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DZPhil, Akademie Verlag, 58 (2010) 4, 543–560 Heidegger – ein Vertreter der Philosophischen Anthropologie? Über seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik Von MATTHIAS WUNSCH (Wuppertal) Die Titelfrage meines Aufsatzes wird vermutlich Befremden auslösen. Lehnt Heidegger die Philosophische Anthropologie nicht grundsätzlich ab? Und zieht sich diese ablehnende Hal- tung nicht durch sein gesamtes Werk? Das jedenfalls ist eine verbreitete Auffassung in der Literatur zu Heidegger. 1 Auch von der Philosophischen Anthropologie her betrachtet, erscheint die Titelfrage seltsam. Geht man von einem eher vagen Anthropologiebegriff aus, wie er mit der kantischen Frage „Was ist der Mensch?“ gegeben ist, so mag zwar ein Brückenschlag von anthropologischen Topoi zu einigen Überlegungen Heideggers möglich sein. Doch vor dem Hintergrund einer strikteren Konzeption Philosophischer Anthropologie, in der diese als ein spezifischer Denkansatz gilt, der Ende der 1920er Jahre von Max Scheler und Helmuth Pless- ner ausgearbeitet wurde, erscheint Heidegger als der wichtigste Gegenspieler des Ansatzes. 2 Die Frage, ob Heidegger selbst ein Vertreter der Philosophischen Anthropologie im Sinne des genannten Denkansatzes ist, ist also sowohl aus Sicht der Heideggerforschung als auch aus Sicht der Forschung zur Philosophischen Anthropologie irritierend. Genau diese Frage ist es aber, die hier im Mittelpunkt stehen wird. Sie hat wegen der Entschiedenheit und Grundsätzlichkeit, mit der Heidegger und die frühen Vertreter der Philo- sophischen Anthropologie einander kritisieren, eine gewisse Brisanz. Heidegger spricht sich schon in Sein und Zeit (1927) in aller Deutlichkeit gegen die Disziplin der philosophischen Anthropologie aus. Nach der Veröffentlichung der frühen Hauptwerke des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie – also von Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) und Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) – vertieft Heideg- ger seine Anthropologiekritik dann noch einmal in seinem Kantbuch Kant und das Problem der Metaphysik (1929). Plessner umgekehrt erklärt im Vorwort der Stufen des Organischen, 1 Einen guten aktuellen Überblick zu Texten der Heideggerforschung, die sich überhaupt der The- matik „Heidegger und die philosophische Anthropologie“ annehmen, gibt: E. V. Muñoz Pérez, Der Mensch im Zentrum, aber nicht als Mensch. Zur Konzeption des Menschen in der ontologischen Perspektive Martin Heideggers, Würzburg 2008, 18–20. 2 Siehe etwa G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001; außerdem: H.-P. Krüger, Die Lee- re zwischen Sein und Sinn: Helmuth Plessners Heidegger-Kritik in ‚Macht und menschliche Natur‘ (1931), in: W. Bialas u. B. Stenzel (Hg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Weimar 1996, 177–196.

Heidegger ein Vertreter der Philosophischen Anthropologie? Über seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik

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DZPhil, Akademie Verlag, 58 (2010) 4, 543–560

Heidegger – ein Vertreter der Philosophischen Anthropologie?

Über seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik

Von Matthias Wunsch (Wuppertal)

Die Titelfrage meines Aufsatzes wird vermutlich Befremden auslösen. Lehnt Heidegger die Philosophische Anthropologie nicht grundsätzlich ab? Und zieht sich diese ablehnende Hal-tung nicht durch sein gesamtes Werk? Das jedenfalls ist eine verbreitete Auffassung in der Literatur zu Heidegger.1 Auch von der Philosophischen Anthropologie her betrachtet, erscheint die Titelfrage seltsam. Geht man von einem eher vagen Anthropologiebegriff aus, wie er mit der kantischen Frage „Was ist der Mensch?“ gegeben ist, so mag zwar ein Brückenschlag von anthropologischen Topoi zu einigen Überlegungen Heideggers möglich sein. Doch vor dem Hintergrund einer strikteren Konzeption Philosophischer Anthropologie, in der diese als ein spezifischer Denkansatz gilt, der Ende der 1920er Jahre von Max Scheler und Helmuth Pless-ner ausgearbeitet wurde, erscheint Heidegger als der wichtigste Gegenspieler des Ansatzes.2 Die Frage, ob Heidegger selbst ein Vertreter der Philosophischen Anthropologie im Sinne des genannten Denkansatzes ist, ist also sowohl aus Sicht der Heideggerforschung als auch aus Sicht der Forschung zur Philosophischen Anthropologie irritierend. Genau diese Frage ist es aber, die hier im Mittelpunkt stehen wird. Sie hat wegen der Entschiedenheit und Grundsätzlichkeit, mit der Heidegger und die frühen Vertreter der Philo-sophischen Anthropologie einander kritisieren, eine gewisse Brisanz. Heidegger spricht sich schon in Sein und Zeit (1927) in aller Deutlichkeit gegen die Disziplin der philosophischen Anthropologie aus. Nach der Veröffentlichung der frühen Hauptwerke des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie – also von Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) und Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) – vertieft Heideg-ger seine Anthropologiekritik dann noch einmal in seinem Kantbuch Kant und das Problem der Metaphysik (1929). Plessner umgekehrt erklärt im Vorwort der Stufen des Organischen,

1 Einen guten aktuellen Überblick zu Texten der Heideggerforschung, die sich überhaupt der The-matik „Heidegger und die philosophische Anthropologie“ annehmen, gibt: E. V. Muñoz Pérez, Der Mensch im Zentrum, aber nicht als Mensch. Zur Konzeption des Menschen in der ontologischen Perspektive Martin Heideggers, Würzburg 2008, 18–20.

2 Siehe etwa G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001; außerdem: H.-P. Krüger, Die Lee-re zwischen Sein und Sinn: Helmuth Plessners Heidegger-Kritik in ‚Macht und menschliche Natur‘ (1931), in: W. Bialas u. B. Stenzel (Hg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Weimar 1996, 177–196.

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Heidegger stehe noch im „Banne […] des Subjektivismus“3; und auch im Nachlass des 1928 verstorbenen Schelers wird Heideggers philosophischer Ansatz ebenso entschieden als ein bloß umgekehrter Cartesianismus kritisiert.4

Diese Konstellation birgt auch in der heutigen philosophischen Diskurslage (die unter anderem durch eine nach wie vor lebendige Heideggerforschung sowie eine Renaissance der Philosophischen Anthropologie geprägt wird) ein gewisses polemisches Potenzial. Ich versuche dessen Aktivierung zu Gunsten einer möglichst sachlichen Auseinandersetzung zu vermeiden.5 Die Umstände sind dafür insofern günstig, als seit 2008 mit Joachim Fischers Buch Philosophische Anthropologie eine zugleich materialreiche und übersichtliche Studie zum Denkansatz der Philosophischen Anthropologie vorliegt6, die es erleichtert, die Frage der Zugehörigkeit zur Philosophischen Anthropologie auf eine rational kontrollierbare Weise zu bearbeiten. In Bezug auf Heidegger ist meine Frage nicht, ob er insgesamt, sondern überhaupt in irgendeinem Text als Vertreter der Philosophischen Anthropologie argumentiert. Der beste Kandidat für einen solchen Text ist seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit aus dem Wintersemester 1929/30.7 Im Verlauf der Argumen-tation werde ich zeigen, dass Heideggers Denken in dieser Vorlesung in großer Nähe zur Phi-losophischen Anthropologie steht. Dieser Befund wirft zwei Fragen auf, mit denen ich mich trotz ihrer Wichtigkeit hier nicht mehr angemessen auseinandersetzen kann: (a) Worin besteht Heideggers Motiv dafür, sich in der Folge von Sein und Zeit der Philosophischen Anthropo-logie zuzuwenden? Wollte er den eigenen Denkansatz gegenüber einem erst nach der Ver-öffentlichung von Sein und Zeit aufgetretenen, dem Anspruch nach aber ebenso fundamen-talen konkurrierenden Ansatz ausweisen? Oder war er auf einen Mangel von Sein und Zeit aufmerksam geworden, den er durch eine Annäherung an den neuen Denkansatz zu beheben hoffte? (b) Wie ordnet sich Heideggers Position der Nähe zur Philosophischen Anthropologie

3 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 31975.4 „Was ich“, so Scheler, „ablehne, das ist Heideggers Daseinssolipsismus, von dem er ausgeht. Er ist

pure Umkehr des cartesianischen cogito ergo sum in ein sum ergo cogito.“ (M. Scheler, Späte Schrif-ten, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. M. S. Frings, Bern 1976, 260) Diese Kritik hat Scheler nicht davon abgehalten, Sein und Zeit wegen seiner Originalität nachdrücklich zu loben (vgl. ebd., 304).

5 Eine sachliche, von Einseitigkeiten freie Auseinandersetzung mit der Konstellation „Plessner – Hei-degger“ findet sich bei A. Hilt, Die Frage nach dem Menschen. Anthropologische Philosophie bei Helmuth Plessner und Martin Heidegger, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, hg. v. G. Fi-gal, Bd. 4, 2005, 275–320. Hilt geht es um den Vergleich und die Möglichkeit einer wechselseitigen Ergänzung der Positionen Heideggers und Plessners gegen Ende der 1920er Jahre (ebd., 276 f., 297). Im Unterschied dazu wird im Folgenden die Beziehung Heideggers zu dem, was den Denkan-satz der Philosophischen Anthropologie insgesamt ausmacht, im Mittelpunkt stehen, insbesondere die Frage, ob Heidegger selbst in der Linie dieses Denkansatzes argumentiert (zum Verhältnis zwi-schen Plessner und Heidegger siehe auch die ausgewogene Untersuchung von Th. Ebke, Plessners Doppelaspekt des Lebens und Heideggers Zwiefachheit der physis. Ein systematischer Vergleich, München 2008). Ohne die systematische Eigenständigkeit beider Ansätze zu nivellieren, demon-striert Ebke die „terminologische Strukturgleichheit“ zwischen Plessners Konzeption des Doppela-spekts des Lebendigen in den Stufen des Organischen einerseits und Heideggers seinsgeschichtlich verstandener „Zwiefachheit der phýsis“, wie sie in seinem Aufsatz Vom Wesen und Begriff der phý-sis. Zu Aristoteles, Physik B, 1 von 1939 herausgestellt wird, andererseits (ebd., 3 f., 69 f.).

6 J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg 2008.7 M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: ders., Ge-

samtausgabe, Bd. 29/30, hg. v. F.-W. v. Hermann. Frankfurt/M. 1983.

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in den Grundbegriffen der Metaphysik in sein Gesamtwerk ein? In welchem Verhältnis steht „das anthropologische Zwischenspiel“8 zu den anderen Phasen von Heideggers Denken? Wie gesagt, werde ich auf diese Fragen hier nicht eingehen können. Sie stehen auf einer Grundlage, die überhaupt erst einmal sichtbar gemacht werden muss. Der vorliegende Aufsatz soll dazu einen Beitrag liefern. Ich werde nun folgendermaßen vorgehen. Zuerst werde ich zeigen, dass die Frage, ob Heidegger als Vertreter der Philosophischen Anthropologie argu-mentiert, in Bezug auf seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik überhaupt ange-bracht und berechtigt ist. In einem zweiten Schritt werde ich einen Vorschlag dazu machen, wie diese Frage beantwortet werden kann. Dazu greife ich auf Überlegungen zur These eines „Identitätskerns“ der Philosophischen Anthropologie zurück, die Joachim Fischer in dem genannten Buch entwickelt hat. Mein Vorschlag wird lauten: Die Merkmale, die diesen „Identitätskern“ Fischer zufolge ausmachen, lassen sich heuristisch zur Prüfung der Frage verwenden, ob ein Autor, der prima facie nicht zur Philosophischen Anthropologie gehört, in einem Text als Vertreter der Philosophischen Anthropologie gelten kann. Da Fischers These vom Bestehen eines „Identitätskerns“ der Philosophischen Anthropologie gegenwärtig kri-tisch diskutiert wird, gilt es dann jedoch drittens im Rahmen eines Exkurses zu überdenken, ob sich aus diesen Diskussionen das Erfordernis der Modifikation oder gar der Preisgabe meines Vorschlags ergibt. Der vierte Schritt soll dann überprüfen, inwieweit Heideggers Grundbegriffe der Metaphysik die von Fischer genannten Merkmale des „Identitätskerns“ der Philosophischen Anthropologie erfüllen. Im Zuge dieser Überprüfung werde ich zwei kri-tische Punkte identifizieren, auf die ich dann in einem letzten Schritt noch einmal gesondert eingehen werde, um eine differenzierte Antwort auf die Ausgangsfrage geben zu können.

I. Die Themenstellung von Heideggers Die Grundbegriffe der Metaphysik in Hinblick auf die Anthropologie

Heidegger hat die Freiburger Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit im Wintersemester 1929/30 vier Stunden pro Woche gehalten. Sie besteht nach einer „Vorbetrachtung“, in der Heidegger seine Perspektive auf das Problem der Metaphysik entwickelt (1–87)9, aus zwei Teilen. Der erste dient der „Weckung einer Grundstimmung“ des Philosophierens, und zwar der tiefen Langeweile, aus der heraus das metaphysische Fragen in Gang gebracht werden soll (89–249). Er hat eine vorbereitende Funktion für den zweiten Teil, den Hauptteil der Vorlesung, der eine bestimmte metaphysische Frage ins Zentrum rückt, und zwar die Frage „Was ist Welt?“ (251–532). Die Vorlesung wurde erst 1983 veröffentlicht, sodass die meisten philosophischen Zeit-genossen Heideggers keine Kenntnis von ihr hatten. Rüdiger Safranski hat in seinem Heideg-gerbuch mit einigem Recht erklärt, die Vorlesung sei „wohl die bedeutendste, die Heidegger gehalten hat, und schon fast ein zweites Hauptwerk“ nach Sein und Zeit.10 Gleichwohl gibt es bis heute kaum eine eingängige Untersuchung zu dem Text, die nicht bloß die Stimmung der

8 M. Großheim, Heidegger und die Philosophische Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen). Von der Abwehr der anthropologischen Subsumtion zur Kulturkritik des Anthro-pozentrismus, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, 333–337, hier: 333.

9 Seitenzahlen in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf: M. Heidegger, Die Grundbe-griffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, a. a. O.

10 R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt/M. 1997, 229.

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Langeweile, sondern den systematischen Hauptteil der Vorlesung in den Mittelpunkt stellt.11 Beabsichtigt man nun zu untersuchen, ob Heidegger in dieser Vorlesung als Vertreter der Phi-losophischen Anthropologie argumentiert, dann sind zwei Punkte schon vorab zu beachten. Erstens: Das umfassende Problem, das Heidegger in der Vorlesung beschäftigt – das Problem der Metaphysik –, scheint von den Problemen der Philosophischen Anthropologie ganz ver-schieden zu sein. Und zweitens: Die in der Vorlesung im Mittelpunkt stehende Frage „Was ist Welt?“ mag zwar auch für die Philosophische Anthropologie von einiger Bedeutung sein, scheint aber nicht als eine ihrer Grundfragen gelten zu können. Umgekehrt würde man es sich aber meines Erachtens zu leicht machen, wenn man es bei einer derart pauschalen Konstatierung von Heideggers Anthropologieferne belässt. Ich möchte das direkt anhand der beiden genannten Punkte – dem Problem der Metaphysik und der Frage nach der Welt – verdeutlichen. Erstens wird Heidegger durch seine Überlegungen zum Problem der Metaphysik gerade dazu gebracht, die Frage nach dem Menschen zu stellen. Er versteht die Philosophie beziehungsweise die Metaphysik als ein „menschliches Tun“, als ein Tun, das näherhin dadurch gekennzeichnet ist, sich uns zu entziehen, sobald wir beginnen, über es nachzudenken. Vor diesem Hintergrund fragt Heidegger dann:

„wie und wohin soll sich die Metaphysik als Philosophieren, als unser eigenes, als mensch-liches Tun uns entziehen, wenn wir selbst doch die Menschen sind? Aber wissen wir denn, was wir selbst sind? Was ist der Mensch? Die Krone der Schöpfung oder ein Irrweg, ein großes Mißverständnis und ein Abgrund? Wenn wir so wenig vom Menschen wissen, wie soll uns da unser Wesen nicht fremd sein?“ (6)

Und weiter unten findet sich dann die erstaunliche Bemerkung:

„Die Metaphysik zog sich und zieht sich in das Dunkel des menschlichen Wesens zurück. Unsere Frage: Was ist Metaphysik?, hat sich gewandelt zur Frage: Was ist der Mensch?“ (10)

Ich möchte nicht behaupten, dass dieser Frage Heideggers, was der Mensch sei, ein pri-mär anthropologisches Interesse zu Grunde läge. Denn für ihn ist der Mensch hier in erster Linie deshalb interessant, weil und insofern „in diesem rätselhaften Wesen die Philosophie geschieht“ (10). Doch auch wenn der Frage keine primär anthropologische Erkenntnisabsicht zu Grunde liegt, bewegt sich Heidegger mit ihr auf philosophisch-anthropologischem Ter-rain. Das bedeutet aber, dass die Ausgangsfrage, ob er auch als Vertreter der Philosophischen Anthropologie argumentiert, nicht als völlig gegenstandslos zurückgewiesen werden kann. Damit zweitens zur Frage „Was ist Welt?“. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Weltbegriff auch für die Philosophische Anthropologie von zentraler Bedeutung ist. Im Rekurs auf ihn wird beispielsweise von Scheler die qualitative Differenz zwischen Menschen und Tieren bestimmt: Menschen zeichnen sich gegenüber den Tieren, die bloß umweltgebunden sind, durch ihre Weltoffenheit aus. Gleichwohl ist einzuräumen, dass die Frage „Was ist Welt?“ nicht als Grundfrage der Philosophischen Anthropologie gelten kann. Beobachtet man aller-dings, wie Heidegger diese Frage in den Grundbegriffen der Metaphysik behandelt, so stellt man fest, dass dies in einer Weise geschieht, die eine deutliche Affinität zur Philosophischen

11 Eine wichtige Ausnahme ist die Studie von A. Beelmann, Heideggers hermeneutischer Lebensbe-griff. Eine Analyse seiner Vorlesung „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Ein-samkeit“, Würzburg 1994. Eine weitere Monographie wird vermutlich noch 2010 mit der Veröffent-lichung der Wuppertaler Dissertation von Thomas Kessel hinzukommen: ders., Phänomenologie des Lebendigen. Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie.

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Anthropologie aufweist. Heidegger wählt in der Vorlesung nicht den in Sein und Zeit beschrit-tenen Weg einer „Interpretation der Art, wie wir uns zunächst und zumeist alltäglich in der Welt bewegen“, sondern den Weg „einer vergleichenden Betrachtung“ (262 f.; ohne dortige Hervorhebung; M. W.). Was auf diesem Weg verglichen wird, sind die verschiedenen Weisen, in denen etwas auf Welt bezogen sein kann. Dabei geht es nicht, wie noch in Sein und Zeit, nur um unseren, den menschlichen Weltbezug, sondern auch um den Weltbezug von anderem Seiendem, vor allem der Tiere. Den Ausgangspunkt der vergleichenden Betrachtung bilden die drei Thesen „Der Stein ist weltlos“, „Das Tier ist weltarm“ und „Der Mensch ist weltbil-dend“. Anscheinend bringt Heidegger seine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Welt auf diese Weise in den Kontext der Diskussion von Mensch-Tier-Vergleichen, also in einen anthropologischen Kontext. Die dargelegten Beobachtungen sollen und können nicht als Vorentscheidung der Aus-gangsfrage, ob Heidegger in den Grundbegriffen der Metaphysik eine Position der Philo-sophischen Anthropologie vertritt, gewertet werden. Was sie meines Erachtens zeigen, ist jedoch, dass diese Frage angebracht und berechtigt ist. Es ist also möglich, dass Heidegger, obwohl er sich selbst nicht als Vertreter der Philosophischen Anthropologie versteht, in dem fraglichen Text als solcher argumentiert.

II. Merkmale des „Identitätskerns“ der Philosophischen Anthropologie

Doch auf welchem Wege lässt sich die Frage nun entscheiden, ob Heidegger in den Grundbe-griffen als Vertreter der Philosophischen Anthropologie gelten kann? Der Vorschlag, den ich dazu machen möchte, greift auf Überlegungen der 2008 erschienenen umfangreichen Mono-graphie zur Philosophischen Anthropologie von Joachim Fischer zurück. – Fischer unterschei-det zwischen philosophischer Anthropologie mit kleinem „p“ und mit großem „P“.12 Unter Ersterer versteht er eine philosophische Disziplin; eine Disziplin, die von anderen solchen Disziplinen abzugrenzen ist, etwa von der Erkenntnistheorie, der Ethik, der politischen Phi-losophie und der Sprachphilosophie. Demgegenüber handelt es sich bei der Philosophischen Anthropologie mit großem „P“ um einen spezifischen Denkansatz des 20. Jahrhunderts, der von anderen solchen Ansätzen unterschieden werden kann, etwa von der Phänomenologie, dem Logischen Empirismus, der Existenzphilosophie und der Kritischen Theorie. Der Denk-ansatz „Philosophische Anthropologie“ wird durch einen bestimmten Textkorpus beziehungs-weise eine bestimmte Denkergruppe inauguriert. Fischer zählt zu dieser Gruppe vor allem Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen, aber auch Erich Rothacker und Adolf Portmann. In der Forschung ist es gang und gäbe, diesen Autoren (vor allem den drei erstge-nannten) Einzeluntersuchungen zu widmen oder, sofern auch ihre Beziehungen in den Blick genommen werden, vor allem die Differenzen herauszustellen. Demgegenüber lautet die in systematischer Hinsicht zentrale These Fischers, dass die Philosophische Anthropologie nicht

12 J. Fischer, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 483 ff. Fischer selbst macht diese Unterscheidung seit seinem Aufsatz: Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft, in: J. Friedrich u. B. Westermann (Hg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, Frankfurt/M. 1995, 249–280, hier: 250. Vergleichbare Unterscheidungen dieser Art finden sich bereits bei: H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/M. 1983, 265, 271 f. u. 277; sowie bei: O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropolo-gie‘ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphi-losophie, Frankfurt/M. 1973, 122–144 u. 213–248, insbesondere: 122–125, 135 f.

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nur nicht so heterogen ist, wie es häufig in der Forschung erscheint, sondern positiv sogar einen „Identitätskern“ besitzt, sodass man von einem einheitlichen philosophisch-anthropo-logischen Theorieprogramm sprechen sollte.13 Die Idee, von der ich mich im Folgenden leiten lasse, besteht darin, Fischers These von einem „Identitätskern“ der Philosophischen Anthropologie mit meiner Ausgangsfrage zu Heidegger zu verknüpfen.14 Dafür ist es sehr aufschlussreich, dass Fischer in seinem Buch eine Reihe von Merkmalen angibt, die diesen „Identitätskern“ charakterisieren sollen. Mein Vorschlag lautet, dass diese Merkmale eine heuristische Funktion erfüllen können: Je voll-ständiger und besser ein Text die Merkmale erfüllt, desto näher steht er der Philosophischen Anthropologie.15 Wenn also Heideggers Die Grundbegriffe der Metaphysik die Merkmale aufweist, die Fischer zufolge den „Identitätskern“ der Philosophischen Anthropologie ausma-chen, dann sollten wir zu sagen berechtigt sein, so die Idee, dass Heidegger in diesem Text als Vertreter der Philosophischen Anthropologie argumentiert. Inhaltlich sollen die (insgesamt sieben) Merkmale des „Identitätskerns“ die spezifische Kategorienbildung der Philosophischen Anthropologie beschreiben. Ich werde sie nun der Reihe nach darlegen.

(1) Die philosophische Überlegung beginnt nicht in der Dimension der Reflexion des eige-nen Beobachtens oder Denkens; sie setzt nicht, wie Fischer sich ausdrückt, am „Sub-jektpol“ an, „sondern konzentriert sich auf ‚etwas‘ gegenüber, auf das Objekt“.16

13 Ebd., 488, 505, 519 u. ö.14 Eine Grundschwierigkeit der bisherigen Literatur zu Heideggers Verhältnis zur Anthropologie

besteht darin, dass mit einem unterbestimmten Anthropologiebegriff gearbeitet wird und ins-besondere der Unterschied zwischen der Disziplin der philosophischen Anthropologie und dem Denkansatz der Philosophischen Anthropologie nicht gesehen wird. Auf diese Weise wird in der Forschung nicht genügend reflektiert (übrigens von Heidegger selbst aber genau beobachtet), dass sich die Situation der Anthropologie in dem Zeitraum vom Erscheinen von Sein und Zeit (1927) bis zum Erscheinen des Kantbuchs (1929) mit den Veröffentlichungen von Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos und Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch grundsätz-lich geändert hat. Diesen blinden Fleck weist selbst die gut fundierte aktuellste Monographie zu dieser Frage, Muñoz Pérez’ Der Mensch im Zentrum, aber nicht als Mensch (a. a. O.), auf. Der Autor arbeitet zwar sehr überzeugend heraus, dass das Thema ‚Mensch‘ in der Folge von Sein und Zeit bis 1929/30 für Heidegger immer wichtiger wird; als Widerpart Heideggers gilt ihm aber durchgehend, bis zu den Grundbegriffen der Metaphysik (vgl. ebd., 127 u. 116), die „traditionel-le philosophische Anthropologie“, also die durch die Frage nach dem Menschen charakterisierte philosophische Disziplin (13, Anm. 1). Entsprechend bleibt Muñoz Pérez’ „Exkurs zu Scheler und Plessner“ (49–56) für seine Interpretation des Verlaufs von Heideggers Auseinandersetzung mit der Anthropologie folgenlos.

15 Fischer selbst legt ein solches Vorgehen in einer Art Ausblick seines Buchs nahe: Vor dem Hinter-grund seiner kriterialen Identifizierung der Denkungsart „Philosophische Anthropologie“ lässt sich Fischer zufolge „die Zugehörigkeit von weiteren Autoren und Texten prüfen, auch von solchen Den-kern, die realgeschichtlich nicht an der Ausarbeitung des Denkansatzes zwischen 1920 und 1975 beteiligt waren“ (J. Fischer, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 598). Fischer nennt an dieser Stelle keine Namen und Titel. In einem anderen Zusammenhang geht er aber auch ganz kurz auf Die Grundbegriffe der Metaphysik ein, wo Heidegger, so Fischer, „beeindruckt durch das Sche-ler-Plessnersche Vorgehen […] einen naturphilosophischen Probelauf des Vergleichs von ‚Stein‘, ‚Tier‘ und ‚Mensch‘ unternimmt“ und „Scheler und Plessner nachahmt, ohne sich mit ihnen direkt auseinanderzusetzen“ (ebd., 106). Um die Kernpunkte dessen, was Fischer hier mit dem Ausdruck ‚Nachahmung‘ belegt, wird es im Folgenden gehen.

16 Ebd., 520.

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(2) Die am Objektpol ansetzende Reflexion setzt näherhin nicht auf der Höhe des Men-schen, sondern auf einer subhumanen Ebene, von unten her an. „Die Kategorienbildung fokussiert eine eigene Zone zwischen ‚Etwas‘ und ‚Jemand‘, nämlich das ‚lebendige Etwas‘.“17

(3) Das ‚lebendige Etwas‘ kommt dabei nicht isoliert in den Blick, sondern in der Korre-lation mit seiner Umgebung. In dieser Korrelativität, die weder bloß als Kausalverhält-nis zwischen materiellen Dingen noch als Intentionalitätsverhältnis des Geistes zum Gegebenen gedeutet wird, sind Lebendiges und Umgebung aufeinander hingeordnet, aneinander verwiesen, miteinander verklammert.18

(4) Es wird davon ausgegangen, dass die Korrelation zwischen Lebendigem und Umge-bung nicht bloß aus der Binnen- oder Subjektperspektive zugänglich ist, sondern in einem „seitlich versetzten Blick“ beziehungsweise von der „Position des Dritten“ aus.19

(5) Von diesem seitlichen Beobachtungspunkt aus werden von unten nach oben verschie-dene Korrelationstypen zwischen Organismen und Umwelten untersucht; angefangen bei subhumanen lebendigen Körpern und ihrer Umgebungsrelation bis hin zur Sphäre des Menschen. Die Beziehungen zwischen diesen Korrelationstypen werden nicht als teleologische Beziehungen, sondern als Emergenzrelationen verstanden. Sie konstitu-ieren spezifische Stufen- oder Schichtungsmodelle.20

(6) Die Sphäre des Menschen wird dadurch gekennzeichnet, dass in ihr der Lebenskreis-lauf des Lebendigen in bestimmter Hinsicht aufgebrochen und in dieser Aufgebrochen-heit indirekt überbrückt ist, aber jeweils auf eine Weise, die durch das Leben getragen bleibt. Die ausgezeichnete Stellung des Menschen ist also „eine in der Natur“.21

(7) Die in den vorigen Punkten dargelegte Denkbewegung versteht sich selbst als „philo-sophische Vergewisserung des ‚Geistes‘ unter Rückbezug auf […] die verschiedenen Erfahrungswissenschaften über den Menschen (Biologie, Psychologie, Soziologie, Kulturwissenschaften)“. Und mit diesem Rückbezug wird zwar die Bindung an die inhaltlichen Resultate der Erfahrungswissenschaften akzeptiert, zugleich aber auf der Möglichkeit der Bildung genuin philosophischer Kategorien bestanden, die die wis-senschaftlichen Erfahrungszugänge untereinander sowie mit dem Common Sense ver-mitteln können.22

Bevor ich nun die Idee im Einzelnen verfolge, dass diese Merkmale eine heuristische Funk-tion für die Klärung der Frage übernehmen können, ob Heidegger in den Grundbegriffen der Metaphysik als Vertreter der Philosophischen Anthropologie argumentiert, gilt es, einen Moment innezuhalten. Ist die Adäquatheit des verfolgten Vorgehens nicht davon abhängig, dass Fischers These vom Bestehen eines „Identitätskerns“ der Philosophischen Anthropolo-gie zutrifft? Angenommen, es gibt gar keinen solchen „Identitätskern“, könnte es dann nicht

17 Ebd., 521.18 Ebd., 522.19 Ebd.20 Ebd., 522 f.21 Ebd., 523 f.22 Ebd., 525 f.

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sein, dass sich durch die Beantwortung der Frage, ob Heideggers Grundbegriffe die genannten Merkmale aufweisen, gar keine Rückschlüsse in Hinblick auf die Ausgangsfrage ziehen las-sen? Blickt man auf die bisherige Aufnahme von Fischers Buch in der Forschung, so ist festzu-stellen, dass dessen Identitätskernthese nicht unumstritten ist. Um zu prüfen, ob die Kritik an der These die Legitimität des hier vorgeschlagenen Vorgehens bedroht, halte ich es für erfor-derlich, im Folgenden auf diese Kritik zumindest im Rahmen eines Exkurses einzugehen.

III. Exkurs: Zur Kritik an Fischers Identitätskernthese

Der erste Kritikpunkt, den ich nennen möchte, stammt aus Jens Hackes Rezension von Fischers Buch.23 Er lautet, dass die von Fischer genannten Merkmale des „Identitätskerns“ zu weit sind: „Wenn man den Rahmen so weit [sc. wie Fischer] spannt, hat alles irgendwie mit Philosophischer Anthropologie zu tun, sogar die kritische Theorie oder die neoaristotelische praktische Philosophie.“ Der Einwand scheint mir nicht sehr zugkräftig zu sein. Jedenfalls halte ich es für offensichtlich, dass weder die Kritische Theorie noch irgendein Ansatz der praktischen Philosophie (auch nicht der neoaristotelische) die genannten Merkmale aufwei-sen. Sie würden also, selbst wenn sie „irgendwie mit Philosophischer Anthropologie zu tun“ hätten, außerhalb von deren „Identitätskern“ liegen. Aussichtsreicher scheint mir der umgekehrte Einwand zu sein, dass die Merkmale zu eng sind. Dies ist einer der Einwände, die Olivia Mitscherlich in ihrem dezidiert kritischen Rezensionsaufsatz zu Fischers Buch vorbringt.24 Mitscherlich zufolge haben die von Fischer angegebenen Merkmale eine zu stark naturphilosophische Einfärbung. Konkreter gesagt, wird etwa der geschichtsphilosophische Zug, der durch Macht und menschliche Natur in Plessners Anthropologie kommt, in den von Fischer genannten Merkmalen nicht hinreichend reflektiert. Aus der Sicht des Vertreters der Identitätskernthese müsste man antworten, dass sich der geschichtsphilosophische Zug von Plessners Anthropologie auch nicht in den Merkmalen niederschlagen darf, da er sich weder bei Scheler noch bei Gehlen findet. Meines Erachtens führen Plessners geschichtsphilosophische Überlegungen im Rahmen seiner Anthropologie jedoch genauso wenig zu einer Sprengung dessen, was Fischer für den „Identitätskern“ der Philosophischen Anthropologie hält, wie sie Plessners Naturphilosophie in den Stufen des Organischen und der Mensch sprengen; es liegt ein Ergänzungsverhältnis vor.25 Gleichwohl ist einzuräumen, dass Fischers Merkmale tatsächlich eher den naturphilosophischen Zug der Philosophischen Anthropologie einfangen und auf Plessners Macht und menschliche Natur in der Tat nicht zutreffen. Dies ist angesichts des Umstandes, dass dieses Buch als ein anthropo-logisches Hauptwerk Plessners gelten muss, unbefriedigend. Der Hinweis auf Macht und menschliche Natur fungiert bei Mitscherlich als einer von meh-reren Belegen für die Triftigkeit eines allgemeinen Einwandes: Fischer vermag einen „Identi-tätskern“ des Denkansatzes „Philosophische Anthropologie“ nur zu „identifizieren, indem er

23 J. Hacke, Rezension von Fischers Philosophische Anthropologie, in: Süddeutsche Zeitung, 28. 07. 2008.

24 O. Mitscherlich, Wozu Philosophische Anthropologie?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 56 (2008), 812–818.

25 Letzteres hat niemand deutlicher herausgearbeitet als Mitscherlich selbst; siehe dazu O. Mitscherlich, Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin 2007.

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Unterschiede nivelliert“.26 Mitscherlich sieht diese Unterschiede im Philosophieverständnis und der methodischen Anlage des Philosophierens von Scheler, Plessner und Gehlen. Beispielsweise sei der Rückbezug auf die verschiedenen Erfahrungswissenschaften vom Menschen (vgl. oben das siebente Merkmal) bei Scheler und Plessner auf der einen Seite und bei Gehlen auf der anderen Seite – der ja anders als seine beiden Vorgänger eine explizit „empirische Anthropolo-gie“ entwirft – so verschiedenartig, dass man von einem „prinzipiellen Unterschied“ sprechen sollte.27 Es ist sicher zutreffend (und wird auch von Fischer nicht bestritten), dass zwischen den Konzeptionen der drei Autoren Unterschiede bestehen. Die für die Identitätskernthese ent-scheidende Frage ist aber, ob diese Unterschiede sich als Differenzen „im Identitätskern“ bezie-hungsweise „vom Identitätskern her“ verstehen lassen, wie Fischer meint28, oder ob sie die Rede von einem „Identitätskern“ überflüssig machen, wie Mitscherlich behauptet. Für den gegenwärtig verfolgten Zweck kann diese Frage jedoch offen bleiben. Eine verbindliche Antwort auf die Frage nach dem Für und Wider der Rede von einem „Identi-tätskern“ der Philosophischen Anthropologie wird hier nicht benötigt. Denn dass die von Fischer genannten Merkmale einen solchen Kern konstituieren, ist keine Vorbedingung für die Berechtigung der heuristischen Verwendung der Merkmale als ‚Messinstrumente‘ für die Nähe zur Philosophischen Anthropologie. Es besteht dafür lediglich eine schwächere Voraus-setzung. Sie hat zwei Teile:

Erstens müssen die Merkmale so beschaffen sein, dass sie sich nicht an solchen philo-sophischen Werken aufweisen lassen, die eindeutig außerhalb des Spektrums der Phi-losophischen Anthropologie liegen. Diese Voraussetzung soll sicherstellen, dass die Klassifizierung eines Werkes als philosophisch-anthropologisch anhand dieser Merkmale gehaltvoll ist.

Zweitens müssen sich die Merkmale an einer ganzen Reihe von philosophischen Werken aufweisen lassen, die eindeutig innerhalb des Spektrums der Philosophischen Anthropolo-gie liegen. Diese Voraussetzung soll gewährleisten, dass sich eine signifikante Menge die-ser Werke durch die Merkmale erfassen lässt, dass diese Merkmale also informativ sind.

26 O. Mitscherlich, Wozu Philosophische Anthropologie, a. a. O., 818. – Auf diese Weise ließe sich auch Hans-Peter Krügers Kritik zusammenfassen, der Fischer eine „falsche Vereinheitlichung“ der „Philosophischen Anthropologien von M. Scheler, H. Plessner und A. Gehlen“ vorwirft (H.-P. Krü-ger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und systematische Dimen-sionen, in: Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, hg. v. H.-P. Krüger u. G. Lindemann, Berlin 2006, 15–41, hier: 23). Krüger bezieht sich dabei auf Fischers Aufsätze Der Identitätskern der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen) (in dem soeben genannten Band, 63–82) sowie Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthro-pologie (in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48 (2000), 265–288). In diesem zuletzt genannten Text versucht Fischer, Plessners „exzentrische Positionalität“ als „Grund- oder Trägerbegriff“ des „spezifischen Denkansatzes“ namens „Philosophische Anthropologie“ auszuweisen (ebd., 284), zu dem er hier neben Plessner selbst „Alsberg, Scheler, Rothacker, Gehlen, Portmann u. a.“ zählt (ebd., 265 f.). Gegen dieses Vorhaben wendet Krüger vor allem ein, dass Gehlens und Rothackers anthro-pologische Konzeptionen hinter Plessners Gedanken der exzentrischen Positionalität zurückfallen: „Wenn man von der Wesenserkenntnis des Hiatus in der exzentrischen Positionalität überzeugt ist, kann man sie nicht mehr gleichzeitig – wie Gehlen, Rothacker u. v. a. – durch Primatverkehrung der exzentrischen Positionalität in eine künstlich zentrische Positionalität widerrufen, sondern muss zu dem Primat der Fraglichkeit des Verhaltensbruches stehen.“ (H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit mensch-licher Lebewesen, a. a. O., 28)

27 O. Mitscherlich, Wozu Philosophische Anthropologie, a. a. O., 816.28 J. Fischer, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 558 ff.

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Der erste Punkt läuft darauf hinaus, dass die Erfüllung der von Fischer genannten Merkmale einer hinreichenden Bedingung dafür nahe kommt, dass ein bestimmtes Werk zur Philoso-phischen Anthropologie zählen kann. Hacke hatte dies meines Erachtens zu Unrecht bestrit-ten. Der zweite Punkt dagegen formuliert nicht die korrelative Forderung, dass die Merkmale einen Status besitzen müssen, der demjenigen notwendiger Bedingungen dafür vergleich-bar ist, dass ein Werk zur Philosophischen Anthropologie zählen kann, sondern eine schwä-chere Forderung. Es wird nicht gefordert, dass alle Werke, die eindeutig zur Philosophischen Anthropologie zählen, die Merkmale erfüllen, sondern nur eine ganze Reihe, eine signifikante Teilmenge solcher Werke. Mit dieser Einschränkung kann Mitscherlichs Bedenken Rechnung getragen werden, dass Plessners Macht und menschliche Natur, obwohl es eindeutig zur Phi-losophischen Anthropologie gehört, nicht die Merkmale aufweist. Allerdings muss es auch Texte geben, die ebenso eindeutig zur Philosophischen Anthropologie zählen und alle von Fischer genannten Merkmale aufweisen. Beispiele für derartige Texte sind meines Erachtens Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos, Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch und Gehlens Der Mensch.29 Dass die Merkmale diese typisch philosophisch-anthropologischen Werke einfangen, zeigt, dass es sich nicht nur um gehaltvolle, sondern auch um informative Merkmale handelt. Damit zurück zur Ausgangsfrage. Wenn die Grundbegriffe der Metaphysik, so lautete der Vorschlag, die von Fischer genannten Merkmale aufweisen, dann sollten wir berechtigt sein zu sagen, dass Heidegger dort als Vertreter der Philosophischen Anthropologie argumen-tiert. Dieser Vorschlag, so hat sich nun ergeben, kann auch nach der Erörterung der Kritik an Fischers Identitätskernthese aufrechterhalten werden. Denn es hat sich gezeigt, dass die Erfüllung der von Fischer genannten Merkmale einer hinreichenden Bedingung dafür ent-spricht, ein bestimmtes Werk zur Philosophischen Anthropologie zu zählen. Im Folgenden müssen wir also prüfen, ob beziehungsweise inwieweit Heideggers Kategorienbildung in den Grundbegriffen der Metaphysik mit derjenigen identisch ist, die in diesen Merkmalen beschrieben wird.

IV. Heideggers Grundbegriffe der Metaphysik und die Merkmale des „Identitätskerns“ der Philosophischen Anthropologie

Ich werde nun die sieben von Fischer genannten Merkmale der Reihe nach in Bezug auf Hei-deggers Grundbegriffe der Metaphysik durchgehen. – Obwohl klar ist, dass die Termini von Subjekt und Objekt mit Blick auf Heidegger (wie übrigens auch mit Blick auf Plessner) prob-lematisch sind, nenne ich das erste Merkmal „Ansatz nicht am Subjekt-, sondern am Objekt-pol“. Dieses Merkmal lässt sich an den Grundbegriffen der Metaphysik gut identifizieren.

29 Dass diese Texte alle von Fischer genannten Merkmale aufweisen, lässt sich hier nicht im Einzelnen zeigen und ist übrigens auch nicht ganz unumstritten. So behauptet etwa Volker Schürmann in sei-ner Rezension von Fischers Buch (Philosophisches Jahrbuch, 116 (2009), 463–466), dass Gehlens Werk das siebente Merkmal nicht erfüllt (ebd., 466). Der Grund dafür scheint mir in Schürmanns Interpretation dieses Merkmals zu bestehen, der zufolge es in dem Denkansatz um das Festhalten an „der Konkretheit und Bedingtheit des transzendentalen Subjekts“ gehe (ebd., 465). Auf diese Weise ist das siebente Merkmal meines Erachtens aber zu eng interpretiert. Obwohl Fischer den Gedanken eines solchen Subjekts an zwei Stellen tatsächlich mit der Philosophischen Anthropologie in Zusammenhang bringt (J. Fischer, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 516 u. 561), spielt das transzendentale Subjekt, wie konkret und bedingt auch immer, in seiner Bestimmung des siebenten Merkmals zu Recht keine Rolle (ebd., 525 f.).

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Die vergleichende Betrachtung, durch die Heidegger den Weltbegriff in der Vorlesung klären will, bezieht sich auf die drei schon genannten Thesen „Der Stein ist weltlos“, „Das Tier ist weltarm“ und „Der Mensch ist weltbildend“ (263). Heidegger beginnt die Betrachtung mit der These der Weltarmut des Tiers (273 ff.). Das Tier – oder allgemeiner gesagt: das Leben-dige – ist auf diese Weise der Gegenstand, an dem die Untersuchung ansetzt. Von besonderer Bedeutung ist, dass es Heidegger dabei ausdrücklich nicht darum geht, „das Leben […] vom Menschen her zu deuten“ (282), sondern es „von sich selbst her in seinem Wesensgehalt zu sichern“ (283).30 Dieses Vorgehen gewährleistet die für das erste Merkmal charakteristische Konzentration „auf ‚etwas‘ gegenüber, auf das Objekt“. In dem Gesagten wird bereits deutlich, dass Heideggers Blick auf das Gegenüber, ganz wie es dem zweiten Merkmal entspricht, nicht auf der Höhe des Menschen, sondern auf einer subhumanen Ebene ansetzt. Indem er seine „Aufklärung des Wesens der Weltarmut des Tieres“ (295 ff.) in den Kontext einer „Wesensbestimmung des Lebendigen“, „des Organis-mus“ (310 u. 311) einbettet, legt er den Fokus auf „eine eigene Zone zwischen ‚Etwas‘ und ‚Jemand‘“. Erst danach, und zwar im Schlusskapitel, wendet sich Heidegger dem Menschen und der Erörterung der These „Der Mensch ist weltbildend“ zu (397 ff.). Auch das dritte Merkmal lässt sich eindeutig in den Grundbegriffen der Metaphysik aus-machen. Es besagt, und genau dies ist in Heideggers Vorlesung der Fall, dass das Lebendige, der Organismus nicht isoliert in den Blick gebracht wird, sondern in Korrelation mit seiner Umgebung. Jakob Johann von Uexküll hatte in der Biologie die Auffassung etabliert, dass die Korrelativität des Organismus mit seiner Umgebung für den Organismus selbst konstitutiv ist. Scheler, Plessner und später Gehlen haben diese Auffassung auf je spezifische Weise in den eigenen philosophisch-anthropologischen Ansatz integriert; und auch in Heideggers phi-losophischer Wesensbestimmung des Organismus spielt sie eine zentrale Rolle. Das Tier, so drückt sich Heidegger aus, ist von solchem umringt, das sein „Fähigsein ‚angeht‘, an-läßt“ (369). Er nennt dieses Anlassen des Fähigseins des Tieres ‚Enthemmen‘ (ebd.) und spricht von einem „Enthemmungsring“, den das Tier mit sich trägt, der zu seiner „innersten Orga-nisation“ gehört (370 f.) und der „eine ganz bestimmte Umringung möglicher Reizbarkeit“ festlegt (374). Heidegger war sich ganz im Klaren darüber, dass er damit direkt an Uexküll anknüpft. Uexküll, so Heidegger, meint mit seinem Begriff der Umwelt des Tieres „faktisch nichts anderes als das, was wir als Enthemmungsring gekennzeichnet haben“ (383). Heidegger stellt sich zu Beginn seiner Wesensaufklärung der Weltarmut des Tieres die methodische Frage nach unserem Zugang zu Seiendem und insbesondere zu Tieren. Die phi-losophisch-anthropologische Kategorienbildung, dies war das vierte Merkmal, geht davon aus, dass die Korrelation von Lebendigem und Umgebung nicht bloß binnenperspektivisch, sondern in einem Blick von der Seite, von der Position des Dritten aus zugänglich ist. Dies ist auch Heideggers Position in den Grundbegriffen der Metaphysik. Wo er die „methodische Frage nach dem Sichversetzenkönnen in ein anderes Seiendes“ stellt (295), grenzt er sich strikt gegen die Auffassungen ab, denen zufolge es darum geht, uns in andere Lebewesen ‚einzufühlen‘ oder möglichst selbstvergessen so zu tun, als ob wir sie seien (297 f.). Schon die Rede vom Sichversetzen ist Heidegger zufolge ohne nähere Erläuterung unangemessen.

30 Ich halte dies für eine Revision der Position von Sein und Zeit, wo Heidegger noch davon ausgeht, dass die „ontologische Grundverfassung von ‚leben‘ […] nur auf dem Wege reduktiver Privation aus der Ontologie des Daseins aufzurollen“ ist (M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986, 194; vgl. ebd., 50). Anders Beelmann, der die „Anzeigen zum ‚Leben‘ in ‚Sein und Zeit‘ […] als theoretische Basis für die Bemühungen in den ‚Grundbegriffen‘“ sieht (A. Beelmann, Heideggers hermeneuti-scher Lebensbegriff, a. a. O., 49).

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Er schlägt vor, das Sichversetzen in ein Lebewesen als „Mitgehen“ zu verstehen: „Sichver-setzen in dieses Seiende heißt, mit dem, was und wie das Seiende ist, mitgehen – in diesem Mitgehen unmittelbar über das Seiende, mit dem wir so gehen, erfahren, wie es mit ihm steht.“ (296 f.) Dabei geht es gerade nicht um den Einbruch in die Binnenperspektive des Gegenübers, sondern darum, „dass wir selbst gerade wir selbst sind und so allein die Mög-lichkeit schaffen, selbst als andere – gegenüber dem Seienden – mit ihm mitgehen zu können. Es gibt kein Mitgehen, wo der, der mitgehen will und soll, zuvor sich selbst aufgibt.“ (297) Zu Heideggers Konzept des Zugangs zu anderen Lebewesen gehören demnach zwei Momente, wobei das zweite eine Spezifikation des ersten ist: (a) Wir gehen mit dem Lebewesen mit, das heißt, wir bekommen es in seinem Umfeld in den Blick. (b) Wir gehen mit ihm als ihm gegen-über andere mit, das heißt, wir nehmen es in seinem Umfeld aus der Perspektive des Dritten in den Blick. Demnach ist bei Heidegger in methodischer Hinsicht genau das angelegt, was durch das vierte Merkmal beschrieben wird: ein seitlich versetzter Blick auf die Korrelation zwischen Lebendigem und Umgebung. Von dem seitlichen Beobachtungspunkt aus, darin besteht das fünfte Merkmal, werden die verschiedenen Korrelationstypen zwischen Lebendigem und Umgebung von der subhumanen Sphäre bis zur Sphäre des Menschen untersucht. Auch dies entspricht genau Heideggers Vor-gehen in den Grundbegriffen der Metaphysik. Allerdings scheint die Parallele zwischen der Philosophischen Anthropologie und Heidegger gerade an diesem Punkt an eine Grenze zu kommen. Denn Heidegger lehnt es strikt ab, die Beziehungen zwischen den verschiedenar-tigen Korrelationstypen von Lebendigem und Umgebung mithilfe von Stufen- oder Schich-tenmodellen zu konzipieren, wogegen Modelle dieser Art in der Philosophischen Anthropo-logie üblich sind.31 Auf diese Differenz wird daher zurückzukommen sein. Das sechste Merkmal kann die „Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs“ genannt werden. Die Aufgebrochenheit, so ist präzisierend hinzuzufügen, ist dabei nicht als ein übernatürliches Phänomen, sondern als eine vom Leben getragene Aufgebrochenheit, als eine Aufgebrochenheit in der Natur zu verstehen. Auch dieses Merkmal scheint, wie sich gleich zeigen wird, nur in eingeschränktem Sinn auf Heideggers Grundbegriffe der Metaphysik zuzu-treffen. Sicherlich kann auch mit Heidegger von einer Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs gesprochen werden. Sie ergibt sich für ihn zentral dadurch, dass zwar schon die Tiere in gewissem Sinn offen für Seiendes sind (361 f., 377), aber nur uns das Seiende als Seiendes offenbar ist (397 f). „Dieses ganz elementare ‚als‘ ist es“, so Heidegger, „was dem Tiere versagt ist.“ (416) Die durch die Als-Struktur geprägte Offenbarkeit des Seienden ist für Heidegger ein Charakter der Welt; sie lässt sich seines Erachtens aber nicht als eine Eigenschaft konzipieren, die wir am Seienden als solchen vorfinden, sondern nur als Gesche-hen (406). Doch wenn diese spezifische Offenbarkeit geschieht und ein Charakter der Welt ist, dann „entsteht […] jeweils erst dergleichen wie Welt“ (ebd.). Heidegger begreift dieses Entstehen terminologisch als „Weltbildung“, weil es seines Erachtens in einer ursprünglichen Freiheit des Daseins gründet (496 f.). – Obwohl diese Darstellung zugegebenermaßen ganz skizzenhaft ist, macht sie doch sichtbar, dass es in Heideggers Konzeption der Grundbegriffe der Metaphysik einen Ort gibt, an dem sich das sechste Merkmal – die Aufgebrochenheit des

31 Plessner etwa hat schon mit Blick auf Sein und Zeit festgehalten: „Bei ihm [sc. Heidegger] erschei-nen freilich die Strukturen, abgesehen von ihrer Trennung durch den hermeneutischen Prozeß, in Einer Schicht, während ich darin weiter zu sein glaube, indem sich die Strukturen auf verschiedene Schichten verteilen und der Mensch (Dasein) die Schichten in sich enthält – was Heidegger verbor-gen bleiben muß.“ (Brief an König vom 22.02.1928, in: Josef König / Helmuth Plessner. Briefwech-sel 1923–1933, hg. v. H. U. Lessing u. A. Mutzenbecher, Freiburg 1994, 181)

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menschlichen Lebenskreislaufs – identifizieren lässt: den Begriff der Weltbildung. Einschrän-kend ist allerdings hinzuzufügen, dass das Merkmal nicht vollständig auf Heideggers Vorle-sung zuzutreffen scheint. Denn in ihm ist mitgedacht, dass es sich bei der Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs um eine Aufgebrochenheit in der Natur handelt; bei Hei-degger scheint jedoch offen zu bleiben, in welcher Weise die Weltbildung des Menschen in der Natur verortet ist. Auch auf diesen Punkt wird also zurückzukommen sein. Zuvor aber zum siebenten und letzten Merkmal. Etwas formelhaft kann es folgender-maßen bezeichnet werden: „Bindung an die Resultate der Erfahrungswissenschaften bei gleichzeitigem Anspruch auf Bildung genuin philosophischer Kategorien“. Hin und wieder wird Heidegger zwar ein ignorantes Verhältnis zu den Wissenschaften vorgeworfen; doch dieser Vorwurf ist, zumindest hinsichtlich der Grundbegriffe der Metaphysik, unpassend. Das genannte Merkmal wäre hier eine passende Überschrift für Heideggers Äußerungen zu den Wissenschaften. Zum einen wendet sich Heidegger gegen eine, wie er sagt, „überkluge“ Phi-losophie, die versucht, „von außen her bestimmte Wissenschaften zu schulmeistern“ (280); zum anderen hält er aber die positivistische Berufung auf bloße Tatsachen für ebenso bor-niert und nennt Wissenschaft, die so argumentiert, „verstockt“. In seiner Erläuterung, dass „jede Tatsache, die ins Feld geführt wird, […] immer schon durch eine Auslegung hindurch-gegangen“ ist (281), lässt sich ohne weiteres der wissenschaftstheoretische Grundsatz der Theoriegeladenheit schon unserer Beobachtungsbegriffe ausmachen. Auf inhaltlicher Ebene setzt sich Heidegger im Kontext seiner Wesensaufklärung der Tierheit ausführlich mit den zu seiner Zeit aktuellen Ergebnissen der Bienenforschung auseinander (350 ff.), um vor diesem Hintergrund eine allgemeine und philosophische Charakteristik des Tuns der Tiere zu gewin-nen (358 ff.). Er grenzt deren Tun vom menschlichen ‚Verhalten‘ ab, dem jeweils ein Fest-stellen zu Grunde liege, und beschreibt es mithilfe des Terminus ‚Benehmen‘ als ein Treiben, das bei auftretenden Hemmungen nicht einfach aufhört, sondern immer umgesteuert wird in einen anderen Trieb (vgl. 353). Auf diesem Wege unterscheidet Heidegger eine ganze Reihe von Strukturmomenten, die er schließlich in der Bestimmung „Benommenheit ist das Grund-wesen des Organismus“ zusammenfasst (376). Wenn es auch nicht möglich ist, hier auf die Einzelheiten einzugehen, so wird doch deutlich, dass Heidegger in den Grundbegriffen der Metaphysik eine Naturphilosophie entwickelt, die durch die Biologie informiert und positiv auf sie bezogen ist, sich aber darin selbstbewusst gibt, dass sie den Anspruch aufrechterhält, genuin philosophische Kategorien (wie „Benommenheit“) zu bilden. Mit diesen Kategorien erhebt Heidegger darüber hinaus sogar den Anspruch, auf die Biologie zurückwirken zu kön-nen. „[D]iese Grundkonzeption der Benommenheit ist das Erste, auf dessen Grund sich erst jede konkrete biologische Frage ansiedeln kann.“ (377) Indem er der Philosophie damit eine gewisse sachliche Priorität vor der Biologie zugesteht, versteigt er sich jedoch nicht zu der Annahme, seine Konzeption des Wesens des Organismus und des Tiers sei a priori im Sinne von unrevidierbar. Er versteht sie explizit nicht als „die endgültige Aufhellung des Wesens der Tierheit, über die alle Zeiten nie mehr hinaus fragen könnten“ (379; ohne dortige Hervorhe-bung; M. W.). Zusammenfassend lässt sich also feststellen: In dem anknüpfend-offenen und zugleich selbstbewussten Verhältnis, das Heidegger in den Grundbegriffen der Metaphysik zu den Wissenschaften pflegt, lässt sich das siebente der von Fischer genannten Merkmale des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie ausmachen.

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V. Argumentiert Heidegger in den Grundbegriffen  als Vertreter der Philosophischen Anthropologie?

Insgesamt gesehen ergibt der Durchgang durch die Merkmale einen Befund, der vor dem Hintergrund der Standardinterpretation Heideggers überraschend ist: Die Grundbegriffe der Metaphysik stehen in großer Nähe zu dem, was man mit Fischer den „Identitätskern“ der Philosophischen Anthropologie nennen kann. Zu klären wird nun sein, ob die Nähe so eng ist, dass Heidegger in diesem Werk als Vertreter der Philosophischen Anthropologie gelten kann. Dazu wende ich mich den beiden noch offenen Punkten zu. Der erste besteht in der unter-schiedlichen Haltung zu Stufenmodellen bei Heidegger einerseits und den Kernautoren der Philosophischen Anthropologie andererseits; und der zweite Punkt besteht darin, dass nicht klar ist, inwiefern Heidegger die von ihm mit dem Terminus „Weltbildung“ beschriebene Auf-gebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs als Aufgebrochenheit in der Natur erfasst. Ich werde mit dem zweiten Punkt beginnen. Eine Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs in der Natur wäre eine solche, die von der Natur beziehungsweise vom Leben getragen bleibt. Die Frage ist daher, in welcher Weise sich bei Heidegger die Tatsache, dass Menschen Natur- beziehungsweise Lebewesen sind, in ihrem Menschsein niederschlägt. Eine Schwierigkeit dieser Frage liegt darin, dass es an einigen Stellen so scheint, als habe Heidegger bereits Probleme mit der Anerkenntnis des Sachverhalts, dass Menschen Natur- beziehungsweise Lebewesen sind. Dies zeigt sich etwa in seinem Begriff des Lebens. In der „Vorbetrachtung“ der Grundbegriffe der Metaphysik spricht Heidegger zwar einmal vom „menschlichen Leben[] (Dasein[])“ (33), aber dies ist eine unterminologische Redeweise, die er später in der Vorlesung durchgängig und bewusst vermeidet. „Leben“ ist hier ein Gegen-begriff zu „Existenz“ – dem Terminus für die Seinsart von Menschen – und steht exklusiv für die Seinsart der Pflanzen und der Tiere (308, 277, 282 u. ö.). Die Frage, in welcher Weise sich die Tatsache, dass Menschen Lebewesen sind, in ihrem Menschsein niederschlägt, wird damit gewissermaßen schon auf einer terminologischen Ebene abgeblockt. Unabhängig davon wird die Frage auch durch eine methodische Entscheidung umgangen, die Heidegger an einer wichtigen Stelle seiner Vorlesung trifft. Es geht dort um die Frage, wie das Phänomen der Weltbildung geklärt werden soll. Man könnte, so Heideggers Erwägung, entsprechend der Behandlung der These, dass das Tier weltarm ist, den Weg einschlagen, das Phänomen der Weltbildung

„aus dem Wesen des Menschen […] auf[zu]hellen. So, wie wir nach der Tierheit fragten, fragen wir jetzt nach der Menschheit und ihrem Wesen, und so, wie wir dort Biologie und Zoologie zu Rate zogen, so jetzt hier die Anthropologie.“ (406)32

32 Meines Erachtens geht aus dieser Gegenüberstellung von Biologie und Zoologie auf der einen und Anthropologie auf der anderen Seite hervor, dass Heidegger hier die empirische Anthropologie vor Augen hat. Vgl. dazu auch Heideggers Bemerkung in dem unveröffentlichten Manuskript des Vor-trags Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, den Heidegger am 24.01.1929 in der Frankfurter Kantgesellschaft gehalten hat: „Was heißt Anthropologie? Kunde und Lehre vom Menschen; unterschieden etwa von der Zoologie als der Tierkunde. Wie immer der Gegenstands-bezirk und Aufgabenkreis der Menschenkunde umgrenzt werden mag, Anthropologie gilt dabei als eine Erfahrungswissenschaft (Wissenschaft vom Menschen als einer Art von Seiendem, was unter vielem anderen auch ist).“ (8; zitiert nach: E. Muñoz Pérez, Der Mensch im Zentrum, aber nicht als Mensch, a. a. O., 70)

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Heidegger lehnt dieses Vorgehen ab – und zwar aus zwei Gründen. Der erste ist, dass die Anthropologie für die Frage nach dem Wesen des Menschen seines Erachtens gar nicht die richtige Adresse ist. Denn das Wissen darüber, „was der Mensch sei“, so Heidegger, ist „[z]unächst und eigentlich gerade nicht in der Anthropologie, Psychologie, Charakterologie und dergleichen“ niedergelegt, „sondern in der ganzen Geschichte des Menschen“, und zwar „in jener ursprünglichen Überlieferung, die in jedem menschlichem Handeln als solchem liegt“ (407). Der zweite Grund ist, dass die Frage nach dem Wesen des Menschen für Hei-degger anders als die Frage nach dem Wesen des Tiers eine Frage „nach uns selbst“ ist, „nach einem Seienden […], das zu sein uns selbst aufgegeben ist“ (ebd.). Beide Gründe bringen etwas Wichtiges ins Spiel. Doch es ist nicht einzusehen, dass die für die Frage nach dem Wesen des Menschen gewiss erforderliche Berücksichtigung der Geschichtlichkeit des Menschen und der Perspektive der Ersten Person gegen die Berück-sichtigung des Umstandes spricht, dass Menschen Naturwesen sind. Heidegger nimmt sich im Rahmen seines Projekts einer Klärung der These, dass Menschen weltbildend sind, ohne Not die Möglichkeit, von der er bei der Klärung der These, dass Tiere weltarm sind, profitiert hatte – die Möglichkeit der Anknüpfung an naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit Blick auf naturphilosophische Einsichten. Auf Grund dieser methodischen Entscheidung bekommt er die Frage, in welcher Weise die Tatsache, dass Menschen Naturwesen sind, sich in ihrem Menschsein niederschlägt, philosophisch nicht mehr in den Blick. Wie die mit dem Konzept der Weltbildung thematisierte Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs als eine Aufgebrochenheit in der Natur konzipiert werden kann, bleibt daher bei Heidegger offen. Das bedeutet aber nicht, dass er Menschen in den Grundbegriffen der Metaphysik in irgendeiner Hinsicht als außernatürliche Wesen konzipiert oder gar nicht sieht, dass sie Natur-wesen sind. Wogegen er sich wendet, ist der seines Erachtens zu enge und Unterschiede nivellierende Naturbegriff der Naturwissenschaften, für die Natur bloß der Inbegriff des vor-handenen Seienden ist. Heidegger versteht unter „Natur“ das „sich selbst bildende[] Walten des Seienden im Ganzen“ (38 f.). „Walten“ scheint dabei als Begriff für eine Prozessualität zu fungieren, die nicht durch Naturgesetze verständlich gemacht werden kann. In Bezug auf den Menschen heißt es:

„Die Geschehnisse, die der Mensch an sich erfährt, Zeugung, Geburt, Kindheit, Reifen, Altern, Tod, sind keine Geschehnisse in einem heutigen und engen Sinne des spezifisch bio-logischen Naturvorganges, sondern gehören in das allgemeine Walten des Seienden, das das menschliche Schicksal und seine Geschichte mit in sich begreift. […] Φύσις meint dieses ganze Walten, von dem der Mensch selbst durchwaltet und dessen er nicht mächtig ist.“ (39)

Wenn der Mensch von dem Walten durchwaltet ist, das Heidegger zufolge die Natur ist, dann muss er durch und durch als Naturwesen gelten. Für diese Einschätzung spricht auch eine wichtige Passage zu Beginn der Erörterung der These, dass der Mensch weltbildend ist. Dort erklärt Heidegger:

„Der Mensch existiert in eigentümlicher Weise inmitten des Seienden. Inmitten des Sei-enden heißt: Die lebendige Natur hält uns selbst als Menschen in einer ganz spezifischen Weise gefangen.“ (403 f.)

Auch wenn derartige Stellen, auf das Ganze der Grundbegriffe der Metaphysik gesehen, ver-einzelt bleiben, sind sie doch eindeutige Belege dafür, dass Heidegger dort die Position ver-tritt, dass Menschen durch und durch Naturwesen sind. Geht man nun davon aus, dass diese Position mit der These vereinbar sein soll, dass der Mensch weltbildend ist, so muss auch

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die Weltbildung einen Ort in der Natur haben. Auf Grund seiner Position der Naturwesen-haftigkeit des Menschen müssen wir Heidegger also die Auffassung zuschreiben, dass die von ihm mit dem Konzept der Weltbildung thematisierte Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs eine Aufgebrochenheit in der Natur ist. Daher trifft auch das fragliche sech-ste Merkmal des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie auf die Position zu, die Heidegger in den Grundbegriffen der Metaphysik vertritt. Es gewinnt in der Vorlesung aller-dings keine ausgeprägte Gestalt. In welcher Weise die Weltbildung als Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs in der Natur konzipiert werden kann, wäre nach Heideggers eigenen Voraussetzungen eine zu klärende Aufgabe, wird von ihm aber offen gelassen. In Anknüpfung an eine Kritik, die Plessner einmal in Bezug auf Cassirer geäußert hat, könnte man daher auch mit Blick auf Heidegger sagen: Er weiß zwar, dass Menschen Naturwesen sind, aber er zieht daraus nicht die philosophischen Konsequenzen.33 Damit komme ich nun zu dem anderen der beiden Punkte, die im Durchgang durch die von Fischer genannten Merkmale offen geblieben waren. Er besteht darin, dass Heidegger im Unterschied zu den Kernautoren der Philosophischen Anthropologie eine strikt ablehnende Haltung gegenüber Stufenmodellen einnimmt. In seiner Kritik solcher Modelle bezieht sich Heidegger explizit auf Scheler:

„In jüngster Zeit hat Max Scheler im Zusammenhang einer Anthropologie versucht, diese Stufenfolge von materiellem Seienden, Leben und Geist einheitlich zu behandeln auf-grund einer Überzeugung, wonach der Mensch das Wesen ist, das in sich selbst alle Stufen des Seienden, das physische Sein, das Sein von Pflanze und Tier und das spezifisch geis-tige Sein, in sich vereinigt. Ich halte diese These für einen Grundirrtum der Schelerschen Position.“ (283)

Woran sich Heidegger hier vor allem stört, ist der Gedanke einer einheitlichen Behandlung der Stufen des physischen, lebendigen und geistigen Seins. Denn aus seiner Sicht werden diese Elemente bei Scheler sämtlich nach dem Muster des Vorhandenseins konzipiert.34 Der Glaube, dass sich ein zureichender Begriff vom Menschen auf dem Wege ihrer Aufeinanderschichtung gewinnen lasse, beruht daher für Heidegger auf einer grundlegenden ontologischen Fehlein-schätzung. „So ist die Natur – weder die leblose noch gar die lebendige – keineswegs das Brett und die unterste Schicht, auf der das Menschenwesen aufgeschichtet wäre, um darauf sein Unwesen zu treiben.“ (403) Heidegger hält ein Bild, in dem erstens Pflanzen beziehungsweise Tiere von bloß physischen Dingen nur durch das zusätzlich vorhandene Extra „Leben“ unter-schieden sind, in dem zweitens Menschen von Tieren nur durch das zusätzlich vorhandene Extra „Geist“ unterschieden sind und auf das wir drittens eine neutrale Draufsicht haben, für falsch. Ob er dabei bloß mit einem Zerrbild des Stufenmodells operiert, lässt sich hier nicht ent-scheiden. Um diese Frage zu beantworten, wäre ein Schritt in die Vorgeschichte des Auftretens der Philosophischen Anthropologie erforderlich. 1926 ist in dem von Plessner herausgege-benen Philosophischen Anzeiger ein Aufsatz des seit 1925 neben Scheler zweiten Ordinarius in Köln veröffentlicht worden: Nicolai Hartmanns Text Kategoriale Gesetze.35 Hartmann hat

33 Vgl. H. Plessner, Immer noch Philosophische Anthropologie?, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1983, Bd. VIII, 243.

34 Entsprechend bezeichnet er die Annahme, „Stein, Tier, Mensch oder Pflanze seien solches, was für uns in gleichem Sinne gleichmäßig auf einer Ebene gegeben sei“, als eine „Naivität“, von der wir uns befreien müssen (303).

35 N. Hartmann, Kategoriale Gesetze. Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorienlehre, in: Philosophischer Anzeiger, I, 2 (1926), 201–266.

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in diesem für Schelers und Plessners Philosophische Anthropologie wichtigen Aufsatz sein Modell von Seinsschichten und ihren Verhältnissen dargelegt. – Doch wie immer das Resultat einer Interpretation von Hartmanns Schichtenmodell, seiner Aufnahme durch Scheler sowie Plessner und seiner Skizze in Heideggers Grundbegriffen der Metaphysik ausfällt, ist hier wohl der Punkt erreicht, an dem die Parallele zwischen Heidegger und der Philosophischen Anthropologie abbricht. In Hinblick auf das sechste Merkmal des „Identitätskerns“ der Philosophischen Anthropo-logie blieb zwar offen, in welcher Weise die Weltbildung bei Heidegger als Aufgebrochenheit des menschlichen Lebenskreislaufs in der Natur zu verorten ist, aber dass sie als eine solche Aufgebrochenheit zu verstehen ist, ließ sich als Konsequenz von Heideggers eigenem Ansatz erweisen. Doch in Hinblick auf das fünfte Merkmal, das heißt die Frage nach der Ange-messenheit eines schichtentheoretischen Ansatzes, stünde ein ähnlicher Zug nur dann zur Verfügung, wenn man zeigen könnte, dass die Annahme eines Schichtenmodells in Hinblick auf einige der Fragen, vor denen Heidegger in den Grundbegriffen der Metaphysik steht, alternativlos ist. Es sieht nun zwar so aus, dass Schichtenmodelle einen Raum eröffnen, in dem sich die bei Heidegger offen gebliebene Frage beantworten lässt, in welcher Weise die Tatsache, dass Menschen Natur- beziehungsweise Lebewesen sind, sich in ihrem Menschsein niederschlägt. Doch man bräuchte ein zusätzliches Argument, um zu zeigen, dass diese Frage nur im Rahmen eines Schichtenmodells beantwortbar ist, oder um Heidegger auf anderem Wege auf die Annahme eines solchen Modells zu verpflichten. Ich sehe nicht, wie ein solches Argument aussehen könnte. Und selbst wenn es vorläge, ließe sich nicht behaupten, dass Heideggers Überlegungen selbst das fragliche Merkmal erfüllen. Insgesamt betrachtet, kann damit trotz aller herausgearbeiteten Nähe zwischen den Grund-begriffen der Metaphysik und der Philosophischen Anthropologie keine eindeutig positive Antwort auf die Frage gegeben werden, ob Heidegger in der Vorlesung als Vertreter der Phi-losophischen Anthropologie argumentiert. Dieses Ergebnis ist allerdings um den Hinweis zu ergänzen, dass sich nach den hier angestellten Überlegungen auch nicht umgekehrt behaupten lässt, dass Heidegger in der Vorlesung kein Vertreter der Philosophischen Anthropologie ist. Denn in dem Exkurs zur Kritik an Fischers Identitätskernthese hat sich gezeigt, dass die von Fischer genannten Merkmale zwar hinreichenden Bedingungen dafür nahe kommen, dass ein Text zur Philosophischen Anthropologie zählen kann, aber keine notwendigen Bedingungen dafür sind. Bestimmte Texte können also, auch ohne die Merkmale zu erfüllen, dazugehören. Plessners Macht und menschliche Natur war ein Beispiel dafür. Dies hat jedoch etwas Unbe-friedigendes. Denn letztlich haben wir damit weder eine positive noch eine negative Antwort auf die Ausgangsfrage erhalten. Zugleich ist aber die Frage dringlicher geworden, da sich immerhin zeigen ließ, dass sich Heideggers Position in den Grundbegriffen der Metaphysik in großer Nähe zur Philosophischen Anthropologie befindet. Sollte dies nicht Ansporn sein, die Suche nach einer Klasse notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen für die Zugehörigkeit zur Philosophischen Anthropologie wei-ter voranzutreiben? Oder ist zu befürchten, dass eine derartige Suche aus systematischen Gründen erfolglos bleibt? Ein Indiz dafür, dass Letzteres der Fall ist, lässt sich wissenschafts-theoretischen Überlegungen entnehmen, die Thomas Kuhn in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen angestellt hat. Mit Kuhn müsste man den Denkansatz der Philosophischen Anthropologie als ein „Paradigma“ beschreiben.36 Doch Kuhn macht einsichtig, dass weder die Existenz noch die Wirkmächtigkeit oder Identifizierbarkeit von Paradigmen vom Vorlie-

36 Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, [1962], Frankfurt/M. 1967 (21976 mit „Postscript“ von 1969). „Paradigmata“ sind nach Kuhns Ausgangsbestimmung „allgemein aner-

560 Matthias Wunsch, Heidegger und die Philosophische Anthropologie

gen einer Klasse von jeweils notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen abhängig ist.37 Zugehörigkeiten zu Paradigmen lassen sich demnach nicht anhand eines mit definierenden Kriterien operierenden Modells entscheiden, sondern letztlich nur auf der Grundlage einer wis-senschaftssoziologisch, wissenschaftsgeschichtlich und systematisch informierten Rekonstruk-tion eines Diskussions- und Forschungszusammenhanges. Eine solche Rekonstruktion liegt für den Denkansatz „Philosophische Anthropologie“ mit dem ersten Teil von Joachim Fischers gleichnamigem Buch im Wesentlichen schon vor.38 Aus ihr scheint hervorzugehen, dass Hei-degger nicht als Mitglied des Diskussions- und Forschungszusammenhangs gelten kann, der den Denkansatz ausmacht.39 Gleichwohl schmiegt er sich mit dem in seiner Vorlesung von 1929/30 verfolgten Ansatz der Kategorienbildung eng an diesen Zusammenhang an.40 Inner-halb des Paradigmas musste dies jedoch damals unsichtbar bleiben; und als Heideggers Vor-lesung dann 1983 publiziert wurde, waren Gehlen, Rothacker und Portmann schon tot und Plessner öffentlich verstummt.

Dr. Matthias Wunsch, Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich A – Philosophie, Gauß-straße 20, 42119 Wuppertal

Abstract

Studies of the history of 20th century philosophy usually suggest a sharp antagonism between Martin Heidegger on the one hand and Philosophical Anthropology, as founded by Max Scheler and Helmuth Plessner, on the other. In contrast I will argue that one of Heidegger’s texts, namely his lecture The Fun-damental Concepts of Metaphysics. World – Finitude – Solitude, held in the 1929/30 winter semester is in fact very close to the theoretical approach of Philosophical Anthropology. The measure for determin-ing this proximity is taken from Joachim Fischer’s study Philosophische Anthropologie. Eine Denk-richtung des 20. Jahrhunderts (2008). Its main systematic thesis posits that the theoretical approach of Philosophical Anthropology is constituted by a core identity, which can be accurately defined by a set of features. In my paper I use these features heuristically to examine the question whether Heidegger, who prima facie is not an adherent of the theoretical approach, in his lecture The Fundamental Concepts of Metaphysics actually does argue like an exponent of Philosophical Anthropology.

kannte wissenschaftliche Leistungen […], die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fach-leuten Modelle und Lösungen liefern“ (ebd., 11).

37 Ebd., 69 f.38 J. Fischer, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 19–478.39 Siehe ebd., 90 f., 97 f., 109–111, 221 u. ö.40 Einer der wenigen Autoren, die dies bereits klar gesehen (wenn auch nicht begründet) haben, ist

Hermann Schmitz (ders., Husserl und Heidegger, Bonn 1996, 374, 389, 407, 410). – Peter Sloterdijk dagegen, der sich in der Entfaltung seiner „Anthropotechnik“-Konzeption zwar die Schlüsselworte von Heidegger vorgeben lässt (ders., Domestikation des Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung, in: ders., Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M. 2001, 142–234, hier: 152 ff., 169), bemerkt jedoch dessen Nähe zur Philosophischen Anthropologie nicht. Um „an der Allianz mit Hei-degger“ festhalten zu können, so Sloterdijk, gilt es, „seinen ablehnenden Affekt gegen alle Formen von empirischer und philosophischer Anthropologie einzuklammern und eine neue Konfiguration zwischen der ‚Ontologie‘ und der Anthropologie zu erproben“ (ebd., 153). Obwohl sich Sloterdijk auch auf die Vorlesung von 1929/30 bezieht, sieht er, Scheler und Plessner komplett übergehend, nicht, dass es Heidegger selbst ist, der dort eine solche Konfiguration in mimetischer Anlehnung an die Kategorienbildung der Philosophischen Anthropologie erprobt.