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S28 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 1 · 2001 Weichteildefekte, die keinen Primär- oder Sekundärverschluss erlauben, kön- nen durch eine Gewebetransplantation gedeckt oder – alternativ – mit tangen- tialen Hautzugverfahren behandelt wer- den. Dabei kann durch intermittieren- den Zug auf die Wundränder eine suk- zessive Verkleinerung der Defektfläche erreicht werden. In vielen Fällen lässt sich somit eine Gewebetransplantation vermeiden bzw. in ihrem Ausmaß ver- ringern. Gleichzeitig können trotz An- wendung eines Nahtverfahrens die Vor- teile einer offenen Wundbehandlung mit großflächiger Drainage genutzt werden. Verschiedene technische Umset- zungen der tangentialen Hautzugver- fahren sind beschrieben. Sie unterschei- den sich insbesondere durch die mecha- nische Kopplung zwischen Wundrand und Zugeinrichtung voneinander. Bei- spielhaft für ein Hautdistraktionsver- fahren sollen im nachfolgenden die Er- gebnisse der dynamischen Hautnaht be- schrieben werden. Physiologische Grundlagen Wird auf ein umschriebenes Hautareal ein tangentialer Zug ausgeübt, korreliert die erreichte Dehnungsamplitude nicht linear mit der ausgeübten Kraft, viel- mehr ist die Dehnbarkeit in ihrem Aus- maß limitiert. Bei Aufrechterhaltung der Dehnung über einen längeren Zeitraum kommt es jedoch zu einer Kraftabnah- me, die zur Erhaltung der Dehnungsam- plitude erforderlich ist. Dieser Effekt wird als Stressrelaxation bezeichnet. Bei konstant gehaltener Kraft resultiert so- mit eine Zunahme der Dehnungsampli- tude, also eine Flächenvermehrung, wo- durch die primäre Defektfläche verklei- nert wird. Diese auf einem viskoelasti- schen Konstruktionsprinzip beruhen- den Dehnungseigenschaften der Haut werden im Wesentlichen durch die geo- metrische Anordnung und Deformie- rung des dermalen kollagenen Faserap- parats bestimmt. Da kollagene Fasern selbst über keine nennenswerte Dehn- barkeit verfügen, wird die Extendier- barkeit des Gewebes überwiegend durch die Entspiralisierung der Fasern sowie durch das Exprimieren von Flüssigkeit erreicht. Die mechanische Dehnung be- wirkt zudem eine Zunahme der epider- malen Proliferationsrate (Abb. 1, 2). Technik der Hautdistraktion Zwischenzeitlich werden sterile dyna- mische Hautnahtsets vertrieben. Diese Nahtsets beinhalten armiertes, nicht re- sorbierbares, monofiles Polyamidnaht- material sowie 2 48 cm lange Silikonstä- be. Alternativ hierzu kann auch her- kömmliches Nahtmaterial verwendet werden. So werden zur Anlage einer dy- namischen Hautnaht ein nicht resor- bierbarer Faden der Stärke 1–0 und eine Redon-Drainage von 14–16 F benötigt. Basis für die operative Umsetzung des Verfahrens ist die Schaffung einer lang- Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 1]: S28–S31 © Springer-Verlag 2001 Wundbehandlungstechniken Hermann J. Böhm · Wolfgang Jung BG-Unfallklinik Duisburg-Buchholz Hautverschlussmaßnahmen Dr. H. J. Böhm BG-Unfallklinik Duisburg-Buchholz, Großenbaumer Allee 250, 47249 Duisburg (Tel.: 0203-76881, Fax: 0203-76882275) Zusammenfassung Weichteildefekte, die keinen Primär- oder Sekundärverschluss erlauben, erfordern dif- ferenzierte Therapiekonzepte. In vielen Fäl- len bieten tangentiale Hautzugverfahren ne- ben Gewebetransplantationen alternative Behandlungsmöglichkeiten. Durch intermit- tierenden Zug auf die Wundränder kann eine sukzessive Verkleinerung der Defektfläche erreicht werden. Hierbei werden die Prinzipi- en der Naht mit den Vorteilen der offenen Wundbehandlung kombiniert. Mit dieser Methode gelingt in > 70% der Fälle ein voll- ständiger Wundverschluss der sekundär hei- lenden Weichteildefekte über eine Kombina- tion aus Dehnung und Wachstum der Haut. Tangentiale Hautzugverfahren bestechen durch eine große Indikationsbreite und Prak- tikabilität, geringen Kostenaufwand und gute kosmetische Ergebnisse. Schlüsselwörter Weichteildefekte · Tangentiale Hautzugver- fahren · Wundverschluss · Sekundärer Wund- verschluss

Hautverschlussmaßnahmen

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Page 1: Hautverschlussmaßnahmen

S28 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 1 · 2001

Weichteildefekte, die keinen Primär-oder Sekundärverschluss erlauben, kön-nen durch eine Gewebetransplantationgedeckt oder – alternativ – mit tangen-tialen Hautzugverfahren behandelt wer-den. Dabei kann durch intermittieren-den Zug auf die Wundränder eine suk-zessive Verkleinerung der Defektflächeerreicht werden. In vielen Fällen lässtsich somit eine Gewebetransplantationvermeiden bzw. in ihrem Ausmaß ver-ringern. Gleichzeitig können trotz An-wendung eines Nahtverfahrens die Vor-teile einer offenen Wundbehandlung mitgroßflächiger Drainage genutzt werden.

Verschiedene technische Umset-zungen der tangentialen Hautzugver-fahren sind beschrieben. Sie unterschei-den sich insbesondere durch die mecha-nische Kopplung zwischen Wundrandund Zugeinrichtung voneinander. Bei-spielhaft für ein Hautdistraktionsver-fahren sollen im nachfolgenden die Er-gebnisse der dynamischen Hautnaht be-schrieben werden.

Physiologische Grundlagen

Wird auf ein umschriebenes Hautarealein tangentialer Zug ausgeübt, korreliertdie erreichte Dehnungsamplitude nichtlinear mit der ausgeübten Kraft, viel-mehr ist die Dehnbarkeit in ihrem Aus-maß limitiert. Bei Aufrechterhaltung derDehnung über einen längeren Zeitraumkommt es jedoch zu einer Kraftabnah-me, die zur Erhaltung der Dehnungsam-plitude erforderlich ist. Dieser Effektwird als Stressrelaxation bezeichnet. Beikonstant gehaltener Kraft resultiert so-

mit eine Zunahme der Dehnungsampli-tude, also eine Flächenvermehrung, wo-durch die primäre Defektfläche verklei-nert wird. Diese auf einem viskoelasti-schen Konstruktionsprinzip beruhen-den Dehnungseigenschaften der Hautwerden im Wesentlichen durch die geo-metrische Anordnung und Deformie-rung des dermalen kollagenen Faserap-parats bestimmt. Da kollagene Fasernselbst über keine nennenswerte Dehn-barkeit verfügen, wird die Extendier-barkeit des Gewebes überwiegend durchdie Entspiralisierung der Fasern sowiedurch das Exprimieren von Flüssigkeiterreicht. Die mechanische Dehnung be-wirkt zudem eine Zunahme der epider-malen Proliferationsrate (Abb. 1, 2).

Technik der Hautdistraktion

Zwischenzeitlich werden sterile dyna-mische Hautnahtsets vertrieben. DieseNahtsets beinhalten armiertes, nicht re-sorbierbares, monofiles Polyamidnaht-material sowie 2 48 cm lange Silikonstä-be. Alternativ hierzu kann auch her-kömmliches Nahtmaterial verwendetwerden. So werden zur Anlage einer dy-namischen Hautnaht ein nicht resor-bierbarer Faden der Stärke 1–0 und eineRedon-Drainage von 14–16 F benötigt.Basis für die operative Umsetzung desVerfahrens ist die Schaffung einer lang-

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 1]: S28–S31 © Springer-Verlag 2001 Wundbehandlungstechniken

Hermann J. Böhm · Wolfgang JungBG-Unfallklinik Duisburg-Buchholz

Hautverschlussmaßnahmen

Dr. H. J. BöhmBG-Unfallklinik Duisburg-Buchholz,Großenbaumer Allee 250, 47249 Duisburg(Tel.: 0203-76881, Fax: 0203-76882275)

Zusammenfassung

Weichteildefekte, die keinen Primär- oderSekundärverschluss erlauben, erfordern dif-ferenzierte Therapiekonzepte. In vielen Fäl-len bieten tangentiale Hautzugverfahren ne-ben Gewebetransplantationen alternativeBehandlungsmöglichkeiten. Durch intermit-tierenden Zug auf die Wundränder kann einesukzessive Verkleinerung der Defektflächeerreicht werden. Hierbei werden die Prinzipi-en der Naht mit den Vorteilen der offenenWundbehandlung kombiniert. Mit dieserMethode gelingt in > 70% der Fälle ein voll-ständiger Wundverschluss der sekundär hei-lenden Weichteildefekte über eine Kombina-tion aus Dehnung und Wachstum der Haut.Tangentiale Hautzugverfahren bestechendurch eine große Indikationsbreite und Prak-tikabilität, geringen Kostenaufwand undgute kosmetische Ergebnisse.

Schlüsselwörter

Weichteildefekte · Tangentiale Hautzugver-fahren · Wundverschluss · Sekundärer Wund-verschluss

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fristig tragfähigen mechanischen Kopp-lung zwischen Haut und Zugeinrich-tung, die durch Auflage von parallel zuden Wundrändern ausgerichteten Re-don-Schläuchen bzw. Silikonschläuchenerreicht wird. Darüber verlaufen mono-file Nylonfäden in der Technik der Do-nati-Rückstichnaht, die einen sukzessi-ven Wundverschluss ermöglichen. ZurSicherung der Wundnaht und späterenErneuerung der Spannung dienen 3 pa-rallele Einhandknoten (Abb. 3,4).Durchdie intermittierende Nachspannung derFäden gelingen die Annäherung derWunde und ggf. der Wundverschluss.

H. J. Böhm · W. Jung

Methods of skin closure

Abstract

Soft tissue defects that are not suitable forprimary or secondary wound closure de-mand individually tailored treatment strate-gies. In addition to tissue transplants, manypatients benefit from skin traction tech-niques.The application of intermittent trac-tion on the skin at the edges of the woundresults in a steady decrease in the size of thedefect.This combines the advantages ofopen wound treatment and the principles ofskin suturing.With this method completewound closure is achieved in over 70% of allcases of secondary wound healing, by way ofa combination of skin stretching and growthof the skin. Skin traction techniques are at-tractive in that they are indicated in a widevariety of circumstances and are not difficultin practice, they are inexpensive, and theygive good cosmetic outcomes.

Keywords

Soft tissue defects · Skin traction · Woundclosure · Secondary wound closure

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 1]: S28–S31 © Springer-Verlag 2001

Abb. 1 � Hautbiopsie vor Dis-traktionsbeginn, Vergr. 100:1

Abb. 2 � Hautbiopsie nach 1-wöchigem Zug, Vergr. 100:1.

Braune Färbung der Kerne de-monstriert Faserumbau subepi-dermal. Immunhistochemie mit

Antikörper gegen Tenescin

Abb. 3 � Knotentechnik – nachspannbarerKnoten für die dynamische Hautnaht

Abb. 4 � Hautdistraktion – dieparallel zum Wundrand ausge-richteten Silikonstäbe werden

in der Rückstichnahttechniknach Donati fixiert und 3 paral-

lele Einhandknoten vorgelegt

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Ergebnisse

In der Zeit von September 1997 bis De-zember 1998 wurden in der BG-Unfall-klinik Duisburg bei 260 Patienten insge-samt 293 dynamische Hautnähte ange-legt. Unter den 260 Patienten waren 63Frauen und 197 Männer. Das durch-schnittliche Alter betrug 38,3 Jahre miteinem Minimum von 4 und einem Ma-ximum von 76 Jahren. Indikationen wa-

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Wundbehandlungstechniken

Abb. 5 � Prozentuale Defekt-verkleinerung, bezogen auf dieprimäre Größe des Weichteil-defekts

Abb. 6 � Eröffnung der oberflächlichen und tiefen dorsalen Loge über posteromediale Inzision

Abb. 7 � Eröffnung des vorderen und lateralen Kompartments über anterolaterale Inzision

Abb. 8 a, b � Anlage einer dynamischen Hautnaht (medial)

Abb. 9 a, b � Verschluss der entstandenen Fasziotomiedefekte (lokal)

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b b

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ren Fasziotomien, Exzisionsdefekte so-wie Amputationen. Die primäre Wund-fläche betrug dabei durchschnittlich 14 cm ¥ 5 cm mit einem Minimum von 3 cm ¥ 2 cm und einem Maximum von40 cm ¥ 10 cm. Die dynamische Haut-naht wurde durchschnittlich alle 2–3 Ta-ge nachgespannt.

Unter dieser Behandlung konntenbei 77,1% der Fälle ein vollständigerWundverschluss, bei 14,7% der Fälle ei-ne Verkleinerung der primären Wund-fälle von 75% und bei 8,2% der Patien-ten nur eine Defektverkleinerung umdie Hälfte erreicht werden (Abb. 5).

Bis zum vollständigen Wundver-schluss musste die dynamische Haut-naht durchschnittlich 4-mal nachge-spannt werden. Der Zeitraum bis zurkompletten Wundrandadaption betrugim Durchschnitt 13 Tage.

Bemerkenswert ist, dass Weichteil-defekte nach Fasziotomien mit tangen-tialen Hautzugverfahren in über 90%der Fälle vollständig verschlossen wer-den konnten.

Kasuistik

Der 51-jährige Patient wurde notfall-mäßig mit Kompartmentsyndrom amlinken Unterschenkel stationär aufge-nommen. Das vordere und lateraleKompartment wurden über eine antero-laterale Inzision, die oberflächliche undtiefe dorsale Loge über eine posterome-diale Inzision eröffnet (Abb. 6, 7). NachAnlage einer dynamischen Hautnaht(Abb. 8) konnten die entstandenen Fas-ziotomiedefekte vollständig verschlos-

sen werden (Abb. 9). Im Rahmen einerNachuntersuchung 6 Monate nach demDefektverschluss zeigten sich stabileNarben und ein gutes funktionelles Er-gebnis.

Diskussion

Distraktionsverfahren der Haut habenideale Indikationen bei Inzisionsde-fekten, wie sie beispielsweise nach Spal-tung eines Kompartmentsyndroms ent-stehen. Darüber hinaus stellen sie eineErweiterung des Therapiespektrums beiExzisionsdefekten dar.Allerdings erfor-dern sie eine aufwendige Nachsorge mittäglichen Verbandswechseln und Kon-trollen der Fadenspannung. Mit zuneh-mender Erfahrung in der Anwendungtangentialer Hautzugverfahren unterBeibehaltung ausreichender Drainagekönnen begrenzte Exzisionsdefekte pro-blemlos mit diesem Verfahren behandeltwerden.Auch wenn die bekannten Tech-niken der Gewebetransplantation un-verändert zu den Standardverfahren inder Behandlung von sekundär heilen-den Weichteildefekten gehören, stellenentstandene Wundflächen nach Faszio-tomie oder der Verschluss von prophy-laktisch offen gelassenen Inzisionen ei-ne ideale Indikation für das oben ge-schilderte Verfahren dar. Insbesondereunter dem Gesichtspunkt der Funk-tionalität und der Kosmetik bieten dieDistraktionsverfahren besonders imVergleich zur Spalthautdeckung der De-fekte deutliche Vorteile.

Es bleibt somit abschließend fest-zuhalten, dass es sich unter Berücksich-

tigung des Indikationsspektrums beiHautdistraktionsverfahren um eineleicht anwendbare und erlernbare, alter-native Methode zu den herkömmlichenTechniken des Verschlusses sekundärheilender Weichteildefekte handelt, diezu einem funktionell und kosmetischgünstigen Ergebnis führt.

Weiterführende Literatur1. Bashir AH (1978) Wound closure by skin trac-

tion: an application of tissue expansion. Br JPlast Surg 40:582

2. Böhm HJ, Hierholzer G, Strich R (1994) Dy-namische Hautnaht zum Verschluß des Inzi-sionsdefektes nach Kompartementspaltung.Aktuelle Traumatol 24:141

3. Brown IA (1973) A scanning electron micro-scope study of the effect of uniaxial tension onhuman skin. Br J Dermatol 89:279

4. Frankhauser G,Vereb L, Maurer W (1995)Sekundärverschluß von Hautdefekten unterAnwendung von Gummizügen. Chirurg 66:1154

5. Gibson TR, Kennedi M (1967) Biomechanicalproperties of skin. Clin North Am 47:279

6. Hirshowitz B, Lindenbaum E, Har-Shai Y (1993)A skin-stretching device for the harnessing ofthe viscoelastic properties of skin. Plast Recon-str Surg 92:260

7. Inglis R,Windolf J, Pannike A (1993) CORSET,Erfahrungen mit einer neuen Methode zumtransplantatsparenden Gewebeersatz beigroßen Weichteildefekten. Unfallchirurgie19:16

8. Riedl S,Werner J, Göhring U, Meeder PJ (1994)Die vorgelegte Intracutannaht – eine Methodezur Behandlung von Weichteildefekten beimakuten Compartmentsyndrom. Chirurg 65:1052