft und persönlichen Eigensinn zu geraten. Das inunserem Gemeinwesen verbriefte Recht zur freienReligionsausübung gestattet, auch manches an persön-licher Ideologie oder politischer Aktion zu kaschie-ren, was einem kritischen Blick kaum als Religiondurchgehen dürfte.

Zum anderen erschrecken nicht wenige über die neueDeutungshoheit, welche die Religion in kulturellenDebatten und politischen Fragen erlangt zu habenscheint. So mancher Zeitgenosse reagiert mit intuiti-ver Abwehr auf die Zumutung, sich nach Jahren derSäkularisierung nun plötzlich doch in religiöser Hin-sicht positionieren zu müssen. Und nicht selten gerätdie bei uns ebenfalls verbürgte weltanschauliche Neu-tralität des Staates zur prinzipiell indifferentenGleichgültigkeit aller Sinnangebote. Man entscheidetsich dafür, persönlich wie grundsätzlich religiöseÄquidistanz zu pflegen: zu allen Sinnangeboten dengleichen, nämlich einen großen Abstand zu halten.Und vorsichtshalber bestreitet man auch nur dieMöglichkeit einer Hierarchie religiöser Wahrheiten,wie sie zum Beispiel die katholische Kirche selbstver-ständlich voraussetzt1. Religion sei etwas soPersönliches, heißt es dann, darüber lasse sich nichtdiskutieren.

Beiden Haltungen, vermeintlichem Freibrief für allesMögliche wie reflexhafter Abwehr jedes religiösenWahrheitsanspruches, ist etwas gemeinsam: nämlichdas kulturkämpferisch Eindeutige schon im Religions-verständnis, das Religion meines Erachtens geradenicht auszeichnet. Ich vertrete im Folgenden einenreflektierten Religionsbegriff, und damit eine Religiö-sität, die ihren Ausgangspunkt wie ihre historischeSituation reflektieren kann und will, und die in derLage und bereit ist, mit anderen darüber in einenkonstruktiven Dialog zu treten.

Es ist natürlich wahr: Religion betrifft den ganzenMenschen, sie bezieht sich auf alle Lebensbereiche,sie ist in diesem Sinne fundamental. Gerade deswe-gen unterscheidet sie sich von fundamentalistischmissverstandenen Gewissheiten jedweder Pro-venienz. Diese Differenz zur Ideologie ist für echteReligion geradezu konstitutiv.

Solche begrifflichen Abgrenzungen scheinen mir fürdas Verständnis des Themas wichtig. Es ist entschei-dend, dass nicht ein schwacher, bloß legalistischerBegriff von Ethischem (wir halten uns an geltendeRegeln) auf einen anmaßend über die Ufer getretenenReligions- oder Konfessionsbegriff trifft (wir postulie-ren religiöse Regeln, an die sich alle zu halten haben).Die Begegnung von Ethik und Religion kann undsollte auf Augenhöhe geschehen.

3. Einsichten: Religion ist nicht EthikDamit komme ich zur vermeintlichen funktionalenÄquivalenz von Ethik und Religion. Meine Beobach-

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tungen zur Schule waren ja nicht ganz so fachfremd.Ich fürchte nämlich, dass pragmatische Erfahrungenwie die schulische Entscheidung, allen Schüler/innen,die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, ersatz-weise Ethik angedeihen zu lassen, in der Wahrneh-mung der Gesellschaft größere Wirksamkeit entfaltet,als uns normalerweise bewusst ist. Die Reduktion vonReligion auf Ethik bzw. auf ethisch korrektes Verhal-ten findet jedenfalls in weiten Teilen der Bevölkerungselbstverständliche Resonanz. Man kann fast täglichin den Medien dafür Belege finden. Der FreiburgerFundamentaltheologe Magnus Striet klagt: „Wenn dieWerte auszugehen drohen, die sittliche Substanz einerGesellschaft sich auszehrt, erinnert man sich an dieReligion. Aber kann das der Anspruch von Religionsein, da in die Bresche zu springen, wo der gesell-schaftliche Kitt brüchig wird? Die Avancen sind ver-führerisch. Aber es droht, dass Religion ihr Gesichtverliert, wenn Religion zum Wertelieferanten wird.“2

Daher ist es nur scheinbar banal, an einige elementareEinsichten zu erinnern. Die erste lautet: ReligiöseMenschen (ebenso wenig wie konfessionelle Organisa-tionen) sind nicht per se ethisch und verhalten sichauch nicht zwangsläufig so. Diese Feststellung ist ent-gegen ihres ersten Anscheins nicht trivial: Religiositätund Konfessionalität garantieren kein ethisches Ver-halten. Doch genau dies wird gewöhnlich unterstellt,sowohl von Kunden, Patienten und Klienten konfes-sioneller Einrichtungen als auch von deren Mitarbei-rinnen und Mitarbeitern. Sichtbar wird diese antizi-pierte Zuschreibung ganz schnell dort, wo es zu Ent-täuschungen solcher impliziten Erwartungen kommt.Wenn sich religiöse Menschen oder kirchliche Orga-nisationen nicht so verhalten, wie man es allgemeinfür moralisch geboten hält, dann ist das Erstaunengroß und die Empörung wohlfeil. Ethisch korrektesVerhalten stellt die gesellschaftliche Minimalerwar-tung an religiöse Organisationen und ihre Vertreterdar.

Die zweite, ebenfalls nur vermeintlich banale Einsichtlautet: Ethisch handelnde Menschen werden nicht(ebenso wenig wie ethisch handelnde Organisationen)durch dieses Handeln zu religiösen Menschen (oderOrganisationen). Das muss man zunächst zur Ehren-rettung nichtkirchlicher Einrichtungen festhalten,sofern sie sich an humanen Werten ausrichten undethisches Handeln groß schreiben. Das gilt jedochauch für kirchliche Organisationen, die eine konfes-sionelle Ausrichtung erkennbar werden lassen wollen.Es ist vielleicht unpopulär dies auszusprechen, aber:

Ethisches Handeln an und für sich ist noch keinKirchlichkeitsausweis. Ethik ersetzt keine Religion.Die gegenteilige Annahme ist weit verbreitet und wird selbstverständlich unterstellt.

Gute Ethik macht aber noch keine Religion, auchnicht ein Stück weit, wie es gerne heißt, wie umge-kehrt echte Religiosität keinen Garant für ethisch an-spruchsvolles Handeln bietet. Ethik und Religion las-sen sich sachlich und faktisch unterscheiden.

Für diese strikte Unterscheidung von Moral und Reli-gion, von Bekenntnis und Ethik, gibt es im Nachfol-ger von Johannes Paul II. einen prominenten Zeugen.Selbst kirchendistanzierten Beobachtern war aufgefal-len, dass der polnische Papst ein Ethiker war, derneue aber ein Weltanschauungsdenker ist. Der Unter-schied ist gewichtig. Benedikt beschäftigt sich mitGlauben und Vernunft, mit der christlichen IdentitätEuropas, einschließlich der Auseinandersetzung mitdem Islam, der Wiederentdeckung der kirchlichenTradition und nicht zuletzt der Gestalt Jesu. „Nichtsdavon hat mit Moralfragen zu tun. Die Enzyklikaüber die Liebe, Deus caritas est, setzt mit überra-schender Unbefangenheit beim Eros an, nicht bei deraltruistischen Nächstenliebe, und die Gelegenheit zusexualethischen Mahnungen lässt Benedikt (...unge-nutzt) verstreichen.“ Schon als Kardinal zeigte er sichbesorgt, „dass für viele Leute von den Worten derKirche am Schluss nur einige Moralverbote – haupt-sächlich aus dem Bereich der Sexualethik – übrig bleiben.“ Benedikt hält dies für schlechte Werbung –und für schlechte Theologie.3

Natürlich besteht ein unbestreitbarer, nicht nur histo-rischer Zusammenhang von Religion und Ethik. Umverständlicher zu machen, weshalb ich dennoch sodeutlich die Differenz herausarbeite, möchte ich aufeinige formale Unterschiede von Ethik und Konfes-sion eingehen.

4. Unterscheidungen: Zeitpunkt und Perspektive der EntscheidungenEin erster Unterschied liegt handlungstheoretisch ge-sprochen im Zeitpunkt der Entscheidung. Ethischverantwortete Entscheidungen werden in kritischenHandlungssituationen fällig, spätestens aber danach,wenn sich die Beteiligten betroffen fragen, ob eineandere Entscheidung, ein vielleicht besseres Verhaltenmöglich gewesen wäre. Ethik ist handlungsbezogenerund handlungsorientierter als Religion. Das gilt nichtso pauschal wie es jetzt vielleicht klingen mag. Die

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Pointierung dient lediglich dazu, die Differenz zurKonfession zu markieren.

Der Zeitpunkt für eine religiöse Entscheidung liegtnämlich auch hier nicht lebensgeschichtlich zwin-gend, aber doch grundsätzlich handlungstheoretischgesehen bereits vor solchen Entscheidungssituationen.Religion braucht genau genommen gar keine kriti-schen Situationen für die persönliche Entschieden-heit, um die confessio, das Bekenntnis abzulegen.Religion ist insofern situationsunabhängiger und weltanschaulich grundsätzlicher als Ethik.4

Der Startnachteil für ReligionenUnd das ist in unserer heutigen Zeit ganz klar einStartnachteil für Religion. Religion ist ein Weg, davonsprechen viele große Gestalten verschiedener Religi-onen. Sie verlangt Einübung und Verwurzelung (lat.religare: zurückbinden) im alltäglichen Leben. Wererst in kritischen, bedrängenden Situationen dieReligion aufsucht, läuft zumindest Gefahr, das Not-wendende dann nicht (mehr) zu finden.

Religion fragt zunächst überhaupt nicht nach konkre-tem Handeln, sondern nach etwas, was es innerwelt-lich gar nicht zu finden gibt. Religion ist, philoso-phisch gesprochen, transzendenzorientiert. Nach denZeugnissen, auf die sich die drei großen abrahamiti-schen Religionen berufen, handelt Religion vonetwas, dessen Schönheit, Herrlichkeit und Angesichtniemand sehen kann, ohne zu sterben (Ex 33, 18-23).Wirklich religiöse Fragen sind daher in unserer Zeitungeachtet der überall aufflammenden Religiositätweitgehend verpönt und tabuisiert: Wie bekomme icheinen gerechten Gott? Was führt mich zum Heil?Gibt es eine Gerechtigkeit hinter der offenkundigenUngerechtigkeit dieser Welt? Gibt es einen Trost,einen Frieden, wie ihn die Welt nicht geben kann?(Joh 14,27). Gibt es Erlösung aus der Verstrickung vonSchuld, Abhängigkeit und Versagen? Wo kann ich siefinden, wie kann ich sie erlangen? Solche Fragen sindentsetzlich unpragmatisch und sie helfen in konkre-ten Entscheidungssituationen überhaupt nicht weiter.

Selbst der prominente Berliner Religionskritiker Her-bert Schnädelbach mahnte öffentlich davor, das Reli-gionsverständnis zu banalisieren: „Was dazu angetanist, den glaubensfernen Beobachter zu irritieren undden Gläubigen zu erbittern, ist das rein funktionaleVerständnis von Religion, das sich in den zahlreichenVersuchen zeigt, sie für die verschiedensten außerreli-

giösen Ziele zu instrumentalisieren. Ganz offen wirdhier versucht, über das angeblich Unverfügbare zuverfügen und es an den Stellen einzusetzen, wo an-dere Werkzeuge nicht mehr greifen. Dazu eignet sich freilich nur ein Christentum ohne Zähne undKlauen, ohne Widerständigkeit gegen unsere moder-ne Welt, wie es jetzt an der Zeit zu sein scheint. Vomverborgenen, unerforschlichen, zornigen, richtendenund strafenden Gott, der sogar seinen eigenen Sohnnicht verschonte und unsere gesamte Lebenswirklich-keit infrage stellen könnte, ist da nur noch in homö-opathischen Dosen die Rede; das strenge Thema derRechtfertigung, das Luther umtrieb, verschwindethinter dem Wunsch nach Geborgenheit in einer ku-scheligen und theologisch entlasteten Religiosität.“5

Ethik ist Spezialfrage der ReligionEthik reflektiert auf den moralisch relevanten Unter-schied von richtig und falsch, von gutem und wenigergutem Handeln. Religion hingegen behandelt denUnterschied von Welt und Heil, Diesseits und Jen-seits, von Mensch und Gott. Daher ist die Ethik ge-wissermaßen eine Spezialfrage der Religion, gleichsamauf der Seite des Diesseits. Ich meine dies nicht wis-senschaftstheoretisch, so als sei Religion der Ethikübergeordnet. Ich spreche vom perspektivischen Zu-gang. Ethik beobachtet den Menschen selbst, seinmögliches und tatsächliches Handeln und das Han-deln anderer, sein Gewissen, seine Gesinnung usw.Ethik ist gleichsam reflektierte Selbstbeobachtungmenschlichen Handelns.

In diesem Bild gesprochen, beobachtet Religion nichtden Menschen, sondern (wenn man das überhaupt sosagen kann): Gott. „Religion ist nun eben dies“, heißtes bei Hegel, „dass der Mensch den Grund seiner Un-selbständigkeit sucht“.6 Und Niklas Luhmann, wieSchnädelbach der Religionsbewerbung völlig unver-dächtig, beruft sich auf diesen Satz, wenn er feststellt:„Religion scheint immer dann vorzuliegen, (…) wennman einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wieman es gerne haben möchte.“7 Anders gesagt: WennGlauben die Fähigkeit ist, in Gottes Tempo zu gehen– ein Wort, das dem jüdischen ReligionsphilosophenMartin Buber zugeschrieben wird – so ist darin nurprosaisch formuliert, was der zitierte Systemtheore-tiker Luhmann so ausdrückt: Religion beobachtet,wie Gott die Welt beobachtet8 oder etwas abstrakterformuliert: „Eine Kommunikation ist immer dannreligiös, wenn sie Immanentes unter dem Gesichts-punkt der Transzendenz betrachtet.“9

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Diese andere Beobachtungsperspektive der Religion,das dürfte deutlich sein, zieht natürlich andere Hand-lungsimperative nach sich; nicht zwingend dem In-halt nach, aber unterschieden im Zeitpunkt der Ent-scheidung, in der Einschätzung der Situation, in derBegründung und der Motivation des eigenenHandelns.

Schlagwortartig könnte man zusammenfassen: ImAlltag (von Menschen wie von Unternehmen) ma-chen kritische Situationen ethische Entscheidungennötig. Religiöse Entschiedenheit hingegen macht alltägliche Situationen kritisch.

4. Inversion:Die Bedeutung der Konfession für die Ethik Ich will daher versuchsweise den Titel einmal umdre-hen und nach der Bedeutung der Konfession für dieEthik eines Hauses fragen.

Wenn ich recht sehe, werden ethische Entscheidun-gen für konfessionelle Häuser im Gesundheitswesenim Regelfall in Ethikkommissionen getroffen, indenen Ärzte und Pflegepersonal auf Juristen undTheologen oder Philosophen treffen. In schwierigenEinzelfällen spielen auch Angehörige eine Rolle. Indiesen Situationen wird deutlich, was ich mit demhandlungstheoretischen Zeitpunkt angedeutet hatte:In oder nach Grenzsituationen handeln Beteiligteeinen ethischen Kompromiss aus. Religiöse Orientie-rung hingegen müsste wesentlich früher ansetzen unddas grundsätzliche Gespräch suchen, über innerbe-triebliche Formen der Zusammenarbeit, über Bedin-gungen und Gründe der Patientenversorgung undeben auch über die im Krankenhaus allfälligen Grenz-fragen des Lebens.

Dass dabei im Ergebnis der Sache nach ähnliches he-rauskommen kann wie bei einer Ethikberatung, habeich bereits zugestanden. Doch macht es einen Unter-schied, der sich auswirkt, wenn die Beobachtung derSituation, die Begründung und die Motivation deseigenen Handelns und der Zeitpunkt der Entschei-dung aus explizit religiöser Perspektive erfolgt.Dies lässt sich zum Beispiel am „Modell zur ethi-schen Reflexion“10 belegen, wie es die Klinikethi-kerin Marianne Rabe vorgelegt hat, ein Modell, dasfür seine „Praxistauglichkeit“ gelobt wird. Und in der Tat ist es sehr klar und handlungsorientiert struktu-riert: Situationsanalyse – ethische Reflexion – Ergeb-nis. Die Pressemitteilung für ihre Broschüre „Dienstam Nächsten oder professionelle Fürsorge – Werte in

der Krankenpflege“ benannte ausdrücklich die „neueWertediskussion“ in der Krankenpflege: „Frühere(christliche) Werte wie Nächstenliebe oder Aufopfe-rung werden in dieser Form nur noch von einem Teilder Pflegekräfte akzeptiert. Heute heißen die ethi-schen Grundbegriffe: Würde, Dialog, Verantwortung,Fürsorge, Gerechtigkeit und Autonomie; Werte, dienicht ideologisch besetzt beziehungsweise über dieGrenzen von Weltanschauungen hinweg gültigsind.“11 Nun könnte man trefflich über den weltan-schaulichen und ideologischen Gehalt von Begriffenwie Würde, Dialog und Autonomie streiten und dieReduzierung religiöser Werte auf ideologisch miss-verstandene Phrasen beklagen. Interessanter und praxisrelevanter ist jedoch das daraus resultierendeVerfahren:

Zur Situationsanalyse zählt Rabe die eigene, persön-liche Situation (wohlgemerkt: der Pflegekräfte) unddie Sicht anderer am Fall beteiligter Personen sowiemögliche Handlungsalternativen und deren Folgenfür die Betroffenen. Wer aber ist in einem solchenFall betroffen? Der Patient und seine Angehörigen?Das Pflegepersonal und die Ärzte? Die Krankenkas-sen, die das alles bezahlen müssen? Die Arbeitneh-mer, die mit ihren Beiträgen das Gesundheitssystemfinanzieren? Oder doch wir alle?

Im zweiten Schritt sollen normative Orientierungenund übergeordnete Prinzipien benannt werden, diefür diese Situation von Bedeutung sind. DiesenSchritt nennt sie ethische Reflexion. Welche Prinzi-pien sind aber für eine solche Situation von Bedeu-tung? Wer weiß das und wer kann das entscheiden?Die mit dem Fall befassten Pflegekräfte? Die Angehö-rigen? Die Krankenkasse? Die Pharmavertreter?

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Als Ergebnis ergebe sich drittens ein ethisch begrün-detes Urteil sowie einen Konsens oder Dissens festzu-stellen. Auch hier lassen sich die gleichen Fragen nachden Entscheidern stellen, aber auch weitergehendeFragen nach dem Fortgang des Verfahrens im Falleines Dissenses und einiges mehr, zum Beispiel, obsich moralische Fragen überhaupt im Konsensverfah-ren entscheiden lassen.

Es ist deutlich: In den meisten Konfliktsituationendürfte es einen Überschuss an Handlungsdruck unddaraus resultierend eine Wahrscheinlichkeit fürReflexionsdefizite geben. Diese Asymmetrie machtEntscheidungssituation ja gerade brisant und heikel.

Die Begegnung von Ethik und Religion kann undsollte jedoch auf Augenhöhe geschehen. Und dasbedeutet, dass wesentliche ethische Entscheidungeneben gerade nicht Einzelfallentscheidungen sein kön-nen, sondern zuvor reflektiert, diskutiert und vor-entschieden werden müssten, eben just zu jenem Zeitpunkt, an dem über die confessio, das Bekenntnis,entschieden wird. Welche Perspektive nehmen wirein? Welche Sicht der Dinge eignen wir uns an? Wel-che schließen wir damit aus? Neu auftretende Einzel-fallsituationen im Betriebsalltag eignen sich als Re-flexionsanlass, als kritische Anfrage an die eigeneIdeologie, das religiöse Bekenntnis, die Konfessiona-lität der Einrichtung. Sie lassen sich nicht als demo-kratischen Konsult der Betroffenen inszenieren, mitabschließender Abstimmung aller Beteiligten, schonaus dem einfachen Grund, weil in solchen Situatio-nen unentscheidbar bleiben muss, wen ethische Kon-flikte eigentlich betreffen und wen nicht.

5. Lackmustest: Die Bedeutung der Ethik für die KonfessionDie Bedeutung der Konfession für die Ethik einesHauses im Gesundheitswesen, so der vorläufig umge-drehte Titel, liegt also vornehmlich im Zeitpunkt derethischen Reflexion, in der Grundsätzlichkeit undweltanschaulichen Ausrichtung der Fragestellung, wiesie für religiöse Weltsichten charakteristisch sind. Da-mit ist zugleich auch ein praktischer Nachteil nocheinmal benannt, den Religion für konfessionelleOrganisationen bereithält. Während sich die Ethik-beratung handlungsorientiert auf den wirklich kriti-schen Spezialfall konzentriert und im günstigen Falldort rasch Handlungsoptionen benennen kann, be-deutet die religiöse Ausrichtung eines Hauses zu-nächst nur Entschiedenheit im Allgemeinen.

Solche Entschiedenheit im Allgemeinen steht immerin der Gefahr, nur bloße Behauptung, sozusagen reli-giöse Attitüde ohne praktische Konsequenz zu sein.Genau dies wird ja gerne kritisiert, insbesondere vonMitarbeiterinnen und Mitarbeitern kirchlicher Häu-ser, dass die Orientierung am Evangelium in einerEinrichtung in mindestens zwei Fassungen vorkom-me: einmal in der erwünschten tätigen Nächstenliebeund dem Zeugnis der Dienstnehmer und einmal inden Normen und deren praktischer Umsetzung imgeltenden kirchlichen Arbeitsrecht des Dienstgebers.

Und hier nun zeigt sich überraschend die Bedeutungder Ethik für die Konfessionalität, das religiöse Be-kenntnis kirchlicher Häuser, ob nun im Gesundheits-wesen oder anderswo. Zwar behandeln Unterneh-mensethik und Ethikkommission, wie vorhin ausge-führt, nur einen Spezialfall, nämlich das eigenreflek-tierte Handeln des Menschen.

Zwar kann eine Ethik, auch wenn sie high sophisticateddaherkommt, die Religion eines Hauses nicht einfachersetzen. Wenn aber Religion in kirchlichen Häusernnicht bloß Randfach sein soll, das zum eigentlichenKerngeschäft bloß hinzukommt, sofern es deren Arbeitsabläufe nicht weiter stört, dann wird die Ethik des Hauses tatsächlich zum Lackmustest fürKirchlichkeit.

Ethik in konfessionellen Häusern macht deren kon-fessionelle Orientierung konkret und sichtbar. Ja,mehr noch, sie macht sie gewissermaßen schmeckbar,fühlbar, man könnte sagen: haptisch. Diese konkreteVerleiblichung des Konfessionellen geschieht leiderallzu oft zu Ungunsten der Religion, und die offiziel-len Kirchenvertreter sind daran nicht ganz unschul-dig. Wer sowohl um die eben dargelegte strukturelleAllgemeinheit religiöser Orientierung als auch um dieNotwendigkeit einer Konkretisierung weiß, der istversucht, die geforderte Konfessionalität legalistisch,in Gestalt arbeitsrechtlicher Normanwendung oderindividuell, durch entsprechende Personalauswahl,sicherzustellen.

Die katholische Kirche hat genau diese beiden Wegeeingeschlagen und geht sie bis heute. Auch die imMärz dieses Jahres erschienene Arbeitshilfe der deut-schen Bischofskonferenz (DBK) zum Profil sozialerEinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft verlangt,„dass grundsätzlich nur kirchlich sozialisierte Füh-rungspersönlichkeiten, ohne die ein christliches Profilder Einrichtung nicht darstellbar wäre, in Leitungs-

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positionen berufen werden. Das ist eine wesentlicheVoraussetzung, um den kirchlichen Charakter derEinrichtungen zu wahren und auch nach außen hinzu dokumentieren.“ Begründet wird dies ausdrücklichmit der Antizipation von Kundenerwartungen, „dasszum Beispiel Eltern, die für ihre Kinder bewusst ei-nen katholischen Kindergarten oder eine katholischeSchule auswählen, oder Patienten, die bewusst in ei-nem katholischen Krankenhaus behandelt werdenwollen, zu Recht erwarten, dass der katholische Cha-rakter der Einrichtung gerade durch die darin arbei-tenden Mitarbeiter tatsächlich zur Geltung kommt.Dies gilt in besonderem Maße für leitendes Personal,das sowohl nach innen als auch nach außen eine Vor-bildfunktion wahrnimmt und besondere Verantwor-tung trägt.“ Zwar weiß die DBK um die daraus entste-henden Zwickmühlen, weshalb „im Einzelfall auchauf der Leitungsebene Menschen anderen Glaubensbeschäftigt werden“ können. Doch müssen dieseMitarbeiter „sich konstruktiv mit dem katholischenSelbstverständnis und dessen theologisch-spirituellenGrundlagen auseinandersetzen sowie an ethischenWeiterbildungsmaßnahmen teilnehmen“12.

Welche anderen Möglichkeiten gäbe es? Zunächstwird man sagen müssen: keine einfachen. Wer dieprinzipielle Differenz von fundamental und funda-mentalistisch begriffen hat: fundamental, wie es jedeReligion zwangsläufig sein muss, und fundamentali-stisch, wie manche die Religion interpretieren, derwird akzeptieren und sogar darauf bestehen, dass eskeine einfachen Antworten geben kann. Es warenimmer die Fundamentalisten aller Religionen, die dieschnellen Antworten wussten.

Wer seine Religion hingegen verantwortet zu lebenversucht, der muss sich den Mühen der Konkretisie-rung in den je verschiedenen Situationen unterzie-hen. Darin liegt zwar ein Geruch von Nicht-Ernst-haftigkeit beziehungsweise der Anschein standpunkt-loser Unschärfe – ein Eindruck, der Fundamentalis-ten gegenüber anderen zunächst in argumentativenVorteil zu bringen scheint. Echte Religion jedoch,wenn es wirklich Religion und nicht einfach nurIdeologie ist, bietet aber eben kein Surrogat fürdilemmatische Entscheidungen, das sich in denWechselfällen des Lebens einfach anrühren ließe.

6. Substitutionen: Ethik in der konfessionellen OrganisationGleichwohl lassen sich einige „Lösungsmuster“ beob-achten, die der kritischen Erhellung des eigenen We-

ges dienlich sein können. Diesen Lösungen ist ge-meinsam, dass sie bestimmte Operationalisierungentreffen, welche die Christlichkeit des Hauses gleich-sam substituieren13. Solche Substitutionen sind un-vermeidlich, sie geraten aber ebenso unvermeidlichzur Achillesferse einer jeden kirchlichen Organisa-tion. Werden sie halbherzig oder in sich widersprüch-lich umgesetzt, liegt gewissermaßen das ideologischeFundament der Einrichtung blank. Mitarbeiter wieAdressaten der Organisation konfrontieren ihre per-sönliche Erwartung an Christlichkeit mit den vorge-fundenen Substitutionen und zwar wie sie sich tat-sächlich zeigen, empirisch erfahrbar, und nicht inihrer „eigentlich gemeinten“ Intentionalität!

Die naheliegendste Substitution besteht in einem ein-fachen Plus. Christliche Organisationen erledigenalles ebenso professionell und nach denselben Stan-dards wie andere, nur haben sie noch „etwas Anderes“zu bieten, das aus dem christlichen Verständnis resul-tiere. So könnte sich beispielsweise das kirchlicheBildungshaus durch angegliederte Gebetsräume vomnicht-kirchlichen unterscheiden. Beispiele dieser Artlassen sich zahlreich finden (und auch erfinden). ZumAllgemeinen kommt etwas Besonderes hinzu, wie derReligionsunterricht zum Schulcurriculum, ein gleich-sam ideologischer Appendix, den die Kirchlichkeitder Organisation substituiert. Zutreffend daran istder organisationale Ansatz: es ist die Organisationselbst, die sich (durch ein „Plus“) als kirchlich aus-weist. Die Problematik stellt sich meist erst imVollzug ein: Als nur scheinbar integriertes Anhängselunterhöhlt es unbeabsichtigt aber wirkungsvoll denvermeintlichen Glaubwürdigkeitsbeweis.

Die subtilere Form ist die von den deutschen Bischö-fen vorgesehene. Man unterstellt zu Recht, Religionzeige sich an Menschen und stellt kirchlich gesinntePersonen ein, die sich selbst als religiös verstehen unddies auch leben. In einer soliden Variante gerät dieKirchlichkeit unter den gleich Qualifizierten zumEinstellungskriterium. In einer kruden Variante stehtdie Kirchlichkeit über der Fachlichkeit, das heißtminder qualifizierte, aber kirchliche Kräfte werdenqualifizierten, nicht-kirchlichen vorgezogen: Kirch-lichkeit gerät zum entscheidenden Kompetenzmerk-mal. Auch hier handelt es sich um eine Addition, diejedoch das kirchliche „Plus“ auf die Mitarbeiterschaftverlagert: Die individuelle Frömmigkeit der Mitarbei-ter substituiert die Kirchlichkeit der Organisation.Daran ist richtig, dass eine distanzierte Mitarbeiter-schaft jede noch so gut gemeinte konfessionelle Aus-

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richtung konterkarieren kann. Problematisch könn-ten dabei sowohl die Funktionalität der Organisationals auch ihr Betriebsklima werden: Wenn Kirchlich-keit das entscheidende Selektionskriterium ist, er-scheinen andere Qualitäten zwangsläufig als nicht (so)wichtig und die in jeder Organisation vorhandeneNeigung zur „Gesinnungskontrolle“ würde entspre-chend verstärkt.

Eine dritte, eher organisationsentwicklerische Formkombiniert die beiden erstgenannten und setzt kon-sequent auf die symbolische Durchdringung der Or-ganisation wie der beteiligten Personen im christli-chen Geist14. Das beginnt beim ansprechend gestalte-ten Briefpapier und endet beim professionell gesteu-erten Leitbildprozess. Ein bloß additives Wertever-ständnis ist hier zugunsten einer von allen Beteiligtenmitzutragenden, integralen Bemühung um die Kirch-lichkeit der Organisation überwunden. Mitarbeiterwerden in ihrer beruflichen Rolle belassen, „Gesin-nungsansprüche“ also vermieden, und doch in denProzess der Transformation der Organisation (undeben nicht der Personen) eingebunden. Diese Varian-te bleibt allerdings unbefriedigend, wenn die zu inte-grierenden Werte unkritisch als bloß vorgegebene auf-genommen und insofern auch „nur“ symbolisch inte-griert werden. Symbolische Kirchlichkeit substituiertdann den vermeintlichen christlichen Geist der Ein-richtung, ohne dass sich festmachen ließe, worin die-ser jenseits von (gegebenenfalls ritueller) Symbolikdenn tatsächlich besteht.

Daher wurde und wird auch heute zunehmend eineweitere Form der Substitution von Kirchlichkeit praktiziert: Man sucht auf der operationalen Ebeneder Verfahren die Kirchlichkeit der Einrichtung zusichern, meist durch Qualitätsmanagementsystemedefiniert und geschützt (wie zum Beispiel bei proCumCert oder durch eine um Kirchlichkeitskriterienerweiterte Balanced Score Card). Diese Form schließtandere Formen nicht aus, wird aber in einem ent-scheidenden Punkt konkreter als diese: Das berufli-che Handeln der Mitarbeiterschaft selbst wird be-schrieben und vorgeschrieben, so dass alle Organisa-tionselemente untereinander konsistent verbundensind (auch etwaige „speziell kirchliche“). Die individu-elle „Gesinnung“ der einzelnen Mitarbeiter in ihrerBedeutung für die Organisation ist nun nicht mehrallein entscheidend und die symbolische Durchdrin-gung der Einrichtung schlägt auch auf das tatsächli-che Organisationshandeln durch. Entscheidend fürdiese letzte, integrale Variante einer Kirchlichkeits-

substitution ist das Wissen um deren Vorläufigkeitbzw. ihre prinzipielle Insuffizienz. Es bleibt zu ihrpragmatisch gesehen keine Alternative, will man nichtin die zuvor genannten, noch unbefriedigenderenVarianten zurückfallen.

Doch darf man nicht übersehen, dass – wie oben aus-geführt – Religion einer grundsätzlich anderen Pers-pektive folgt als jedes wie auch immer gearteteManagementsystem, das sich – systemisch notwen-dig – auf das Machbare konzentriert und konzentrie-ren muss. Es ist diese strukturelle Transzendenz-bezogenheit im perspektivischen Weltzugang, dieReligion gegen jede operationale Endgültigkeit undideologische Gewissheit abdichtet – nicht allein, aber eben auch in ethischen Fragen.

Im positiven Fall zieht sich die Konfessionalität einerEinrichtung als spirituelle Entschiedenheit, als norma-tive Transzendenzbezogenheit strukturell durch alleOrganisationsvollzüge, eben nicht nur durch dieEthik. Die ganze Organisation wird zum Ort ihrerVerifikation, ihrer Bewahrheitung. Im Bild der Über-schrift gesprochen: An der Güteklasse der Eier lässtsich nicht nur die Qualität der Henne, sondern vorallem auch die organisationalen Brut-Bedingungenablesen, es dürfte also die Ethik eine der wichtigstenPrüfsteine für den Grad der konfessionellen Durch-dringung eines kirchlichen Hauses sein.

Literatur1 vgl. II. Vaticanum, UR 112 Striet, Magnus: Existiert ein Gott, der schweigt, in CiG 45/07, 3773 vgl. Ross, Jan: Jetzt neu. Die Zehn Gebote, in: Die Zeit 40/20074 Dafür steht auch die jüngste Enzyklika Spe salvi, die fernab von

tagesaktuellen Fragen die grundsätzliche Hoffnung der Christenheitherausstellt, die weit über individuelles Heilsverlangen oder konkretes ethisches Handeln hinausweist.

5 Schnädelbach, Herbert: Wiederkehr der Religion, in: Die Zeit 33/20056 Hegel, G.F.W.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Bd. 16,

Frankfurt 1969, 3087 Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000, 1228 vgl. ebd. 1599 ebd. S. 7710 Rabe, Marianne: Strukturierte Falldiskussion anhand eines

Reflexionsmodells, in: Kunz, Brigitte: Für alle Fälle. Arbeitsgruppe „Pflege und Ethik“ der Akademie für Ethik in der Medizin e.V., 2005, 138

11 24.08.2000 – (idw) Universitätsklinikum Benjamin Franklin: UKBF-Mediendienst Nr. 86 a

12 DBK: Das Profil sozialer Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft im Kontext von Kooperationen und Fusionen. Arbeitshilfe Nr. 209, März 2007, 21

13 vgl. Wichmann, Martin: „Nun sag, wie hast du's mit der Religion?“, Religion, Christentum, Kirche und Organisation(en), in: Schuster, Norbert: Management und Theologie. Führen und Leiten als spirituelle und theologische Kompetenz, Freiburg 2008, 115-134, hier: 123ff

14 vgl. zum Beispiel „Christliches Profil zeigen“, in: ku-Sonderheft Qualitätsmanagement, 6/2001, 39

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Prof. Dr. med. Giovanni Maio

Ethik als identitässtiftende Kraft im Gesundheitswesen

Mit diesem Beitrag soll eine Annäherung an die Ethikvom Grundsätzlichen her vollzogen werden. Wenndie Überzeugung vorherrschend ist, dass Ethik in derKlinik Not tut und Konsens darüber besteht, dasseine solche Ethik eingebunden werden soll, so ist esumso dringlicher, sich darüber zu verständigen, worinder Inhalt dieser Ethik bestehen soll. Verschiedentlichwird suggeriert, die Ethik könne als Ethik praktischeProbleme lösen. Diese Verheißung erscheint etwasgewagt. Daher erscheint die Bescheidenheit imAnspruch der modernen Medizinethik angeraten.Ethik ist eine Disziplin der Reflexion. Als solche hatsie die Aufgabe, darüber nachzudenken, auf welchenGrundannahmen und Vorverständnissen die Proble-me beruhen, die im Alltag der Klinik und der Sozia-len Einrichtungen auftauchen. Ethik kann nichtmehr tun, als Probleme zu klären, sie vielleicht etwasverständlicher zu machen, aber sie kann nicht alsEthik ein praktisches Problem lösen. Sie kann allen-falls dazu beitragen, dass die Menschen, die im Kran-kenhaus tätig sind, etwas reflektierter entscheiden.

Ethisches Denken kann nicht darauf reduziert wer-den, pragmatische Instrumentarien zu entwickeln, um konkrete Konfliktsituationen zu lösen. Das istzwar ein wichtiger Aspekt ethischen Denkens in derMedizin, aber das ethische Denken kann nicht hierstehen bleiben. Vielmehr ist es für eine Ethik in denOrganisationen notwendig, gerade auch die größerenZusammenhänge mit zu reflektieren. Ethik denkenkann nur heißen, den Versuch zu unternehmen, auchund gerade herrschende und beherrschende Denk-muster kritisch zu hinterfragen. Wie wichtig ein sol-ches Hinterfragen von gängigen Denkmustern seinkann, möchte ich an einigen fragwürdigen Ideolo-gien festmachen, die die moderne Medizin charakteri-sieren und die viel zu wenig von ihrem Grundansatzher in Frage gestellt werden.

I. Ideologien der modernen Medizin

1. Ideologie: Gesundheit als oberstes GutDer moderne Mensch ist in vielfältige Zwänge einge-klemmt, die von einer Konsum- und Leistungsgesell-schaft diktiert werden. Die Paradigmen der modernenLeistungsgesellschaft suggerieren dem Einzelnen, dass

er nur so lange einen Wert hat, wie er etwas aus sichmacht. Der Wert des modernen Menschen bestehtdemnach nicht in seinem Sein, sondern der Wert desMenschen wird vor allem davon abhängig gemacht,welches Lebens-Produkt der Einzelne durch sein Tunhervorzubringen in der Lage ist. Solange nun derWert des eigenen Selbst vor allem davon abhängt, obman es schafft, ein „gelingendes“ Leben vorzulegenund solange das Gelingen sich vornehmlich an denParametern der Leistungsgesellschaft orientiert, er-langt gerade die Gesundheit einen besonderen Stel-lenwert, denn ohne die körperliche und seelische Ver-fassung, diesem Gelingensimperativ zu folgen, erhältder Einzelne das Gefühl, gerade nicht dazugehörenzu können. Die „Gesundheit“ gilt in dieser Perspek-tive als unabdingbares Ermöglichungsgut für eine aufMachbarkeit und Gestaltungsimperativ ausgerichteteGesellschaft. Da die Gesundheit als einzige Möglich-keit betrachtet wird, ein gutes Leben zu führen, er-liegt sie einer gesellschaftlichen Verabsolutierung, anderen Ende ein irrationaler Gesundheitskult steht.

Genau diese Irrationalität machen sich viele Gesund-heitsbranchen zunutze. Viele Wellness-Einrichtungen,Fitnesstudios, Apotheken, ja bezeichnenderweise auchKliniken und Praxen1 werben bezeichnenderweisehäufig mit dem Schopenhauer zugeschriebenenAphorismus „Gesundheit ist nicht alles – aber ohneGesundheit ist alles nichts“2. Mit der Wahl dieseszum Allgemeingut gewordenen Aphorismus soll aus-gedrückt werden, dass man in der Apotheke, imFitness-Studio, im Wellness-Center, in der Praxis (!)diese wertvolle Gesundheit kaufen könne. Die Un-beschwertheit, mit der dieser Aphorismus verwendet

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wird, zeigt auf, dass man im Zeitalter von Fitness undAktionsimperativ blind geworden ist für die tieferlie-gende Ideologie, die durch diesen so breit verwende-ten Aphorismus zum Ausdruck gebracht wird.

Wenn ohne Gesundheit tatsächlich alles nichts ist,dann impliziert dieser moderne Trend, dass damit das Leben all derjenigen, die nicht mehr gesund sindoder nie gesund waren, dass ihr Leben im Grunde„nichts ist“3. Wenn ohne Gesundheit alles nichts ist,dann ist für die chronisch Kranken, für die behinder-ten Menschen, für die alten Menschen jede Chancevertan, überhaupt noch ein „gutes“ Leben zu führen.Eine Medizin, die sich diesen Aphorismus so unre-flektiert zu Eigen macht und ihn sogar für Werbe-zwecke – selbst für Hausarztpraxen – verwendet unddamit tatsächlich Kunden – und selbst Patienten –anlockt, eine solche Medizin ist einer Glorifizierungund zugleich einer äußerst verkürzten Vorstellungvon Gesundheit zum Opfer gefallen, und sie des-avouiert damit alle Menschen, die mit Krankheit und Gebrechlichkeit leben. Die moderne Medizin hat aus dem Blick verloren, dass sie mit ihrer Über-nahme und ihrer positiven Reaktion auf den Gesund-heitskult viele kranke, gebrechliche und schwacheMenschen in die Isolation und zuweilen auch in dieVerzweiflung stürzt.

2. Ideologie: Anspruch an ein Leben ohne MangelDer manchem als harmlos erscheinende Gesundheits-kult ist nichts anderes als der Ausdruck einer utopi-schen Erwartung eines Lebens ohne Mangel, ohneVerzicht, ohne Beschwerden. Ein solcher Gesund-heitskult befördert eine Einstellung zum Leben, dieeiner Herabsetzung jeglichen verzichtvollen Lebensgleichkommt. Was so harmlos klingt, verrät auf denzweiten Blick eine zutiefst fragwürdige Selbstdeutungdes Menschen, die hinter einer solchen Anspruchs-haltung gegenüber der Medizin steckt.

Erstens stellt schon die Erwartung, ja der Anspruchauf ein Leben ohne Beschwerden eine Leugnung desLeibseins des Menschen dar. Solange der Menschlebt, manifestiert er sich über seinen Körper, der ihmnicht nur als Werkzeug dient, sondern zugleich eineGrundbedingung seines Seins darstellt. Der Menschist somit nicht auf ein Körper-Haben reduzierbar,sondern stellt immer ein Leib-Sein dar4. Damit stelltdas Leib-Sein eine conditio humana dar, die demMenschen solange er lebt stets Beschwerden, Bedürf-nisse und Erfahrungen des Mangels auferlegt. Vommenschlichen Leben eine Beschwerdefreiheit, ein

„mangelloses Leben“5 zu erwarten, kommt daher einer Leugnung der Grundbedingungen menschlichenSeins gleich und stellt damit eine irrationale Erwar-tung des modernen Anspruchsmenschen dar.

Zweitens scheint Gesundheit und der Anspruch aufSelbstverwirklichung in vielen Fällen etwas zu erset-zen. Oft müssen diese Erwartungen stellvertretenddas ausgleichen, was zuvor verloren gegangen ist,nämlich die Erfahrung von Sinn. Indem die Leis-tungsfähigkeit und Beschwerdefreiheit verabsolu-tiert werden, degenerieren sie zu Sinnersatzkon-struktionen. Odo Marquard hat dies treffend zumAusdruck gebracht, indem er die moderne An-spruchsgesellschaft als „Kummerspeck des Sinnde-fizits“6 beschrieben hat. Gleichsam beklagt Mar-quard, dass dem modernen Menschen der „Sinn fürdas Gute im Unvollkommenen“ abhanden gekom-men sei, was zu einer „Infernalisierung des Vorhan-denen“ führe7. Ähnlich weist auch Schneider-Flumeauf den Zusammenhang zwischen Perfektionserwar-tung und Sinndefizit hin, indem sie darauf abhebt,dass die moderne Anspruchsgesellschaft zum Verlustder Erkenntnis geführt hat, „dass die vorhandeneWirklichkeit aus sich heraus Sinn ergeben kann undnicht erst die Vision des Perfekten, das nie erreichtwerden wird“8. Der Anspruch auf eine absolute Be-schwerdefreiheit resultiert somit aus der Verbannungdes Sinns und aus der dadurch entstandenen Leere,die durch überzogene Erwartungen an die Medizinausgeglichen werden soll.

Die immensen Ansprüche an ein perfektes Leben, die Verbannung der Sinnfrage und der Ersatz desSinns durch die Kultivierung von Gesundheit min-dert jede Bereitschaft, Leben mit Krankheit, mitBehinderungen, mit Beschwerden jeglicher Art als einin sich wertvolles Leben anzunehmen. Demnach istnicht zuletzt der gegenwärtige Gesundheitskult mit dafür verantwortlich, dass nur das Leben akzep-tiert wird, das in die beschriebene Ideologie des„mangellosen Lebens“9 hineinpasst, und dass allesandere Leben von vornherein abgelehnt, ja auch verhindert und beendet wird10.

Der moderne Mensch ist unfähig geworden, hinterjeder vermeintlichen Unvollkommenheit nur die äu-ßere Manifestation eines von Grund auf wertvollenLebens zu erblicken. Genau mit diesen Ideologiensind Ärzte konfrontiert, wenn sie es mit Menschenzu tun haben, die von ihnen verlangen, dass sie ihren Körper, ganz gleich wie alt dieser ist, schnellst-

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möglich reparieren und die kein Verständnis dafürhaben, dass der Mensch in seinem Leibsein stets an-gewiesen ist auf seinen Körper und dass allein seineLeibhaftigkeit es dem Menschen verunmöglicht, ab-solut frei von Beschwerden und körperlichen Nötenzu sein. Diese modernen Menschen empfinden sichals Leidende und rufen daher die Medizin an, aberdie Ursache ihres Leids ist nicht das Beschwerdebildselbst, sondern die Haltung des Anspruchs auf ein„mangelloses Lebens“; sie leiden an ihrer utopischenErwartung.

Der Wunsch eines jeden Menschen nach Beschwerde-freiheit ist nachvollziehbar und legitim; das Problemliegt daher nicht am Wunsch nach Beschwerdefrei-heit, sondern einzig und allein an der Verabsolutie-rung dieses Wunsches im Zuge der Überhöhung derGesundheit. Ab dem Moment, da die Beschwerde-freiheit zur absoluten und unverzichtbaren Voraus-setzung für die Wertschätzung des Lebens gemachtwird, ab diesem Moment wird der ursprünglich legiti-me Wunsch schließlich zur Obsession und damit zurlebensvernichtenden Ideologie.

3. Ideologie: Das Schicksal wird zum „Machsal“ 11

Das Zusammenkommen von Machbarkeitsdenken,Leugnung der conditio humana und Verlust an Sinn-erfahrung führt gerade im Kontext der Medizin dazu,dass das, was ehedem als Widerfahrnis angenommenwurde, zunehmend zum Verfügungsbereich des Men-schen gezählt wird.12 Im Zuge des Strebens des mo-dernen Menschen nach einer grundlegenden Emanzi-pation von allen Bedingungen des Lebens verfällt erzuweilen in den Irrglauben, dass er nicht nur dieäußeren Bedingungen des Lebens, sondern die Aus-gestaltungen des Lebens selbst „machen“ und steuernkönne. In dieser Ideologie wird nicht zuletzt auchKrankheit zu einem Machens-Ergebnis herabgestuft,dem jeglicher Widerfahrnischarakter abhanden ge-kommen ist.

Indem Krankheit – nicht zuletzt bedingt durch dieVerheißungen der modernen Gendiagnostik – zuneh-mend zum Produkt menschlicher Vorentscheidungenstilisiert wird, verliert sie jegliche Schicksalhaftigkeit.Auf diese Weise werden Krankheiten zu verhinderba-ren, vorhersehbaren und von menschlicher Handabhängigen Resultaten, die nicht mehr als etwas Hin-zunehmendes zu betrachten sind, sondern die ledig-lich als Ergebnisse menschlicher Entscheidungen auf-gefasst werden. Leben und krank zu werden erscheint

in dieser Perspektive nicht mehr als Schicksal, zu demman in ein positives Verhältnis treten kann, sondernKrankheit erscheint nur noch als „Machsal“13, für dasder Mensch selbst Verantwortung trägt und dem ernur mit Verhinderung, Bekämpfung, Abwehr und –wenn all das nicht gelingt – mit Ablehnung begegnenkann.

Durch das Abstreifen des Schicksals macht sich dermoderne Mensch zum eigenen Gestalter. Er nimmtdie Zügel in die Hand und verliert damit den Blickdafür, dass die Machbarkeit des eigenen Schicksalssich nur auf Marginalia begrenzt im Vergleich zu alldem Unverfüg- und Unmachbaren, zu all den Vorbe-dingungen, in die der Mensch einfach hineingeborenwird und im Vergleich zu all den Widerfahrnissen,denen der Mensch bestenfalls nur in „reflektierterGelöstheit“14 begegnen kann.

Angesichts der Nicht-Machbarkeit der Welt, dieschon vor der eigenen Existenz bestand, erscheint derAnspruch des modernen Menschen, sich zum Machernicht nur seiner äußeren Lebensbedingungen, son-dern auch seiner selbst zu erklären, als irrationaleSelbstüberschätzung des Menschen, die mit derschwerwiegenden Folge verbunden ist, dass sich diesermoderne Mensch der Chance beraubt, in ein gutesVerhältnis zu dem Vorgegebenen und ihm Widerfah-renen zu treten, ihm etwas Positives, ja etwasSinnstiftendes abzugewinnen.

Die moderne Medizin nährt mit ihren Angeboten dieErwartung vieler Menschen, ihr Schicksal abstreifenzu können, ohne dass sie dabei bedächte, dass sie mitdem impliziten Versprechen, den Menschen von sei-nem Schicksal zu befreien, eine Grundhaltung zumLeben fördert, die auf einer problematischen Selbst-deutung, ja am Ende auf einer Selbstverleugnung desMenschen beruht. Mit all den dargelegten ideologie-gefärbten Selbstdeutungen verschließt sich der mo-derne Mensch der Einsicht, dass die Frage, ob Lebengelingt, nicht primär davon abhängt, ob man be-schwerdefrei und gesund ist, sondern davon, welchenSinn man dem Leben gibt. Unter dem Diktat desGesundheitskultes wird der Verlust der Gesundheitgleichgesetzt mit Verlust der Möglichkeit, ein gutesLeben zu führen. Damit wird aber in fataler Weiseverkannt, dass auch und gerade krankes Leben nichtnur Sinn ermöglicht, sondern in vielen Fällen sogarSinn erst eröffnet.

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Die Medizin wäre aufgerufen gewesen, hier eineHilfsantwort zu geben, die darin hätte bestehen kön-nen, dem Menschen dabei zu helfen, sich für dieEinsicht zu öffnen, dass es kein sinnloses Sein gibt,und erst recht nicht, solange auch der kränkesteMensch auf ein verstehendes Gegenüber hoffenkann. Dass die moderne Medizin sich unreflektierteiner solchen Ideologie weitestgehend angeschlossenhat, ohne ihr eine andere Vorstellung von Menschseinund von Sinnerfüllung entgegenzustellen, ist daherein verhängnisvolles Versäumnis.

4. Ideologie: Der Patient als KonsumentIm Zuge des gegenwärtigen Wandels der modernenMedizin wird nicht zuletzt der Patient zunehmendumdefiniert, indem er immer weniger als Patient imSinne eines notleidenden Mitmenschen gesehen wird.Stattdessen wird im Patienten immer mehr der mögli-che Verbraucher von medizinischen Dienstleistungenentdeckt. Der notleidende Patient, der sich hilfesu-chend an seinen Arzt gewandt hat, wird zunehmendersetzt durch den begehrenden und fordernden Pa-tienten, der nicht nach Hilfe sucht, sondern der alswohlinformierter Bürger und Beitragszahler seineRechte und Ansprüche einlösen zu müssen glaubt.

Was heute zwischen Arzt und Patient verhandeltwird, ist in dieser neuen Partnerbeziehung kein wert-volles, unverzichtbares und einzigartiges Hilfsangebotdes einen speziellen Arztes, sondern es ist eine belie-big austauschbare und von jedwedem Dienstleisterarztin gleicher Weise anzubietende Gesundheitsdienstleis-tung geworden, die auf ihre abprüfbaren Qualitäts-kriterien erst abgeklopft werden muss, bevor sie in

Anspruch genommen wird. An die Stelle einer perso-nalen Beziehung zwischen einem Notleidenden undeinem Helfer ist eine rein sachliche Vertragsbeziehungzwischen einem Dienstleistungsanbieter und einemDienstleistungskonsumenten getreten. Der modernePatient ähnelt immer mehr einem Verbraucher, dernicht mit einem Hilfsbegehren, sondern mit Quali-tätsansprüchen kommt und der dem Kunden gleichselbstverständlich als König behandelt werden möch-te und nur das Beste zum geringsten Preis verlangt.

Schlussendlich stellt dieser Wandel des Arzt-Patient-Verhältnisses nicht weniger als einen Wandel voneinem Vertrauens- zu einem Vertragsverhältnis dar.Die Arzt-Patient-Beziehung unterliegt damit einerzunehmenden Versachlichung, Verrechtlichung undEntpersonalisierung.

5. Ideologie: Medizin als MarktAlle dargelegten Ideologien der modernen Medizinlaufen darauf hinaus, Medizin als Markt zu begreifenbzw. die Vorstellung der Medizin als Markt liegt so-zusagen als Grundlage aller dargelegten ideologischenVerstrickungen zugrunde. Wenn sich die Medizin alsMarkt versteht, so geht sie implizit davon aus, dassder Kranke ein Mensch ist, der – dem Kunden gleich– frei nach Dienstleistungen sucht. Beziehungen zwischen Anbieter und Kunden haben sich in vielenBereichen des Lebens als segensreich erwiesen, weil sieper se nicht unfair sind – im Gegenteil. Aber sie sindnur dann nicht unfair, wenn gewährleistet ist, dassbeide Parteien in einer gleich guten Position sind,wenn man also von einer „Kundensouveränität“ spre-chen kann. Genau das ist der vulnerable Punkt einer

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sich als Markt verstehenden Medizin. So mag dasnüchterne Tauschverhältnis zwischen Anbieter undKunden für „Patienten“ funktionieren, die sich nichtin einer existentiellen Krise befinden. Patienten inNot hingegen sind Menschen in einer schwachenPosition, Menschen, die sich gerade nicht auf dieSuche nach Gesundheitsleistungen machen können,weil sie auf die Gesundheitsleistung, also auf die ärzt-liche Hilfe, gar nicht verzichten können.

Krank gewordene Menschen sind existentiell bedürfti-ge Menschen; schon deswegen sind sie vom Ansatzher kaum geeignet für rein kommerzielle Beziehun-gen. Sie sind nicht geeignet, als Kunden wahrgenom-men zu werden, weil sie als kranke Menschen nicht – wie souveräne Kunden – die Möglichkeit und deninneren wie äußeren Freiraum haben, die einzelnenProdukte erst zu prüfen und miteinander zu verglei-chen, bevor sie sie in Anspruch nehmen15.

Patienten sind angewiesene Menschen; sie sind ange-wiesen auf jemanden, der ihnen hilft, sie sind aberauch oft auf medizinische Produkte existentiell ange-wiesen, ohne die sie oft gar nicht weiterleben könn-ten. Von Kundensouveränität kann hier somit nichtdie Rede sein. In einer solchen Beziehung mit einemangewiesenen Menschen hat der Anbieter der unver-zichtbaren Dienstleistung grundsätzlich „alle Kartenin der Hand“16. Während der Markt angesichts einersolchen Schwäche in der Regel mit Ausbeutung rea-giert, kann eine ärztliche Antwort auf Schwäche nurder Schutz des Patienten sein. Die Marktbeziehungerweist sich somit gerade dort als für die Medizin un-geeignet, wo die Medizin es mit dem schwachen Pa-tienten zu tun hat.

Dass die Arzt-Patient-Beziehung nicht in einer reinenMarktbeziehung aufgehen kann, liegt überdies an derDifferenz zwischen der Identität des Patienten undder Identität des Kunden. Der Kunde wird lediglichals Kunde wahrgenommen; seine Identität wird aufseine Kaufkraft und sein Kosumverhalten reduziert.Eine darüber hinausgehende Identität ist dem wirt-schaftlichen Blick auf den Kunden fern. Wer keineKaufkraft besitzt, wird vom Markt komplett fallen-gelassen.

Anders ist die Wahrnehmung der Identität des Pa-tienten. Beim Patienten erschöpft sich seine Identitätgerade nicht auf seine Kaufkraft und sein Konsum-verhalten, sondern idealerweise wird der Patient alsMensch wahrgenommen, in all seinen Facetten und

seinen Bedürfnissen. Wenn nun die moderne Medizinim Zuge der Marktorientierung den ursprünglichenPatienten zunehmend zum Kunden macht, wird derKunde zwar König sein – was nichts anderes heißt,dass man seinen Narzissmus pflegen wird – aber nurum den Preis, dass er nur noch in der Funktion alsKonsument und in seiner Kaufkraft ernst genommenwerden wird. Die Umfunktionierung des Patientenzum Kunden bedeutet daher nicht weniger als dieAusblendung des Mensch-seins im Kunden und dieInstrumentalisierung seiner Person zum Zwecke derGewinnmaximierung. So lässt sich festhalten, dass dieBeziehung zwischen Arzt und dem angewiesenenPatienten von ihrer Grundlage her keine Marktbezie-hung ist, sodass der Arzt die Regeln der Marktwirt-schaft gerade nicht zum Ausgangspunkt seines Han-delns nehmen kann.

II. Ärztliche und pflegerische Hilfe als Ware?Oft werden die Verrichtungen des Arztes als Warenbezeichnet. Bezeichnenderweise wird diese Termino-logie nicht nur durch Krankenhausmanager sondernzunehmend auch von Ärzten selbst gewählt, ohnedass hierbei hinlänglich darüber nachgedacht wird,was mit einer solchen Begriffswahl bereits begrifflichvorentschieden wird. So wird mit dem Begriff derWare vorausgesetzt, dass die ärztliche Behandlungeinen rein instrumentellen Wert hat, einen austausch-baren und letztlich vom Anbieter dieser Ware unab-hängigen Wert.

Freilich gibt es viele Bereiche der Medizin, in denentatsächlich nicht mehr vollzogen wird als die Anwen-dung einer Technik, deren Wert unabhängig davon zusein scheint, von welchem Arzt sie angewendet wird.Allerdings sind diese rein instrumentellen Handlun-gen wiederum nicht losgelöst zu sehen, sondern siesind eingebettet in einen gesamten Behandlungsplan,der gerade nicht von anonymen Technikern entwik-kelt wird, sondern im besten Falle doch nur voneinem Menschen entwickelt werden kann, der dieseBehandlung nicht als bloße Anwendung einer Technikversteht, sondern sie idealerweise als Dienst amMenschen begreift.

Wenn die Behandlung eines kranken Menschendurch einen Arzt oder einer Pflegenden ein Dienstam Menschen sein soll, so kann dieser Dienst geradenicht als reine instrumentelle Dienstleistung betrach-tet werden, sondern dann hat dieser Dienst in der Artund Weise wie er erfolgt einen intrinsischen Wert17.Die Behandlung des Arztes bzw. der Pflege, ihr

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Sorgen für den Kranken ist in sich wertvoll; alleindadurch, dass sie vollzogen wird. Gerade weil derWert dieses Dienstes im besten Falle im Sinne einerCaritas zu verstehen ist, gerade deswegen kann dieserDienst nicht im Konzept einer marktfähigen Wareaufgehen.

Genau dieses Problem liegt der Umstellung aufDRGs, auf Fallpauschalen, zugrunde; es wird still-schweigend davon ausgegangen, dass eine gute Me-dizin sich allein nach dem instrumentellen Charakterdes Dienstes bemisst, danach also wie schnell undeffektiv das Ziel der „Gesundheit“ oder der Krank-heitsbehandlung erreicht wird. Es wird aus- und auf-gerechnet, dass für diese und jene Krankheit dieseund jene Handlung notwendig ist. Hierbei wird je-doch übersehen, dass auf diese Weise Medizin redu-ziert wird auf eine Anwendung von Techniken. DieAnnahme, dass der Mensch einzig und allein durchdie Anwendung von Techniken gesunden könne, setzt voraus, dass der Mensch eine Menschmaschinedarstellt, die nichts weiter braucht als eine technischeReparatur.

Wenn Medizin tatsächlich für das Wohl von Men-schen in Not zuständig sein soll, dann erweist sie sichals äußerst defizitär, wenn sie den Menschen daraufreduziert, die Plattform zu sein, auf der die Technikihre Wirkung erzielen soll. So bedarf es zur Heilungvon Menschen mehr als die Anwendung von Tech-nik. Vielmehr braucht der wirklich kranke Mensch zuseiner Heilung zusätzlich zur Technik – und nichtetwa anstatt der Technik – gerade Verständnis fürseine Krisensituation, er braucht ein Gegenüber, dasin ihm eine einzigartige Person erblickt, die eben nurin einer einzigartigen Form gesunden kann.

Der Arzt heilt gerade nicht allein über die Technik,die er anwendet, sondern er heilt auch und geradedadurch, dass er sich als Mitmensch eines anderenMenschen annimmt und eine „heilende“ Beziehungzu ihm aufbaut. Innerhalb dieser Beziehung stellt dieanzuwendende Technik ein Instrument dar, das gera-de so viel Wirkung entfalten kann, wie die Form derBeziehung es überhaupt ermöglicht18. Eine reineDienstleisterbeziehung wird somit auch bei der ausge-feiltesten Technik weniger wirksam sein als eine aufRespekt und Fürsorge gegründete Mitmensch-Bezie-hung auch mit weniger Technik erreichen könnte.

Zentraler Gesichtspunkt im Behandlungs- und Hei-lungsprozess ist somit die Art der Beziehung, die im

Umgang mit kranken Menschen keine Dienstleis-tungsbeziehung, sondern eher eine Beziehung derauthentischen Sorge um das Gegenüber sein kann.Zentral ist nicht das Mittel, das zur Heilung angewen-det wird, sondern die Grundhaltung, von der ausman sich um das Gegenüber sorgt. Weil zwar Mittel,aber keine Grundhaltungen, gekauft werden können,kann demzufolge genauso wenig eine Arzt-Patient-Beziehung in einer markfähigen Dienstleisterbezie-hung aufgehen wie der Dienst an einem krankenMenschen als reine Ware betrachtbar sein wird. DieBehandlung von Kranken ist eine im besten Falleheilsame, manchmal lebensrettende, oft eine Zuver-sicht spendende Begegnung von Menschen, und einesolche Begegnung lässt sich gerade nicht in Markt-wert ausdrücken.

III. Qualität der Medizin durch Konkurrenzfähigkeit?Im Zuge der Ökonomisierung der gesamten Medizinwerden die Klinika vor allem als Konkurrenten be-trachtet, denen es zur Sicherung ihrer Existenz vor-rangig um „Wettbewerbsfähigkeit“ gehen muss. DieseOrientierung an der Wettbewerbsfähigkeit hat weitrei-chende Implikationen, die (1) die Außenwirkung dermodernen Klinika genauso betreffen wie (2) ihreinnere Identität.

(1) In Bezug auf die Außenwirkung gilt es zu beden-ken, welche Botschaft von einem solchen Wettbe-werbsparadigma für kranke Menschen ausgeht. Wennman die einzelnen Klinika vor allem als Konkurren-ten betrachtet und sie auch so benennt, wird denPatienten damit unweigerlich vermittelt, dass es guteKliniken und schlechte Kliniken gibt, denn sonstbedürfte es nicht eines Konkurrenzsystems19. Wenndann überdies mit der Betonung der Konkurrenzfä-higkeit die einzelnen Klinika sogar – wie dies zuneh-mend der Fall sein wird – Reklame für sich machen,so ist dies zusammen genommen für das zunächstrein äußere Ansehen der Medizin fatal. Denn dieReklame bedeutet ja zweierlei: einerseits impliziertsie, dass es gute und schlechte Ärzte, gute undschlechte Kliniken gibt. Wer also Reklame für seineKlinik als Unternehmen macht, schadet der Gesamt-medizin, weil Patienten verunsichert werden undannehmen müssen, dass sie nicht überall eine guteBehandlung bekommen, sondern nur wenn sie dieKlinik richtig aussuchen. Zum zweiten suggeriert dieWerbung, dass es dem werbenden Arzt oder der wer-benden Klinik eigentlich darum geht, einen Wett-bewerb zu gewinnen und nicht primär darum, ihre Patienten gut zu versorgen20, denn wenn es einer

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Klinik nur um ihre Patienten ginge, müsste sie ein-fach gut behandeln und bräuchte keine Werbung.

(2) In Bezug auf die innere Identität der modernen Kliniken gilt es zu bedenken, dass ein solches Wett-bewerbsdiktat, wie es über alle Klinika verhängt wird,immer mehr dazu führen wird, dass sich die Medizinvon ihrem Wesen her verändert. In einem wettbe-werbsorientierten System hängt die Existenz der mo-dernen Klinik nicht davon ab, wie gut man Men-schen geholfen hat, sondern zuerst oder zumindestgenauso davon, wie wirtschaftlich die Klinik geführtwurde. Innerhalb solcher marktorientierter Vorgabenwird der Arzt ständig in eine Konfliktsituation hin-eingetrieben, die für ihn, wenn es ihm um seine eige-ne berufliche Existenz geht, schwer auszuhalten ist.

In jedem Falle ist bereits heute abzusehen, dass Ärzte durch finanzielle Anreize dazu motiviert werden, amEnde sich für eine Unterversorgung ihrer Patientenzu entscheiden. Rein ökonomische Anreize stellensomit alles andere als eine Gewähr dafür dar, dass Pa-tienten gut versorgt werden, gerade weil die Medizindazu verleitet wird, die Effizienz dadurch zu steigern,dass in Bereichen eingespart wird, die dem Patientennicht (sofort) bewusst werden.

Das Grundproblem besteht darin, dass die modernenAnreizsysteme in den Klinika so ausgestaltet sind,dass Ärzte dazu gezwungen werden, sowohl die Be-dürfnisse der Patienten im Auge zu haben als auchdie ökonomischen Interessen. Mehr noch – da dieSicherung der Zukunftssicherheit des UnternehmensKrankenhaus vor allem von der Wirtschaftlichkeitund somit vom Management abhängt, wird dieOrientierung am Wohl des Patienten und die ethi-schen Grundlagen Zug um Zug zum rein idealis-tischen „Beiwerk“21 herabgestuft.

IV. Reine Ökonomisierung als Aushöhlung desKerngehalts der MedizinNimmt man diese Ideologien der modernen Medizinzusammen und konfrontiert sie mit einer Realität, inder ökonomische Engpässe ganz bewusst politischherbeigeführt werden, um die „Konkurrenzfähigkeit“der einzelnen Klinika zu testen, so wird deutlich, wieunheilvoll gerade dieses Zusammenspiel der Ausrich-tungen ist. Unheilvoll insofern als dies zusammen-genommen unweigerlich dazu führen wird, dass dieMedizin, um ihre finanzielle Grundlage zu sichern, in Zukunft immer mehr darauf setzen wird, nur das

zu stärken, was dem „Unternehmen Krankenhaus“Profit bringt.

Dies würde bedeuten, dass diejenigen, die entwederseltene Krankheiten haben oder eine seltene Patien-tengruppe darstellen (Beispiel Kinder!), oder diejeni-gen, die keine Ansprüche formulieren und anmeldenkönnen, am Ende weniger gut versorgt sein werdenbzw. schon sind. So liegt es auf der Hand, dass esallein von der Quantität her mehr Profit bringt, ge-sunden Menschen Dienstleistungen anzubieten alsbehinderten und schwerstkranken Menschen eineganzheitliche Versorgung anzubieten. Die Allianz vonmarktorientierter Medizin und Gesundheitsüberhö-hung in einer Anspruchsgesellschaft hätte somit dieFolge, dass die gesamte Medizin sich umorientiertund mehr auf „Gesundheit“ für Gesunde setzt alsdarauf, sich um das Wohl der Randständigsten,Schwächsten und Kränkesten zu kümmern.

Die Ökonomisierung der Medizin führt in der Alli-anz mit einem weit verbreiteten Gesundheitskult undeiner unreflektierten wunscherfüllenden Ärzteschaftzwangsläufig dazu, dass die Medizin zunehmend inBereiche investiert, die zwar lukrativ sind, die abermit dem Grundauftrag der Medizin, eine umfassendeHilfe für krankheitsbedingte Krisensituationen anzu-bieten, nicht mehr viel zu tun haben.

V. AbschließendMit den dargelegten grundsätzlichen Überlegungensollte verdeutlicht werden, was für ein kostbares so-ziales Gut eine Medizin wäre, von der jeder krankgewordene Mensch mit gutem Grund annehmenkönnte, dass die Medizin als soziale Errungenschaftsich durch nichts anderes mehr charakterisiert alsdurch die bedingungslose Bereitschaft, sich allein amWohl des in Not geratenen Mitmenschen zu orientie-ren. Medizin könnte in dieser Perspektive als ein be-dingungsloses Versprechen verstanden werden, denMenschen in Not zur Seite zu stehen. Der Kern des-sen, was Medizin ausmacht, liegt möglicherweise gera-de in dieser Bedingungslosigkeit, mit der die Medizindem Krankgewordenen – ohne sich seiner zu bemäch-tigen – eine Hilfsantwort gibt.

Mit dem Dargelegten sollte deutlich gemacht werden,wie wichtig die sich etablierenden Ethikstrukturen inden verschiedenen Einrichtungen sind, denn vorallem durch sie besteht die Chance, dass Ethik zumidentitätsstiftenden Moment gemacht wird. Ethik in

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die Organisation bringen heißt nach alledem danachfragen, was das Unverwechselbare der Heilberufe ist.Wenn wir das Proprium der Heilberufe in ihrer be-dingungslosen Hilfsbereitschaft sehen, so werden wirrasch erkennen, dass sich dies vollkommen deckt mitdem christlichen Kulturgut, das die Wiege des Kran-kenhaussystems war. Ethik in die modernen Kranken-häuser zu bringen kann somit bedeuten, das, was dieersten christlichen Hospitäler zu ihrem Kerngedankengemacht hatten, wieder kompatibel zu machen mitden modernen Strukturen. Wenn die modernen Häu-ser nicht zu seelenlosen Reparaturfabriken verkom-men wollen, so wären sie gut beraten, sich wieder amKerngedanken der Caritas zu orientieren. Gerade indieser Beziehung haben die vielfältigen ethischenAktivitäten der Malteser Trägergesellschaft eine weg-weisende Vorbildfunktion.

Literatur

1Bezeichnenderweise werben nicht nur Fitness-Studios mit dem Schopen-hauer-Satz, sondern auch und gerade Praxen und Kliniken. So ist auf derHomepage einer Praxis zu lesen: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohneGesundheit ist alles nichts. (Schopenhauer) Herzlich Willkommen auf derHomepage der Hausarztpraxis Dr. XX“. Siehe http://www.hausarzt-dr-fischer.de/Einleitung.htm2Paradigmatisch für viele folgende Werbung: „Gesundheit ist nicht alles,aber alles ist nichts ohne Gesundheit!“ (Schopenhauer) Aus diesemGrunde setzen wir auf gesundheitsorientiertes Fitness-Training. UnsereMitarbeiter betreuen Sie professionell und helfen Ihnen, Ihre individuel-len Ziele zu erreichen. Siehe http://www.sportpark-otto.de/Philosophie/Philosophie.html3Zimmermann-Acklin, Markus: Gesundheit, Gerechtigkeit, Glück.Ethische Bemerkungen zum Umgang mit den Errungenschaften dermodernen Medizin. Bioethica Forum 51 (2006) 2-94Böhme, Gernot: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischerHinsicht. Kusterdingen: Die Graue Edition, 20035/9/14Kamlah, Wilhelm: Philosophische Anthropologie. SprachkritischeGrundlegung und Ethik. Mannheim: BI Wissenschaftsverlag 1973, Seite 15613Marquard, Odo: Zur Diätetik der Sinnerwartung. PhilosophischeBemerkungen. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart:Philosophische Studien, 1986, 6Seite 39, 7Seite 50, 11Seite 458Schneider-Flume, Gunda: Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 200210 Es ist nur folgerichtig, dass in dieser Ideologie der Verabsolutierung vonGesundheit schon im Mutterleib nach der Normabweichung gesucht wird,weil dies die letzte Chance bietet, ein solches Leben, aus dem alles zunichts wird, von vornherein erst gar nicht zur Welt zu bringen12Maio, Giovanni, Clausen, Jens, Müller, Oliver (Hg.): Mensch ohneMaß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der bio-medizinischen Ethik. Freiburg: Alber, 200815Deppe, Ulrich, 2000Deppe, Ulrich: Zur Kommerzialisierung des Menschenrechts. In: Kolbund Horst Seithe (Hg.): Medizin und Gewissen. Mabuse-Verlag, 2002, S. 210-22116Welie, Jos V.M.: The dentist as healer and friend. In: David C.Thomasma, Judith Lee Kissell (Hg.): The Health Care Professional asFriend and Healer: Building on the Work of Edmund D. Pellegrino.Washington: Georgetown University Press, 2000, S. 35-4817Kaveny, Cathleen: 1999Kaveny, Cathleen: Commodifying the polyvalent good of health care.Journal of Medicine and Philosophy 3 (1993) 207-22318Dörner, Klaus: Das Gesundheitsdilemma. Woran unsere Medizinkrankt. Berlin: Ullstein, 2004 19Welie, Jos V.M.: Is dentistry a profession? The hallmarks of professiona-lism. Journal of the Canadian Dental Association 70 (2004) 9:599-60220Ebd.21Kühn, Hagen: Ethik ist kein Beiwerk, sondern die Sache selbst. Folgender Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Soziale Medizin 28 (2001)6:18-22Friend and Healer: Building on the Work of Edmund D. Pellegrino.Washington: Georgetown University Press, 2000, S. 35-48

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Dipl. Theol. Lic. Theol. Wolfgang Heinemann

Vom Ethik-Projekt zur ethischenOrganisation

Es ist unumstritten, dass viele Entwicklungen imGesundheitswesen ethische Reflexion notwendig ma-chen. Die Notwendigkeit wird in vielen Träger- undEinrichtungsleitbildern von Organisationen im Ge-sundheitswesen gesehen und formuliert. Diese wichti-ge ideelle Verankerung garantiert jedoch keineswegseine Implementierung von ethischen Strukturen undProzessen in die komplexen Organisationsabläufe;dazu bedarf es einer „organisierten Ethik“, die syste-matisch die Personal- und Organisationsentwicklungprägt. Eine solche Ethik wird sich auf Dauer nichtauf die Reflexion medizinischer Fragen beschränkenkönnen, sondern auch Themen der Unternehmens-kommunikation, der Personalführung, der Leistungs-entwicklung und der Ökonomie in den Blick neh-men; auch wird die augenblickliche Schwerpunkt-setzung im Bereich Krankenhaus sich auf andere stationäre und ambulante Versorgungseinrichtungenim Gesundheitswesen ausweiten.

1. Die Notwendigkeit ethischer Reflexion imGesundheitswesenBei allen Unwägbarkeiten, die demographische Zu-kunftsaussagen enthalten, zeichnet sich ab, dass deranstehende demographische Wandel für das Gesund-heitswesen gravierende Folgen haben wird: Der wach-sende Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbe-völkerung und die Zunahme der durchschnittlichenLebenserwartung der Einzelnen stellen für die Ren-ten-, Kranken- und Pflegeversicherungen eine großeHerausforderung dar. Die Ausgaben werden enormsteigen, während gleichzeitig die Zahl der Erwerbs-tätigen, die in diese Versicherungen aktuell einzahlen,sinkt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich traditio-nelle familiäre oder nachbarschaftliche Versorgungs-strukturen verändert haben und nicht mehr in derLage sind, den derzeitigen Betreuungsbedarf zu de-cken – geschweige denn einen zukünftig wachsenden.Auf der Makro- und der Mesoebene werden daherFragen der Verteilungsgerechtigkeit an Bedeutung ge-winnen: Welchen Anteil sollen die Ausgaben im Ge-sundheitswesen im Gesamthaushalt besitzen? In wel-cher Größenordnung sind Solidarabgaben zumutbar?Welche Gesundheits- und Pflegeleistungen sind vonder Solidargemeinschaft und welche sind individuellzu tragen?

Die Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen istschon heute deutlich zu spüren: Wir können immermehr tun – aber können immer weniger bezahlen.Die seit Jahren durchgeführten Rationalisierungen,die Verschlankung von Arbeitsprozessen, die Steige-rung der Effektivität, veränderte Arbeitszeitmodelle,Kürzungen im Stellenplan usw. haben sicher vieleErsparnisse erbracht, können aber den erhöhten Be-darf nicht ausgleichen. Insofern hat verdeckt oderoffen eine Rationierung eingesetzt, deren Verteilungs-kriterien wenig transparent oder ethisch reflektiertsind. Die allgemeinen Leistungskataloge der Kranken-kassen sind kürzer geworden, die Liste der so genann-ten IGEL-Angebote in den Praxen der Niedergelasse-nen, aber auch in den Krankenhäusern wächst. Daswird für die Zukunft bedeuten, dass zwar eine solida-risch getragene Grundversorgung gewährleistet ist,viele medizinische, pflegerische und soziale Leistun-gen aber, die nützlich, vielleicht sogar notwendigsind, über Zusatzversicherungen oder privat finan-ziert werden müssen.

Auf der anderen Seite verändert sich die Medizin: Siewird nicht nur kostenintensiver, sie gewinnt auch zu-nehmend an Möglichkeiten, in das Leben einzugrei-fen: Wir können immer mehr tun – aber dürfen wirauch alles tun, was wir können? Gerade in denGrenzbereichen des menschlichen Lebens, in den prä-natalen und präfinalen Themenfeldern, ergeben sichvielfältige Fragen, was ethisch verantwortbar ist undwas nicht. Auch ist zu befürchten, dass eine stärkereTechnisierung und Ökonomisierung in der Medizindas Arzt-Patienten-Verhältnis sachlicher und ge-schäftsmäßiger werden und zu wenig Raum lässt für

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andere notwendige heilsame Kategorien: für Einfüh-lung, Zuwendung, Solidarität und Vertrauen. Ein wei-terer Grund für die Notwendigkeit der Ethik im Ge-sundheitswesen entsteht durch die gewachsene Bedeu-tung der Patientenautonomie: Spätestens seit den70er Jahren des letzten Jahrhunderts vollzieht sichdieser Paradigmenwechsel von einem paternalistischgeprägten Arzt-Patienten-Verhältnis zu einem Verhält-nis zwischen zwei gleichberechtigten Vertrags-partnern.

Dies zeigt sich an der hohen Bedeutung des InformedConsent ebenso wie an dem großen Interesse an Pa-tientenverfügungen, an der Diskussion über einenselbstbestimmten Tod bzw. einen assistierten Suizidund der wachsenden Konjunktur einer wunscherfül-lenden Medizin. Bei aller Wertschätzung, die dasRecht auf Selbstbestimmung und Selbstverantwor-tung ohne Zweifel verdient, stellt sich jedoch auchdie Frage, ob eine einseitig postulierte Patientenauto-nomie in der Situation schwerer Erkrankung, hoherGebrechlichkeit, fortschreitender Demenz oder eineseinsetzenden Sterbeprozesses nicht eine Überforde-rung darstellt und das Prinzip der fürsorglichenSolidarität als Ausgleich benötigt.

Schließlich wird die Notwendigkeit einer ethischenReflexion im Gesundheitswesen daran erkennbar, dassin einer pluralistischen Gesellschaft vielfältige, kon-kurrierende, teilweise widersprüchliche Moralsystemeund Wertvorstellungen vorhanden sind, und dasselbstverständlich nicht nur auf Patienten- oder Be-wohnerseite, sondern auch unter den Mitarbeitern. Esbesteht – darüber mag man klagen oder froh sein –keine einheitliche Wir-Moral, kein geschlossenesWertesystem, auf das sich alle beziehen könnten. Spä-testens da, wo aber eine gemeinsame Moral fehlt,wird der ethische Diskurs, die faire argumentativeAuseinandersetzung notwendig, um zu erarbeiten,was es im Einzelnen und im Allgemeinen heißt, „gutzu denken, gut zu entscheiden und gut zu handeln“.

2. Die Notwendigkeit einer ethischen Reflexion auf-grund des konfessionellen AuftragsWie alle anderen konfessionellen Träger im Gesund-heitswesen sehen sich auch die Malteser dem christli-chen Menschenbild und einer christlichen Sozialethikverpflichtet. Bei den Maltesern gründet dieses Leit-bild in dem über 900 Jahre alten Ordensauftrag„Tuitio fidei et obsequium pauperum“ - Bezeugung

des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen. Aus diesemzweigliedrigen Auftrag lässt sich ein zweipoligesMenschenbild ableiten: Biblisch gut begründet ist derGlaube, dass der Mensch eine Ebenbildlichkeit Gottesist, beschenkt (und belastet) mit einem freien Willen,geadelt vor aller Schöpfung und „nur wenig geringerals Gott“ (Psalm 8). Dieser Glaube an die besondereStellung des Menschen in der Schöpfung und diedamit verbundene Verantwortung für sich, seineMitwelt und seine Umwelt drückt sich – in ethischenKategorien – im hohen Respekt vor der Autonomiedes Menschen aus, die auch dann noch zu achten ist,wenn dieser sich möglicherweise irrt.

Mit dieser Erhabenheit ist aber von Anfang die Ge-fahr der Vermessenheit und der Hybris verbunden,die die konstitutive Gebrechlichkeit und Gebrochen-heit der menschlichen Existenz nicht mehr erkennt.Daher ist der andere Pol des Menschenbildes, der imzweiten Teil des Ordensauftrags, dem Dienst an denBedürftigen, zum Ausdruck kommt, ein notwendigesKorrektiv: Es betont die Hinfälligkeit des Einzelnen,seine Angewiesenheit auf andere, die „das geknickteRohr nicht brechen und den glimmenden Dochtnicht löschen“ (Jes 42,3). Bei vielen Patienten undBewohnern der Altenhilfeeinrichtungen steht aberdiese Erfahrung der Vulnerabilität, der körperlichenund seelischen Kränkung im Vordergrund, und be-darf der fürsorglichen Solidarität anderer, die denvorübergehenden oder dauerhaften Verlust der Selbst-ständigkeit nicht als Ende menschlicher Würde be-trachten, sondern als ein menschliches Bewährungs-feld. Sie bezeugen, bewusst oder unbewusst: Mensch-sein heißt von Anfang an und konstitutiv „In-Bezie-hung-Sein“ und Angewiesensein auf den anderen.Und Behinderung, chronische Krankheit, Alter,Sterblichkeit sind keine defizitären Formen menschli-chen Lebens, sondern modifizierte. Insofern ist dieHinfälligkeit und Endlichkeit der notwendige anderePol des christlichen Menschenbildes und fürsorglicheSolidarität eine unaufgebbare Verpflichtung der ka-tholischen Soziallehre. Diese Zweipoligkeit des christ-lichen Menschenbildes bringt Paulus in der wunder-baren Formel „Gottes Schatz in zerbrechlichenGefäßen“ (2 Kor 4, 7) zum Ausdruck.

Die Strategie 2010 der Malteser Trägergesellschaft be-ginnt daher ganz in diesem Sinn mit einem „Glau-bensbekenntnis“: „Wir glauben, dass alles Leben vonGott getragen ist.“ Ausdrücklich alles Leben: das ge-borene und das ungeborene, das junge und das alte,

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das gesunde und das beeinträchtigte, das gelungeneund das gescheiterte, das sich entfaltende und dassterbende.

Insofern ist eine Ethik, die eine Balance zwischen ei-ner verantwortlichen Fürsorglichkeit und einem Res-pekt vor der Autonomie sucht, eine Explikation desOrdensauftrages. Sie ist kein Vermeidungsbegriff fürden christlichen Auftrag, sondern seine Entfaltungund eine Konkretion des Proprium.

3. Die Notwendigkeit einer organisierten EthikEine gute Fundamentierung einer Ethik in der Mis-sion und in der Vision eines Unternehmens ist einewichtige Voraussetzung, um sie in der Organisationzu implementieren. Aber es braucht mehr, damitEthik nicht nur Etikette ist, sondern die Organisationauch durchdringt: Die Implementierung erfordert so-wohl eine Personalentwicklung als auch eine Organi-sationsentwicklung – und die Entschlossenheit desTrägers, einen solchen Prozess zu initiieren, dauerhaftzu fördern und an den Widerständen und Hindernis-sen zu arbeiten. Eine Ethik, die nur auf Leitbildpapie-ren beschrieben ist und nicht in Managementprozes-sen überprüfbar und messbar umgesetzt wird, besitztkeine Veränderungskraft.

3.1 Stationen auf dem Weg zu einer organisiertenEthikEs ist zehn Jahre her, dass sich die Malteser Träger-gesellschaft in den Qualitätszielen für ihre Kranken-häuser unter dem Punkt „Selbstverständnis als christ-liche Einrichtung“ die Einführung von ethischenGrundpositionen, von Ethikkomitees und von ethi-schen Fallbesprechungen auferlegte. Damals konntedas Unternehmen an bereits praktizierten Formenvon Ethik-Beratung in einzelnen ihrer Einrichtungenanknüpfen: Es wurden seit vielen Jahren „ethischeKonsile“ zur Änderung des Therapieziels bei infausterPrognose erstellt. Es fanden interdisziplinäre Fallbe-sprechungen in der Intensivmedizin, in der Geriatrie,in der Palliativmedizin statt. Es wurden Ethik-Fort-bildungen für Mitarbeiter, Schüler und Medizinstu-denten im Praktischen Jahr angeboten. Und es gabviele Mitarbeiter mit einer hohen Arbeitsmoral undeinem gewissen Glauben, dass es wichtig ist, sich fürdas Wohl der Patienten und Bewohner engagiert ein-zusetzen.

Insofern fingen wir hinsichtlich unserer internenStrukturen nicht beim Punkt Null an. Motivierendwaren auch äußere Impulse, die die Einführung einesEthik-Projektes auf Trägerebene unterstützten: dieErklärung des Evangelischen und des KatholischenKrankenhausverbandes von 1997 zur Bildung vonKlinischen Ethikkomitees in konfessionellen Kran-kenhäusern; eine umfangreiche Beratung durch Ex-perten von der katholischen Universitätsklinik Nijm-wegen; ermutigend war schließlich auch die bis heuteexistierende Anerkennung von anderen Krankenhäu-sern und Trägern im Gesundheitswesen.

Ziel des Ethik-Projektes, das im Herbst 1998 an denStart ging, war die Einführung der in den Qualitäts-zielen genannten Instrumente Ethikkomitee, EthischeFallbesprechung und Ethische Grundpositionen. Inacht Krankenhäusern wurden interdisziplinär zusam-mengesetzte Gruppen gebildet, um im Rahmen einesQM-Projekts im Laufe von zwei Jahren eine Verfah-rensanweisung für Ethische Fallbesprechungen undeine Geschäftsordnung für ein Klinisches Ethikkomi-tee zu erarbeiten. 2001 kam es zur Berufung undKonstitution der ersten Klinischen Ethikkomitees inMalteser Krankenhäuser und flächendeckend zurEinführung Ethischer Fallbesprechungen. Von Beginnan trafen sich die Projektgruppenleiter, später die Vor-sitzenden der Ethikkomitees regelmäßig zwei- bisdreimal im Jahr im Netzwerk Ethik, um ihre Erfah-rungen auszutauschen, neue Impulse zu erhalten undsich in der Entwicklung unterstützen zu lassen. ImJahr 2003 wurde die ursprüngliche Ethik-Projektstelleauf Trägerebene in einen „Geschäftsbereich Ethik undSeelsorge“ und damit in die Regelorganisation über-führt.

Eine erste Frucht der Komitee-Arbeit im Kranken-haus war die Publikation einer Broschüre zur Erstel-lung einer Patientenverfügung, die inzwischen in drit-ter veränderter Auflage eine außergewöhnlich guteResonanz erlebt hat. Weitere Veröffentlichungen folg-ten 2005 und 2006: zwei Broschüren zur EthischenFallbesprechung und zum Klinischen Ethikkomitee,in denen die vielfältigen Erfahrungen mit diesen bei-den Beratungsinstrumenten aus der Praxis und demFortbildungsbereich gebündelt werden konnten.

Seit 2006 ist dieser Entwicklungsprozess auch im Be-reich der stationären Altenhilfe aufgenommen wor-den; in sieben Altenhilfeeinrichtungen sind EthischeFallbesprechungen eingeführt; Vertreter dieser Ein-

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richtungen bilden auf regionaler Ebene zwei Ethik-komitees zur Förderung der Fallbesprechungen vorOrt und zur Behandlung von übergreifenden undsich wiederholenden Fragen. Der gesamte Prozess wurde über alle diese Jahre un-terstützt durch eine breite Fortbildungsarbeit mit in-ternen und externen Referenten, um Mitarbeiter inden Einrichtungen und Mitglieder in den Ethik-komitees für den ethischen Diskurs zu befähigen undeine flächendeckende Personalentwicklung im Bereichder Ethik zu ermöglichen.

3.2 Personalentwicklung im Bereich der EthikUm Mitarbeiter zur ethischen Reflexion zu führen,ist es notwendig, bei ihren Erfahrungen und Empfin-dungen zu beginnen. Viele Mitarbeiter besitzen einesehr feinfühlige moralische Intuition für Situationenund Prozesse, in denen sie spüren, „dass etwas nichtstimmt“. Diese Intuition gilt es wertzuschätzen – sieist eine kostbare Voraussetzung, um ethische Pro-blemsituationen sensibel wahrzunehmen. Diesegrundsätzliche Wertschätzung erspart aber nicht denoft mühsamen Weg von der moralischen Intuitionzum ethischen Argument. Hierzu bedarf es einer gu-ten Analyse der jeweiligen Situation und der in ihrenthaltenen Werte, der Fähigkeit zum unter Umstän-den kontroversen Diskurs und der Bereitschaft zurKorrektur; gefordert ist eine Kultur der Nachdenk-lichkeit anstelle einer poltrigen Selbstsicherheit.

In den vergangenen neun Jahren hat die Malteser Trä-gergesellschaft vor allem im Geschäftsbereich Ethikund Seelsorge eine Fülle von ethischen Fortbildungenangeboten: Allein in diesem Geschäftsbereich fandenin diesem Zeitraum insgesamt 195 Ethik-Seminarevon durchschnittlich 1,4 Tagen Länge statt, an denen

etwa 3.200 Mitarbeiter teilnahmen. 54 Seminare wur-den zum „ethischen Basisinstrument“, der EthischenFallbesprechung, angeboten; elf Seminare zur Schu-lung von Moderatoren für ethische Fallbesprechun-gen, elf zur Einführung in die Arbeit der Ethikkomi-tees, 16 Treffen für die Leiter der Projektgruppenbzw. Vorsitzenden der Ethikkomitees, die übrigen zuethisch relevanten Einzelthemen wie zum Beispiel Pa-tientenverfügung, künstliche Ernährung, Organspen-de, Umgang mit Demenz, Visite und Aufklärungsge-spräch, Sterbe- und Trauerbegleitung.

Angesichts der zunehmend knapper werdenden Zeit-und Personalressource ist dies ein beachtlichesEngagement der Teilnehmer und derer, die diese inihrer Abwesenheit vertreten haben. Trotzdem ist eswichtig zu beachten, dass Ethik nicht alleine durchPersonalentwicklung in eine Organisation implemen-tiert werden kann. Eine Organisation wird nicht da-durch ethisch, dass sie ihre Mitarbeiter zu ethischenFortbildungen schickt. Eine Ethik, die nur auf denpersönlichen Grundhaltungen einzelner Mitarbeiterberuht, besitzt auf Dauer keine Stabilität und Kons-tanz. Personalentwicklung im Bereich der Ethik kannnur dann eine nachhaltige Wirkung zeigen, wennauch die Organisation bereit ist, sich in ihren Kom-munikations- und Entscheidungsprozessen zu verän-dern.

3.3 OrganisationsentwicklungOrganisationen entwickeln und verändern sich andersals einzelne Personen: Sie lernen langsamer, reniten-ter, nicht über Gefühle oder Erfahrungen, sonderndurch Entscheidungen und Veränderungen vonProzess- und Kommunikationsstrukturen.

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Organisationen sind im Allgemeinen sehr erfindungs-reich, sich gegen Veränderungsprozesse zu wehren;davon ist die Einführung von Instrumenten EthischerReflexion nicht ausgeschlossen. Daher ist es wichtig,diese Instrumente und ihre Handhabung präzise zubeschreiben und verbindlich einzuführen, damit sienicht abhängig werden von einzelnen Personen oderZufälligkeiten. Der gute Wille einzelner oder einesLeitungsgremiums ist wichtig und notwendig, abernicht ausreichend, um dauerhafte Veränderungen her-beizuführen.

Das fängt mit dem Basisinstrument, der EthischenFallbesprechung, an. Wo immer im Behandlungsver-lauf ethisch komplexe Problemsituationen eintreten,zum Beispiel wenn der Patientenwille unklar ist oderkeine Einigkeit über das Therapieziel besteht, kanndie Ethische Fallbesprechung helfen, in einem mode-rierten und strukturierten Gespräch das Problem zuanalysieren, Fakten zusammenzutragen, möglicheMaßnahmen zu entwickeln und diese nach ethischenKriterien zu bewerten. Solche Besprechungen erfor-dern aber Zeit, bekanntlich eine äußerst knappe Res-source im Gesundheitswesen; insofern werden sienicht selten als störend erlebt. Hinzu kommt, dassdie Anregung einer Fallbesprechung als ungewünschteKritik am bestehenden Behandlungsregime verstan-den werden kann. Manche Mitarbeiter, vor allem inder Pflege, sind sich zusätzlich unsicher, bei welchemAnlass eine solche Besprechung sinnvoll ist und anwen sie sich wenden können, wenn sie eine Situationals besprechungswürdig empfinden. Daher ist es wich-tig, eindeutig und transparent zu regeln, wer wie undaus welchem Grund eine Ethische Fallbesprechunganregen, verbindlich einfordern und durchführenkann. Zurzeit wird noch diskutiert, ob es neben die-sen intuitiven und „subjektiven“ Auslösemomentenhilfreich ist, Standardsituationen zu definieren, dieim Behandlungsprozess „objektive“ Auslöser für eineEthische Fallbesprechung sein können. In jedem Fallsind eine schriftliche, allen Mitarbeitern zugänglicheVerfahrensanweisung für Ethische Fallbesprechungenund laufende Fortbildungen notwendig, um klareProzesse und Verbindlichkeit zu regeln. Aktuell wer-den in den zehn Malteser Krankenhäusern jährlichcirca 70 Ethische Fallbesprechungen durchgeführt – mit wachsender Tendenz.

Ebenso wichtig ist es, die Zusammensetzung, die Auf-gabenbereiche und die kommunikative Einbindungvon Ethikkomitees in eine Einrichtung zu regeln.

Eine detaillierte Geschäftsordnung kann hier weiter-helfen, zum Beispiel das Berufungsverfahren der Mit-glieder, die Wahl des Vorsitzenden, die Aufgaben desKomitees, das Eingabeverfahren, das Arbeitsverfah-ren, die Dokumentation des Erarbeiteten und das Be-richtswesen zu klären. Eine gute Geschäftsordnungfördert die effektive Arbeit eines Ethikkomitees, abersie garantiert sie nicht. Das Ethikkomitee muss durchUnterstützung bei der Durchführung ethischer Fall-besprechungen, durch sensible Wahrnehmung wieder-kehrender ethisch relevanter Problemfelder, durchPlanung und Organisation von ethischen Fortbildun-gen, durch regelhafte Kommunikation mit dem Di-rektorium und dem Kuratorium aktiv präsent sein. Esmuss andererseits aber auch in Kommunikationspro-zesse eingebunden sein: zum Beispiel in Morbiditäts-und Mortalitätskonferenzen, in das Beschwerdema-nagement, in Patienten- und Mitarbeiterbefragungen,in die Erstellung des Qualitätsberichts sowie in dieKommunikation mit den einzelnen Stationen, mitdem Qualitätsmanagement und mit Leitungsgremien.

Es bedarf wahrscheinlich nicht nur eines dauerhaftenEngagements aller Seiten, sondern auch einer syste-matischen Regelkommunikation, damit die gewünsch-te Einbindung nicht dem Zufall überlassen bleibt. Inden zwölf Ethikkomitees in den Einrichtungen derMalteser Trägergesellschaft arbeiten derzeit über 120Mitglieder. Die beschriebene kommunikative Einbin-dung in die Einrichtung stellt sich als eine bleibendeEntwicklungsaufgabe dar.

Ein wesentlicher Teil der Arbeit eines Ethikkomiteesbesteht in der Diskussion und Erstellung von Ethi-schen Leitlinien oder – auf Trägerebene – von Ethi-schen Grundpositionen. In solchen Positionspapierengibt sich eine Einrichtung oder ein Träger bezüglichbestimmter wiederkehrender ethisch relevanter Frage-stellungen Antworten, die in Einzelentscheidungeneine Orientierung bieten und in der Außendarstel-lung ein Profil erkennen lassen. Wichtig für dieErarbeitung solcher Grundpositionen ist, dass sie ei-nerseits den Stand moraltheologischer und ethischerArgumentation abbilden, andererseits aber in der Ein-richtung mit möglichst vielen betroffenen Personenund Abteilungen diskutiert sind. Auch derartigeGrundpositionen unterliegen einem im Qualitätsma-nagement üblichen regelmäßigen Revisionsverfahren.

Ein wichtiges Thema für eine organisierte Ethik be-steht darin, wie in der Einrichtung mit Vorausverfü-

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gungen (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht,Betreuungsverfügung, Organspendeausweis) umgegan-gen wird. Das beginnt mit einer Regelung, wer zuwelchem Zeitpunkt Patienten oder Bewohner befragt,ob sie Vorausverfügungen verfasst haben, und wie dieErgebnisse dieser Abfrage dokumentiert werden. Essetzt sich fort in dem Angebot an Information, Bera-tung und Unterstützung, das eine Einrichtung inte-ressierten Patienten, Bewohnern und Angehörigen beider Erstellung einer Vorausverfügung bietet. Und esbetrifft schließlich den Umgang mit vorgelegten Ver-fügungen, zum Beispiel die Bedeutung und die Sorg-falt, die in kritischen Situationen einer vorliegendenPatientenverfügung gegeben werden, aber auch dieSensibilität, mit der eine potenzielle Organspendesi-tuation wahrgenommen und kommuniziert wird. Beidiesem Thema besitzen die Malteser mit ihrer Bro-schüre zur Patientenverfügung, die im Jahr 2007 allei-ne 50.000 mal aus dem Internet heruntergeladen wor-den ist, mit der Benennung von Beauftragten zurBeratung von Patientenverfügungen und einer (teil-weise erst geplanten) routinemäßigen Abfrage bei derAufnahme von Patienten und Bewohnern gute struk-turelle und prozessuale Voraussetzungen.

Ein wichtiges Instrument, um die Entwicklung derEthik in der Organisation zu beobachten und zumessen, stellt ein jährlicher Ethik-Bericht dar, der injeder Einrichtung zu verschiedenen Themenfeldernmöglichst viele Beteiligte um Auskunft bittet: Ge-messen werden dabei Quantitäten (zum Beispiel Zahlder beantragten und durchgeführten Fallbesprechun-gen, der Teilnehmer an Ethischen Fortbildungen, derdurchgeführten Beratungen zur Patientenverfügung)und erlebte Qualitäten (zum Beispiel Zufriedenheitder Ethik-Komiteemitglieder mit der Akzeptanz imKrankenhaus, Zufriedenheit einzelner Mitarbeiter imKrankenhaus mit dem Ethikkomitee). Durch ein sol-ches Instrument wird es – zumindest bedingt – mög-lich, die Entwicklung der Ethik zwischen den Einrich-tungen und im Vergleich zu den Vorjahren zu messenund darzustellen. In der Malteser Trägergesellschaftwurden im letzten Jahresbericht neun Themenfelderbefragt und die Antworten von 280 Personen gesam-melt.

3.4 Hindernisse und WiderständeDie Implementierung einer „organisierten Ethik“muss mit verschiedenen Widerständen rechnen. Ethi-sche Reflexion wird nicht immer als Unterstützungerlebt, sondern in manchen Fällen auch als Belastung.

Ethik bedeutet in der Routine der Organisation häu-fig Unterbrechung, Entschleunigung, Innehalten undNachdenken – und wird vom Standpunkt der Prag-matik aus eher als Störung erlebt. Der ethische Dis-kurs reagiert damit nicht nur auf Störungen im Ge-triebe, er wirkt selbst als eine „konstruktive Störung“.Würde Ethik diese Funktion verlieren, würde sie sichganz in den Dienst der Pragmatik stellen, dann würdesie sich schließlich überflüssig machen. Es geht beidieser Betrachtung nicht darum, Ethik ausschließlichals restriktive Kraft und Bremse zu beschreiben, son-dern deutlich zu machen, woher ein gewisses pragma-tisches Misstrauen gegenüber einer organisiertenEthik begründet ist. Die Unterbrechung geschiehtfreilich nicht um ihrer selbst willen, sondern mit derAbsicht, durch die Reflexion des eigenen Standpunk-tes und anderer Positionen eine erweiterte Sichtweiseund eine begründete Handlungsweise zu erlangen; siezielt auf Weitsichtigkeit und Nachhaltigkeit und dientdamit letztlich der Handlungsfähigkeit.

Ethik kann aber auch als Einmischung erlebt werden,vor allem, wenn sie sich ungefragt und kritisch zurbestehenden oder geplanten Praxis äußert. In der kli-nischen Ethikberatung teilen sich hier die Meinun-gen: Soll sich das Ethikkomitee nur äußern, wenn esum Beratung gebeten ist, oder soll es selbst initiativwerden und bestehende Verhältnisse ungefragt kom-mentieren können? Soll eine Ethische Fallbespre-chung auch dann stattfinden, wenn der Entschei-dungsträger, in der Regel der behandelnde Arzt, umBeratung bittet, oder auch, wenn andere, nicht-ärztli-che Mitglieder im therapeutischen Team die Bespre-chung einfordern – unter Umständen gegen denWillen des Arztes? Hier muss die Organisation sichentscheiden, welche Ethik und wie viel Ethik sie sichund ihren Mitarbeitern zumuten möchte. Wenn esum Einmischung geht, geht es immer auch um Kom-petenzen und um Macht. Es tut der Ethik sichernicht gut, wenn sie als Machtmittel, als Instrument,als Waffe gegen andere oder für eigene Interessen ver-wendet wird. Es hilft ihr aber auch nicht, wenn sie,wo es passt, wohlwollend geduldet wird, und, wo sienicht passt, belächelt oder ignoriert wird. In den Mal-teser Einrichtungen ist ein Mittelweg gewählt: Dieordnungsgemäße Einberufung einer Ethischen Fall-besprechung ist auch dann verbindlich, wenn der be-handelnde Arzt sie für nutzlos hält; er ist zur Teilnah-me verpflichtet. Das Ergebnis einer Ethischen Fall-besprechung aber ist eine Empfehlung, die den Ent-scheidungsträger nicht bindet, wenn er an ihrerRichtigkeit zweifelt.

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Manche Ethiker und manche Ethikkomitees klagendarüber, dass Ethik eine Etikette ist, die in der Phaseder Zertifizierung oder zu Marketingzwecken gepflegtwird, aber ansonsten im Alltag ungefragt und bedeu-tungslos ist. Insofern leiden manche Ethikkomiteesan einer Isolation, empfinden sich auf einem Neben-oder Abstellgleis, vermissen die Möglichkeit, im Un-ternehmen Steuerungsfunktionen zu übernehmen.Dabei ist zu beachten, dass Ethik nicht nur das Opferdieser Isolation ist, sondern auch dafür mit verant-wortlich sein kann: So wie es ein gewisses Misstrauender Organisation gegenüber der Ethik geben mag,lässt sich auch ein Misstrauen der Ethik gegenüberder Organisation finden: Die Entscheidung der Mal-teser Trägergesellschaft, Ethik über das Instrumentdes Qualitätsmanagements einzuführen, hat nicht je-des Ethiker-Herz höher schlagen lassen. Die Werk-zeuge des Qualitätsmanagements (Verfahrensanwei-sungen, Geschäftsordnungen, Formulare, Protokolle,Berichte, Kennzahlen) rufen auch eine bürokratischeSkepsis hervor und eine Angst, Ethik könne für an-dere Zwecke instrumentalisiert werden. Neben dieserSkepsis und dieser Angst gibt es aber auch eine orga-nisatorische Naivität der Ethik, die das Potenzial ei-ner Einbindung in ein Managementsystem verkenntund nicht sieht, dass sie die Sprache der Organisationlernen muss, wenn sie in der Organisation an Bedeu-tung gewinnen will.

4. Die Notwendigkeit einer vieldimensionalen EthikAuf dem Weg vom Ethik-Projekt zur ethischen Orga-nisation ist die Malteser Trägergesellschaft in den ver-gangenen neun Jahren viele Schritte gegangen undhat wichtige Erfahrungen sammeln können. Aus heu-tiger Sicht lassen sich perspektivisch einige Schlüssefür weitere Schritte hin zu einer „ethischen Organi-sation“ ableiten:

(1) Bisher war Ethik im Gesundheitswesen hauptsäch-lich auf medizin-ethische Probleme – und in denKöpfen vieler Kliniker auf Probleme am Lebensendebeschränkt. Wenn aber Ethik die gesamte Organisa-tion durchdringen soll, müssen auch andere Dimen-sionen, zum Beispiel betriebswirtschaftliche Entschei-dungen, Fragen der Leistungsentwicklung, der Füh-rungsethik und eines fairen Umgangs zwischen Vorge-setzten und Mitarbeitern diskutiert werden. Das be-deutet nicht, dass sich das Ethikkomitee mit all die-sen genannten Feldern befassen muss; es spricht sogar

einiges dafür, dass es sinnvoll ist, wenn sich dasEthikkomitees thematisch auf den Umgang mitBewohnern, Patienten und Angehörigen beschränkt.Dennoch ist es wichtig zu realisieren, dass es keinen„ethikfreien Raum“ in der Organisation gibt. Dasbedeutet, dass sich das ethische Profil einer Organi-sation nicht auf die Existenz eines Ethikkomiteesbeschränken darf. Alle Gremien und Personen einerOrganisation sind gefragt, sich in ihrem Verhaltenund ihren Entscheidungen an ethischen Kriterien zuorientieren, in den ethischen Diskurs zu gehen, sichan ethischen Fortbildungen zu beteiligen und dasEthikkomitee in Entscheidungsprozesse einzubezie-hen.

(2) Die Einberufung von Ethischen Fallbesprechungsollte selbstverständlicher werden; sie sollte zwar wei-terhin durch die subjektive moralische Intuition voneinzelnen, an der Behandlung Beteiligten ausgelöstwerden; denkbar ist aber auch, dass andere, objektiveKriterien (zum Beispiel das Vorliegen von bestimmtenmedizinischen Indikationen) routinemäßig einenÜberlegensprozess auslösen, ob eine Ethische Fall-besprechung sinnvoll ist. Dazu ist es notwendig, die-ses Instrument nicht nur auf Probleme am Lebens-ende zu beschränken. Es ist eine Engführung, Ethi-sche Fallbesprechung auf die Fragestellung „Fortset-zung oder Abbruch der laufenden Therapie“ einzu-grenzen. Es geht um Standort-Bestimmung und Be-nennung der Therapieziele, um gemeinsames Findeneiner Lösung, die am besten dem (mutmaßlichen)Willen des Patienten und der Behandlungssituationentspricht.

(3) Der hohe Respekt vor dem Willen des Patientenoder der Bewohner kann darin zum Ausdruck kom-men, dass flächendeckend und regelhaft bei der Auf-nahme oder bei der Anamnese nachgefragt wird, obirgendwelche für die Behandlung relevanten Voraus-verfügungen existieren. Bei Bedarf wird eine Infor-mation und Beratung angeboten. Im Anwendungsfallwerden Vorausverfügungen sorgfältig geprüft und indie Entscheidung mit einbezogen.

(4) Die Fokussierung der Ethik im Gesundheitswesenauf den Bereich Krankenhaus sollte zukünftig ausge-weitet werden auf andere Sparten: auf die stationärenEinrichtungen in der Alten- und Behindertenhilfe,auf psychiatrische Versorgungsangebote, auf ambulan-te Pflege- und Hauswirtschaftsdienste, auf ambulante

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Hospiz- und Palliativdienst, auf Familienpflege undauf Niedergelassene. Für die genannten Felder solltenje spezifische Formen der ethischen Beratung entwik-kelt werden.

Auch wenn der Titel dieses Beitrags „Vom Ethik-Projekt zur ethischen Organisation“ nahelegt, dass eseinen Zeitpunkt geben könnte, zu dem das Ethik-Projekt abgeschlossen und in die Regelorganisationüberführt ist, wird man damit rechnen müssen, dassdie Weiterentwicklung der Ethik in der Organisationeine bleibende Aufgabe sein wird. Insofern bleibtEthik ein auf Dauer gestelltes Projekt.

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72 | Workshops

Bericht aus dem Workshop 1: Klinisches Ethikkomitee (KEK)

Moderation:Dr. Barbara Schulte, Theresia ThumMalteser Krankenhaus St. Hildegardis, Köln

Was uns begeistert:„Wir können etwas in Bewegung setzen!“

Was uns nervt: „Gelebte Ethik oder nur Feigenblatt?“

Teilnehmer: ca. 50 Personen

Als Stärke der Arbeit im KEK, als das, was begeistert,wurde benannt:

dass wir etwas in Bewegung setzen können,dass interdisziplinäre Zusammenarbeit geschieht,dass kontinuierlich ethische Fortbildung organisiert wird,dass durch Ethische Leitlinien Orientierungshilfenfür die Praxis gegeben werden,dass das Wohl der Patienten im Mittelpunkt steht.

Als Schwäche, als das, was nervt, wurde genannt:dass nicht deutlich ist, ob das KEK eine gelebte Ethik ist oder ein Feigenblatt der Einrichtung,

dass eine Weisungsbefugnis fehlt,dass Fragen der Personalethik nicht thematisiert werden,dass Ergebnisse zu wenig relevant für die tägliche Praxis sind.

Folgende Verbesserungsvorschläge wurden geäußert:Festlegung eines Zeitbudgets für die Mitarbeit im KEK,mehr Feedback zur Arbeit des KEK aus der Einrichtung, Qualitätssicherung durch regelmäßige Schulung der Mitglieder,eine verbesserte Außendarstellung des KEK,die Erstellung eines Curriculums zur ethischen Weiterbildung der Mitarbeiter,die Benennung eines Beauftragten für ethische Fortbildungen im KEK,die Beteiligung von KEK-Mitgliedern in Fallbesprechungen (in Form von Moderatoren).

Abschluss-Statement der Moderatoren:Jede benannte Schwäche ist im Grunde schon eineChance zur Verbesserung. Und die Lebendigkeit unddie Ergebnisse des Workshops zeigen: Wenn wir dieErgebnisse des Workshops beherzigen, dann ist dasKEK ein Stück gelebte Ethik und nicht nurFeigenblatt.

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Bericht aus dem Workshop 2: Umgang mit Vorausverfügungen

Moderation:Dieter Birr, Dr. Ulrich GerigkMalteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg

Was uns begeistert: „Es ist gut, den Patientenwillen vorab zu kennen!“

Was uns nervt:„Patientenverfügung vorhanden? Woher soll ich denn das wissen?“

Der Workshop „Umgang mit Vorausverfügungen“begann mit einer kurzen Einführung von Dr. Gerigk,in der er verschiedene Aspekte der öffentlichen Dis-kussion zum Thema Patientenverfügungen vorstellte.Die anschließende Diskussion über die im Alltagerlebten Stärken und Schwächen im Umgang mitPatientenverfügungen entwickelte sich sehr lebendig.

Auffallend war, dass sich die Aufzählung der Stärkenund Schwächen durch die Workshopteilnehmer sehrausgewogen gestaltete. Als wichtig wurde zum Beispielempfunden, dass der mutmaßliche Patientenwille be-kannt ist, die Kommunikation gefördert wird, eineEntscheidungshilfe existiert und eine Vorabauseinan-dersetzung mit diesem Thema stattfindet. Die aufge-zeigten Schwächen beinhalteten Argumente wie zumBeispiel die Rechtsunsicherheit, die häufig fehlendeAktualität, das fehlende Wissen über die konkrete

Situation und die Reduzierung der Kommunikationdurch einen vorgegebenen Automatismus.

In der Diskussion über Verbesserungsvorschlägewurde eindeutig eine generelle Abfrage von Voraus-verfügungen (Patientenverfügung, Transplantations-ausweis) gefordert. Mehrheitlich wurde eine Abfrageüber die Aufnahmemitarbeiter favorisiert. Allerdingswar es aus Zeitknappheit leider nicht möglich, diesesThema intensiver zu beleuchten.

Ein weiteres Problem, welches geregelt werden sollte,beinhaltet den fehlenden Zugang zu Vorsorgevoll-machten. Hierzu sollten zum Beispiel die elektivenPatienten beim ersten Kontakt bereits darüber infor-miert werden, dass sie bitte zur stationären Aufnah-me eine Kopie der Vorsorgevollmachten mitbringen.

Als Stärke wurde benannt: dass die Auseinandersetzung mit den Frage-stellungen auf dem zur Willensbildung und - bekundung hilft,dass durch eine Patientenverfügung oft die Kom-munikation über diese Fragestellungen gefördert wird,dass eine Patientenverfügung Selbstbestimmung ermöglicht und selbst für nicht ausdrücklich gere-gelte Sachverhalte ein mutmaßlicher Patientenwilleerkennbar wird (Orientierungshilfe),und dass dadurch Patienten, Angehörige, Ärzte und Therapeuten entlastet werden.

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Als Schwäche wurde genannt:dass eine präzise Patientenverfügung aufgrund des fehlenden Detail- beziehungsweise Fachwissens beim Ausfüller nicht möglich ist,dass die Gültigkeit einer Patientenverfügung, die zu „gesunden Zeiten“ erstellt wurde, nicht ein-deutig ist,dass zurzeit noch rechtliche Unsicherheit zu Verbindlichkeit und Anwendung von Patienten-verfügungen besteht

und dass damit eine Patientenverfügung nur eine „Scheinsicherheit“ suggeriert.

Folgende Verbesserungsvorschläge wurden geäußert:Es sollte eine generelle Abfrage zum Vorhanden-sein einer Patientenverfügung bei der pflegerischen Aufnahme erfolgen.

Bericht aus dem Workshop 3: Ethische Fallbesprechung in der stationären Altenhilfe

Moderation:Lieselotte Bischoff,Malteserstift Mutter Teresa, CottbusDoreen Mohr, Malteserstift St. Mechthild, LeipzigProf. Dr. Winfried Stange, Psychoconsult, Berlin

Was uns begeistert:„Klare Strukturen. Es gibt keine Verlierer.“

Was uns nervt:„Noch haben nicht alle Mitarbeiter die Wichtigkeitdes Intstrumentes erkannt.“

Eingangsstatement der Moderatoren:In der stationären Altenhilfe gibt es eine große Füllevon Prozessen und Situationen, in denen ethischeFragestellungen relevant werden: medizinethischeProbleme (zum Beispiel Fixierung, Sedierung vonBewohnern, Nahrungsverweigerung, Krankenhaus-verlegung im Finalstadium, Therapiezieländerung amLebensende) als auch pflege- und sozialethischeProbleme (zum Beispiel Umgang mit Demenz, Gewaltin der Pflege, Umgang mit sexuellen Bedürfnissen,Diskrepanz zwischen Angehörigen-/Betreuerwillenund mutmaßlichem Bewohnerwillen, Sterbebeglei-tung, Umgang mit Verstorbenen).

In den Altenhilfeeinrichtungen der Malteser gibt eseinzelne Ansätze, solchen Fragestellungen reflektiertzu begegnen, zum Beispiel Pflegevisite, moderierte

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Mitarbeiter-Angehörigen-Treffen, Ärzte-Stammtisch,Gespräche im therapeutischen Team, Biografiebogen,Überleitungsbogen ins Krankenhaus, aber es gab bis-her kein systematisches Instrument zur Analyse undGestaltung von ethisch bedenkenswerten Einzelsitua-tionen oder wiederkehrenden Standardsituationen.

In der Malteser Betriebsträgergesellschaft Sachsenwurde daher im Jahr 2006 ein Pilotprojekt durchge-führt mit dem Ziel, ein solches Instrument für dieAltenhilfe zu entwickeln. In allen Einrichtungen derMalteser Betriebsträgergesellschaft Sachsen habeninzwischen Ethische Fallbesprechungen nach den indiesem Projekt erarbeiteten Vorgaben stattgefunden,und wir möchten Ihnen deshalb von unseren prakti-schen Erfahrungen berichten und Sie einladen, dasInstrument der Ethischen Fallbesprechung in derAltenhilfe kennen zu lernen und Stärken und Schwä-chen zu diskutieren.

Als Schwäche wurde genannt:dass der Begriff „Ethische Fallbesprechung“ für die Altenhilfe nicht ganz so passend ist,dass es schwierig wird, das Instrument in Zusammenarbeit mit „problematischen“ Angehörigen einzusetzen.

Folgende Verbesserungsvorschläge wurden geäußert:Es sollte besser der Begriff „Beratung“ verwendet werden.Es sollte in den Bogen eine Schmerzbewertung aufgenommen werden.Die Maßnahmen sollten im Nachgang evaluiert werden.

Bericht aus dem Workshop 4: Ethische Fallbesprechung im Krankenhaus

Moderation:Dr. Angelika Huber, Martin Mommsen von GeisauMalteser Krankenhaus St. Franziskus-Hospital,Flensburg

Was uns begeistert: „Ich bin nicht allein bei schwierigenEntscheidungen!“

Was uns nervt: „Soweit ist der Patient noch gar nicht!“

Kommunikations- und Handlungsbedarf besteht:Ethische Fallbesprechungen (EF) werden von Leitungen geblockt und verhindert.Es gibt unterschiedliche/gegensätzliche Einschätzungen/Praktiken von Angehörigenbeteiligungen in der EF.Es muss geklärt werden, dass die EF ein Instru-ment der professionell am Patienten Tätigen ist.Die Erhebung des mutmaßlichen Patientenwillens muss differenzierter erfolgen.

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Stärken der Ethischen Fallbesprechung:Befähigung zur interdisziplinären Reflexion über den therapeutischen Prozess und das Ziel.EF sollen regelmäßig, aber nicht indikations-spezifisch stattfinden.EF stärkt die Entscheidung des Arztes und fördert hohe Beteiligungsmotivation nichtärzt-licher Mitarbeiter bei komplexen Patientenbegleitungen.Besonders hilfreich: Ethische Konsile in der Altenhilfe.

Bericht aus dem Workshop 5: Messbarkeit der Ethik

Moderation:P. Victor Gisbertz, Karin GollanMTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH, Bonn

Was uns begeistert:„Endlich wird Ethik greifbar!“

Was uns nervt:„Wen interessiert der Ethikbericht überhaupt?“

Eingangsstatement der Moderatoren:

1. Das Phänomen der Zweisprachigkeit im Krankenhaus

Krankenhäuser sind in ihrer Kommunikation zuneh-mend zahlenlastig. Digitalisierte und miniaturisierte

Forderungen:Verpflichtende Fortbildung für Ärzte und Pflegekräfte an Einrichtungen der MTG!Mit drei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen sprach sich die große Gruppe der Workshop-teilnehmer für diese Forderung aus.

Verfahren finden auf fast allen Feldern des Gesund-heitswesens Anwendung. Dabei lässt sich Wirklichkeitin ihrer Faktizität zwar präzise quantifizieren und inZahlen abbilden, ihr Gehalt aber verlangt nach Spra-che zum Beispiel in Geschichten und in Poesie. Eslohnt sich also, den Sachverhalt der prinzipiellenZweisprachigkeit insbesondere kirchlicher Kranken-häuser genauer in den Blick zu nehmen und Möglich-keiten und Grenzen der modernen Bilingualität zuthematisieren.

2. Messbarkeit und KommunikationDie Überzeugung von der Mathematik als der besse-ren Phänomenologie ist alt. Von Platon über Leo-nardo da Vinci bis Kant steht sie im Ruf, dass mansich erst über Zahlen und geometrische Formen einrichtiges Bild von der Welt machen kann. Tatsächlichsind inzwischen nahezu alle Lebensbereiche mathe-matisiert. Identifikation, Kommunikation und Orga-nisation der Wirklichkeit geschieht über Zahlen.

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Auch zwischen den sich immer weiter ausdifferenzie-renden Teilsystemen des Gesundheitssystems fungie-ren vor allem Zahlen als strukturelle Koppelung zwi-schen den unterschiedlichen Professionen. Anhandder ICF-Codierung (International Classification ofFunction) werden Körperfunktonen und Körper-strukturen eines Patienten (als B- und S-Ziffern),seine Partizipationsfähigkeit (als D-Ziffer), die positi-ven und negativen Umweltfaktoren (E-Ziffern) undpersonenbezogene Faktoren (X-Ziffern) abgebildetund im Blick auf für den Patienten besonders rele-vante Fragestellungen eigens zusammengestellt.

3. Messbarkeit und DefinitionDie Reduzierung auf Maß und Zahl wird demIndividuum sicher nicht gerecht, allerdings kann eshelfen, Übertreibungen zu relativieren. Wo gemessenwird, werden Grenzen gezogen. Das ist dort beson-ders wichtig, wo Omnipotenzerwartungen an dieMedizin seitens der Patienten herangetragen werdenoder von Seiten mancher Mediziner gepflegt werden.Der Glaube an die Machbarkeit von Gesundheit isteine Irrlehre unserer Zeit, wie auch die Fiktion, derGanzheitlichkeit des Menschen professionell gerechtwerden zu können. Hier kann Messbarkeit einenBeitrag leisten zur Beförderung der Tugend Zuchtund Maß.

4. Messbarkeit und DeskriptionWas sich dem Messbaren entzieht und zur Mensch-lichkeit unbedingt dazugehört sind die Beziehungen,in denen wir leben. Sie eröffnen einen interpersona-len Raum, in dem Begegnung möglich wird. DieserRaum lässt sich nur umschreiben zum Beispiel durchGeschichten und Poesie, er lässt sich aber nicht fest-schreiben und viel weniger beweisen. Er bleibt vondaher immer anfechtbar, weich und unscharf. Ethikgehört in den intersubjektiven Diskurs von Gut undBöse. Von daher gehört sie eher zu den in ihremGehalt unbeschreibbaren, weichen Fakten, derenExistenz und Praktikabilität sich aber quantifizierenund umschreiben lässt. Nicht nur dort werden Gren-zen gezogen, wo gemessen wird, auch dem Messenselbst sind Grenzen gezogen. In diesem doppelt um-grenzten Bereich bewegen wir uns mit dem Ethik-bericht.

Bericht aus dem WorkshopAn das Eingangsstatement und die exemplarischeVorstellung des Ethikberichts 2006 schloss sich eineDiskussion an über den Sinn von Maßen und Kenn-

zahlen in der Ethik und die Veröffentlichung derDaten zum Beispiel im Qualitätsbericht der Kran-kenhäuser. Hier gibt es eine Fülle von gesetzlich vor-gegebenen Zahlenangaben, die für alle Krankenhäu-ser verpflichtend sind. Es stellte sich die Frage, inwie-weit nicht verpflichtende Daten, wie sie im Ethik-bericht gesammelt und interpretiert werden, demBericht ein besonderes Profil verleihen können.

Am Ende des Workshops machten wir eineBefragung zu Stärken, Schwächen undVerbesserungen für den Ethikbericht. Die Stichwortedieser Kartenabfrage lauteten:

Als Stärke des Ethikberichts, als das, was begeistert,wurde benannt:

Existenz des Ethikberichts,Profil wird geschärft,gute Wirksamkeit nach Außen,Man sieht die To-Dos,anregend und konstruktiv für die ambulante Arbeit.

Als Schwäche, als das, was nervt, wurde genannt:aufwändige Datenerhebung, Vielzahl von Berichten,Informationsdefizit,das christliche Profil ist zu schwach dargestellt,die Befragung ist nicht ausgewogen genug.

Folgende Verbesserungsvorschläge wurden geäußert:

Vereinfachung der Befragung,Zugriff auf Routinedatensammlung im ganzen Jahr,Suche nach Schnittstellen,mehr christliche Items,mehr Ärzte beteiligen,Ärzte in Fortbildungen befragen,Ethik auch für Mitarbeiter.

Abschlussstatement der Moderatoren:Dass unsere Erfahrungen mit dem Ethikbericht nocham Anfang stehen, ist ablesbar an der Vielzahl derVerbesserungsvorschläge. Nicht nur die Einbindungdes Ethikberichts in den Qualitätsbericht, auch dieForm der Datenerhebung lässt sich noch besser in die Alltagsroutine integrieren.

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Bericht aus dem Workshop 6: Lehrbarkeit der Ethik

Moderation:Gabriele Kösters, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-SiegIris Wrede, MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH, Köln

Was uns begeistert: „Dass es ein so hochwertiges Angebot im BereichEthik und Seelsorge gibt.“

Was uns nervt:„Dass keine Zeit für Fortbildungen ist.“

Bericht aus dem WorkshopIn diesem Workshop arbeiteten circa 40 Teilneh-merinnen und Teilnehmer aktiv mit und diskutiertendas Seminarangebot des Institutes für angewandteEthik und Seelsorge im Hinblick auf mögliche Ver-besserungspotenziale.

Die Teilnehmer bescheinigten dem Angebot einereichhaltige inhaltliche Ausgestaltung. Sie betontendie positive Bedeutung der Veranstaltungen im Hin-blick auf die Sensibilisierung für ethische Grundfra-gen im Krankenhausalltag und für die Altenhilfe.Kompetente Ansprechpartner für das Thema Ethikstünden zur Verfügung. Insbesondere dieMöglichkeit, Veranstaltungen auch vor Ort stattfin-den zu lassen, wurde positiv bewertet.

Verbesserungspotenziale benannten die Teilnehmervor allem im Hinblick auf die Bedeutung der Ethikim Arbeitsalltag vor Ort. Hohe Arbeitsbelastung undnicht vorhandene Zeitreserven führen dazu, dassviele Mitarbeiter nur schwer für die Teilnahme andiesen Seminaren zu motivieren sind.

Formuliert wurden auch konkrete Vorschläge zurVerbesserung des Angebotes:

Verfahrensanweisungen zur weiteren Implementierung in den Alltag entwickeln,Seminarformate mit geringerer Stundenzahl bereitstellen,Seminare auch für externe Teilnehmer offen halten,aktive Nutzung der Malteser-Ethik-Netzwerke zur Seminarentwicklung, guten Mix aus zentralen und dezentralen (vor Ort) Veranstaltungsterminen anbieten,Einbau von Seminareinheiten, die beinhalten, wie das Gelernte in den Einrichtungen weiter- getragen werden soll,unterschiedliche Zielgruppen für die verschie-denen Angebote klarer definieren.

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Autoren

Professor Dr. Theol. Dipl.Psych. Heribert W. Gärtner

Vortrag:Ethik und Organisation –eine spannende Partnerschaft

Seit 1994 Professor für Management und Organisationspsychologie am Fachbereich Gesundheitswesen der Kath. Fachhochschule NWVorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung, Köln

Dipl. Theol., Lic. Theol.Wolfgang Heinemann

Vortrag:Vom Ethikprojekt zur ethischen Organisation

Studium der Theologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn und Tübingen,Abschluss Dipl. theol. und Lic. theol., examinier-ter Lehrer für kirchliche Berufsschulen1988 bis 1995: Referent für Berufsethik im Gesundheitswesen im Erzbistum Köln1995 bis 1998: Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Ansprechstelle für Palliativmedizin, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung (ALPHA) im Land Nordrhein Westfalenab 1998: Leiter der Abteilung Sozialdienst/ Psychosoziale Beratung im Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg, Vorsitzender des Klinischen Ethikkomitees und Leiter des Geschäftsbereichs Ethik in der Malteser Trägergesellschaft

Veröffentlichungen (zum Teil zusammen mitMitautoren)

Nicolaus Cusanus, De pace fidei. Das Konzept eines intellektuellen Friedens der Religionen, Münster 1987Handreichungen für Multiplikatoren. Materialien für die Vorbereitung haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiter/innen in der Sterbe- und Trauerbegleitung, Bonn 1995Qualifikation hauptamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Sterbebegleitung. Curriculare Entwürfe, Düsseldorf 1997Ethische Fallbesprechung. Eine interdisziplinäre Form klinischer Ethikberatung. Köln 2005Klinisches Ethikkomitee. Ein Beratungsinstrumentfür werteorientierte Unternehmen im Gesundheitswesen. Köln 2007Curriculum zur Qualifikation für Mitglieder von Ethikkomitees in kirchlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens, Koblenz 2007

PD Dr. Ulrike Kostka

Vortrag:Die Bedeutung der Ethik für konfessionelleUnternehmen im Gesundheitswesen

Leiterin der Abteilung „Theologische und verbandliche Grundlagen“, Deutscher Caritasverband, Freiburg

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Dr. phil. Arnd T. MayMedizinethiker

Vortrag:Ethikberatung im Gesundheitswesen

Studium der Philosophie, Betriebswirtschaftslehre und Völkerrecht in Göttingen und Bochum Promotion über Patientenverfügungen Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum der RWTH Aachen Lehrbeauftragter des Instituts für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum freier Mitarbeiter am Zentrum für Medizinische Ethik Bochum, Ruhr-Universität Bochum Stv. Vorsitzender und Geschäftsführer des Instituts für Ethik in der Praxis e.V. Berufserfahrung als Rettungssanitäter im Rettungsdienst

Fachspezifische Aktivitäten: Forschungsprojekt „Patientenverfügungen in der präklinischen Notfallmedizin“, Universitäts-klinikum Aachen (Leitung: Dr. Arnd T. May), gefördert durch das START Programm der Medi-zinischen Fakultät der RWTH Aachen (2007-2009) Verbundprojekt des Teilprojekts „selbstbestimmt leben – menschlich sterben – füreinander ent-scheiden“, Sterbebegleitung in der stationären Altenhilfe (Standort Ostwestfalen-Lippe) und des Teilprojekts „selbstbestimmt leben – menschlich sterben – füreinander entscheiden in der offenen und ambulanten Altenhilfe“ (Standort Langen-feld), wissenschaftliche Begleitung: Dr. Arnd T. May, gefördert durch die Stiftung Wohlfahrts-pflege des Landes Nordrhein-Westfalen (2006-2009)

Mitglied der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Selbstbestimmung am Lebensende“ des Bundes-ministeriums der Justiz (2003-2004) Forschungsprojekt „Klinische Ethik-Komitees“, Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen Kulturwissenschaftliches Institut Essen (Leitung: PD Dr. Matthias Kettner), gefördert durch die DFG (2001-2003) Forschungsprojekt „Patiententestament und Patientenanwalt. Advanced Directives and DurablePower of Attorney“, Ruhr-Universität Bochum (Leitung: Prof. Dr. Hans-Martin Sass), gefördert durch die Volkswagen Stiftung (1994-1997) Forschungsaufenthalt beim Center für Mittel-europastudien: „Ethik und Wissenschaftstheorie der Medizin“, Interdisziplinäres Zentrum für Ethik der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 2000 Forschungsprojekt „Ethische Analyse der Problematik und des möglichen Unterschiedes von „Tun“ und „Unterlassen“ beim klinischen Entscheidungskonflikt“, Ruhr-Universität Bochum(Leitung: Prof. Dr. Hans-Martin Sass), gefördert durch die DFG (1998-2004) Schriftleiter der Reihe „Ethik in der Praxis“, Herausgeber H.-M. Sass, LIT Verlag Münster Betreiber der Homepage www.medizinethik.de und www.ethikkomitee.de

Arbeitsschwerpunkte: Selbstbestimmung am Lebensende, Entscheidungenfür nichteinwilligungsfähige Patienten, Betreuungs-recht, Tun und Unterlassen, Intensivmedizin,Rettungsdienst, Transplantationsmedizin, Organ-spende, Hospizbewegung, Ethikberatung,Organisationsberatung, Implementierung vonKlinischen Ethikomitees

Mitgliedschaften: Akademie Ethik in der Medizin, Deutsches RotesKreuz, Ethikforum der Diakonie in Südwestfalen,European Society for Philosophy of Medicine andHealth Care, Malteser Hilfsdienst,VormundschaftsGerichtsTag

Gesprächspartner in TV und Radio, circa 200Vorträge (www.medizinethik.de/veranstaltungen.htm)

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Autoren | 81

Professor Dr. Stella Reiter-TheilInstitut für AngewandteEthik und MedizinethikUniversität BaselMissionsstraße 21ACH-4055 Baselwww.unibas.ch/[email protected]

Vortrag:Die Bedeutung der Ethik für ärztliche Entschei-dungen und medizinische Behandlungsprozesse

Vorsteherin des „Instituts für Angewandte Ethik und Medizinethik“ (IAEME) an der Medizini-schen Fakultät der Universität Basel, Schweiz,lehrt Medizinethik im Medizincurriculum Basel, baute das innovative transfakultäre Querschnittsprogramm „Angewandte Ethik“ auf.

Postgraduiertenstudium/Advanced Studiesseit 2000 Mitglied im Steering Committee des „European Master in Bioethics“, einem gemeinsamen Curriculum der Universitäten Nijmegen/Netherlande, Leuven/Belgien, Padua/Italien und Basel/Schweiz. Leitung des Fernlehrgangs „Berater/in für Ethik im Gesundheitswesen“ (gemeinsam mit Klinikum Nürnberg und Akademie für Ethik in der Medizin).

Klinische Ethik/KonsultationPionierrolle in Europa im Aufbau der Klinischen Ethik: Fort- und Weiterbildung, individuelle Beratung und Begleitung von Institutionen der Patientenversorgung, Kooperationsprojekte Engagement für einen interdisziplinären Ansatz und die Verbindung von empirischen und theore-tischen Methoden der ethischen Untersuchung von Medizin und Gesundheitswesen Leitung Drittmittel-geförderte Projekte, zum Beispiel zur Fundierung und Entwicklung von klinisch-ethischen Leitlinien für schwierige Entscheidungen am Krankenbett (Therapie-begrenzung), zu ethischen Konflikten bei Schwangerschaftsabbruch nach PränataldiagnostikStudie zur Vermittlung von ethischer Kompetenz im MedizinstudiumVeranstaltungsreihe zu Problemen der Neuroethik

Weitere FunktionenMitglied im Scientific Committee für den 9. Weltkongress der International Association of Bioethics: „The Challenge of Cross Cultural Bioethics in the 21st Century“, September 3-8, 2008, Rijeka, Croatia. in Verbindung mit diesem Großereignis als Co-Chair Ausrichtung der „4th International Conference: Clinical Ethics and Consultation“

Wissenswertes Doppelstudium Philosophie und Psychologie; Weiterbildung in Psychotherapie; interdisziplinäre Promotion; Habilitation und Venia Legendi in Medizinethik; Heinz-Meier-Leibnitz-Preis für Praktische

Philosophie Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG);

Mitglied des Senats der Schweizerischen Akademieder Medizinischen Wissenschaften (SAMW); Visiting Professor an den Universitäten Nijmegen/Niederlande, Leuven/Belgien und Padua/Italien imRahmen des Erasmus Mundus Programms European Bioethics; Mitglied und Vorsitzende der Ad-hoc-KommissionEthik-Charta der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS); Mitglied des Steering Committee of CIOMS (Council of International Organizations of Medical Science), World Health Organization (WHO), Geneva, Switzerland; Mitglied in nationalen und lokalen Forschungsethikkommissionen; Mitglied im Ethik-Beirat, Bundesministerium für Gesundheit, Berlin; Gutachterin für namhafte Institutionen der For-schungsförderung und internationale Zeitschriften

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Prof. Dr. Giovanni Maio Direktor des Instituts fürEthik und Geschichte derMedizinStefan-Meier-Straße 2679104 [email protected]

Vortrag:Ethik als identitätsstiftende und richtungsweisendeKraft im Gesundheitswesen

Studium der Medizin, Philosophie und Geschichte inFreiburg, Strassburg und Hagen;

1990 bis 1995 Klinische Tätigkeit auf der Inneren Abteilung des Akademischen Lehrkrankenhauses Donaueschingen1995 bis 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin und des Krankenhauswesens an der RWTH Aachen 1997 bis 2001 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck, dort 2000 Habilitation für das Fach „Ethik und Geschichte der Medizin“

2001 bis 2004 Leiter des Arbeitsbereichs Forschung am Zentrum für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Freiburg2002 Berufung in die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung durch die Bundesregierung 2004 und 2005 Ablehnung von C4-Rufen nach Bochum, Aachen und Zürichseit Februar 2005 Universitätsprofessor für Bioethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Leiter der Initiative zur Gründung eines interfakultär ausgerichteten Ethik-Zentrums der gesamten Universitätseit Dezember 2005 Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburgseit April 2006 Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin

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Autoren | 83

seit 2004 Dozent bei der Caritas-Trägergesellschaft Saarbrücken (cts) im Führungstraining „Management & Theologie“ (Interprofessionelles Qualifizierungsprogramm für Führungspersonen in Kirche, Caritas und Diakonie) seit 2007 Dozent an der Edith-Stein-Akademie, Waldbreitbach, zu Religion und Organisation in konfessionellen Einrichtungen

Veröffentlichungen (Auswahl) Das Verhältnis von Theorie und Praxis als wissen-schaftstheoretische Grundfrage Praktischer Theologie,Freiburg 1999

Mut zur gültigen Praxis. Plädoyer für das eigentlichSelbstverständliche, in: J. Müller/N. Schuster (Hg.),Die Sorge um die Gemeinden. Beiträge zu einerSeelsorge in der Welt von heute, Waldkirch 1990, 55-59.

Soll ich wollen, was ich muß? Verweyen meets(needs?) Apel, in: G. Larcher/K. Müller/ Th. Pröpper(Hg.), Hoffnung, die Gründe nennt. Zu HansjürgenVerweyens Projekt einer erstphilosophischenGlaubensverantwortung, Regensburg 1996, 91-98.

Verbinden was getrennt ist. Überlegungen zurPastoral von morgen, in: Pastoralblatt für dieDiözesen Aachen, Berlin, Essen, Hamburg,Hildesheim, Köln, Osnabrück, Köln 6/2003, 163-168.

Die Gretchenfrage. Zur Frage der Christlichkeit inkirchlichen Einrichtungen, in: KKVD (Hg.),Krankendienst. Zeitschrift für katholischeKrankenhäuser, Sozialstationen undRehaeinrichtungen, Freiburg 11/76 (2003), 357-362.

Dr. Martin Wichmann

Vortrag:Henne oder Ei? – Die Bedeutung der Ethik für konfessionelleUnternehmen (im Gesundheitswesen)

1983 bis 1990Studium der Kath. Theologie an der Universität Freiburg, Studienschwerpunkt Fundamental-theologieseit 1990Pastorale Arbeit in der Erzdiözese Freiburg1992 bis 1995Ausbildung zum Pastoralreferenten in der Erzdiözese Freiburg seit 1995 Pastoralreferent in den kath. Pfarrgemeinden, Lahr seit 1997 zahlreiche Vorträge, Seminare, Studientage und Werkwochen zu Pastoral- und Gemeinde-entwicklung, zu Gemeindeleitung und Pfarr-gemeinderat, kirchl. Kindergärten, Homilethik, Wertewandel und Kirchlichkeitskriterien 1999 Promotion zum Dr. theol. im Fachbereich Fundamentaltheologie seit 2001 diverse Lehraufträge an der Universität Mannheimund den kath. Fachhochschulen Freiburg und Mainz seit 2003 Dozent bei der Stiftung Bildung des Kath. Krankenhausverbands Deutschland e.V. (KKVD) Wissenschaftliche Begleitung des Projekts „Theologie der Citypastoral“ der Pastoral-kommission der Deutschen Bischofskonferenz

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MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH

Kalker Hauptstraße 22-2451103 KölnTelefon: 0221 9822-500Telefax: 0221 [email protected]

Diese Broschüren finden Sie unter www.malteser-traegergesellschaft.deals pdf-Dateien im Bereich „Download“.

Klinisches EthikkomiteeEin Beratungsinstrument fürwerteorientierte Unternehmenim Gesundheitswesen

Ethik-Report 2006/2007MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH

Jahresprogramm 2008 Fortbildungen angewandte Ethik und Seelsorge MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH

Malteser Patientenverfügungmit Vorsorgevollmacht undBetreuungsverfügung

Ethische FallbesprechungEine interdisziplinäre Formklinischer Ethikberatung

Übersicht Malteser Ethikbroschüren