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Suhrkamp Hermann Hesse Die schönsten Erzählungen

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Hermann Hesses Erzählungen zeigen den Weg und die Entwicklungeines Dichters, der es sich leisten kann, auf alles Sensationelle, Extra-vagante und Makabre zu verzichten, weil er auch ohne absichtsvollarrangierte Spannung zu fesseln versteht, indem er den Leser mit sichselbst, seinem eigenen Schicksal, seinen Erfahrungen und Wahrneh-mungen konfrontiert und ihn dabei in seinen besten Intentionenbestärkt. Außergewöhnlich ist auch die thematische Vielfalt dieserGeschichten. Nicht nur die unübertroffene Darstellung von Kind-heits-, Jugend- und Pubertätserfahrungen macht das Unverwechsel-bare dieses Erzählers aus. Auch ein Stück deutscher Vergangenheitwird mit einer Anschaulichkeit überliefert, wie sie kaum ein Histo-riker zu vermitteln vermag. Liebesgeschichten, Schicksale von Aus-steigern und Außenseitern jeder Art, aber auch Gestalten aus derLiteraturgeschichte werden zum Leben erweckt. Natur und Magie,städtisches und ländliches Ambiente auf Schauplätzen, die bis nachIndien reichen, bilden den Hintergrund dieser Geschichten. »Hermann Hesse hat, fern vom Problematischen, immer gut ge-spielt: seine naturalistischen Schilderungen sind fast unübertroffen,kräftig im Ton, bunt in der Farbe, sauber, voll Blut und Luft undAtmosphäre. Er kann, was wenige können, er kann einen Som-merabend und ein erfrischendes Schwimmbad und die schlaffeMüdigkeit nach körperlicher Anstrengung nicht nur schildern – daswäre nicht viel –, aber er kann machen, daß uns heiß und kühl undmüde ums Herz wird.« Kurt TucholskyHermann Hesse, am 2. Juli 1877 in Calw/Württemberg geboren,starb am 9. August 1962 in seiner Wahlheimat Montagnola bei Lu-gano. 1946 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Sein Werk er-scheint im Suhrkamp Verlag.

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Hermann Hesse

Die schönsten

Erzählungen

Suhrkamp

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Zusammengestellt von Volker MichelsUmschlagabbildung:

Hermann Hesse. Stuhl mit Büchern, 1921

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002

Der Text folgt den Bänden 6-8 derSämtlichen Werke von Hermann Hesse

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73256-4www.suhrkamp.de

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Inhalt

Der Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus Kinderzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . In der alten Sonne . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Lateinschüler . . . . . . . . . . . . . . . . . Heumond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das erste Abenteuer . . . . . . . . . . . . . . . . Casanovas Bekehrung . . . . . . . . . . . . . . . Hans Dierlamms Lehrzeit . . . . . . . . . . . . . Taedium vitae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verlobung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doktor Knölges Ende . . . . . . . . . . . . . . . Pater Matthias . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weltverbesserer . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nachtpfauenauge . . . . . . . . . . . . . . . Robert Aghion . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zyklon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenabend . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert . . . . . . . . Kinderseele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fremdenstadt im Süden . . . . . . . . . . . . . Der Bettler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterbrochene Schulstunde . . . . . . . . . . . . . Kaminfegerchen . . . . . . . . . . . . . . . . .

Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Wolf

Noch nie war in den französischen Bergen ein so unheimlichkalter und langer Winter gewesen. Seit Wochen stand die Luftklar, spröde und kalt. Bei Tage lagen die großen, schiefenSchneefelder mattweiß und endlos unter dem grellblauen Him-mel, nachts ging klar und klein der Mond über sie hinweg, eingrimmiger Frostmond von gelbem Glanz, dessen starkes Lichtauf dem Schnee blau und dumpf wurde und wie der leibhaftigeFrost aussah. Die Menschen mieden alle Wege und namentlichdie Höhen, sie saßen träge und schimpfend in den Dorfhütten,deren rote Fenster nachts neben dem blauen Mondlicht rauchigtrüb erschienen und bald erloschen.Das war eine schwere Zeit für die Tiere der Gegend. Die klei-neren erfroren in Menge, auch Vögel erlagen dem Frost, und diehageren Leichname fielen den Habichten und Wölfen zur Beute.Aber auch diese litten furchtbar an Frost und Hunger. Es lebtennur wenige Wolfsfamilien dort, und die Not trieb sie zu festeremVerband. Tagsüber gingen sie einzeln aus. Da und dort stricheiner über den Schnee, mager, hungrig und wachsam, lautlosund scheu wie ein Gespenst. Sein schmaler Schatten glitt nebenihm über die Schneefläche. Spürend reckte er die spitzeSchnauze in den Wind und ließ zuweilen ein trockenes, gequäl-tes Geheul vernehmen. Abends aber zogen sie vollzählig aus unddrängten sich mit heiserem Heulen um die Dörfer. Dort warVieh und Geflügel wohlverwahrt, und hinter festen Fensterla-den lagen Flinten angelegt. Nur selten fiel eine kleine Beute,etwa ein Hund, ihnen zu, und zwei aus der Schar waren schonerschossen worden.Der Frost hielt immer noch an. Oft lagen die Wölfe still undbrütend beisammen, einer am andern sich wärmend, und lausch-ten beklommen in die tote Öde hinaus, bis einer, von den grau-samen Qualen des Hungers gefoltert, plötzlich mit schauerli-chem Gebrüll aufsprang. Dann wandten alle anderen ihm dieSchnauze zu, zitterten und brachen miteinander in ein furcht-bares, drohendes und klagendes Heulen aus.Endlich entschloß sich der kleinere Teil der Schar, zu wandern.Früh am Tage verließen sie ihre Löcher, sammelten sich und

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schnoberten erregt und angstvoll in die frostkalte Luft. Danntrabten sie rasch und gleichmäßig davon. Die Zurückgebliebe-nen sahen ihnen mit weiten, glasigen Augen nach, trabten einpaar Dutzend Schritte hinterher, blieben unschlüssig und ratlosstehen und kehrten langsam in ihre leeren Höhlen zurück.Die Auswanderer trennten sich am Mittag voneinander. Dreivon ihnen wandten sich östlich dem Schweizer Jura zu, die an-deren zogen südlich weiter. Die drei waren schöne, starke Tiere,aber entsetzlich abgemagert. Der eingezogene helle Bauch warschmal wie ein Riemen, auf der Brust standen die Rippen jäm-merlich heraus, die Mäuler waren trocken und die Augen weitund verzweifelt. Zu dreien kamen sie weit in den Jura hinein,erbeuteten am zweiten Tag einen Hammel, am dritten einenHund und ein Füllen und wurden von allen Seiten her wütendvom Landvolk verfolgt. In der Gegend, welche reich an Dörfernund Städten ist, verbreitete sich Schrecken und Scheu vor denungewohnten Eindringlingen. Die Postschlitten wurden be-waffnet, ohne Gewehr ging niemand von einem Dorf zum an-deren. In der fremden Gegend, nach so guter Beute, fühlten sichdie drei Tiere zugleich scheu und wohl; sie wurden tollkühnerals je zu Hause und brachen am hellen Tage in den Stall einesMeierhofes. Gebrüll von Kühen, Geknatter splitternder Holz-schranken, Hufegetrampel und heißer, lechzender Atem erfüll-ten den engen, warmen Raum. Aber diesmal kamen Menschendazwischen. Es war ein Preis auf die Wölfe gesetzt, das verdop-pelte den Mut der Bauern. Und sie erlegten zwei von ihnen, demeinen ging ein Flintenschuß durch den Hals, der andere wurdemit einem Beil erschlagen. Der dritte entkam und rannte solange, bis er halbtot auf den Schnee fiel. Er war der jüngste undschönste von den Wölfen, ein stolzes Tier von mächtiger Kraftund gelenken Formen. Lange blieb er keuchend liegen. Blutigrote Kreise wirbelten vor seinen Augen, und zuweilen stieß erein pfeifendes, schmerzliches Stöhnen aus. Ein Beilwurf hatteihm den Rücken getroffen. Doch erholte er sich und konnte sichwieder erheben. Erst jetzt sah er, wie weit er gelaufen war. Nir-gends waren Menschen oder Häuser zu sehen. Dicht vor ihm lagein verschneiter, mächtiger Berg. Es war der Chasseral. Er be-schloß, ihn zu umgehen. Da ihn Durst quälte, fraß er kleineBissen von der gefrorenen, harten Kruste der Schneefläche.

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Jenseits des Berges traf er sogleich auf ein Dorf. Es ging gegenAbend. Er wartete in einem dichten Tannenforst. Dann schlicher vorsichtig um die Gartenzäune, dem Geruch warmer Ställefolgend. Niemand war auf der Straße. Scheu und lüstern blin-zelte er zwischen den Häusern hindurch. Da fiel ein Schuß. Erwarf den Kopf in die Höhe und griff zum Laufen aus, als schonein zweiter Schuß knallte. Er war getroffen. Sein weißlicher Un-terleib war an der Seite mit Blut befleckt, das in dicken Tropfenzäh herabrieselte. Dennoch gelang es ihm, mit großen Sätzen zuentkommen und den jenseitigen Bergwald zu erreichen. Dortwartete er horchend einen Augenblick und hörte von zwei Sei-ten Stimmen und Schritte. Angstvoll blickte er am Berg empor.Er war steil, bewaldet und mühselig zu ersteigen. Doch bliebihm keine Wahl. Mit keuchendem Atem klomm er die steileBergwand hinan, während unten ein Gewirr von Flüchen, Be-fehlen und Laternenlichtern sich den Berg entlangzog. Zitterndkletterte der verwundete Wolf durch den halbdunkeln Tannen-wald, während aus seiner Seite langsam das braune Blut hinab-rann.Die Kälte hatte nachgelassen. Der westliche Himmel war dun-stig und schien Schneefall zu versprechen.Endlich hatte der Erschöpfte die Höhe erreicht. Er stand nun aufeinem leicht geneigten, großen Schneefeld, nahe bei Mont Cro-sin, hoch über dem Dorf, dem er entronnen. Hunger fühlte ernicht, aber einen trüben, klammernden Schmerz von derWunde. Ein leises, krankes Gebell kam aus seinem hängendenMaul, sein Herz schlug schwer und schmerzhaft und fühlte dieHand des Todes wie eine unsäglich schwere Last auf sich drük-ken. Eine einzeln stehende breitästige Tanne lockte ihn; dortsetzte er sich und starrte trübe in die graue Schneenacht. Einehalbe Stunde verging. Nun fiel ein mattrotes Licht auf denSchnee, sonderbar und weich. Der Wolf erhob sich stöhnendund wandte den schönen Kopf dem Licht entgegen. Es war derMond, der im Südost riesig und blutrot sich erhob und langsamam trüben Himmel höher stieg. Seit vielen Wochen war er nie sorot und groß gewesen. Traurig hing das Auge des sterbendenTieres an der matten Mondscheibe, und wieder röchelte einschwaches Heulen schmerzlich und tonlos in die Nacht.Da kamen Lichter und Schritte nach. Bauern in dicken Mänteln,

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Jäger und junge Burschen in Pelzmützen und mit plumpen Ga-maschen stapften durch den Schnee. Gejauchze erscholl. Manhatte den verendenden Wolf entdeckt, zwei Schüsse wurden aufihn abgedrückt und beide fehlten. Dann sahen sie, daß er schonim Sterben lag, und fielen mit Stöcken und Knüppeln über ihnher. Er fühlte es nicht mehr.Mit zerbrochenen Gliedern schleppten sie ihn nach St. Immerhinab. Sie lachten, sie prahlten, sie freuten sich auf Schnaps undKaffee, sie sangen, sie fluchten. Keiner sah die Schönheit desverschneiten Forstes, noch den Glanz der Hochebene, noch denroten Mond, der über dem Chasseral hing und dessen schwachesLicht in ihren Flintenläufen, in den Schneekristallen und in dengebrochenen Augen des erschlagenen Wolfes sich brach. (1903)

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Aus Kinderzeiten

Der ferne braune Wald hat seit wenigen Tagen einen heiterenSchimmer von jungem Grün; am Lettensteg fand ich heute dieerste halberschlossene Primelblüte; am feuchten klaren Himmelträumen die sanften Aprilwolken, und die weiten, kaum ge-pflügten Äcker sind so glänzend braun und breiten sich derlauen Luft so verlangend entgegen, als hätten sie Sehnsucht, zuempfangen und zu treiben und ihre stummen Kräfte in tausendgrünen Keimen und aufstrebenden Halmen zu erproben, zufühlen und wegzuschenken. Alles wartet, alles bereitet sich vor,alles träumt und sproßt in einem feinen, zärtlich drängendenWerdefieber – der Keim der Sonne, die Wolke dem Acker, dasjunge Gras den Lüften entgegen. Von Jahr zu Jahr steh ich umdiese Zeit mit Ungeduld und Sehnsucht auf der Lauer, als müßteein besonderer Augenblick mir das Wunder der Neugeburt er-schließen, als müsse es geschehen, daß ich einmal, eine Stundelang, die Offenbarung der Kraft und der Schönheit ganz säheund begriffe und miterlebte, wie das Leben lachend aus der Erdespringt und junge große Augen zum Licht aufschlägt. Jahr fürJahr auch tönt und duftet das Wunder an mir vorbei, geliebt undangebetet – und unverstanden; es ist da, und ich sah es nichtkommen, ich sah nicht die Hülle des Keimes brechen und denersten zarten Quell im Lichte zittern. Blumen stehen plötzlichallerorten, Bäume glänzen mit lichtem Laub oder mit schaumigweißer Blust, und Vögel werfen sich jubelnd in schönen Bogendurch die warme Bläue. Das Wunder ist erfüllt, ob ich es auchnicht gesehen habe, Wälder wölben sich, und ferne Gipfel rufen,und es ist Zeit, Stiefel und Tasche, Angelstock und Ruderzeug zurüsten und sich mit allen Sinnen des jungen Jahres zu freuen, dasjedesmal schöner ist, als es jemals war, und das jedesmal eiligerzu schreiten scheint. – Wie lang, wie unerschöpflich lang ist einFrühling vorzeiten gewesen, als ich noch ein Knabe war!Und wenn die Stunde es gönnt und mein Herz guter Dinge ist,leg ich mich lang ins feuchte Gras oder klettere den nächstentüchtigen Stamm hinan, wiege mich im Geäst, rieche den Knos-penduft und das frische Harz, sehe Zweigenetz und Grün undBlau sich über mir verwirren und trete traumwandelnd als ein

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stiller Gast in den seligen Garten meiner Knabenzeit. Das ge-lingt so selten und ist so köstlich, einmal wieder sich dort hin-überzuschwingen und die klare Morgenluft der ersten Jugend zuatmen und noch einmal, für Augenblicke, die Welt so zu sehen,wie sie aus Gottes Händen kam und wie wir alle sie in Kinder-zeiten gesehen haben, da in uns selber das Wunder der Kraft undder Schönheit sich entfaltete.Da stiegen die Bäume so freudig und trotzig in die Lüfte, dasproß im Garten Narziß und Hyazinth so glanzvoll schön; unddie Menschen, die wir noch so wenig kannten, begegneten unszart und gütig, weil sie auf unserer glatten Stirn noch den Hauchdes Göttlichen fühlten, von dem wir nichts wußten und das unsungewollt und ungewußt im Drang des Wachsens abhandenkam. Was war ich für ein wilder und ungebändigter Bub, wievielSorgen hat der Vater von klein auf um mich gehabt und wievielAngst und Seufzen die Mutter! – und doch lag auch auf meinerStirne Gottes Glanz, und was ich ansah, war schön und lebendig,und in meinen Gedanken und Träumen, auch wenn sie gar nichtfrommer Art waren, gingen Engel und Wunder und Märchengeschwisterlich aus und ein.Mir ist aus Kinderzeiten her mit dem Geruch des frischgepflüg-ten Ackerlandes und mit dem keimenden Grün der Wälder eineErinnerung verknüpft, die mich in jedem Frühling heimsuchtund mich nötigt, jene halbvergessene und unbegriffene Zeit fürStunden wieder zu leben. Auch jetzt denke ich daran und willversuchen, wenn es möglich ist, davon zu erzählen.

In unserer Schlafkammer waren die Läden zu, und ich lag imDunkel halbwach, hörte meinen kleinen Bruder neben mir infesten, gleichen Zügen atmen und wunderte mich wieder dar-über, daß ich bei geschlossenen Augen statt des schwarzen Dun-kels lauter Farben sah, violette und trübdunkelrote Kreise, diebeständig weiter wurden und in die Finsternis zerflossen undbeständig von innen her quellend sich erneuerten, jeder von ei-nemdünnengelbenStreifenumrändert.Auchhorchte ichaufdenWind, der von den Bergen her in lauen, lässigen Stößen kam undweich in den großen Pappeln wühlte und sich zuzeiten schwergegen das ächzende Dach lehnte. Es tat mir wieder leid, daß Kin-der nachts nicht aufbleiben und hinausgehen oder wenigstens am

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Fenster sein dürfen, und ich dachte an eine Nacht, in der dieMutter vergessen hatte, die Läden zu schließen.Da war ich mitten in der Nacht aufgewacht und leise aufgestan-den und mit Zagen ans Fenster gegangen, und vor dem Fensterwar es seltsam hell, gar nicht schwarz und todesfinster, wie ich’smir vorgestellt hatte. Es sah alles dumpf und verwischt und trau-rig aus, große Wolken stöhnten über den ganzen Himmel unddie bläulich-schwarzen Berge schienen mitzufluten, als hättensie alle Angst und strebten davon, um einem nahenden Unglückzu entrinnen. Die Pappeln schliefen und sahen ganz matt aus wieetwas Totes oder Erloschenes, auf dem Hof aber stand wie sonstdie Bank und der Brunnentrog und der junge Kastanienbaum,auch sie ein wenig müd und trüb. Ich wußte nicht, ob es kurzoder lang war, daß ich im Fenster saß und in die bleiche ver-wandelte Welt hinüberschaute; da fing in der Nähe ein Tier zuklagen an, ängstlich und weinerlich. Es konnte ein Hund oderauch ein Schaf oder Kalb sein, das erwacht war und im DunkelnAngst verspürte. Sie faßte auch mich, und ich floh in meineKammer und in mein Bett zurück, ungewiß, ob ich weinen sollteoder nicht. Aber ehe ich dazu kam, war ich eingeschlafen.Das alles lag jetzt wieder rätselhaft und lauernd draußen, hinterden verschlossenen Läden, und es wäre so schön und gefährlichgewesen, wieder hinauszusehen. Ich stellte mir die trübenBäume wieder vor, das müde, ungewisse Licht, den verstumm-ten Hof, die samt den Wolken fortfliehenden Berge, die fahlenStreifen am Himmel und die bleiche, undeutlich in die graueWeite verschimmernde Landstraße. Da schlich nun, in einengroßen, schwarzen Mantel verhüllt, ein Dieb, oder ein Mörder,oder es war jemand verirrt und lief dort hin und her, von derNacht geängstigt und von Tieren verfolgt. Es war vielleicht einKnabe, so alt wie ich, der verlorengegangen oder fortgelaufenoder geraubt worden oder ohne Eltern war, und wenn er auchMut hatte, so konnte doch der nächste Nachtgeist ihn umbrin-gen oder der Wolf ihn holen. Vielleicht nahmen ihn auch dieRäuber mit in den Wald, und er wurde selber ein Räuber, bekamein Schwert oder eine zweiläufige Pistole, einen großen Hut undhohe Reiterstiefel.Von hier war es nur noch ein Schritt, ein willenloses Sichfallen-lassen, und ich stand im Träumeland und konnte alles mit Augen

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sehen und mit Händen anfassen, was jetzt noch Erinnerung undGedanke und Phantasie war.Ich schlief aber nicht ein, denn in diesem Augenblick floß durchdas Schlüsselloch der Kammertür, aus der Schlafstube der Elternher, ein dünner, roter Lichtstrom zu mir herein, füllte die Dun-kelheit mit einer schwachen zitternden Ahnung von Licht undmalte auf die plötzlich matt aufschimmernde Tür des Kleider-kastens einen gelben, zackigen Fleck. Ich wußte, daß jetzt derVater ins Bett ging. Sachte hörte ich ihn in Strümpfen herumlau-fen, und gleich darauf vernahm ich auch seine gedämpfte tiefeStimme. Er sprach noch ein wenig mit der Mutter.»Schlafen die Kinder?« hörte ich ihn fragen.»Ja, schon lang«, sagte die Mutter, und ich schämte mich, daß ichnun doch wach war. Dann war es eine Weile still, aber das Lichtbrannte fort. Die Zeit wurde mir lang, und der Schlummerwollte mir schon bis in die Augen steigen, da fing die Mutternoch einmal an.»Hast auch nach dem Brosi gefragt?«»Ich hab ihn selber besucht«, sagte der Vater. »Am Abend binich dort gewesen. Der kann einem leid tun.«»Geht’s denn so schlecht?«»Ganz schlecht. Du wirst sehen, wenn’s Frühjahr kommt, wirdes ihn wegnehmen. Er hat schon den Tod im Gesicht.«»Was denkst du«, sagt die Mutter, »soll ich den Buben einmalhinschicken? Es könnt vielleicht gut tun.«»Wie du willst«, meinte der Vater, »aber nötig ist’s nicht. Wasversteht so ein klein Kind davon?«»Also gut Nacht.«»Ja, gut Nacht.«Das Licht ging aus, die Luft hörte auf zu zittern, Boden undKastentür waren wieder dunkel, und wenn ich die Augen zu-machte, konnte ich wieder violette und dunkelrote Ringe miteinem gelben Rand wogen und wachsen sehen.Aber während die Eltern einschliefen und alles still war, arbei-tete meine plötzlich erregte Seele mächtig in die Nacht hinein.Das halbverstandene Gespräch war in sie gefallen wie eineFrucht in den Teich, und nun liefen schnellwachsende Kreiseeilig und ängstlich über sie hinweg und machten sie vor bangerNeugierde zittern.

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Der Brosi, von dem die Eltern gesprochen hatten, war fast ausmeinem Gesichtskreis verloren gewesen, höchstens war er nocheine matte, beinahe schon verglühte Erinnerung. Nun rang ersich, dessen Namen ich kaum mehr gewußt hatte, langsamkämpfend empor und wurde wieder zu einem lebendigen Bild.Zuerst wußte ich nur, daß ich diesen Namen früher einmal oftgehört und selber gerufen habe. Dann fiel ein Herbsttag mir ein,an dem ich von jemand Äpfel geschenkt bekommen hatte. Daerinnerte ich mich, daß das Brosis Vater gewesen sei, und dawußte ich plötzlich alles wieder.Ich sah also einen hübschen Knaben, ein Jahr älter, aber nichtgrößer als ich, der hieß Brosi. Vielleicht vor einem Jahre war seinVater unser Nachbar und der Bub mein Kamerad geworden;doch reichte mein Gedächtnis nimmer dahin zurück. Ich sah ihnwieder deutlich: er trug eine gestrickte blaue Wollkappe mitzwei merkwürdigen Hörnern, und er hatte immer Äpfel oderSchnitzbrot im Sack, und er hatte gewöhnlich einen Einfall undein Spiel und einen Vorschlag parat, wenn es anfangen wollte,langweilig zu werden. Er trug eine Weste, auch werktags,worum ich ihn sehr beneidete, und früher hatte ich ihm fast garkeine Kraft zugetraut, aber da hieb er einmal den Schmieds-barzle vom Dorf, der ihn wegen seiner Hörnerkappe verhöhnte(und die Kappe war von seiner Mutter gestrickt), jämmerlichdurch, und dann hatte ich eine Zeitlang Angst vor ihm. Er besaßeinen zahmen Raben, der hatte aber im Herbst zu viel jungeKartoffeln ins Futter bekommen und war gestorben, und wirhatten ihn begraben. Der Sarg war eine Schachtel, aber sie war zuklein, der Deckel ging nicht mehr drüber, und ich hielt eineGrabrede wie ein Pfarrer, und als der Brosi dabei anfing zu wei-nen, mußte mein kleiner Bruder lachen; da schlug ihn der Brosi,da schlug ich ihn wieder, der Kleine heulte, und wir liefen aus-einander, und nachher kam Brosis Mutter zu uns herüber undsagte, es täte ihm leid, und wenn wir morgen nachmittag zu ihrkommen wollten, so gäbe es Kaffee und Hefekranz, er sei schonim Ofen. Und bei dem Kaffee erzählte der Brosi uns eine Ge-schichte, die fing mittendrin immer wieder von vorne an, undobwohl ich die Geschichte nie behalten konnte, mußte ich dochlachen, sooft ich daran dachte.Das war aber nur der Anfang. Es fielen mir zu gleicher Zeit

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tausend Erlebnisse ein, alle aus dem Sommer und Herbst, woBrosi mein Kamerad gewesen war, und alle hatte ich in den paarMonaten, seit er nimmer kam, so gut wie vergessen. Nun dran-gen sie von allen Seiten her, wie Vögel, wenn man im WinterKörner wirft, alle zugleich, ein ganzes Gewölk.Es fiel mir der glänzende Herbsttag wieder ein, an dem desDachtelbauers Turmfalk aus der Remise durchgegangen war.Der beschnittene Flügel war ihm gewachsen, das messingeneFußkettlein hatte er durchgerieben und den engen finsterenSchuppen verlassen. Jetzt saß er dem Haus gegenüber ruhig aufeinem Apfelbaum, und wohl ein Dutzend Leute stand auf derStraße davor, schaute hinauf und redete und machte Vorschläge.Da war uns Buben sonderbar beklommen zumute, dem Brosiund mir, wie wir mit allen anderen Leuten dastanden und denVogel anschauten, der still im Baume saß und scharf und kühnherabäugte. »Der kommt nicht wieder«, rief einer. Aber derKnecht Gottlob sagte: »Fliegen, wann er noch könnt, dann wärer schon lang über Berg und Tal.« Der Falk probierte, ohne denAst mit den Krallen loszulassen, mehrmals seine großen Flügel;wir waren schrecklich aufgeregt, und ich wußte selber nicht, wasmich mehr freuen würde, wenn man ihn finge oder wenn erdavonkäme. Schließlich wurde vom Gottlob eine Leiter ange-legt, der Dachtelbauer stieg selber hinauf und streckte die Handnach seinem Falken aus. Da ließ der Vogel den Ast fahren undfing an, stark mit den Flügeln zu flattern. Da schlug uns Knabendas Herz so laut, daß wir kaum atmen konnten; wir starrtenbezaubert auf den schönen, flügelschlagenden Vogel, und dannkam der herrliche Augenblick, daß der Falke ein paar großeStöße tat, und wie er sah, daß er noch fliegen konnte, stieg erlangsam und stolz in großen Kreisen höher und höher in dieLuft, bis er so klein wie eine Feldlerche war und still im flim-mernden Himmel verschwand. Wir aber, als die Leute schonlang verlaufen waren, standen noch immer da, hatten die Köpfenach oben gestreckt und suchten den ganzen Himmel ab, und datat der Brosi plötzlich einen hohen Freudensatz in die Luft undschrie dem Vogel nach: »Flieg du, flieg du, jetzt bist du wiederfrei.«Auch an den Karrenschuppen des Nachbars mußte ich denken.In dem hockten wir, wenn es so recht herunterregnete, im Halb-

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dunkel beisammengekauert, hörten dem Klingen und Tosen desPlatzregens zu und betrachteten den Hofboden, wo Bäche,Ströme und Seen entstanden und sich ergossen und durchkreuz-ten und veränderten. Und einmal, als wir so hockten und lausch-ten, fing der Brosi an und sagte: »Du, jetzt kommt die Sündflut,was machen wir jetzt? Also alle Dörfer sind schon ertrunken,das Wasser geht jetzt schon bis an den Wald.« Da dachten wiruns alles aus, spähten im Hof umher, horchten auf den schüt-tenden Regen und vernahmen darin das Brausen ferner Wogenund Meeresströmungen. Ich sagte, wir müßten ein Floß aus vieroder fünf Balken machen, das würde uns zwei schon tragen. Daschrie mich der Brosi aber an: »So, und dein Vater und die Mut-ter, und mein Vater und meine Mutter, und die Katz und deinKleiner? Die nimmst nicht mit?« Daran hatte ich in der Aufre-gung und Gefahr freilich nicht gedacht, und ich log zur Ent-schuldigung: »Ja, ich hab mir gedacht, die seien alle schon un-tergegangen.« Er aber wurde nachdenklich und traurig, weil ersich das deutlich vorstellte, und dann sagte er: »Wir spielen jetztwas anderes.«Und damals, als sein armer Rabe noch am Leben war und überallherumhüpfte, hatten wir ihn einmal in unser Gartenhaus mit-genommen, wo er auf den Querbalken gesetzt wurde und hinund her lief, weil er nicht herunterkonnte. Ich streckte ihm denZeigefinger hin und sagte im Spaß: »Da, Jakob, beiß!« Da hackteer mich in den Finger. Es tat nicht besonders weh, aber ich warzornig geworden und schlug nach ihm und wollte ihn strafen.Der Brosi packte mich aber um den Leib und hielt mich fest, bisder Vogel, der in der Angst vom Balken heruntergeflügelt war,sich hinausgerettet hatte. »Laß mich los«, schrie ich, »er hat michgebissen«, und rang mit ihm.»Du hast selber zu ihm gesagt: Jakob beiß!« rief der Brosi underklärte mir deutlich, der Vogel sei ganz in seinem Recht gewe-sen. Ich war ärgerlich über seine Schulmeisterei, sagte »meinet-wegen« und beschloß aber im stillen, mich ein anderes Mal andem Raben zu rächen.Nachher, als Brosi schon aus dem Garten und halbwegs daheimwar, rief er mir noch einmal und kehrte um, und ich wartete aufihn. Er kam her und sagte: »Du, gelt, du versprichst mir ganzgewiß, daß du dem Jakob nichts mehr tust?« Und als ich keine

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Antwort gab und trotzig war, versprach er mir zwei große Äp-fel, und ich nahm an, und dann ging er heim.Gleich darauf wurden auf dem Baum in seines Vaters Gartendie ersten Jakobiäpfel reif; da gab er mir die versprochenenzwei Äpfel, von den schönsten und größten. Ich schämte michjetzt und wollte sie nicht gleich annehmen, bis er sagte:»Nimm doch, es ist ja nicht mehr wegen dem Jakob, ich hättsie dir auch so gegeben, und dein Kleiner kriegt auch einen.«Da nahm ich sie.Aber einmal waren wir den ganzen Nachmittag auf dem Wie-senland herumgesprungen und dann in den Wald hineingegan-gen, wo unter dem Gebüsch weiches Moos wuchs. Wir warenmüd und setzten uns auf den Boden. Ein paar Fliegen sumstenüber einem Pilz, und allerlei Vögel flogen; von denen kanntenwir einige, die meisten aber nicht; auch hörten wir einen Spechtfleißig klopfen, und es wurde uns ganz wohl und froh zumute,so daß wir fast gar nichts zueinander sagten, und nur wenn eineretwas Besonderes entdeckt hatte, deutete er dorthin und zeigtees dem andern. In dem überwölbten grünen Raume floß eingrünes mildes Licht, während der Waldgrund in die Weite sich inahnungsvolle braune Dämmerung verlor. Was sich dort hintenregte, Blättergeräusch und Vogelschlag, das kam aus verzauber-ten Märchengründen her, klang mit geheimnisvoll fremdem Tonund konnte viel bedeuten.Weil es dem Brosi zu warm vom Laufen war, zog er seine Jackeaus und dann auch noch die Weste und legte sich ganz ins Mooshin. Da kam es, daß er sich umdrehte, und sein Hemd ging amHalse auf, und ich erschrak mächtig, denn ich sah über seineweiße Schulter eine lange rote Narbe hinlaufen. Gleich wollteich ihn ausfragen, wo denn die Narbe herkäme, und freute michschon auf eine rechte Unglücksgeschichte; aber wer weiß, wie eskam, ich mochte auf einmal doch nicht fragen und tat so, alshätte ich gar nichts gesehen. Jedoch zugleich tat mir Brosi mitseiner großen Narbe furchtbar leid, sie hatte sicher schrecklichgeblutet und weh getan, und ich faßte in diesem Augenblick eineviel stärkere Zärtlichkeit zu ihm als früher, konnte aber nichtssagen. Also gingen wir später miteinander aus dem Wald undkamen heim, dann holte ich in der Stube meine beste Kugel-büchse aus einem dicken Holderstamm, die hatte mir der

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Knecht einmal gemacht, und ging wieder hinunter und schenktesie dem Brosi. Er meinte zuerst, es sei ein Spaß, dann aber wollteer sie nicht nehmen und legte sogar die Hände auf den Rücken,und ich mußte ihm die Büchse in die Tasche stecken.Und eine Geschichte um die andere, alle kamen sie mir wieder.Auch die vom Tannenwald, der stand auf der anderen Seite vomBach, und einmal war ich mit meinem Kameraden hinüberge-gangen, weil wir gern die Rehe gesehen hätten. Wir traten in denweiten Raum, auf den glatten braunen Boden zwischen den him-melhohen geraden Stämmen, aber so weit wir liefen, wir fandenkein einziges Reh. Dafür sahen wir eine Menge große Felsen-stücke zwischen den bloßen Tannenwurzeln liegen, und fast allediese Steine hatten Stellen, wo ein schmales Büschelchen hellesMoos auf ihnen wuchs, wie kleine grüne Male. Ich wollte so einMoosplätzchen abschälen, es war nicht viel größer als eineHand. Aber der Brosi sagte schnell: »Nein, laß es dran!« Ichfragte warum, und er erklärte mir: »Das ist, wenn ein Engeldurch den Wald geht, dann sind das seine Tritte; überall wo erhintritt, wächst gleich so ein Moosplatz in den Stein.« Nun ver-gaßen wir die Rehe und warteten, ob vielleicht gerade ein Engelkäme. Wir blieben stehen und paßten auf; im ganzen Wald wareine Todesstille, und auf dem braunen Boden fackelten helleSonnenflecken, in der Ferne gingen die senkrechten Stämme wieeine hohe rote Säulenwand zusammen, in der Höhe stand hinterden dichten schwarzen Kronen der blaue Himmel. Ein ganzschwaches kühles Wehen lief unhörbar hin und wieder vorüber.Da wurden wir beide bang und feierlich, weil es so ruhig undeinsam war und weil vielleicht bald ein Engel kam, und wirgingen nach einer Weile ganz still und schnell miteinander weg,an den vielen Steinen und Stämmen vorbei und aus dem Waldhinaus. Als wir wieder auf der Wiese und über dem Bach waren,sahen wir noch eine Zeitlang hinüber, dann liefen wir schnellnach Haus.Später hatte ich noch einmal mit dem Brosi Streit, dann versöhn-ten wir uns wieder. Es ging schon gegen den Winter hin, da hießes, der Brosi sei krank und ob ich nicht zu ihm gehen wollte. Ichging auch ein- oder zweimal, da lag er im Bett und sagte fast garnichts, und es war mir bang und langweilig, obgleich seine Mut-ter mir eine halbe Orange schenkte. Und dann kam nichts mehr;

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ich spielte mit meinem Bruder und mit dem Löhnersnikel odermit den Mädchen, und so ging eine lange, lange Zeit vorbei. Esfiel Schnee und schmolz wieder und fiel noch einmal; der Bachfror zu, ging wieder auf und war braun und weiß und machteeine Überschwemmung und brachte vom Obertal eine ertrun-kene Sau und eine Menge Holz mit; es wurden kleine Hühnergeboren, und drei davon starben; mein Brüderlein wurde krankund wurde wieder gesund; es war in den Scheuern gedroschenund in den Stuben gesponnen worden, und jetzt wurden dieFelder wieder gepflügt, alles ohne den Brosi. So war er fernerund ferner geworden und am Ende verschwunden und von mirvergessen worden – bis jetzt, bis auf diese Nacht, wo das roteLicht durchs Schlüsselloch floß und ich den Vater zur Muttersagen hörte: »Wenn’s Frühjahr kommt, wird’s ihn wegneh-men.«Unter vielen sich verwirrenden Erinnerungen und Gefühlenschlief ich ein, und vielleicht wäre schon am nächsten Tage imDrang des Erlebens das kaum erwachte Gedächtnis an den ent-schwundenen Spielgefährten wieder untergesunken und wäredann vielleicht nie mehr in der gleichen, frischen Schönheit undStärke zurückgekommen. Aber gleich beim Frühstück fragtemich die Mutter: »Denkst du auch noch einmal an den Brosi, derimmer mit euch gespielt hat?«Da rief ich »ja«, und sie fuhr fort mit ihrer guten Stimme: »ImFrühjahr, weißt du, wäret ihr beide miteinander in die Schulegekommen. Aber jetzt ist er so krank, daß es vielleicht nichtsdamit sein wird. Willst du einmal zu ihm gehen?«Sie sagte das so ernsthaft, und ich dachte an das, was ich in derNacht den Vater hatte sagen hören, und ich fühlte ein Grauen,aber zugleich eine angstvolle Neugierde. Der Brosi sollte, nachdes Vaters Worten, den Tod im Gesicht haben, und das schienmir unsäglich grauenhaft und wunderbar.Ich sagte wieder »ja«, und die Mutter schärfte mir ein: »Denkdran, daß er so krank ist! Du kannst jetzt nicht mit ihm spielenund darfst kein Lärmen vollführen.«Ich versprach alles und bemühte mich schon jetzt, ganz still undbescheiden zu sein, und noch am gleichen Morgen ging ich hin-über. Vor dem Hause, das ruhig und ein wenig feierlich hinterseinen beiden kahlen Kastanienbäumen im kühlen Vormittags-

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licht lag, blieb ich stehen und wartete eine Weile, horchte in denFlur hinein und bekam fast Lust, wieder heimzulaufen. Da faßteich mir ein Herz, stieg schnell die drei roten Steinstufen hinaufund durch die offenstehende Türhälfte, sah mich im Gehen umund klopfte an die nächste Tür. Des Brosi Mutter war einekleine, flinke und sanfte Frau, die kam heraus und hob mich aufund gab mir einen Kuß, und dann fragte sie: »Hast du zum Brosikommen wollen?«Es ging nicht lang, so stand sie im oberen Stockwerk vor einerweißen Kammertür und hielt mich an der Hand. Auf diese ihreHand, die mich zu den dunkel vermuteten grauenhaften Wun-derdingen führen sollte, sah ich nicht anders als auf die einesEngels oder eines Zauberers. Das Herz schlug mir geängstigtund ungestüm wie ein Warner, und ich zögerte nach Kräften undstrebte zurück, so daß die Frau mich fast in die Stube ziehenmußte. Es war eine große, helle und behaglich nette Kammer; ichstand verlegen und grausend an der Tür und schaute auf daslichte Bett hin, bis die Frau mich hinzuführte. Da drehte derBrosi sich zu uns herum.Und ich blickte aufmerksam in sein Gesicht, das war schmal undspitzig, aber den Tod konnte ich nicht darin sehen, sondern nurein feines Licht, und in den Augen etwas Ungewohntes, gütigErnstes und Geduldiges, bei dessen Anblick mir ähnlich umsHerz ward wie bei jenem Stehen und Lauschen im schweigen-den Tannenwald, da ich in banger Neugierde den Atem anhieltund Engelsschritte in meiner Nähe vorbeigehen spürte.Der Brosi nickte und streckte mir eine Hand hin, die heiß undtrocken und abgezehrt war. Seine Mutter streichelte ihn, nicktemir zu und ging wieder aus der Stube; so stand ich allein anseinem kleinen hohen Bett und sah ihn an, und eine Zeitlangsagten wir beide kein Wort.»So, bist du’s denn noch?« sagte dann der Brosi.Und ich: »Ja, und du auch noch?«Und er: »Hat dich deine Mutter geschickt?«Ich nickte.Er war müde und ließ jetzt den Kopf wieder auf das Kissenfallen. Ich wußte gar nichts zu sagen, nagte an meiner Mützen-troddel und sah ihn nur immer an und er mich, bis er lächelte undzum Scherz die Augen schloß.

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Da schob er sich ein wenig auf die Seite, und wie er es tat, sah ichplötzlich unter den Hemdknöpfen durch den Ritz etwas Rotesschimmern, das war die große Narbe auf seiner Schulter, und alsich die gesehen hatte, mußte ich auf einmal heulen.»Ja, was hast du denn?« fragte er gleich.Ich konnte keine Antwort geben, weinte weiter und wischte mirdie Backen mit der rauhen Mütze ab, bis es weh tat.»Sag’s doch. Warum weinst du?«»Bloß weil du so krank bist«, sagte ich jetzt. Aber das war nichtdie eigentliche Ursache. Es war nur eine Woge von heftiger undmitleidiger Zärtlichkeit, wie ich sie schon früher einmal gespürthatte, die quoll plötzlich in mir auf und konnte sich nicht andersLuft machen.»Das ist nicht so schlimm«, sagte der Brosi.»Wirst du bald wieder gesund?«»Ja, vielleicht.«»Wann denn?«»Ich weiß nicht. Es dauert lang.«Nach einer Zeit merkte ich auf einmal, daß er eingeschlafen war.Ich wartete noch eine Weile, dann ging ich hinaus, die Stiegehinunter und wieder heim, wo ich sehr froh war, daß die Muttermich nicht ausfragte. Sie hatte wohl gesehen, daß ich verändertwar und etwas erlebt hatte, und sie strich mir nur übers Haar undnickte, ohne etwas zu sagen.Trotzdem kann es wohl sein, daß ich an jenem Tage noch sehrausgelassen, wild und ungattig war, sei es, daß ich mit meinemkleinen Bruder händelte oder daß ich die Magd am Herd ärgerteoder im nassen Feld strolchte und besonders schmutzig heim-kam. Etwas Derartiges ist jedenfalls gewesen, denn ich weißnoch gut, daß am selben Abend meine Mutter mich sehr zärtlichund ernst ansah – mag sein, daß sie mich gern ohne Worte anheute morgen erinnert hätte. Ich verstand sie auch wohl undfühlte Reue, und als sie das merkte, tat sie etwas Besonderes. Siegab mir von ihrem Ständer am Fenster einen kleinen Tonscher-ben voll Erde, darin steckte eine schwärzliche Knolle, und diesehatte schon ein paar spitzige, hellgrüne, saftige junge Blättleingetrieben. Es war eine Hyazinthe. Die gab sie mir und sagtedazu: »Paß auf, das geb ich dir jetzt. Später wird’s dann einegroße rote Blume. Dort stell ich sie hin, und du mußt darauf

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achtgeben, man darf sie nicht anrühren und herumtragen, undjeden Tag muß man sie zweimal gießen; wenn du es vergißt, sagich dir’s schon. Wenn es aber eine schöne Blume werden will,darfst du sie nehmen und dem Brosi hinbringen, daß er eineFreude hat. Kannst du dran denken?«Sie tat mich ins Bett, und ich dachte indessen mit Stolz an dieBlume, deren Wartung mir als ein ehrenvoll wichtiges Amt er-schien, aber gleich am nächsten Morgen vergaß ich das Begießen,und die Mutter erinnerte mich daran. »Und was ist denn mit demBrosi seinem Blumenstock?« fragte sie, und sie hat es in jenenTagen mehr als das eine Mal sagen müssen. Dennoch beschäf-tigte und beglückte mich damals nichts so stark wie mein Blu-menstock. Es standen noch genug andere, auch größere undschönere, im Zimmer und im Garten, und Vater und Mutterhatten sie mir oft gezeigt. Aber es war nun doch das erstemal,daß ich mit dem Herzen dabei war, ein solches kleines Wachs-tum mit anzuschauen, zu erwünschen und zu pflegen und Sorgedarum zu haben.Ein paar Tage lang sah es mit dem Blümlein nicht erfreulich aus,es schien an irgendeinem Schaden zu leiden und nicht die rech-ten Kräfte zum Wachsen zu finden. Als ich darüber zuerst be-trübt und dann ungeduldig wurde, sagte die Mutter einmal:»Siehst du, mit dem Blumenstock ist’s jetzt gerade so wie mitdem Brosi, der so krank ist. Da muß man noch einmal so lieb undsorgsam sein wie sonst.«Dieser Vergleich war mir verständlich und brachte mich bald aufeinen ganz neuen Gedanken, der mich nun völlig beherrschte.Ich fühlte jetzt einen geheimen Zusammenhang zwischen derkleinen, mühsam strebenden Pflanze und dem kranken Brosi, jaich kam schließlich zu dem festen Glauben, wenn die Hyazinthegedeihe, müsse auch mein Kamerad wieder gesund werden.Käme sie aber nicht davon, so würde er sterben, und ich trügedann vielleicht, wenn ich die Pflanze vernachlässigt hätte, mitSchuld daran. Als dieser Gedankenkreis in mir fertig gewordenwar, hütete ich den Blumentopf mit Angst und Eifersucht wieeinen Schatz, in welchem besondere, nur mir bekannte und an-vertraute Zauberkräfte verschlossen wären.

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Drei oder vier Tage nach meinem ersten Besuch – die Pflanze sahnoch ziemlich kümmerlich aus – ging ich wieder ins Nachbar-haus hinüber. Brosi mußte ganz still liegen, und da ich nichts zusagen hatte, stand ich nahe am Bett und sah das nach oben ge-richtete Gesicht des Kranken an, das zart und warm aus weißenBett-Tüchern schaute. Er machte hin und wieder die Augen aufund wieder zu, sonst bewegte er sich nicht, und ein klügerer undälterer Zuschauer hätte vielleicht etwas davon gefühlt, daß deskleinen Brosi Seele schon unruhig war und sich auf die Heim-kehr besinnen wollte. Als gerade eine Angst vor der Stille desStübleins über mich kommen wollte, trat die Nachbarin hereinund holte mich freundlich und leisen Schrittes weg.Das nächste Mal kam ich mit viel froherem Herzen, denn zuHause trieb mein Blumenstock mit neuer Lust und Kraft seinespitzigen freudigen Blätter heraus. Diesmal war auch der Kran-ke sehr munter.»Weißt du auch noch, wie der Jakob noch am Leben war?« fragteer mich.Und wir erinnerten uns an den Raben und sprachen von ihm,ahmten die drei Wörtlein nach, die er hatte sagen können, undredeten mit Begierde und Sehnsucht von einem grau und rotenPapagei, der sich vorzeiten einmal hierher verirrt haben sollte.Ich kam ins Plaudern, und während der Brosi bald wieder er-müdete, hatte ich sein Kranksein für den Augenblick ganz ver-gessen. Ich erzählte die Geschichte vom entflogenen Papagei, diezu den Legenden unseres Hauses gehörte. Ihr Glanzpunkt warder, daß ein alter Hofknecht den schönen Vogel auf dem Dachdes Schuppens sitzen sah, sogleich eine Leiter anlegte und ihneinfangen wollte. Als er auf dem Dach erschien und sich demPapagei vorsichtig näherte, sagte dieser: »Guten Tag!« Da zogder Knecht seine Kappe herunter und sagte: »Bitt um Verge-bung, jetzt hätt ich fast gemeint, Ihr wäret ein Vogeltier.«Als ich das erzählt hatte, dachte ich, der Brosi müsse nun not-wendig laut hinauslachen. Da er es nicht gleich tat, sah ich ihnganz verwundert an. Ich sah ihn fein und herzlich lächeln, undseine Backen waren ein wenig röter als vorher, aber er sagtenichts und lachte nicht laut.Da kam es mir plötzlich vor, als sei er um viele Jahre älter als ich.Meine Lustigkeit war im Augenblick erloschen, statt ihrer befiel

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mich Verwirrung und Bangigkeit, denn ich empfand wohl, daßzwischen uns beiden jetzt etwas Neues fremd und störend auf-gewachsen sei.Es surrte eine große Winterfliege durchs Zimmer, und ich fragte,ob ich sie fangen solle.»Nein, laß sie doch!« sagte der Brosi.Auch das kam mir vor, wie von einem Erwachsenen gesprochen.Befangen ging ich fort.Auf dem Heimweg empfand ich zum erstenmal in meinem Le-ben etwas von der ahnungsvollen verschleierten Schönheit desVorfrühlings, das ich erst um Jahre später, ganz am Ende derKnabenzeiten, wieder gespürt habe.Was es war und wie es kam, weiß ich nicht. Ich erinnere michaber, daß ein lauer Wind strich, daß feuchte dunkle Erdschollenam Rande der Äcker aufragten und streifenweise blank erglänz-ten und daß ein besonderer Föhngeruch in der Luft war. Icherinnere mich auch dessen, daß ich eine Melodie summen wollteund gleich wieder aufhörte, weil irgend etwas mich bedrückteund still machte.

Dieser kurze Heimweg vom Nachbarhaus ist mir eine merk-würdig tiefe Erinnerung. Ich weiß kaum etwas Einzelnes mehrdavon; aber zuweilen, wenn es mir gegönnt ist, mit geschlosse-nen Augen mich dahin zurückzufinden, meine ich, die Erdenoch einmal mit Kindesaugen zu sehen – als Geschenk undSchöpfung Gottes, im leise glühenden Träumen unberührterSchönheit, wie wir Alten sie sonst nur aus den Werken derKünstler und Dichter kennen. Der Weg war vielleicht nicht ganzzweihundert Schritt lang, aber es lebte und geschah auf ihm undüber ihm und an seinem Rande unendlich viel mehr als auf man-cher Reise, die ich später unternommen habe.Es streckten kahle Obstbäume verschlungene und drohendeÄste und von den feinen Zweigspitzen rotbraune und harzigeKnospen in die Luft, über sie hinweg ging Wind und schwär-mende Wolkenflucht, unter ihnen quoll die nackte Erde in derFrühlingsgärung. Es rann ein vollgeregneter Graben über undsandte einen schmalen trüben Bach über die Straße, auf demschwammen alte Birnenblätter und braune Holzstückchen, undjedes von ihnen war ein Schiff, jagte dahin und strandete, erlebte

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Lust und Pein und wechselnde Schicksale, und ich erlebte siemit.Es hing unversehens vor meinen Augen ein dunkler Vogel in derLuft, überschlug sich und flatterte taumelnd, stieß plötzlich ei-nen langen schallenden Triller aus und stob verglitzernd in dieHöhen, und mein Herz flog staunend mit.Ein leerer Lastwagen mit einem ledigen Beipferd kam gefahren,knarrte und rollte fort und fesselte noch bis zur nächstenKrümme meinen Blick, mit seinen starken Rossen aus einer un-bekannten Welt gekommen und in sie verschwindend, flüchtigeschöne Ahnungen aufregend und mit sich nehmend.Das ist eine kleine Erinnerung oder zwei und drei; aber wer willdie Erlebnisse, Erregungen und Freuden zählen, die ein Kindzwischen einem Stundenschlag und dem andern an Steinen,Pflanzen, Vögeln, Lüften, Farben und Schatten findet und so-gleich wieder vergißt und doch mit hinübernimmt in die Schick-sale und Veränderungen der Jahre? Eine besondere Färbung derLuft am Horizont, ein winziges Geräusch in Haus oder Gartenoder Wald, der Anblick eines Schmetterlings oder irgendeinflüchtig herwehender Geruch rührt oft für Augenblicke ganzeWolken von Erinnerungen an jene frühen Zeiten in mir auf. Siesind nicht klar und einzeln erkennbar, aber sie tragen alle den-selben köstlichen Duft von damals, da zwischen mir und jedemStein und Vogel und Bach ein inniges Leben und Verbundenseinvorhanden war, dessen Reste ich eifersüchtig zu bewahren be-müht bin.

Mein Blumenstock richtete sich indessen auf, reckte die Blätterhöher und erstarkte zusehends. Mit ihm wuchs meine Freudeund mein Glaube an die Genesung meines Kameraden. Es kamauch der Tag, an welchem zwischen den feisten Blättern einerunde rötliche Blütenknospe sich zu dehnen und aufzurichtenbegann, und der Tag, an dem die Knospe sich spaltete und einheimliches Gekräusel schönroter Blütenblätter mit weißlichenRändern sehen ließ. Den Tag aber, an dem ich den Topf mit Stolzund freudiger Behutsamkeit ins Nachbarhaus hinübertrug unddem Brosi übergab, habe ich völlig vergessen.Dann war einmal ein heller Sonnentag; aus dem dunklen Ak-kerboden stachen schon feine grüne Spitzen, die Wolken hatten

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Goldränder, und in den feuchten Straßen, Hofräumen und Vor-plätzen spiegelte ein sanfter reiner Himmel. Das Bettlein desBrosi war näher zum Fenster gestellt worden, auf dessen Simsendie rote Hyazinthe in der Sonne prunkte; den Kranken hatteman ein wenig aufgerichtet und mit Kissen gestützt. Er sprachetwas mehr als sonst mit mir, über seinen geschorenen blondenKopf lief das warme Licht fröhlich und glänzend und schien rotdurch seine Ohren. Ich war sehr guter Dinge und sah wohl, daßes nun schnell vollends gut mit ihm werden würde. Seine Muttersaß dabei, und als es ihr genug schien, schenkte sie mir eine gelbeWinterbirne und schickte mich heim. Noch auf der Stiege biß ichdie Birne an, sie war weich und honigsüß, und der Saft tropftemir aufs Kinn und über die Hand. Den abgenagten Butzen warfich unterwegs in hohem Bogen feldüber.Tags darauf regnete es, was heruntermochte, ich mußte daheimbleiben und durfte mit sauber gewaschenen Händen in der Bil-derbibel schwelgen, wo ich schon viele Lieblinge hatte, am lieb-sten aber waren mir doch der Paradieslöwe, die Kamele des Elie-ser und das Mosesknäblein im Schilf. Als es aber am zweitenTage in einem Strich fortregnete, wurde ich verdrießlich. Denhalben Vormittag starrte ich durchs Fenster auf den plätschern-den Hof und Kastanienbaum, dann kamen der Reihe nach allemeine Spiele dran, und als sie fertig waren und es gegen Abendging, bekam ich noch Streit mit meinem Bruder. Das alte Lied:wir reizten einander, bis der Kleine mir ein arges Schimpfwortsagte, da schlug ich ihn, und er floh heulend durch Stube, Öhrn,Küche, Stiege und Kammer bis zur Mutter, der er sich in denSchoß warf und die mich seufzend wegschickte. Bis der Vaterheimkam, sich alles erzählen ließ, mich abstrafte und mit dennötigen Ermahnungen ins Bett steckte, wo ich mir namenlosunglücklich vorkam, aber bald unter noch rinnenden Träneneinschlief.Als ich wieder, vermutlich am folgenden Morgen, in des BrosiKrankenstube stand, hatte seine Mutter beständig den Finger amMund und sah mich warnend an, der Brosi aber lag mit ge-schlossenen Augen leise stöhnend da. Ich schaute bang in seinGesicht, es war bleich und vom Schmerz verzogen. Und als seineMutter meine Hand nahm und sie auf seine legte, machte er dieAugen auf und sah mich eine kleine Weile still an. Seine Augen

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waren groß und verändert, und wie er mich ansah, war es einfremder wunderlicher Blick wie aus einer weiten Ferne her, alskenne er mich gar nicht und sei über mich verwundert, habe aberzugleich andere und viel wichtigere Gedanken. Auf den Zehenschlich ich nach kurzer Zeit wieder hinaus.Am Nachmittag aber, während ihm auf seine Bitte die Muttereine Geschichte erzählte, sank er in einen Schlummer, der bis anden Abend dauerte und währenddessen sein schwacher Herz-schlag langsam einträumte und erlosch.Als ich ins Bett ging, wußte es meine Mutter schon. Doch sagtesie mir’s erst am Morgen, nach der Milch. Darauf ging ich denganzen Tag traumwandelnd umher und stellte mir vor, daß derBrosi zu den Engeln gekommen und selber einer geworden sei.Daß sein kleiner magerer Leib mit der Narbe auf der Schulternoch drüben im Hause lag, wußte ich nicht, auch vom Begräbnissah und hörte ich nichts.Meine Gedanken hatten viel Arbeit damit, und es verging wohleine Zeit, bis der Gestorbene mir fern und unsichtbar wurde.Dann aber kam früh und plötzlich der ganze Frühling, über dieBerge flog es gelb und grün, im Garten roch es nach jungemWuchs, der Kastanienbaum tastete mit weich gerollten Blätternaus den aufgesprungenen Knospenhüllen, und an allen Gräbenlachten auf fetten Stielen die goldgelben glänzenden Butterblu-men. (1903/1904)

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In der alten Sonne

Wenn im Frühling oder Sommer oder auch noch im Frühherbstein linder Tag ist und eine angenehme, auch wieder nicht zuheftige Wärme den Aufenthalt im Freien zu einem Vergnügenmacht, dann ist die ausschweifend gebogene halbrunde Straßen-kehle am Allpacher Weg, vor den letzten hochgelegenen Häu-sern der Stadt, ein prächtiger Winkel. Auf der berghinan sichschlängelnden Straße sammelt sich die schöne Sonnenwärmestetig an, die Lage ist vor jedem Winde wohl beschützt, ein paarkrumme alte Obstbäume spenden ein wenig Schatten, und derStraßenrand, ein breiter, sanfter, rasiger Rain, verlockt mit seinerwohlig sich schmiegenden Krümmung freundlich zum Sitzenoder Liegen. Das weiße Sträßlein glänzt im Licht und hebt sichschön langsam bergan, schickt jedem Bauernwagen oder Lan-dauer oderPostkarren ein dünnesStäublein nachund schaut übereine schiefe, von Baumkronen da und dort unterbrocheneFlucht von schwärzlichen Dächern hinweg gerade ins Herz derStadt, auf den Marktplatz, der von hier aus gesehen freilich anStattlichkeit stark verliert und nur als ein sonderbar verscho-benes Viereck mit krummen Häusern und herausspringendenVortreppen und Kellerhälsen erscheint.An solchen sonnig milden Tagen ist der wohlige Rain jener ho-hen Bergstraßenkrümmung unwandelbar stets von einer kleinenSchar ausruhender Männer besetzt, deren kühne und verwitterteGesichter nicht recht zu ihren zahmen und trägen Gebärdenpassen und von denen der jüngste mindestens ein hoher Fünf-ziger ist. Sie sitzen und liegen bequem in der Wärme, schweigenoder führen kurze, brummende und knurrende Gespräche un-tereinander, rauchen kleine schwarze Pfeifenstrünke und spuk-ken häufig weltverächterisch in kühnem Bogen bergabwärts.Die etwa vorübertapernden Handwerksburschen werden vonihnen scharf begutachtet und je nach Befund mit einem wohl-wollend zugenickten »Servus, Kunde!« begrüßt oder schwei-gend verachtet.Der Fremdling, der die alten Männlein so hocken sah und sich inder nächsten Gasse über das seltsame Häuflein grauer Bären-häuter erkundigte, konnte von jedem Kinde erfahren, daß dieses

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die Sonnenbrüder seien, und mancher schaute dann noch einmalzurück, sah die müde Schar träg in die Sonne blinzeln und wun-derte sich, woher ihr wohl ein so hoher, wohllautender unddichterischer Name gekommen sei. Das Gestirn aber, nach wel-chem die Sonnenbrüder genannt wurden, stand längst an keinemHimmel mehr, sondern war nur der Schildname eines ärmlichenund schon vor manchen Jahren eingegangenen Wirtshauses ge-wesen, dessen Schild und Glanz dahin waren, denn das Hausdiente neuerdings als Spittel, das heißt als städtisches Armen-asyl, und beherbergte freilich manche Gäste, die das Abendrotder vom Schild genommenen Sonne noch erlebt und sich hinterdem Schenktisch derselben die Anwartschaft auf ihre Bevor-mundung und jetzige Unterkunft erschöppelt hatten.Das Häuschen stand, als vorletztes der steilen Gasse und derStadt, zunächst jenem sonnigen Straßenrand, bot ein windschie-fes und ermüdetes Ansehen, als mache das Aufrechtstehen ihmviele Beschwerde, und ließ sich nichts mehr davon anmerken,wieviel Lust und Gläserklang, Witz und Gelächter und flotteFreinächte es erlebt hatte, die fröhlichen Raufereien und Mes-sergeschichten gar nicht zu rechnen. Seit der alte rosenrote Ver-putz der Vorderseite vollends erblaßt und in rissigen Feldernabgeblättert war, entsprach die alte Lotterfalle in ihrem Äußerenvollkommen ihrer Bestimmung, was bei städtischen Bauten un-serer Zeit eine Seltenheit ist. Ehrlich und deutlich gab sie zuerkennen, daß sie ein Unterschlupf und Notdächlein für Schiff-brüchige und Zurückgebliebene war, das betrübliche Ende einergeringen Sackgasse, von wo aus keine Pläne und verborgenenKräfte mehr ins Leben zurückstreben mögen.Von der Melancholie solcher Betrachtungen war im Kreis derSonnenbrüder meistens nur wenig zu finden. Vielmehr lebtensie fast alle nach Menschenart ihre späten Tage hin, als ginge esnoch immer aus dem Vollen, bliesen ihre kleinen Gezänke undLustbarkeiten und Spielereien nach Kräften zu wichtigen Ange-legenheiten und Staatsaktionen auf und nahmen zwar nicht ein-ander, aber doch jeder sich selber so ernst wie möglich. Ja, sietaten, als fange jetzt, da sie sich aus den geräuschvollen Gassendes tätigen Lebens beiseite gedrückt hatten, der Hallo erst rechtan, und betrieben ihre jetzigen unbedeutenden Affären mit einerWucht und Zähigkeit, welche sie in ihren früheren Betätigungen