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CAS Schulpraxisberatung 2011/13 F.01 Wahrnehmen, lernen, handeln © IMP & Kultur GmbH Zürich/Seite 1 CAS Schulpraxisberatung Lernen mit allen Sinnen Aktuelles, neurologisches Verständnis über das Wahrnehmen, Lernen und Erinnern – über das Denken, Fühlen, in Beziehung treten und Musizieren Das Nervensystem ist eines der komplexesten, uns bekannten Systeme, welches sich in der belebten Natur herausgebildet hat. Die aktuelle Forschung kann dieses Netzwerk wohl im Bereich einzelner Zellen, spezifischer Zellgruppen oder den übergeordneten, grösserer Areale und deren Zusammenspiel darstellen. Angesichts der unvorstellbar hohen Zahl von einer Trilliarde Verbindungen, die bei jedem Menschen ein einzigartiges, durch individuelle Erfahrung das Leben lang fortwährend plastisch sich veränderndes Netzwerk bilden, wird in seiner Gesamtheit nie voll erfasst und verstanden werden können. Die wissenschaftstheoretische Logik schliesst aus, dass ein komplexes System sich über sich selbst hinaus „überblicken“ oder erfassen kann. In diesem Sinne werden die Erkenntnisse immer nur selektive oder vereinfachende Zugänge zu einzelnen Aspekten der neuralen Organisation des Menschen ermöglichen. Dank neuen technischen Möglichkeiten bildgebender Verfahren können heute die Aktivitäten der verschiedenen Hirnareale in Echtzeit beobachtet werden, beispielsweise wenn eine Versuchsperson eine Denkaufgabe löst, mental übt, Bilder betrachtet oder Musik hört. Bald wurde auch die grosse Bedeutung der Botenstoffe in Bezug auf die Regulation der lebenswichtigen Körperfunktionen und der Motivation und des Lernen erkannt. Die neusten Entdeckungen lassen auf eine weitere, bisher unbekannte Wirkungsebene schliessen, die über die Aktivitäten der Nervenbahnen und Hormone hinausgeht. Untersuchungen weisen eine signifikante Wechselwirkung zwischen Nervensystem und der Epigenese (aktivieren oder abschalten von einzelnen Genen) nach. Bei diesem Prozess werden in den Zellen potentielle, genetische Informationen und Anlagen entweder ausoder nachhaltig eingeschaltet, mit entsprechenden, konkreten physiologischen Auswirkungen. Pädagogische und didaktische Konzepte werden inzwischen in vielen Aspekten neurodidaktisch überprüft. Bewährte Methoden erhalten so eine zusätzliche Bestätigung und Differenzierung. Im nachfolgenden Text werden vor allem die Aspekte besprochen, welche für die Wahrnehmung, die Gedächtnisleistung sowie die Lernprozesse und die Gestaltung der Lernumgebung besonders bedeutsam sind. Die nachfolgende Darstellung ist eine Momentaufnahme der sich derzeit intensiv entwickelnden Grundlagenforschung. In den kommenden Jahren dürften einige neue Erkenntnisse dazukommen und bisherige Annahmen relativieren. Die diesem Skript zugrunde liegende Referenzliteratur ist am Schluss aufgelistet, auf detaillieret Nachweise im Text, sofern es nicht um Zitate handelt, wird zu Gunsten der Lesbarkeit verzichtet. Ziel des Texts ist es aufzuzeigen, auf welchen grundlegenden neuralen Strukturen und Prozessen Lernen passiert, und welche Bedingungen das Lernen begünstigen. Eine wichtige Erkenntnis dürfte dabei sein, dass sich das Lernen und spezifische Lernstile sich individuell und sehr unterschiedlich entwickeln. Entsprechend verschieden sind die Bedürfnisse bezüglich der jeweils förderlichen Lernumgebung. Dies gilt besonders auch für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern, bei denen sich umweltund krankheitsbedingten Lernschwächen manifestieren oder die über besondere, überdurchschnittliche Gedächtnisleistungen verfügen. Anhand einzelner Beispiele wird aufgezeigt, wie solche Kenntnisse situationsbezogen zur didaktischen und methodischen Reflexion und zu angepasstem Handeln sowie kreativen Lösungen anregen. Für das Lernen ist es grundsätzlich „sinnvoll“, die unterschiedlichen Sinne und Wahrnehmungszentren der linken und rechten Hirnhemisphären anzusprechen. Die gegensätzliche Dynamik der linksoder rechtshirnhälftig liegenden verweisen auf die breite Palette und die grossen Unterschiede, welche die hochindividuellen Stärken und Lernpräferenzen auszeichnen. Die Auseinandersetzung mit individuellen Lernstilen soll dazu anregen, das Lernen anhand von Übungsmethoden mit den Lernenden zusammen individuell und kreativ zu gestalten. Die Übersicht über die unterschiedlichen Gedächtnisformen beleuchtet die Wechselwirkung zwischen sogenannt intuitiven, impliziten Prozessen und dem expliziten Bewusstsein

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CAS Schulpraxisberatung 2011/13  F.01 Wahrnehmen, lernen, handeln  © IMP & Kultur GmbH Zürich/Seite 1 

CAS Schulpraxisberatung 

 Lernen mit allen Sinnen Aktuelles, neurologisches Verständnis über das Wahrnehmen, Lernen und Erinnern – über das Denken, Fühlen, in Beziehung treten und Musizieren 

Das Nervensystem ist eines der komplexesten, uns bekannten Systeme, welches sich in der belebten Natur herausgebildet hat. Die aktuelle Forschung kann dieses Netzwerk wohl im Bereich einzelner Zellen, spezifischer Zellgruppen oder den übergeordneten, grösserer Areale und deren Zusammenspiel darstellen. Angesichts der unvorstellbar hohen Zahl von einer Trilliarde Verbindungen, die bei jedem Menschen ein einzigartiges, durch individuelle Erfahrung das Leben lang fortwährend plastisch sich veränderndes Netzwerk bilden, wird in seiner Gesamtheit nie voll erfasst und verstanden werden können. Die wissenschafts‐theoretische Logik schliesst aus, dass ein komplexes System sich über sich selbst hinaus „überblicken“ oder erfassen kann. In diesem Sinne werden die Erkenntnisse immer nur selektive oder vereinfachende Zugänge zu einzelnen Aspekten der neuralen Organisation des Menschen ermöglichen.  

Dank neuen technischen Möglichkeiten bildgebender Verfahren können heute die Aktivitäten der  verschiedenen Hirnareale in Echtzeit beobachtet werden, beispielsweise wenn eine Versuchsperson eine Denkaufgabe löst, mental übt, Bilder betrachtet oder Musik hört. Bald wurde auch die grosse Bedeutung der Botenstoffe in Bezug auf die Regulation der lebenswichtigen Körperfunktionen und der Motivation und des Lernen erkannt. Die neusten Entdeckungen lassen auf eine weitere, bisher unbekannte Wirkungsebene schliessen, die über die Aktivitäten der Nervenbahnen und Hormone hinausgeht. Untersuchungen weisen eine signifikante Wechselwirkung zwischen Nervensystem und der Epigenese (aktivieren oder abschalten von einzelnen Genen) nach. Bei diesem Prozess werden in den Zellen potentielle, genetische Informationen und Anlagen entweder aus‐ oder nachhaltig eingeschaltet, mit entsprechenden, konkreten physiologischen Auswirkungen. 

Pädagogische und didaktische Konzepte werden inzwischen in vielen Aspekten neurodidaktisch überprüft. Bewährte Methoden erhalten so eine zusätzliche Bestätigung und Differenzierung. Im nachfolgenden Text werden vor allem die Aspekte besprochen, welche für die Wahrnehmung, die Gedächtnisleistung sowie  die Lernprozesse und die Gestaltung der Lernumgebung besonders bedeutsam sind. Die nachfolgende Darstellung ist eine Momentaufnahme der sich derzeit intensiv entwickelnden Grundlagenforschung. In den kommenden Jahren dürften einige neue Erkenntnisse dazukommen und bisherige Annahmen relativieren. Die diesem Skript zugrunde liegende Referenzliteratur ist am Schluss aufgelistet, auf detaillieret Nachweise im Text, sofern es nicht um Zitate  handelt,  wird zu Gunsten der Lesbarkeit verzichtet.  

Ziel des Texts ist es aufzuzeigen, auf welchen grundlegenden neuralen Strukturen und Prozessen Lernen passiert, und welche Bedingungen das Lernen begünstigen. Eine wichtige Erkenntnis dürfte dabei sein, dass sich das Lernen und spezifische Lernstile sich individuell und sehr unterschiedlich entwickeln. Entsprechend verschieden sind die Bedürfnisse bezüglich der jeweils förderlichen Lernumgebung. Dies gilt besonders auch für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern, bei denen sich umwelt‐ und krankheitsbedingten Lernschwächen manifestieren oder die über besondere, überdurchschnittliche Gedächtnisleistungen verfügen. Anhand einzelner Beispiele wird aufgezeigt, wie solche Kenntnisse situationsbezogen zur didaktischen  und methodischen Reflexion und zu angepasstem Handeln sowie kreativen Lösungen anregen. 

Für das Lernen ist es grundsätzlich „sinnvoll“,  die unterschiedlichen Sinne und Wahrnehmungs‐zentren der linken und rechten Hirnhemisphären anzusprechen. Die gegensätzliche Dynamik der links‐ oder rechtshirnhälftig liegenden verweisen auf die breite Palette und die grossen Unterschiede, welche die hochindividuellen Stärken und Lernpräferenzen auszeichnen. Die Auseinandersetzung mit individuellen Lernstilen soll dazu anregen, das Lernen anhand von Übungsmethoden mit den Lernenden zusammen individuell und kreativ zu gestalten. Die Übersicht über die unterschiedlichen Gedächtnisformen beleuchtet die Wechselwirkung zwischen sogenannt intuitiven, impliziten Prozessen und dem expliziten Bewusstsein 

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Die neurologischen Befunde bestätigen zudem ausdrücklich, dass die Gestaltung der Beziehung im Lernkontext wesentlich zu einer förderlichen Lernumgebung beitragen. Drei spezifische Lernstörungen, Legasthenie, Aufmerksamkeitsstörung und autistische Wahrnehmung, können neben anderen im Unterricht ab und an eine Herausforderung darstellen. Mit solchen Teillernschwächen können gleichzeitig überdurchschnittliche Ressourcen einhergehen, die es zu entdecken und in den Unterricht einzubeziehen gilt.  Einzelne Themen können nur sehr selektiv und auf den Punkt gebracht angesprochen werden. Für eine Vertiefung sei auf die anliegende Literaturliste verwiesen. 

 Nervenzelle als kleinster Baustein 

Die Nervenzellen, die sogenannten Neuronen, bilden die kleinsten Einheiten des Nervensystems. Sie arbeiten in verschiedener Weise. Sie nehmen die auf die Sinneszellen treffenden Reise auf und leiten diese als elektrische Impulse an die nachfolgende Zelle weiter. Sie führen Signale zu den Organen oder Muskel‐zellen um diese zu aktivieren. Sie verbinden Nervenzellen untereinander und filtern und verknüpfen dabei die Reize so, dass sie als Informationseinheiten tieferliegenden, autonomen Verarbeitungszentren sowie dem zentralen Nervensystem zur Verfügung stehen. 

 

S = Synapse D = Dendriten N = Neuron A = Axon          Quelle/Klaus Gasser 2008 

 Die Anzahl der eigentlichen Neuronen wird auf etwa 100 Milliarden geschätzt. Diese gehen im Gehirn über die Dendriten bis zu 10‘000 synaptische Verbindungen mit anderen Nervenzellen ein. Die Gesamtzahl der Synapsen geht hoch in die Trilliarde, eine Zahl, die sich jeder Vorstellung entzieht. Die Neuronen selbst sind von sogenannten Gliazellen umgeben (in 10‐ bis 50facher Anzahl der Neuronen). Deren Funktion ist noch nicht ausreichend erforscht. Vermutlich spielen sie eine sehr bedeutsame Rolle bei den Übertragungspro‐zessen und im Zusammenspiel der spezialisierten Hirnareale. Die Übertragung von einer Nervenzelle zur nächsten basiert auf chemischen Prozessen. Bekannt sind etwa neun klassische Botenstoffe: Glutamat, Glycin, GABA, Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin, Serotin, Histamin und Acetylcholin. An den Übertragungs‐abläufen sind unzählige weitere chemische Komponenten beteiligt. 

 

 

     Neuron mit Synapsen Quelle/Klaus Gasser 2008  

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      Neuron mit Synapsen Quelle/Klaus Gasser 2008 

 Ein bei diesen Übertragungsprozessen für  das Lernen bedeutsamer Aspekt ist die Übertragungsverstärkung oder –hemmung, welche durch in der Umgebung der Neuronen ausgeschüttete Botenstoffe bewirkt wird. Ähnliche Prozesse bewirken zudem die Verbreiterung der Synapse sowie die zusätzliche Bildung von weiteren Synapsen zwischen einzelnen Neuronen und ganzen Neuronenbündeln. Lernen bedeutet demnach immer das Vernetzen und Aufbauen von Synapsen. Je häufiger eine spezifische Vernetzung aktiviert wird desto rascher entstehen diese Muster und bleiben dann stabil. Dabei wird auch von „Bahnung“ gesprochen.   

  Veränderung in den ersten Lebensjahren Quelle / Klaus Gasser 2008 

 Relativ neu ist die Entdeckung, dass über eine komplexe Wirkungskette von Botenstoffen und Enzyme die Umwelterfahrung einwirkt auf das genetisch zur Verfügung stehende Potential einwirkt. Die Umwelterfahrung und damit verbundenen Lernprozesse kann so auf das ein‐ oder ausschalten von Genen einwirken, welche dann wiederum zurück einwirken auf die Proteinsynthese und zur äusseren Manifestation in Form von körperlichen Eigenschaften und Verhaltensmuster (s.u.a. Siegel, 2006). Inzwischen wird angenommen, dass solche Modifikationen dann wieder weiter vererbt werden kann (bis über vier Generationen, sofern veränderte Lebensgestaltung und Erfahrung nicht wieder andere potentielle Genkonstellationen aktiviert. Schon auf dieser Basis der später weiter ausgeführten Plastizität des Nervensystems kann hergeleitet werden, dass die Umwelterfahrung die Entwicklung und Persönlichkeit des individuellen Menschen in hohem Mass prägt. Dabei steuert die Erfahrung der sozialen Umgebung einen wesentlichen wenn nicht gar zentralen Teil bei. Der heute geschätzte wirkende Anteil der genetischen Disposition wird heute auf weniger als 50% geschätzt.    

 

bei Geburt  3 Monate  15 Monate 2 Jahre 

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Lernen und Verlernen 

Die Metapher des Netzes aus Wegen oder Strassen ist insofern zutreffend, als gebahnte Nervenverbin‐dungen sich wie bevorzugte Wege oder Strassen verbreitern und damit leichter, rascher und häufiger benutzt werden als Nebenwege oder kleine Landstrassen. Dieses Prinzip der Bahnung und Vernetzung beginnt schon in tieferen Strukturen bei der unmittelbaren Reizverarbeitung der Sinnesorgane und erreicht dann im Gehirn den höchsten Grad an Komplexität.  

Die Wiederholung ist demnach für das Stärken der Bahnen eine Notwendigkeit. Sie sollte zuerst in einer eigenen Übungseinheit stattfinden. Über die günstigste Wiederholungszahl sind sich die Fachleute uneinig. Sie hängt auch von der Lernumgebung und der Motivation ab. Bei günstiger Stimulation sind deutlich weniger Wiederholungen notwendig, um etwas einzuprägen. In jedem Fall gilt das Prinzip des intensiven Wiederholungsrhythmus zu Beginn eines neuen Lernprozesse innert 24 Stunden nach dem ersten Erarbeiten (am besten nach einmal Schlafen), und dann ein erneutes repetieren die folgenden Tage. Dann können die Abstände zunehmend grösser werden. 

Während das Lernen gut erforscht ist, ist über die Prozesse des Vergessens bisher wenig bekannt. Das Ver‐

lernen dürfte nach aktuellem Kenntnisstand jedoch viel langsamer verlaufen als der Aufbau von neuen oder 

der Ausbau von bereits angelegten Bahnen. Wird ein breiter Weg längere Zeit weniger begangen, bilden 

sich diese ausgebauten Strukturen mit der Zeit zurück. Es wird angenommen, dass die Synapsen‐spalten 

deaktiviert werden. Ganz aufgelöst hingegen wird ein Grossteil der angelegten Strukturen nicht. Darum 

kann Vergessenes rascher wieder erlernt werden, als ganz Neues dazu gelernt wird.  

Um rasch Umzulernen muss ein bestehender Weg „überlernt“ werden. Das heisst, ein anderer Weg wird so oft begangen, dass er breiter wird als der bisher bevorzugte. Dies entspricht der Erfahrung, dass es wesent‐lich mehr braucht, einen automatisierten Fehler zu korrigieren, als sich einen neuen, noch unbelasteten Lerninhalt anzueignen. Emotional stark prägende Erfahrungen lassen sich ein Leben lang nicht mehr „löschen“. Hingegen können durch gezielte Übung und Aktivierung positiver, motivierender Anteile oder Ressourcen negative Bahnen gehemmt werden (Grawe S 101ff) bzw. durch Achtsamkeitsübungen, gelenkte Aufmerksamkeit, narratives (erzählendes) Aufarbeiten, Ressourcenaktivierung und „vertikale“ Integration (von tiefen Zentren zu höheren) und „vertikale Integration (verbinden der assoziativen Zentren über beide Hirnhälften) neue Bahnen zu Gunsten alternativen Verhaltens aufgebaut und gestärkt werden (Siegel 2006, 2010 siehe auch eigensprachlich orientierte Gesprächsführung/Idiolektik). 

 Von der Sinneswahrnehmung über die  Nervenbahnen und Synapsen zum Grosshirn 

Die Wahrnehmung ist die umfassende Bezeichnung für den Prozess des Informationsgewinns. Auge, Ohr, Nase, Zunge, Haut/Muskeln empfangen über die Körper‐Umwelt und Körper‐Innenwelt Reize aus der Umwelt. Diese werden in den Sinnesorganen in elektrische Impulse umgewandelt und so als Informationen von den Nervenzellen aufgenommen und weitergeleitet. Dabei wird zwischen der äusseren und inneren Wahrnehmung unterschieden. 

Bei der äusseren Wahrnehmung treffen Reize aus der Umwelt auf Sinneszellen. Diese verwandeln je nach Intensität die Reize, auf die sie sich spezialisiert haben über chemische Prozesse in elektrische Impulse, die sie an dahinter liegende Nerven weitergeben. Sind diese erregt,  wandern die Signale in aufsteigenden Nervenbahnen in Richtung des zentralen Nervensystems.  

Die so genannte innere Wahrnehmung sind die Signale der verschiedenen Sinnesorgane, die an das Gehirn (Zentralnervensystem) weitergeleitet werden. Hier werden sie als Informationen verarbeitet und gespeichert, also sortiert, kombiniert, erkannt, mit Gefühlen, Erinnerungen und aufgrund früherer Lernprozesse assoziiert gedeutet und interpretiert. Hier setzen die Lern‐ und Denkprozesse ein und werden die Erfahrungswerte gesammelt.  

Im Gegensatz zu den Körperzellen, den Muskeln, Herzzellen und Darmzellen etc., die jeweils auf eine Funktion festgelegt sind, stehen Nervenzellen jeweils für etwas anderes. Sie repräsentieren eintreffende 

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Reize, die aus der Vernetzung der unzähligen Reize abgeleiteten und generierten Erfahrungen, Erinnerungen und davon abgeleiteten Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten (Spitzer 2006).  Von der Sinneswahrnehmungen zu den sensorischen Arealen im Gehirn 

Die Wahrnehmungen über die Sinnesorgane werden keineswegs wie eine Videoaufnahme oder eine Ton‐aufnahme eins zu eins abgebildet. Schon auf dem Weg in die höher gelegenen Gehirnareale werden in spezialisierten Zentren verschiedene Aspekte des Reizes differenziert.  

Bei der visuellen Wahrnehmung filtern wir Dank visueller Formdifferenzierung Figuren aus dem Hinter‐grund heraus, nehmen optisch ähnliche Dinge als gleich oder ungleich wahr, erkennen Bewegungsrich‐tungen und Bewegungsgeschwindigkeiten und vieles anderes mehr. Je nach Fokus unserer momentanen Aufmerksamkeit werden auch bestimmte Aspekte bevorteilt und andere bereits früh ausgeblendet.  

Die enorm hohe Informationsmenge muss auf das Wesentliche bzw. für das Individuum gerade Bedeut‐samste reduziert werden, damit sie in den höheren Zentren noch verarbeitet werden kann. Als visuelle Erfassungsspannweite wird die Menge an visuellen Eindrücken und  Einzelheiten bezeichnet, die in einem Moment aufgenommen  werden kann.  

Über die auditive Wahrnehmung, also über die Ohren, werden der Schall, Geräusche, Klänge und Töne 

registriert und durch Nervenimpulse repräsentiert. Auditive Formdifferenzierung ist die Fähigkeit aus dem 

Gehörten das Wesentliche zu erfassen und im auditiven Gedächtnis zu speichern. Die auditive Erfassungs‐

spannweite zeigt an, welche Menge an auditiven Eindrücken und Einzelheiten in einem Moment 

aufgenommen werden kann. 

Die taktil‐kinästhetische Wahrnehmung wird auch als Tastsinn bezeichnet und ist die Vereinigung von taktiler Wahrnehmung. Die Haut als Sinnesorgan sowie die Tiefensensibilität/kinästhetische Wahr‐nehmung mit den Sinnesorganen in den Muskeln. Durch die taktile Wahrnehmung wird die genaue Lokalisation und Unterscheidung von Reizen auf der Haut ermöglicht, das Erkennen von Druck, Berührung und Vibrationen. Je nach Reizschwelle löst die taktile Wahrnehmung Wohlbehagen oder reflektorische Abwehrmechanismen z.B. Angriff oder Flucht aus. Die kinästhetische Wahrnehmung oder Tiefensensibilität ist die Wahrnehmung des Spannungsgefühls in den Muskeln, Sehnen und Gelenken (die Stellung der Extre‐mitäten zueinander, die Wahrnehmung ihrer Stellung im Raum und die Lageveränderung von Gelenken und die Veränderung der Körperhaltung). Die Regulierung zwischen Spannung und Entspannung in Gelenken, Muskeln und Sehnen bewirkt differenzierte Bewegungen.  

Die vestibuläre Wahrnehmung, auch Gleichgewichtswahrnehmung oder Raumwahrnehmung genannt, dient zur Feststellung der Körperhaltung und Orientierung im Raum. Das Gleichgewichtsorgan liegt im Innenohr, ist aber auch eng mit den Augen und anderen Sinnen verbunden. 

Ein ohne Umwege direkt und nahe ungefiltert ins Stammhirn und den Thalamus wirkender Sinn ist der Geruchssinn, der so unmittelbar mit den lebenssichernden, genetisch  angelegten Verhaltensprogrammen verbunden ist (Annährungsverhalten, Atem und Ernährung, Flucht‐ Totstell‐ oder Angriffsbereitschaft u.ä.m.). Für Tiere und naturnah lebende Menschen kommt ihm damit die Aufgabe eines lebenssichernden Signalisationssystems zu („die Gefahr wittern“, „diesen Menschen gut riechen können“).  Innere Wahrnehmungen 

Die tieferen Strukturen des Hirns (Stammhirn bis Thalamus, siehe weiter unten) ist auch die Sammelzentrale aller Signale aus allen Körperorganen (Herz und Kreislauf, Lunge, Verdauungsorgane, Leber, Niere, diverse Hormondrüsen, Knochen und Weichteile). Die Gesamtheit dieser körpereigenen, mit Achtsamkeitsübung zu einem gewissen Anteil auch ins explizite Bewusstsein überführbaren Empfindungen bilden als Cluster etwas, was wir als „sechsten Sinn“ bezeichnen können („Bauchgefühl“)  

 

 

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Auf dem Weg um zentralen Nervensystem 

Auf dem Weg zum Grosshirn werden die in gleicher Zeitspanne eintreffenden Sinneseindrücke zuerst auf ihre Bedeutung für das wahrnehmende Individuum und räumliche Ortung überprüft und gefiltert (vor allem im Thalamus). 

Beim Weiterleiten der Reize an die räumlich übergeordneten Hirnzentren werden die äussere und innere Wahrnehmungen miteinander in Beziehung gesetzt und in den tiefen Hirnregionen emotional bewertet Dabei werden nicht nur die gegenwärtigen Wahrnehmungen codiert, sondern gleichzeitig werden vorgängige Erfahrungen, die in den höher gelegenen Zentren gespeichert sind, mit einbezogen. Zudem wirkt das aufmerksamkeitssteuernde Zentrum im Präfrontalen Cortex auf die Filterung ein. In diesem Sinne ist jede neue Wahrnehmung individuell eingefärbt und bereits zu Beginn mit bereits Bekanntem in Beziehung gesetzt. (In der weiteren Verarbeitungsphasen in den so genannten assoziativen Zentren findet dann noch einmal ein komplexer Abgleich mit bereits Bekanntem und Gelernten statt.). Alle eintreffenden Eindrücke, bis zu den nonverbalen und verbalen Zeichen, werden mit den sie begleiteten äusseren und vor allem auch körpereigenen Sinnesempfindungen verknüpft (siehe Damasio und den von ihm geprägten Begriff der „somatische Marker“). 

Emotionen 

Eine sehr anschauliche Schilderung der Bedeutung der Emotionen bietet der Neuroforscher und Therapieforscher Daniel J. Siegel an (Zitat aus Siegel, 2006, S. 152/S.157f): „Emotionen sind in erster Linie nichtbewusste mentale Prozesse. Im Grunde erzeugen sie einen Zustand der Bereitschaft zum Handeln, zur Bewegung, (engl.: motion). Sie versetzten uns in die Lage, uns in der aktuellen Umwelt auf eine bestimmte Weise zu verhakten.“(..)„Weil das Gehirn als ein komplexes System neuronaler Schaltkreise fungiert, muss es auf irgendeine Weise herausfinden können, welche Arten der Aktivierung nützlich, welche in ihrer Wirkung neutral und welche schädlich sind. Ohne ihnen solchen Beurteilungsmechanismus würde es Reize aus der Umgebung und innerlich entstandene Zustände alle gleichermassen willkommen heissen. Ein Organismus dieser Art wäre nicht in der Lage, sein Verhalten zu organisieren, Dinge zu tun, um das eigene Überleben zu sichern, oder seine typischen Merkmale weiterzugeben. Um funktionsfähig sein zu können, braucht das Gehirn eine Möglichkeit, Einschätzungen vorzunehmen. Wertvorstellungen ermöglichen uns, unser Verhalten an bestimmten Massstäben auszurichten. Die erste Phase dieses Prozesses, die anfängliche Orientierung, vermittelt dem Organismus das „Wissen“, ob er auf etwas Wichtiges achten sollte. In der zweiten Phase, die in einer gründlichen Einschätzung und einer anschliessend entsprechenden Anpassung des Erregungsgrads besteht, kommt es zur Bewertung des Reizes als gut oder schlecht. Gute Dinge sollte man suchen, schlechte meiden. Einschätzungs‐ oder Bewertungssysteme im Gehirn wirken, indem sie Erregungszustände verstärken (oder abschwächen).“  

Physiologisch kommt der Amygdala (Mandelkern, siehe unten), als Neuronen‐Cluster, eine zentrale Bedeutung bei den primären Bewertung zu („gut“ oder „schlecht“). Sie nimmt den Input aus der äussern Umgebung auf, und sendet als Antwort darauf eine emotionale Reaktion aus. Sie nimmt mit anderen Zentren (die Fachbezeichnungen derselben heissen Orbitofrontalkortex und anteriores Cingulum), eine wichtige Rolle bei der Koordinierung von Wahrnehmungen, Gedächtnisprozessen und dem Verhalten. Die genannten Regionen sind besonders sensibel für soziale Interaktion. Das gesamte so genannte limbische System (siehe unten) registriert ach den Zustand des Körpers und beeinflusst durch Regulierung des autonomen Nervensystems, welches auf die inneren Organe einwirkt (Blutkreislauf, Atmung, Verdauung, Energiemobilisierung etc.). Die Emotionen beschränken sich jedoch nicht nur auf die physiologischen Bereiche, sondern auf die gesamten Funktionen des Gehirns und Körpers bis zum abstrakten Denken. Die basalen, zur unmittelbaren Orientierung dienenden emotionalen Reaktionen werden auch als „primäre Emotionen“ bezeichnet, während die zunehmende differenzierenden emotionalen Zustände u.a. als „Basisemotionen“ oder „kategorisierende Emotionen beschrieben werden. Die kulturübergreifenden Ähnlichkeiten der kategorialen mentalen Zustände (Freude, Trauer, Ärger/Wut, Angst,  Abscheu, Anziehung, Wachsamkeit, Überraschung) lassen darauf schliessen, dass diese ebenfalls genetisch zu Grund gelegt sind. Ausgehend von den Basisemotionen  entwickelt sich die Komplexität sehr reicher, kulturell überformter und individuell gefärbter mentaler Empfindungen.  

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Die Emotionen finden eine sichtbare Form in der Mimik und Gestik, wobei dieser offensichtlich einen Mitteilungscharakter zukommt. Bei Menschen äussern sich diese Affekte viel deutlicher in der Gegenwart andere als wenn er allein ist. 

 Steuern, Bewegen und Handeln 

In die Gegenrichtung verlaufen unwillkürliche Signale, welche die Prozesse der inneren Organe wie Atem, Herzschlagfrequenz, Verdauungsprozesse, Energieaustausch und vieles anderes mehr regulieren. Unwillkürlich sind auch komplexe Bewegungs‐ und Verhaltensmuster, die überlebenssichernde Funktionen haben, wie etwa Trinken, Essen, mit einer spezifischen, basalen Emotion gekoppelter Gesichtsausdruck, oder bei Gefahr das Fluchtverhalten, Todstell‐ oder Abwehrreflexe und vieles anderes mehr. Diese Handlungsabläufe Reaktionen sind eng mit den körperlichen Reaktionen gekoppelt (etwa erhöhter Pulsschlag bei Gefahr).  

Als willkürliche Signale werden diejenigen Nerven‐impulse bezeichnet, welche die Bewegungen, die  Motorik aktivieren und steuern. Die Ausführung von Willkürbewegungen ist in der Regel von Wahrnehmungsprozessen der dabei einbezogenen Sinne begleitet.  

Die Handgeschicklichkeit als ein Beispiel der Motorik setzt sich aus den kompliziertesten und differenzier‐testen Bewegungsabläufen zusammen und besteht unter anderem aus unterschiedlichen Teilaspekten wie Hand‐ und Fingerkraft, Schulter‐, Ellenbogen‐ und Gelenkgeschicklichkeit, Handgelenksbeweglichkeit, Fingerbeweglichkeit (kinästhetische und taktile Wahrnehmung), Zielgenauigkeit (über taktile, kinästhetisch und visuelle Wahrnehmungen reguliert), Hand – Hand – Koordination, Handdominanz (rechts oder linkshändig), Körperhaltung (kinästhetisch und vestibulär). Bläser entwickeln die Funktionsdifferenzierung im Bereich der Lippen, Zunge, des Rachens und des Atems besonders. Die Differenzierung des Einsatzes der Stimmbänder, des ganzen Rachenraums, der Körperhaltung und Spannung (etwa für die Erweiterung der Resonanzräume) ist bei Sängerinnen und Sängern besonders ausgeprägt.  

Damasio, Roth und andere Autoren stellen ausführlich dar, mit welchen Prozessen sich eine Entscheidung herausbildet, die schliesslich in konkretes Handeln führt. Dabei wird deutlich, nicht nur das Verhalten, sondern auch ein massgeblicher Anteil des willkürlichen Handelns zu einem hohen Anteil aus uns nicht bewussten Vorgängen heraus wächst. Bildgebende Verfahren weisen nach, dass eine Entscheidung bereits gefällt ist oder ein Fehler bereits erkannt wird, bevor sich diese uns in den bewussten Gedanken oder im konkreten Handeln manifestiert. Trotzt der Tatsache, dass ein hohen Anteil der auch als intuitiv beschrieben Prozesse implizit sind, wirken die individuell erworben Erfahrungen, bewussten Gedanken und von der Person gesteuerten Handlungen Vorgängig in hohem Mass auf diese Prozesse ein.  

Grundgefühle, Vermeidungs‐ und Annährungsverhalten 

Lernprozesse sind eng verknüpft mit chemischen Prozessen, welche ihrerseits vom Menschen als basaler Motivationszustand empfunden werden (zur Motivationstheorie der pädagogischen Psychologie: siehe separates Skript). Dabei wird heute zwischen zwei sich auch im chemischen Prozess stark verschiedenen Motivationssystemen unterschieden. Das sogenannte Annäherungssystem wird als positives Gefühl empfunden. Dieses wird durch erhöht ausgeschüttete Botenstoffe, vorab Dopamin, ausgelöst. In diesem Moment wird das Bilden von neuen Synapsen auch physiologisch gefördert und erleichtert. Bei hoher Konzentration, etwa im Erleben des „Flows“ oder bei einem sogenannten „Aha‐Erleben“, werden diese Bahnen besonders rasch gebildet und gefestigt. Bereits vor der Neuroforschung erkannte Bedingungen für motiviertes Lernen können so auch aus neurologischer Sicht bestätigt werden. Die Erwartung auf Sättigung über Nahrung mobilisiert im Körper Serotin und Dopamin, die während dem Genuss der Nahrung Lustempfinden auslösen. Gewisse Drogen wirken chemisch verstärkend auf dieses hormonelle Motivierungssystem, etwa Koffein oder Kokain.  

Das Vermeidungssystem hingegen steht im Dienst der Lebenssicherung und Erhaltung. Es mobilisiert unter anderem Noradrenalin. Die Botenstoffe bewirken eine Bereitstellung aller Funktionen, die entweder für Flucht‐, Verteidigungs‐ oder Totstellreaktionen notwendig sind. Komplexe kognitive Entscheidungsprozesse sind dafür zu langsam für eine überlebenssicherndes „Re‐agieren“, beispielsweise wenn ein Auto genau in 

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dem Moment heranbraust, in dem jemand die Strasse überqueren möchte. Die Lernprozesse werden dann zu Gunsten der tieferliegenden, unbewusst verlaufenden Reflexe und Verhaltensabläufe zurückgefahren. 

Ist das Vermeidungssystem längere Zeit anhaltend aktiviert, spricht man von Stress. Furcht ist ein auf eine konkrete Situation gerichtetes Vermeidungsverhalten. Sie kann je nachdem in Aggression überführen, wenn aktive Verteidigung angesagt ist. Schmerz erscheint aufgrund einer tatsächlichen körperlichen Schädigung. Angst hingegen ist ein verinnerlichtes Grundgefühl steter Bedrohung. Muss unter Furcht und Angst ein Verhalten erlernt oder angepasst werden, ist dieses später in der Erinnerung stets mit diesen Gefühlen gekoppelt und wird darum nur ungern reaktiviert.  

Der Schüler, der dies berichtet, kann die Fertigkeiten eines unter solchen Bedingungen erlernten Wissens nicht mehr richtig anwenden. Die kognitiven Zentren schalten aus, die Stimme bricht ab. Als Depression wird der Zustand bezeichnet, der sich aus steter Ängstlichkeit und fehlender Annäherungsmotivation heraus stabilisiert.  Drittes Motivationssystem ‐Soziale Kontrolle 

Ein weiteres Motivationssystem kommt im sozialen Kontext zum Tragen, wenn es einerseits ums Imponieren und Werben beim Geschlechtspartner, andererseits ums erlangen der eigenen Stellung du Kontrollanteil in der eigen sozialen Gruppe geht. Die dabei beteiligten Hormone heissen Adrenalin, Testosteron, Noradrenalin, Dopamin. Gerade in der Adoleszenzphase, und dabei vor allem bei den Jungen, können solche Prozesse zu Höchstleistungen (und damit einhergehenden, meist prozeduralen Lernprozessen) anspornen.  Das vierte Motivationssystem – Bindungserleben und Kooperation 

Ein viertes System wirkt sich besonders positiv auf die Lernbereitschaft aus. Die Zuwendung ist in den ersten Lebensjahren von entscheidender Bedeutung. Auch der erwachsene Mensch ist auf mitmenschliche Bindung, Zuwendung und Kooperation angewiesen. Auf der Seite der Botenstoffe dominiert das Hormon Oxytocin, welches bei Brutpflege (bei den Frauen bei der Milchproduktion), bei der positiven Zuwendung und in ausgeprägtem Mass beim Verliebtsein und der Sexualität eine massgebliche Rolle spielt. Auch körpereigene Opiate spielen eine Rolle. Sie entfalten eine beruhigende und schmerzvermindernde Wirkung. Mit zunehmendem Alter löst das Erleben des Miteinanders in der Kooperation das Bedürfnis nach ausschliesslicher Zuwendung ab.  Joachim Bauer, Daniel J. Siegel und andere Autoren schildern in zahlreichen Büchern eindrücklich, dass der Mensch in der Evolution eigentlich als kooperatives Wesen zu verstehen ist. Ist das Bindungsbedürfnis befriedigt, bestehen ebenfalls gute hormonelle Ausgangsbedingun‐gen für den Annäherungsmodus und das damit verbundene Lernen.   Damit wird die These auch unter biologischen Gesichtspunkten untermauert, dass das Lernen in positiven, mit Zuwendung gekoppeltem Lernklima deutlich besser und nachhaltiger geschieht als unter emotionaler Distanz, Abwendung, Ablehnung oder gar unter Androhung von Strafe oder mit begleiteter körperlicher oder psychischer Verletzung.  „Mindsight“, der „siebte Sinn“ 

Auf der Ebene des Grosshirns werden die Wahrnehmungssysteme der inneren und äusseren Wahrnehmungssysteme in verschieden komplexen Systemen zu einander in Beziehung gesetzt bzw. als übergeordnete Interpretations‐ oder Wahrnehmungssysteme wirksam. So kann zum Beispiel ein Zentrum den Gesichtsausdruck des Menschen und dessen emotionale gefärbten Ausdruck „lesen“. Ein Cluster von Zentren aktiviert die Repräsentationen über das ganze Hirn beim sich Einfühlen ins Gegenüber, wieder ein andere dürfte an der Ausbildung eines Autobiografischen Ichs beteiligt sein, Zudem nehmen die Forscher 

„Mein Puls steigt, wenn ich mit der Stimme einen Ton abnehmen möchte, und ich mich daran erinnere, wie mich der Klassenlehrer blossgestellt hatte, weil mir dies damals während des Stimmbruchs nicht richtig gelingen wollte…“

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an, dass sich einige Zentren auf die Repräsentation und das eigen Verhalten im sozialen Umfeld und innerhalb einer Gruppe von Menschen spezialisiert sind, wobei dies – so wird vermutet – unser Kapazität mit der jeweiligen Gruppengrösse von 150‐180 Menschen an die Grenzen stösst. Das wohl jüngste, beim hoch entwickelten Säugetieren und Primaten im Ansatz erkennbare, doch dem Menschen vermutlich weit fortentwickelten und vorbehaltene Zentrum im Vorderhirn (Frontalkortex) ermöglicht uns, diese Vorgänge wahrzunehmen und über die eigene Erfahrungen, der eigenen Identität dem „Ich“, dem „Wir“, dem „Aussen“ und dem „Innen“ nachzudenken und diese in eine Zeitperspektive des „Gestern“, „Gegenwärtig“ und dem „Zukünftigen“ einzubetten. Der Neuro‐ und Therapieforscher Daniel Siegel bezeichnet dies als „Mindsight“, als unser „siebten Sinn“. 

Räumliche Organisation des zentralen Nervensystems beim Menschen 

Die Bündel von Signalen werden über Bahnen und zu den höheren Hirnstrukturen geleitet, die sich im Verlauf der Evolution hinter‐ und nebeneinander ausgebildet haben. Durch die zunehmende Grösse der assoziativen Zentren, welche in hoher Komplexität verschiedene spezialisierte Teilzentren ausbilden und auch miteinander vernetzen, faltete sich die jüngste Hirnstruktur über die phylogenetisch älteren Ebenen (Siegel, 2006).  Das Handmodell des Gehirns (Siegel 2010) 

„Wenn Sie den Daumen mitten in Ihre Handfläche legen und die anderen Finger darüber krümmen, haben Sie ein recht „handliches“ Hirnmodell. (…).“ 

Das Gesicht des Betreffenden befindet sich vorne vor den Fingerknöcheln, der Hinterkopf entspräche dem Handrücken. Das Handge‐lenk stellt das Rückenmark dar, das aus der Wirbelsäule aufsteigt und auf dem das Gehirn sitzt. Wenn Sie die Finger heben und den Daumen strecken, sehen Sie den inneren Hirnstamm in der Handfläche. Legen Sie den Daumen wieder in die Handfläche, erkennen Sie ungefähr, wo das limbische System sitzt (idealerweise müssten wir zwei Daumen an der Hand haben, einen links und einen rechts, um ein symmetrisches Modell daraus zu machen). Legen Sie nun die Finger wieder darüber, und schon ist der Kortex an seinem Platz. Diese drei Bereiche ‐ Hirnstamm, limbisches System und Kortex ‐ umfassen das, was man das »dreieinige« Gehirn nennt, das sich im Verlauf der Evolution schichtweise  

herausgebildet hat. Die Integration des Gehirns erfordert, dass zumindest die Aktivitäten der drei genannten Hirnregionen miteinander verknüpft werden. Da sie von unten nach oben verteilt sind ‐ vom inneren, unteren Hirnstammbereich über das limbische System zum äußeren und höheren Kortex, könnte man dies »vertikale« Integration nennen. Das Gehirn ist zudem in zwei Hälften, die linke und die rechte HirnhäIfte, aufgeteilt, und somit gehört auch die Verbindung der Funktionen der beiden Hirnhälften zur neuronalen Integration. Dies könnte man die »horizontale« oder »bilaterale Integration« nennen (siehe weiter unten, Anm. AC). Das Wissen um die Funktionen der wichtigsten Hirnbereiche hilft lhnen, Ihre Aufmerksamkeit so auszurichten, dass die erwünschte Verbindung zwischen diesen Bereichen zustande kommt. Ich gebe Ihnen jetzt einen kurzen Überblick über die Schichten des »dreieinigen« Gehirns.“    

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                              (Bildquelle & Siegel Zitat Ende)   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Fünf Hirnteile  

Eine etwas andere Darstellung des Hirns, bei dem das Kleinhirn und Zwischenhin mit einbezieht, zeichnet folgendes fünfteiliges Modell.  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Quelle/Eckart Altenmüller in Mahlert 2006 

 

Das Rückenmark schliesst sich als Fortsetzung an das verlängerte Mark und das Mittelhirn mit der dazu gehörenden Brücke an. Auf gleicher Höhe wie die Brücke befindet sich, nach hinten verlagert, das Kleinhirn. Weiter oben folgen auf das Mittelhirn das Zwischenhirn und das Endhirn, das aus der linken und der rechten Hirnhälfte (Hemisphären) mit der Hirnrinde und tiefer liegenden Schichten besteht.  

Die fünf Teile des Gehirns haben je unterschiedliche Funktionen. Das verlängerte Mark (Stammhirn) ist für die lebenswichtigen Körperfunktionen zuständig. Es reguliert autonom den Wach‐ und, Schlafrhythmus, die Atmung, den Blutkreislauf, die Körpertemperatur und den Flüssigkeitshaushalt. Durch das verlängerte Mark läuft eine Mehrzahl der hinein‐ und herausführenden Hirnbahnen. Im Mark  befinden sich auch die ersten motorischen und sensorischen Kerngebiete dieser Nerven. Zudem sind die tiefst gelegenen, basalen Wachbewusstseins‐ und Aufmerksamkeitszentren da angesiedelt. 

Die dem Mittelhirn zugeordnete Brücke ist die wichtigste Schaltzentrale der Verbindung zwischen Gross‐hirnrinde und Kleinhirn. Im Mittelhirn werden auditive, visuelle und sensomotorische Bahnen miteinander verknüpft und auf visuelle und auditive Signale reagierende Blick‐ und Kopfbewegungen ausgelöst. Es steuert die durch Aufmerksamkeitsprozesse beeinflussten Arm‐, Hand‐ und Greifbewegungen. Die erste, noch unbewusste Verarbeitung der Hörinformation geschieht ebenfalls im Mittelhirn. Einige Steuerungs‐prozesse von Organen über das sogenannte vegetative Nervensystem sind ebenfalls im Mittelhirn angesiedelt. 

Das Kleinhirn ist über der Brücke aufgesetzt und wesentlich an der Feinsteuerung von willkürlichen fein‐motorischen Bewegungen beteiligt. Es reguliert die Haltungsregulation und kontrolliert das Gleichgewicht und die Augenbewegungen. Zudem werden im Kleinhirn die zeitlichen Abläufe, seien es Bewegungen, Sprachlaute oder Gedankenketten, koordiniert. Neue Ergebnisse der Forschung bestätigen, dass das Kleinhirn an diversen Denkvorgängen beteiligt ist. Es übernimmt bedeutsame prozedurale Gedächtnisinhalte, das heisst handlungsketten und Verhaltensabfolgen, auch in Bezug auf sozial bedeutsame Verhaltensweisen, welche nicht bewusst erlernt und verinnerlicht werden. 

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Das Zwischenhirn liegt tief im Inneren des menschlichen Gehirns. In ihm befindet sich  der Thalamus, bei dem die Signale der Augen, der Ohren, des Gleichgewichtsorgans und der von der Haut und den Muskeln kommenden sensorischen Bahnen eintreffen. Dort werden sie verknüpft und auf Bahnen zur Hirnrinde weiter geführt. Das Zwischenhirn verbindet zudem das Riechzentrum mit dem Stammhirn. Auch das Geschmackzentrum führt durch den Thalamus.  

Unterhalb des Thalamus liegt der Hypothalamus, der als Regulationszentrum für vegetative Funktionen überlebenswichtige Verhaltensweisen wie Flucht, Abwehr, Fortpflanzung, Nahrungsaufnahme und Bio‐rhythmen kontrolliert. Im Zwischenhirn sind einerseits diverse Grundfunktionen wie Nahrungs‐ und Flüssigkeitsaufnahme, Aktivitätszustände (Biorhythmen), Temperatur‐ und Kreislaufregulation, Verdauung sowie genetisch angelegte Verhaltenskomplexe wie etwa Flucht‐, Totstell‐, und Verteidigungsreflexe, Aggression, Sexualverhalten, Brutpflege und Zuwendung und Kooperationsverhalten angelegt. Die Schilderung dieser hoch komplexen Zusammenspiele im Zwischenhirn würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen. Literatur kann bei weiterführendem Interesse empfohlen werden. 

Die Bewertung im Thalamus ist zudem auch kognitiv‐handlungsorientiert. Dies geht vom einerseits vom höher gelegenen Gyrus cinguli aus, meist abgekürzt mit den Buchstaben ACC. Auch dieses Zentrum wird dem limbischen System zugerechnet. Es steuert weitere Anteile der emotionalen Bewertung und des Schmerzempfindens bei. Zudem übernimmt das ACC zentrale Funktionen in der Einschätzung von Gewinn und Verlust einer geplanten Handlung, der Risikoabschätzung und der unmittelbaren Fehlererkennung und Fehlerkorrektur. Diese Einschätzung passiert innert 100 Millisekunden, und geht den als bewusst empfundenen Entscheidungs‐vorgängen zeitlich weit voraus. Heute wird angenommen, dass die Entscheidungs‐begründung nachträglich „mitgeliefert“ wird, damit das Bewusstsein eine Kongruenz zwischen Handlung und Willen erlebt. Ohne weiter auf die anhaltende Diskussion zwischen Wille und unbewusster Steuerung einzugehen sei darauf verwiesen, dass das ACC bei dieser Einschätzung die individuell angesammelten Erfahrungen und Lern‐prozesse in die Bewertung mit einbezieht und demnach durchaus in engstem Bezug zur individuellen Persönlichkeit steht. 

Im Lernkontext wird hier der unmittelbar erste Entscheid getroffen: 

Interessiert der Inhalt oder nicht?  Ist der Inhalt für die persönliche Realität und Praxis von Bedeutung?  Wird der Beziehung (zur Lehrperson) vertraut? 

Damit der Lernende sich auf den Prozess einlässt, muss eine Übereinstimmung zwischen Grundhaltung und Absicht der Lehrperson und der Gestaltung der Lernumgebung, der Lerninhalte und den angestrebten Ziele bestehen. Die für die momentane Situation als bedeutsam bewerteten Wahrnehmungen und damit vernetzten emotionalen Empfindungen, Bewertungen und assoziierten Erfahrungen werden ausgewählt und anschliessend in das höher gelegene Grosshirn weiter geleitet.  Was wir also als „ungefilterte“ Wahrnehmung zu erleben glauben, weist bereits einen hohen Anteil subjektiver Bewertung und Interpretation auf! 

Der Mandelkern (Amygdala) registriert emotional besonders erregende Gegenstände und Situationen und schätzt beispielsweise die emotionale Bedeutung eines Gesichtsausdrucks ein. Er ist zudem zentral an der Angstkonditionierung beteiligt.  

Findet das Lernen unter Angst auslösender Lernumgebung statt, wird vor allem die Amygdala aktiv für das Speichern der damit verbunden Lerninhalte, während der nachfolgende Hypokampus tendenziell umgangen wird. Dies können danach nur erschwert wieder abgerufen werden, und dann begleitet von den ebenfalls wieder in Erinnerung gerufenen einher laufenden Reaktionen, welche als Schutz aktiviert worden waren (erhöhter Herzschlag, Schweiss und viele weiter physiologische Reaktionen, der Flucht, Totstell‐ oder Angriffsbereitschaft). Das unter Angst Erlernte wird sehr starr, ohne Variation wieder abgerufen, dafür mit ausserordentlich hoher Stabilität und Verlässlichkeit. Die so erworbene Fertigkeiten und Handlungsabläufe können jedoch nur im identischen Kontext abgerufen werden, ein Transfer oder ein kreatives Lösungsverhalten ist ausgeschlossen. Dieser Effekt des Lernens unter Angst wird darum bei der militärischen Ausbildung oder anderen Drillmethoden gezielt genutzt. 

 

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Limbisches System 

Als Limbisches System wird die zentrale Region bezeichnet, welches den Thalamus, Hypothalamus, den Hypocampus Beinhaltet oder in direkter Nachbarschaft dazu befindet. Es ist ein Cluster an Arealen und Zentren, der eintreffende Eindrücke mir den Erfahrungen verbindet, und zudem mit den inneren Körperzuständen und Emotionen verknüpft, aber auch mit allen umgebenden Arealen des Neocortex bzw. des Grosshirns  vernetzt ist, insbesondere auch mit dem präfrontalen Cortex, in welchem sich vorne das Aufmerksamkeitszentrum und das Arbeitsgedächtnis befindet, sowie  auf der linken Seite das logische „Planungsareal“ und auf der rechten Seite mit den Arealen, die wesentlich sind für das Einfühlungs‐vermögen und das autobiographische Gedächtnis. Im Handmodell entspricht dies dem Daumen und den diesen umgebenden Innenflächen der Finger. Nahezu alle Gedächtnis‐ und Lernprozesse gehen über diese gigantische Schaltzentral. Das Limbische System ist das Integrationszentrum des Zentralen Nervensystems, welche die Verbindungen in alle Richtungen auf und abwärts miteinander in Beziehung bringen vermag. 

Die Auswahl und Bewertung aller Wahrnehmungen sind immer „limbisch‐emotional“. Das bedeutet, dass äussere Reize mit inneren, körperlich‐vegetativen Prozessen im Sinn einer ganzheitlichen „Befindlichkeit“ miteinander verknüpft werden. Zudem wird dies zu den bisherigen, in den verschiedenen Gedächtnisformen, auch mit den in höher gelegen Arealen gespeicherten Erfahrungen und Erinnerungen, in Beziehung gesetzt.  

In den letzten Jahren wurde die zentrale Bedeutung des Hippokampus für das explizite Bewusstsein und Gedächtnis entdeckt. Tief an der Innenseite der Schläfenlappen gelegen, wird er heute als Organisator vor allem mit positiven Emotionen begleiteten, expliziten Gedächtnisinhalten aufgefasst. Die Gedächtnisinhalte bzw. mentalen Repräsentationen, die vom Hippokampus koordiniert und an die assoziativen Hirnzentren weitergeleitet werden, können wir bewusst erinnern und auch versprachlichen. Eine wichtige aktive Rolle spielt er darum auch in der Traumphase, in der die im Wachzustand gesammelten expliziten Erfahrungen und Denkprozesse ins Langzeitgedächtnis überführt werden. Dabei scheint er sowohl für das deklarative Faktengedächtnis als auch für das episodische Gedächtnis festzulegen, welcher Inhalt in welcher Weise und an welchen Orten gespeichert wird. Die Funktion des Hippokampus kann im übertragenen Sinn mit dem Inhaltsverzeichnis eines riesigen Lehrbuchs verglichen werden (Altmann in Mahlert, 2006).    Vorderhirn, Aufmerksamkeitssteuerung und Automatisierung 

Das Aufmerksamkeitszentrum im Stirnhirn (Präfrontaler Cortex) ist ebenfalls massgeblich an der Steuerung der Durchlässigkeit der eintreffenden Signale und nachfolgenden Lernprozesse beteiligt. Dort liegt die bewusste Aufmerksamkeitssteuerung. Wie mit einem Schweinwerfer werden bestimmte Aspekte der eingehenden Sinnesreize und geplanten Handlungsreize angeleuchtet damit bewusst macht. So gelingt es beispielsweise nach dem Prinzip des Musikpädagogen Gerhard Mantels, sich mit rotierender Aufmerk‐samkeit beim Üben, zeitlich versetzt auf verschiedene Aspekte der Sinnesinformationen zu konzentrieren (Mantel 2003).  

Das Aufmerksamkeitszentrum ist aktiv, wenn etwas noch nicht verinnerlicht und darum eine bewusste Kontrolle erforderlich ist. Die Automatisierung kann durch Wiederholung unterstützt werden. Es ist wichtig und günstig, dass zur Orientierung eine Referenz des korrekten Verlaufs mitläuft. Für einen richtigen Rhythmus kann dies beispielsweise eine Mitspielband sein. Bei Schülern die mit der Automatisierung Mühe haben, sollte dies nur sehr einfach gestaltet sein, da sonst zu viele Aufmerksamkeitsanteile durch die mitklingenden Instrumente abgezogen werden. 

Erst wenn es möglich ist, Fertigkeiten oder Wissensanteile automatisch zu nutzen, kann die Aufmerksam‐keit auf andere Dinge gerichtet werden. Verpasst der Fahrer beispielsweise eine Abzweigung, weil er mit dem Mitfahrer gesprochen hat, hat er offensichtlich die örtliche Orientierung nicht ausreichend verinner‐licht. Multitasking bedeutet demnach über sehr gut automatisierte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu ver‐fügen (D. Gyseler, mündliche Auskunft 2010). 

Lernen findet naturgemäss dann statt, wenn das Individuum ungewohnte oder neue Situationen zu bewältigen hat. Die Aufmerksamkeit richtet sich dorthin, wo etwas auffällt. Methodisch gesehen bedeutet dies, dass ein stereotyper Verlauf des Unterrichts die Aufmerksamkeit vermindert. Überraschungen und die 

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Gewohnheit durchbrechende Ereignisse wecken die Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft. Umgekehrt bewirkt stetes „Chaos“ ein Überangebot an Reizen. Der Schüler kann die Aufmerksamkeit nicht konzentriert auf das Bedeutsame fokussieren.  Repräsentation in den Arealen des Grosshirns 

Der eigentlichen Areale der meisten Gedächtnisinhalte sind dann im Grosshirn (Cortex) zu finden. Dieses ist selbst in verschiedenen Schichtungen aufgebaut, dies mit der Entwicklungsgeschichte zunehmend differenziert haben.  Der führende Neuroforscher Gerhard Roth bezeichnet die Teile des Grosshirns, welche komplexe Wahrnehmungen, Vorstellungs‐und Denkprozesse und Erinnerungen generieren, zum kognitiven Grosshirn. Zum exekutiven  Gehirn gehören die Teile, die mit der Planung, Vorbereitung und Kontrolle von Handlungen zu tun haben.   

Seit geraumer Zeit faszinieren die Forscher vor allem die äussersten Schichten. Auf diesen können einzelne Funktionen wie Länder auf einer Karte einerseits durch anatomisch beschreibbare, spezifische Zellstruk‐turen, andererseits durch Beobachtungen lokalisiert werden. Heute geschieht dies vor allem durch bild‐gebende Verfahren, seltener im Zusammenhang mit Ausfallserscheinungen nach Schädigungen oder durch Reizung während operativen Eingriffen.  

Differenzierung der Grosshirnrinde übertragen aufs Handmodell könnte in etwa lauten: Die Hirnareale beim Zeigfinger sind u.a. zuständig für die Lenkung der Aufmerksamkeit, die Planung, Kontrolle und Steuerung der sozialen Interaktion und das Arbeitsgedächtnis. Der Mittelfinger steht für die Motorik und Willkürhandlungen. Der Ringfinger steht für die sensorischen Areale (Repräsentation der Sinneswahrnehmungen) und räumliche Orientierung. Der kleine Finger für die visuelle Vorstellung. 

Quelle: E. Altenmüller, Referat, Zürich, 25.08.2010 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   

 

 

 

 

 

 

 

Supplementäre Motorische A.

Aufmerksamkeit Planung Kontrolle Soziales Arbeitsgedächtnis 

Räumliche Vorstellung 

Motorische A.

Sprache, Gesten,  Symbolisches Verhalten   

Somato‐sensorische Areale

Visuelle Areale 

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Bildquelle: Prinz/Roth 1996 

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Die sensorischen und motorischen Areale der rechte Gehirnhälfte repräsentiert dabei die linke Körperseite und umgekehrt. 

                    Quelle/Meister Vitali 

  

 Der primäre somatosensorische Cortex verarbeitet Informationen über Tast‐, Druck‐ und Berührungsreize der Haut, der Haare, der Stellung der Gelenke und den Spannungszustand der Muskeln. Die weiteren Areale sind ebenfalls nach der Spezialisierung auf einen Sinn benannt 

primärer Cortex 

visueller Cortex  auditiver Cortex  Diese Areale sind auf ganz spezifische Wahrnehmungsqualitäten spezialisiert 

Farbe  Form 

Bewegung  Tonstärke  Klangfarbe  Tonhöhenverlauf  rhythmische Struktur  und viele andere mehr.   Die spezifischen Hirnareale werden heute mit so genannten Hirnkarten dargestellt. Folgend ein Beispiel zum sensomotorischen und motorischen Areal (aus „Vitale Meister“). Die Abbildung irritiert. So wird etwa die Hand neben der Stirn, die Genitalien neben dem Fuss auf der Grosshirnrinde „abgebildet“. Die Anordnung entspricht den Positionen, die ein Fötus im Mutterleib einnimmt.       

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                              Quelle/Meister Vitali 

 Die Zentren, sei es in den eintreffenden sensorischen Bereich oder dann in den ausgehenden, motorischen Zentren, welche Bewegungen und das Handeln steuern, sind jeweils spezialisiert. Etwa vergleichbar mit Audiodaten, Videodaten oder  Computerdaten können sie jeweils das entsprechende Format entziffern oder codieren, während andere eintreffenden Signaldaten für sie unbedeutend sind. 

Die Bereiche des Cortexes werden als assoziative Areale bezeichnet. Diese verbinden verschiedene Qualitäten an Informationen, setzten dies zu einander in Beziehung oder fügen sie zusammen. So werden das Gleichgewichtsgefühl, aktive Bewegungsabläufe, Tastgefühl, Konstruktion einer dreidimensionalen Welt, Lokalisierung der Sinnesreize des eigenen Körpers und seiner Bewegung und Orientierung in der Umwelt als ganzheitliches Körpergefühl wahrgenommen. Die kognitiv‐effektiven Bereiche sind aktiv, wenn es um die Planung, Ausführung und Kontrolle einzelner, gezielter Bewegungen geht. 

Es gibt andere weit komplexere assoziative Areale, die die Konstruktion mentaler bis bewusster Vor‐stellungen und Repräsentationen betreffen. Beim Menschen zeigen sich dabei deutliche funktionale Unterschiede der beiden Hemisphären. Im rechten Lappen dominiert die räumliche Lokalisierung. Diese erlaubt die konkrete und mentale Konstruktion des Raumes mit der Möglichkeit, einen Perspektiven‐wechsel zu simulieren, sich ein ethisches Urteil zu bilden o.ä. Die Umwelt und selbst kreierte Vorstellung möglicher Welten und Abläufe erscheint als komplexes räumliches, gleich‐zeitig erfassbares Gebilde.  

Im Cortex findet sich auch das System, das empathisches Einfühlen steuert. Im linken Lappen werden vor allem die Informationen symbolisch‐analytisch verarbeitet. Dies etwa bei Arithmetik oder Sprache. Die Spezialisierung unterschiedlicher Zentren und die links – rechts Thematik wird im Skript nachfolgend eingehender behandelt. 

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Im Vorderhirn ist neben dem bereits beschriebenen Aufmerksamkeitszentrum unter anderem das Arbeits‐gedächtnis angesiedelt. Durch die Verknüpfung der diversen assoziativen Areale und in Verbindung zu den tiefer liegenden Schichten entsteht das Empfinden, das wir als „Ich‐Bewusstsein“ oder sogenanntes autobiografisches Bewusstsein erleben (vor allem auf der rechten Seite) und das Organisieren des Faktenwissens (links). 

 Lernen ist sichtbares Wachstum 

Lange herrschte die wissenschaftliche Meinung, dass Hirnprozesse in bestehenden, sich kaum verändern‐den Strukturen verlaufen. Heutige Verfahren können zeigen, dass ein Lernprozess eine sofortige Zunahme an Verbindungen und damit echter Substanz zur Folge hat. Das Netzwerk wird dichter, das Volumen des betreffenden, aktiv lernenden Areals nimmt zu. Bei Ausfall eines Zentrums ist es bis zu einem gewissen Grad möglich, durch Training andere Areale als Ersatz zu nutzen, vor allem solche, die bisher nicht stark genutzt wurden. Da diese Veränderungen laufend stattfinden, spricht man heute auch von der „Plastizität“ des Gehirns.  Die grösste kortikale Repräsentation haben diejenigen Muskelgruppen, die zu besonders fein differenzierten Bewegungen benutzt werden. Dazu gehören Muskeln für die Lautsprache, die Mimik und der Handmuskeln. Sie haben die grösste Ausdehnung. Sinnesbereiche, die von Lebensbeginn weg intensiv genutzt werden, erhalten im Verlauf des Lernens mehr Platz in den Hirnarealen. Wer beispielsweise gut Geige spielt, hat mit zwanzig Jahren schon zehntausend oder mehr Stunden geübt. Zehntausend Stunden Übung gilt heute als Konstante für eine Meisterschaft in Bezug zu einer bestimmten Fertigkeit oder Fähigkeit. Durch das viele Üben erhalten die Finger der linken Hand deutlich mehr Platz, rund drei bis vier Zentimeter. Ein Schüler, der mit vierzig Jahren anfängt zu üben, schafft es bestenfalls noch auf einen Zentimeter. Er kann aber nie mehr die gleiche Vergrösserung erreichen wie Schüler, die vor dem 11. Lebensjahr angefangen haben intensiv zu üben (Spitzer 2006). Neuste Untersuchungen zeigen, dass Kinder die vor dem 6. Lebensjahr beginnen ein Instrument zu erlernen, über nachhaltig noch günstigere hirnphysiologische Voraussetzungen für ihr weiteres musikalisches Lernen verfügen. Dies auch ungeachtet der Möglichkeit, das Instrument später zu wechseln (Altenmüller, 1997). 

Die Forschung bestätigt, dass dieser Prozess bereits vor der Geburt einsetzt. Akustische Signale des mütterlichen Körpers oder der  Umwelt haben eine für die spätere auditive und musikalische Entwicklung des jeweiligen Individuums eine wesentliche Bedeutung. Neugeborene können bereits zwischen dem Klang der Muttersprache und einer Fremdsprache unterscheiden! 

Die Lerngeschwindigkeit nimmt bis zum 17. Lebensjahr rapide ab, steigert sich noch einmal um das 20. Lebensjahr und nimmt dann wieder deutlich ab (Spitzer 2006). Für diese Entwicklung sucht die Forschung noch nach Begründungen. Lernen bedeutet stetes Optimieren. In der archaischen Gesellschaft wird das Tier auf der Jagd mit einem Pfeil möglichst zielsicher getroffen. Musiker treffen den richtigen Ton. Spitzer (2006) illustriert dies an folgendem Beispiel: 

Geht es anfangs darum in die richtige Richtung zu zielen und den Pfeil ungefähr in die Nähe fliegen zu lassen, müssen die Jäger die Spannkraft des Bogens und die Vorberechnung der Flugbahn immer besser „in den Griff“ bekommen. Müssten sie alles immer wieder von neuem lernen, würde dies das Überleben nur ungenügend garantieren.  Gut Erfahrungswerte sollten im günstigsten Fall nicht mehr in Frage gestellt bzw. verlernt werden. Dieser Effekt der steten Optimierung einer Fähigkeit wird als „Spirallernen“ bezeichnet. Mit zunehmendem Alter kristallisieren sich die Erfahrungen auf den Landkarten heraus, es geht „nur noch“ um die Feineinstellungen. Die erforschten Lernkurven weisen darauf hin, dass sich die optimalen „Jagdergebnisse“ nicht etwa bei jungen Erwachsenen sondern Mitte Vierzig einstellen, vorausgesetzt, das Lernen konnte von Kind an stetig stattfinden.     

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In den ersten 15 bis 17 Jahren werden also vor allem die Grundmuster eingeprägt, auf welche sich der Mensch künftig abstützen wird. Dies gilt auch für die sozialen Fähigkeiten. Untersuchungen zur Auswirkung von Fernsehkonsum in der Kindheit und entsprechende Prägungen etwa bezüglich Gewalt rufen darum nach dringendem Handlungsbedarf. Diese Erkenntnisse bestätigen hingegen auch die positive Wirkung, die Instrumentalunterricht im Vorschul‐ und Jugendendalter hat (Altenmüller, 1997, Bastian 2000).  

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2000

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10000

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Mit Üben

 verbrachte Zeit in Stunden

Alter der Musiker in Jahren

Professionelle Streicher

Gute Streicher

Mässige Streicher

Amateurpianisten

 Zusammenhang zwischen der mit Üben am Instrument verbrachten Gesamtzeit und dem Alter der Musiker. Die vier Kurven ent‐sprechen den Werten für vier Gruppen mit unterschiedlichem erreichten professionellen Niveau. Wer ein Profi‐Geiger wird, der hat mit 10 Jahren schon tausend Stunden Geige gespielt, als Teenager (mit 15 Jahren) viertausend Stunden und mit 20 Jahren mehr als 10‘000 Stunden. Mässige Streicher haben etwa halb so viel Zeit mit ihrem Instrument zugebracht, und Amateurpianisten noch einmal die Hälfte davon (nach Lehmann & Ericsson, 1998). Quelle/Spitzer, 2003  Das Gehirn kann gar nicht anders als Lernen. Totaler Reizentzug hat für den Menschen in kurzer Zeit tödliche Folgen. 

Manfred Spitzer berichtet in „Musik im Kopf“ (Spitzer, 2003), dass das Corpus Callosum bei Musiker/‐innen  als neurologisch nachweisbare Transferwirkung des Musizierens deutlich vergrössert ist. Dieses Areal vernetzt die linke und rechte Hirnhälfte (dazu siehe weiter unten). 

           Quelle/Spitzer, 2003 

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 Gedächtnisprozesse 

Gedächtnisprozesse finden nach heutigem Wissensstand durch neuronale Verknüpfungen aufgrund wiederholter ähnlicher Erregung oder Anregung für die Synapsenbildung und Verstärkung statt. Der Begriff Arbeitsgedächtnis bezeichnet dabei die Prozesse während der aktuellen Phase der Wahrnehmung. Langzeitgedächtnis ist das nachhaltige Speichern nach ausreichender Wiederholung dank nahe liegender Verknüpfung mit bereits gespeicherten Erinnerungen oder mitlaufender prä‐emotionaler Wertung („Marker“ der positiven oder negativen Art).  Dreispeichermodell des Gedächtnisses nach Atkinson und Shiffrin, (siehe auch Schermer, 1991) 

Kurzzeitspeicher/ Arbeitsgedächtnis

Sensorisches RegisterMerkmal‐ & Muster‐erkennung

Langzeitspeicher• episodisch• semantisch• prozedural

kontrollieren, wiederholen/ verstärken umkodieren/ elaborieren

erarbeiten/ ablegen

abrufen

Sinnesreize Aufmerksamkeitsprozesse Interpretation GedächtnisVerarbeitung

 Das sensorische Register vermag gleichzeitig Millionen von Einzelinformationen zu verarbeiten. Davon gelangt nach diversen Filterungsprozessen nur ein Bruchteil ins Kurzzeitgedächtnis. Dessen Kapazität definiert sich durch die Gedächtnisspanne und umfasst etwa sieben (plus/minus zwei) Einheiten. Die Menge der im Kurzzeitgedächtnis gespeicherten Informationen kann durch Bündelung einzelner Gedächt‐nisinhalte erhöht werden. Diese werden zu einem sogenannten „Chunk“ zusammengebunden. Die Ein‐heiten müssen jeweils durch ein besonderes Merkmal gekennzeichnet werden. Werden beispielsweise musikalische Motive als einheitliche Gestalt erfasst, kann ein viel grösserer musikalischer Zusammenhang erfasst werden als beim Lesen einzelner Noten (siehe auch Ausführungen unter „Üben“). Für diesen Prozess eignet sich daher auch der Wechsel zwischen Lernen „top to down“ (von der Übersicht zum Detail) und Lernen „bottom up“ (von Schritt für Schritt zum Ganzen, siehe auch weitere Ausführungen im Skript „Lernverläufe und Lernstrategien“). 

Das Kurzeitgedächtnis ist verbunden mit der „Jetztzeit‐Empfindung“. Diese umfasst eine Zeitspanne von drei bis vier Sekunden Vergangenheit und „gleichzeitig“ die Vorwegnahme/Antizipation, was für die nächsten drei bis vier Sekunden Zukunft erwartet werden kann. 

Trifft diese statistisch gesehen meist zutreffende Erwartung für einmal unerwarteter Weise nicht ein, steht etwa plötzlich ein Mensch neben uns, den wir nicht haben kommen sehen, löst dies ein schockartiges Erschrecken aus. Die Zeitspanne des Jetzt‐Empfindens kann mit Übung auch auf eine grössere Spanne ausgedehnt werden. In der Sprache und der Kunst wird meist intuitiv auf diese Phänomene geachtet (etwa Einsetzen von überschaubaren Einheiten oder das Spielen mit Unerwartetem).  Formen des Langzeitgedächtnisses   

Neurologisch gesehen wird Erlerntes mittel‐ und langzeitlich als gespeicherte Gedächtnisinhalte erinnert, die das zentrale Nervensystem rekonstruiert. Erregungszustände und Emotionen mit allen Assoziationen zwischen den beteiligten Hirnarealen werden im Moment des Lernprozesses nahezu identisch wieder hergestellt und repräsentiert und können so wieder erlebt werden. Die angelegten und verstärkten Bahnen werden erneut befahren (oder „er‐fahren“). Heute wird zwischen diversen Gedächtnisformen unter‐schieden, die ganz unterschiedliche Qualitäten aufweisen und auch hirnphysiologisch andere Bahnen durchlaufen, unterschiedliche Muster bilden und je andere Areale einbeziehen. 

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Vernetztes Lernen 

Inhalte werden meistens in ganzen Netzwerken gespeichert. Zur Erfassung eines Inhalts ist nicht nur ein Speicherplatz (Areal) zuständig, sondern es sind mehrere Areale gemeinsam beteiligt (siehe „primäre und assoziative Areale“). Das Prinzip wird auf Englisch als „fire together, wire together“ beschrieben. Dies bedeutet, dass Nervenzellen die gleichzeitig erregt wurden synaptische Verbindungen miteinander eingehen. Dies kann gezielt für das Lernen genutzt werden, indem mehrere Sinne oder verschiedene assoziative Areale angesprochen werden. Wenn eine Kombination synergetisch nicht sinnvoll aufeinander bezogen ist, werden jedoch eher Umwege aufgebaut. 

Beispiele 

 

 Anknüpfung an Gedächtnisinhalte 

Gedächtnisinhalte sind demnach immer ein komplexe Vernetzung verschiedener Eindrücke, damit verbundenen emotionalen Bewertungen sowie Interpretationen und Assoziationen. Tatsächlich verbindet sich Hinzugelerntes immer mit bereits Gelerntem. Mehr noch: nur durch diese Verknüpfung bildetet sich erst ein neuer Gedächtnisinhalt aus. Neue Lerninhalte können nur dann aufgenommen werden, wenn sie an bereits bekanntem anknüpfen (neurologisch: wenn sich neue Wahrnehmungen mit den bestehenden Strukturen vernetzten). Beispielsweise lernen Kinder viel leichter Notennamen, wenn sie dies etwa mit Tiernamen oder anderem bekannten Sinnesqualitäten (z.B. Farben oder Formen) verbinden.  Spiegelneuronen 

Eine ganz besondere Art von Re‐Präsentation neuronaler Zustände findet in den sogenannten Spiegelneu‐ronen statt. Während dem Beobachten eines Artgenossen gelingt es Säugetieren, sich in das (neuronale) Erleben des Gegenübers einzufühlen. Dabei werden beim Beobachter vergleichbare Erregungsmuster ausgelöst. Beobachtet beispielsweise ein Primat, wie der Nachbaraffe im Käfig genüsslich eine Banane verspeist, erlebt er selbst diesen Genuss. Die Hirnaktivitäten gleichen zu einem sehr hohen Anteil denjenigen, die aktiv wären, wenn er selber die Banane essen würde. Es werden die gleichen Neuronen‐verbände erregt, die bei der eigenen Wahrnehmung oder dem eigenen Handeln aktiv sind. Führt ein Eltern‐teil seinem Kleinkind den Löffel voll Brei zum geöffneten Mund, kann meist beobachtet werden, dass die Mutter oder der Vater selbst den Mund öffnet und damit die Aktivität des Kindes spiegelt. Die Spiegelung geschieht auch bei negativ erlebten Emotionen des Gegenübers. In der Evolution hat die Spiegelung mit der Verhakung der Brutpflege überlebenswichtige Bedeutung erlangt. Die gespiegelte Re‐Präsentation wird als sogenannte „präverbale Wahrnehmung“ erlebt und nachfolgend im recht liegenden Areal interpretiert.  Dies ermöglicht zusammen mit den Spiegelneuronen empathische Wahrnehmung und empathisches Verhalten.

Eine Lehrperson führt ein: „A“ ist wie „Ameise“. Jedes Mal wenn der Buchstabe erscheint, etwa beim Wort Apfel, wird die Schülerin zuerst an „Ameise“ denken, erst dann an Apfel. Dann geht es noch über „Pf“ wie „Pferd“ etc…. 

Gern benutzt wird die Methode, Intervalle über Liedanfänge einzuführen. Im Verlauf des Lernens wird dies jedoch zum Hindernis, weil die Intervalle vielleicht plötzlich in einem ganz anderen harmonischen Kontext stehen und sich darum mit dem episodisch eingeprägten Liedanfang reiben.

Nicht weniger prominent ist die Erwartung im Violinunterricht, dass die Töne vorausgesungen werden sollen, bevor sie dann gespielt werden können. Gemäss Köppel geschieht die primäre Intonationskontrolle jedoch in direkter kinästhetischer und auditiver Wahrnehmung. Der Weg über die Stimmbänder ist ein komplizierter Umweg.

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Übersicht über die Gedächtnisformen 

Die didaktische Konsequenz stellt sich bei der Auswahl einer bestimmten Methode. Welche Gedächtnisformen werden für den Erwerb einer spezifischen Fertigkeit, einer Fähigkeit oder bestimmtes Wissen beansprucht? (Weitere Informationen siehe Skript über die Lernformen.) 

Implizites und explizites Bewusstsein 

Der Forschergemeinde gemeinsam sind die zentralen Begriffe des impliziten und expliziten Gedächtnisses. Explizite (auch als „deklarativ“ bezeichnete)  Repräsentationen von Gedächtnisinhalten sind unserer bewussten Aufmerksamkeit direkt zugänglich. Sie können meistens mittels Sprache oder Symbolen zum Ausdruck gebracht werden. Das implizite („nicht‐deklarative“) Gedächtnis stellt Erfahrungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die über einen längeren Zeitraum erworben, verinnerlicht und automatisiert wurden für aktuell laufende Hirnprozesse durch neurale Re‐präsentationen wieder her. So können wir diese ohne langes Nachdenken in unbewusste Handlungsketten einfliessen lassen (Unter‐ und Vorbewusstseinszustände). Bewusste Gedächtnisinhalte sind Symbole, auf wenige Informationseinheiten verkürzte Zeichen (wenige „Bytes“). Das implizite Gedächtnis wird um ein Vielfaches an Informationseinheiten repräsentiert. Symbole sind mit dem impliziten Bewusstsein vernetzt und können durch geeignetes Nachfragen wie Schlüssel wirken, mit denen diese Räume dann erschlossen werden können (bei günstiger Nachfrage nach der individuellen Bedeutung eines Begriffs). Das Konstrukt der „Intuition“ mag den impliziten, unbewussten Prozessen entsprechen, die ohne Umweg über das deklarative Bewusstsein komplexes Verhalten und Handeln auslösen und steuern. Intuition ist demnach keine fixe Grösse, sondern basiert auf kontinuierlichen Lernprozessen. Intuitives Handeln ist also nicht per se „gut“, sondern kann auch ungünstiges Verhalten auslösen.  

Der Mensch ist im Alltag und da vor allem auch in komplexen Wirklichkeiten, wie es etwa der Unterricht oder das Musizieren darstellt, zwingend auf ein hochentwickeltes, differenziertes implizites Gedächtnis angewiesen, da das explizite Bewusstsein nur einen Bruchteil der gleichzeitig eintreffenden und zu bewältigenden Reizen und ausgehenden Aktivitäten simultan verarbeiten kann.  Episodisches, ereignisbezogenes Gedächtnis 

Als episodisches Gedächtnis werden die persönlichen Erlebnisse bezeichnet, die sich wie eine innere „Filmaufnahme“ auf die Sinneswahrnehmung aller beteiligten sensorischen Kanäle beziehend, meist auch in chronologischer Abfolge eingeprägt haben. Interessant ist, dass Episoden, an denen die Person nicht direkt involviert ist, ehre „faktisch“ abgespeichert werden (grössere Beteiligung der linke Hemisphäre), während die Erfahrungen, bei denen  ich als Mensch direkt und emotional involviert bin, als autobiografische  Erinnerung über ein anderes Zentrum ins Gedächtnis eingebettet bzw. wieder abgerufen werden kann (rechtshemisphärisch). 

Persönliches Beispiel 

Mein amerikanischer Lehrer versuchte mir aufzuzeigen, dass ich mit allen Fingerspitzen beider Hände den Kontakt zum Instrument suchen soll. Kurz darauf besuchte ich ein in der Nähe der Musikakademie gelegenes Meeresaquarium. Dort sah ich einen Tintenfisch mit Namen „Armstrong“, der sich mit seinen Saugnäpfen an für ihn interessanten Gegenständen ansaugte. 

Noch heute sehe ich die eigenartige Rotfärbung und Beschaffenheit des Polypen vor mir, als hätte ich ihn erst vor wenigen Minuten beobachtet. Ich erinnere mich immer wieder an dieses Erlebnis und denke gleichzeitig an die Worte meines Lehrers und die später hinzu gewonnene Qualität, wenn ich das Instrument mit optimalem Kontakt in die Hand nehme.  

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Solche Episoden beziehen sich auf zurückliegende, konkrete und real erlebte Begebenheiten. Sie werden darum im retrospektiven episodischen Gedächtnis erinnert. 

Aus solchen Bildern können sich Menschen und – wie inzwischen vermutet werden darf – auch höhere Säugetiere mögliche, konkrete Situationen vorstellen oder simulieren. Dies wird als prospektiv episodisches Gedächtnis bezeichnet.   Beispiel 

Sportler und Sportlerinnen berichten, wie sie vor einem entscheidenden Wettkampf immer wieder den konkreten Verlauf des Rennens mit den real beteiligten Konkurrenten simulieren. Dabei finden sie tatsächlich zu einer erfolgreichen Taktik, indem sie beispielsweise auf der entscheidenden Wegstrecke die Geschwindigkeit leicht anziehe (diese Taktik hingegen entspringt dann dem semantischen Gedächtnis, siehe unten). 

Physiologisch ist bei diesem Gedächtnisprozesse der Hypokampus und de Amygdala wesentlich mitbeteiligt.  Prozedurales Gedächtnis: Fertigkeiten („skills“) und Fähigkeiten („abilities) 

Motorische und/oder repetitive, kognitiv ausgebildete, automatisierte Abläufe wie beispielsweise von Hand mit einem Stift Buchstaben oder Worte schreiben, mit einem Fussball jonglieren, Klaviertasten anschlagen oder die Bogengeschwindigkeit variieren werden als prozuderales Gedächtnis von Fertigkeiten bezeichnet. Ebenfalls prozedural ist implizites (unbewusst verankertes) Regellernen.  

Beispiele 

Das Prozedurale Gedächtnis läuft unabhängig vom Hypokampus, die Signale verknüpfen sich über das 

limbische System direkt zwischen den beteiligten Grosshirnaralen und dem Kleinhirn. Letzterem kommt der 

zeitlichen Koordination eine wichtige Rolle zu. Für jede Handlung geht zudem eine Vorbereitungsphase 

vorweg (prämotorische Aktivierung im Cortex). Dies alles sind implizite Prozesse, darum laufen sie zum 

grossen Teil unbewusst ab. 

Semantische Gedächtnis („Knowledge“) 

Dieses Gedächtnis ist explizit und kann sprachlich, symbolisch repräsentiert werden. Beispielsweise die unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses kennen. Wissen, welche Schritte dazu führen, eine Dreisatzrechnung zu lösen, erklären, welche Tonstufen eine Dur‐Tonleiter bilden, eine bestimmte grammatikalischen Regel korrekt anwenden. 

Die Bahnen des semantischen Gedächtnisses verlaufen hingegen über den Hypokampus. In den ersten Jahrzehnten der Psychologie wurde dieses mit dem Bewusstsein per se gleich gesetzt. 

Weitere Gedächtnisformen 

Als weitere nicht deklarative, implizite Gedächtnisformen gelten 

das Anbahnungsgedächtnis („Priming“) Prägnante Merkmale wirken als Starthilfe und verkürzen die Abrufzeit eines Gedächtnisinhalts. Diese werden implizit, unbewusst erworben. In einem Versuch werden über einen Kopfhörer auf der linken und 

Ich stelle mir mental und konkret in allen Spiel‐ und Gestaltungsabläufen vor, wie ich den dritten Satz eines Mozartkonzertes auf dem Klavier spiele.   

Mit dem Fahrrad durch den Stadtverkehr radeln 

Anhand der Körperbewegung der Mitspielenden deren aktuelles Metrumempfinden erfassen 

Lernende begrüssen und sie nach ihrer Befindlichkeit fragen 

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rechten Seite unterschiedliche Gruppen von Wörtern eingespielt. Wird nun die Versuchsperson auf eingeladen, sich ausschliesslich auf die Wörter aus dem linken Kopfhörerlautsprecher zu konzentrieren, kann sie sich dann auch nahezu ausschliesslich nur an diese erinnern. Wird die Versuchsperson danach aufgefordert, Wortfragmente zu ergänzen, wird sie sich hingegen zum Beispiel bei dem angebotenen Wortfragment R . . . n mit hoher Wahrscheinlichkeit die fehlenden Buchstaben mit grosser Verlässlichkeit zur „Rosen“ vervollständigen, sofern dieses Wort in der Wortaufzählung beim Kopfhörer rechts enthalten war. War dieses Wort hingen nicht enthalten,  erhalten wir bei den Versuchspersonen eine Vielzahl anderer Wörter („Reben“, „Rasen“ oder anderes mehr.  Im Alltag können wir das Priming beobachten, wenn wir beispielsweise vier visuelle Punkte mental zu einem Viereck ergenzen, da dies in unserer modernen Kultur eine prominente geometrische Erscheinungsform darstellt. Eine gewisse Bewegungsform ist charakteristisch für Katzen. Erkenn wir im Schatten diese Bewegung,  stellen wir unsere Erwartung dann entsprechend ein. Ein spezifischer Schrittrhythmus lässt auf den nach Hause kommenden Partner schliessen. Ein gelber Kasten wird in der Schweiz als Briefkasten der Post erkannt. Das Priming verläuft unbewusst.  Die Anbahnung dank Wiedererkennung spezifischer Reizmerkmale wird perzeptionelles Priming genannt. Konzeptionelles Priming wiederum benennt das Einordnen einer Wahrnehmung in gewisse, bereits konstruierte Kategorien (ein längliches Rohr mit Löchern interpretiert ein Musikliebhaber als mögliches Blasinstrument bzw. als Flöte).   Die klassische Konditionierung Ein eigentlich neutraler Reiz wird direkt mit einem einhergehenden, wirksamen, bereits genetisch angelegten Reiz verknüpft. Eine bestimmte Art von Tellergeklapper in der Küche lässt auf baldiges Essen schliessen, die Magensäfte laufen zusammen und lösen ein Hungergefühl aus.   Die Operante Konditionierung Ein Reiz wird bestimmte konkrete Handlung wird mit einem anderen Reiz oder einer Handlungsabfolge beantwortet. Erblicke ich ein Rotlicht, halte ich inne. (Die sogenannte Respondente Konditionierung, das Lernen, welches mit einem intrinsischen, innerlichen oder extrinsischen, von aussen zugeführten Erfolgserleben verknüpft ist, wird in der neurologischen Lernforschung derzeit nicht als physiologisch eigenständiges Gedächtnissystem beschrieben. Sie ist vermutlich als Zusammenspiel des prozeduralen oder semantischen Gedächtnis mit dem Motivationssystem zu verstehen.)   Das Gewöhnungsgedächtnis („Habituierung“) Beispielsweise gewöhnt man sich an die Geräusche der nachts vorbeifahrenden Züge und wacht nicht mehr auf.   Gedächtnis für Feinunterscheidung (Sensitivierung) Reize können in zunehmend kleinsten Nuancen kategorisiert und unterschieden werden. Beispielsweise werden feinste rhythmisch‐metrische Standardabweichungen erkannt.  Umseitig folgt eine grafische Darstellung aller heute bekannten Gedächtnisstrukturen, die je unterschiedliche physiologische Abläufe und Netzstrukturen von spezifischen Hirnarealen entsprechen, und zudem auch für sehr unterschiedliche Kompetenzbereiche zuständig sind.  

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Langzeitgedächtnis

nicht‐assoziativ

HabituationSensibilisierung

assoziativ

nicht‐deklarativ/ implizit deklarativ/ explizit

Priming

konzeptuellperzeptuell

Konditionieren

klassisch operant

prozedurales Lernen

Fertigkeiten impliziertes Regellernen semantisch

episodisch

retrospektiv prospektiv 

 Quelle: Goschke in Prinz/Roth 1996  Intelligenz und Kreativität 

Die Diskussion um den Begriff der Intelligenz hat sich mit den aktuelle Erkenntnissen zu den besprochen Gedächtnismodellen stark verändert. Historisch gesehen erfuhr der Begriff der Intelligenz eine erste Erweiterung, als zwischen „kristalliner“ (unverändertes reproduzieren) und „fluider“ Intelligenz (auf eine neue Situation anwenden, neue Lösungen kreieren) unterschieden wurde. Gardners Modell der acht unterschiedlichen Intelligenzen wird heute eher der Kompetenzlehre zugeordnet.  

Roth spricht inzwischen von einer Dreiheit der analytischen Intelligenz, der praktischen Intelligenz und der kreativen Intelligenz. Zusammen mit seinen eigenen kritischen Anmerkungen zum Konstrukt der „Intelligenz“ sei an dieser Stelle auf das Kompetenzmodell verwiesen, welches nach Sach‐, Selbst‐ und Sozialkompetenz aufgeschlüsselt wird und diese drei Kategorien beinhalten (siehe Skript „Lernzielbewusstes Unterrichten"). Schon in der Fachkompetenz hinterlässt das Gelernte je nach dem in ganz unterschiedlichen Gedächtnisformen ihre Spuren. Beim Schreiben geht es zum einen um die Feinmotorik (prozedurales Gedächtnis, während das Wissen über das Alphabet dem primär semantischen Gedächtnis zugeordnet werden kann  Asymmetrie der beiden Hemisphären 

Das zentrale Nervensystem arbeitet holistisch. Dies bedeutet, dass jeweils viele verschieden Zentren in Bezug miteinander vernetzt sind und für spezifische Prozesse zusammen arbeiten. Wenn einzelne Areale für eine spezifische Fähigkeit zugeordnet werden, ist dies in dem Sinn zu verstehen, dass dieses dann vor allem für die Koordination dieser Vernetzung zuständig ist. Fällt dieses aus (zum Beispiel nach einer Verletzung), sind die anderen beteiligen Areale trotzdem aktiv. So weicht zum Beispiel ein Mensch, der nach einem Hirnschlag über keine bewusste Sehvorstellung mehr verfügt, trotzdem vor ihm stehenden Hindernissen aus beim Laufen.  In einem anderen Beispiel kann ein Mensch ein Wort nicht mehr artikulieren, und trotzdem innerlich sich das Wort vorstellen. Vielleicht ist in diesem Fall nur die „Schaltzentrale“ ausgefallen, welches die Sprechbewegung kontrolliert.  

Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass sich die spezifischen Zentren nicht symmetrisch auf beide Gehirnhälften verteilen, Auch wenn die neuste Forschung nachweist, dass die lange behauptete eindeutige Zuordnung von Funktionen nach rechter oder linker Hemisphäre nicht haltbar ist, kann mit hoher Sicherheit eine Spezialisierung je der beiden Hemisphären festgestellt werden. Gewisse Ausrichtungen lassen sich auch phylogenetisch erläutern. So halten die Eltern ihr Frischgeborenes intuitiv mit dem Kopf Richtung linke Brustseite, wo sich das Herz befindet. Letzteres wirkt denn auch sehr rasch beruhigend auf 

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das Frischgeborene. Somit ist die rechte Hand viel eher frei für Alltagsverrichtungen ausführen, was zur dominanten Rechtshändigkeit geführt haben dürfte. 

Jeder gesunde, unversehrte Mensch nutzt beide Gehirnhälften in einem komplexen Zusammenspiel. Doch jeder Mensch hat unterschiedliche Präferenzen, was die Nutzung der verschiedenen Areale betrifft. 

Eine interessante Zusammenfassung zur sogenannten Lateralität bietet Siegle an (Siegel 2006, S. 202 folgend). Darum sei ein grösserer Ausschnitt nachfolgend zitiert.  „In der linken Hälfte des Gehirns sind langsamer agierende, lineare, sequentiell aktive, temporäre (zeitabhängige) Prozesse angesiedelt. verbale Bedeutungen von Wörtern, die oft digitale Repräsentationen genannt werden, sind ein primärer Modus der Verarbeitung auf der linken Seite. von der linken Hemisphäre wird angenommen, daß sie als grundlegende Repräsentationen monosemantische »Päckchen“ von Informationen benutzt, die dann in einem langsameren, linearen Modus verarbeitet werden. Beispiele für lineare Verarbeitung sind das Lesen der Wörter in diesem Satz, Aspekte der bewußten Aufmerksamkeit und die Feststellung der Ereignisfolge in einer Geschichte. Unsere sprachbasierte Kommunikation wird von diesem linearen Modus des Ausdrucks und Empfangs gebündelter Symbole dominiert, die einschränkende Definitionen und relativ klar abgegrenzte Informations‐Chunks übermittelt. Dies unterscheidet sich ziemlich stark von analogen Repräsentationen, wie sie beispielsweise in einem Gemälde oder auf einer Fotografie zum Ausdruck gelangen. Wir können diese analogen Komponenten der Welt mit Hilfe von Wörtern in digitalisierte Formen übersetzen, doch gelangt dieser Übersetzungsprozeß niemals völlig zum Abschluß. Deshalb vertreten einige Autoren die Auffassung, die rechte Hemisphäre sehe die Welt in stärkerem Maße so, »wie sie ist«, wo hingegen die linke Hemisphäre die Welt viel stärker zu mental definierten und oft sozial konstruierten Informationseinheiten reduzieren müsse.  

Die entwicklungsgeschichtlichen Ursprünge dieser Unterscheidungen liegen, wie wir bereits erörtert haben, im Säuglingsalter: Die rechte Hemisphäre dominiert hinsichtlich des prosodischen Aspekts der Ammensprache, und sie scheint stärker in akzeptierende, aufnehmende und selbstregulierende motorische Aktivitäten involviert zu sein. Im Gegensatz dazu spielt die linke Hemisphäre bei aktiv bestätigender Kommunikation mit Hilfe der rechten Hand eine größere Rolle, wobei es sich in stärkerem Maße um nach außen orientierte, annähernde/bestätigende Aktivitäten handelt. Man kann in diesem Zusammenhang eine vielleicht etwas vereinfachende, aber nützliche Generalisierung entwickeln, der zufolge die linke Hemisphäre für außenfokussierte Aufmerksamkeit und entsprechendes Handeln, die rechte Hemisphäre hingegen für innenfokussierte Aufmerksamkeit und entsprechendes Handeln motiviert ist. Da neokortikale Repräsentationen sich zwischen Wahrnehmungen (Input) und Handeln (output) in Form von Denk‐ und Erinnerungsprozessen manifestieren, veranlassen derartige zentrale Asymmetrien hinsichtlich der motivationalen Faktoren die beiden Hemisphären dazu unterschiedliche Fähigkeiten zur Erzeugung komplexer Repräsentationen zu entwickeln. Auf der linken Seite befinden die dem semantischen Gedächtnis zuzurechnenden Repräsentationen von Objekten in der Welt, die als deutlich unterscheidbare Informationspakete behandelt und an andere übermittelt werden können. Auf der rechten Seite befindet sich die innere Welt des Geistes ‐ sowohl des eigenen Geistes als auch des Geistes anderer  als primäres Subjekt von Repräsentationen innerhalb des episodischen Gedächtnisses und der sozialen Kognition. The Theory of min oder „Theorie des Geistes“ genannte Fähigkeit, den Geist anderer Menschen zu lesen (mindsight) und eigene mentale Zustände sowie auch die anderer zu repräsentieren, ist der „Stoff“, aus dem rechtshemisphärische Repräsentationen bestehen. Absichten, Überzeugungen, Einstellungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühle werden in analogen Formen repräsentiert, die sich nicht so leicht zu digitalen Informationspaketen reduzieren lassen.  

Untersuchungen über die Lateralität des Geistes haben auch zu folgenden Erkenntnissen geführt, an denen allerdings wesentlich weniger Probanden teilgenommen haben, weshalb weniger Daten vorliegen, aus denen hervorgeht, daß sie allgemein akzeptiert werden. Von der rechten Hemisphäre nimmt man an, daß sie als Mustererkennungszentrum fungiert, das Gestalt und Kontext des lnputs von einem synthetisierenden Verarbeitungsmodus beurteilt. Hingegen nutzt die linke Hemisphäre die logische und analytische Verarbeitung, um ihre detailbasierte Wirklichkeitsrepräsentation zu entwickeln. Aufgrund dieser Unterschiede hinsichtlich der Verarbeitung haben viele Autoren den Gegensatz zwischen rechts und 

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Linke Hemisphäre Handschrift entwickeln Symbole und Sprache (lexikalisch)  verstehen, lesen Erfahrungen in Sprache ausdrücken Laute einordnen, zuhören Details, Fakten erfassen und differenzieren Zeitliche Abfolge von Ereignissen linear erfassen Erzählen und berichten Aufgaben systematisch planen, erledigen Aufmerksamkeit nach aussen lenken 

Rechte Hemisphäre Haptisch wahrnehmen Räumliches Empfinden 

Formen und Muster erkennen Farbe erkennen und unterscheiden 

Mengen und komplexes mathematisches Über Zahlenverständnis verfügen 

Sich künstlerisch ausdrücken Kreative Eingebungen haben 

Gefühle des Gegenübers erfassen Autobiografisches Bewusstsein bilden 

Aufmerksamkeit nach innen fokussieren 

links als den zwischen dem intuitiven und dem Rationalen, zwischen Kontext und Text und zwischen der monosemantischen und der polysemantischen Bedeutung von Wörtern zusammengefaßt. Michael Gazzaniga und seine Kollegen sind der Auffassung, daß die linke Hemisphäre hauptsächlich für das syllogistische Denken zuständig ist, das nach Kausalerklärungen für Ereignisse sucht, wobei der  Geist aufgrund beschränkter Informationen zu Schlußfolgerungen gelangt. Der rechten Hemisphäre fehlt ein solcher Antrieb, die Dinge zu erklären; sie „sieht Dinge, wie sie sind, ohne viel daran zu verändern“.  Gazzaniga benutzt den Begriff Interpret, um zu beschreiben, wie die linke Hemisphäre versucht, mit Hilfe der Vernunft Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen zwischen den ihr verfügbaren beschränkten Informationen herzustellen. Bei Split‐brain‐Patienten (Patienten, bei denen die Verbindung zwischen rechts und links unterbrochen ist, Anm. AC), entwickelt die linke Hemisphäre, wie man festgestellt hat, phantasievolle Geschichten, um ihre Wahrnehmungen zu erklären. solche Erzählungen entstehen nach Auffassung von Gazzaniga und Kollegen durch das Bedürfnis des Interpreten, trotz nur beschränkt verfügbarer Daten eine Erklärung zu entwickeln. Unter normalen Umständen vermögen wir mit Hilfe solchen ununterbrochenen syllogistischen Denkens zu erklären, wie Dinge vor sich gehen und weshalb „die Welt so ist, wie sie ist“. Die linke Hemisphäre ist also das Zentrum der kognitiven Mechanismen, die Ereignisse zu erklären versuchen, und ist deshalb nach Gazzanigas Auffassung der primäre Beweggrund narrativen Denkens. (…) wir (werden, erg. AC) die Idee des Interpreten aufgreifen und uns näher damit befassen, wie dieser Interpret in Verbindung mit den rechtshemisphärischen Prozessen autobiographische Erzählungen produziert und zur Herausbildung von Bindungsmustern beiträgt.“ (Siegel Zitat Ende)  Beispiele von spezifischen Fähigkeiten unter dem Gesichtspunkt der Spezialisierung von Arealen beider Hemisphäre

Ein markanter Unterschied zwischen tendenziell linkshemisphärischer und rechtshemisphärischer Informationsverarbeitung besteht vor allem in der zeitlich‐räumlichen Strukturierung der Prozesse. Während sprachliche Assoziationsareale die Informationen eher linear/sequentiell angelegen, sind räumlich organisierten Vorstellungen naturgemäss mehrdimensional und parallel.  

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Rechte Hemisphäre konkret, räumlich 

holistisch parallel  

  nonverbal phantasievoll

zeitlosanalog 

Linke Hemisphäre linear symbolisch sequentiell logisch/verbal  realitätsorientiert zeitbezogen abstrakt 

Vereinfachende Gegenüberstellung von linken und rechtshemisphärischer Informationsverarbeitung    

Peter Gasser empfiehlt, nicht mehr von vereinfachenden, wissenschaftlich nicht überprüfbaren Lerntypen auszugehen, sondern besser von Lernstilen zu sprechen.   Spezifisches Beispiel 

 Letztendlich geht es um hochindividuelle Präferenzen mit unverwechselbarer, eigener Ausprägung. Die didaktischen Konsequenzen beinhalten mit Vorteil zwei Ansätze   Die Lernenden bei ihren eigenen Ressourcen abholen. Damit wird ihnen der erste Zugang zum 

anstehenden Kompetenzerwerb erleichtert, die Lernmotivation wird erhöht.  Die Lernenden herausfordern. Wann immer möglich Lernschwächen in zu bewältigenden Schritten 

etwas ausgleichen um die Vernetzung und damit auch den Zugriff auf das Erlernte zu erweitern und die Flexibilität im Umgang mit der Umwelt zu erhöhen. 

  

Bei einer Minderheit von Menschen findet das Lesen von Texten nicht Wort für Wort statt. Die Augen springen von einem kleinen Ausschnitt scheinbar zufällig zu einem anderen. Ein Buch kann sogar an unterschiedlichen Stellen aufgeschlagen werden, mal eher am Ende, dann wieder weiter vorne usw. Die Erfassung erfolgt so unterschiedlich, wie es unterschiedliche Formen des elektronischen Bildaufbaus gibt. Die eine Technik baut das Bild von links nach rechts und von unten sukzessiv und das Bild kann meist erst gegen den Schluss wirklich erfasst werden. Die andere Technik blendet hingegen über die ganze Fläche da und dort mehr oder weniger zufällig einzelne Bildpunkte ein, bis schon bald die Grundzüge ‐ etwa eines Gesichts ‐ erkenntlich werden und die Details durch die Zunahme weiterer Bildpunkte auch zunehmend schärfer werden. Dies lässt auf ein Ordnen der aufgenommen Textteile im (rechtshemisphärischen) Raumgedächtnis schliessen. 

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Persönlichkeitsmodell 

Einer der anerkanntesten Exponenten der Bewusstseinsforschung ist Antonio R. Damasio. Er beschreibt aufgrund intensiver neurologischer Forschungen verschiedene Bewusstseinsstufen. Angefangen beim „Wachseinszustand“ über die einfache Objekterkennung zum „Kernbewusstsein“ (welches sich bei Vernetzung von Wahrnehmung und emotionaler Wertung ausbildet) bis hin zum autobiografischen Gedächtnis, welches ein Selbstbewusstsein im physikalischen und sozialen Raum und in der Zeit ermöglicht.  

Das nachfolgende Vier‐Ebenen‐Modell der Persönlichkeit wurde bekannten Neuroforscher Gerhard Roth 

entwickelt (Roth, 2007,  verglichen auch Siegel, 2006)). Die untere limbische Ebene des vegetativ‐affektiven Verhaltens und die mittlere limbische Ebene der emotionalen Konditionierung, Bewertung und Motivation bilden zusammen das „unbewusste Selbst“. Auf bewusster Ebene bildet die obere limbische Ebene in der rechten Hemisphäre das „individuell‐soziale Ich“, dem das „kognitiv‐kommunikative Ich“ in der linken Hemisphäre gegenübergestellt wird. Die Dicke der Pfeile gibt die Stärke der Beeinflussung der Ebenen untereinander an.   

kognitiv‐kommunikatives Ich

individuell‐soziales Ich

Linker assoziativer NeocortexBroca‐Wernicke‐Areal

Rechter assoziativer NeocortexOFC, VMC, ACC, IC

Unbewusstes Selbst

Emotionale Konditionierung, Belohnung, Motivation

BI Amy, VTA, NAcc, Basalgang

Vegetativ‐affektives VerhaltenHyth, Z Amy, PAG, Veget. Hirns.

  Abkürzungen: ACC = Anteriorer cingulärer Cortex; Basalgang = Basalganglien; Bl Amy = Basolaterale Amygdala; Hyth = Hypothalamus; IC = Insulärer Cortex; NAcc = Nucleus accumbens; PAG = Zentrales Höhlenfrau; OFC = Orbitofrontaler Cortex; Vegt. Hirnst. = Vegetative Hirnstammzentren; VMC = Ventromedialer (präfrontaler) Cortex; VTA = ventrales tegmentales Areal; Z Amy = Zentrale Amygdala.  Die nachfolgende,  zweidimensional gestaltete Übersicht assoziativer Areale kann allenfalls als weitere Anregung vor der unten angesprochen  Selbstbefragung gelesen werden. Hypothesen zu Präferenzen der Sinnesmodalitäten und den persönlichen Lernstil von sich selbst oder von vertrauten Schüle/‐innen  können gegebenenfalls dazu beitragen, für eine jeweils individuell günstige Lernumgebung zu sorgen.  Gezieltes und bewusstes Gegenhalten andererseits kann auch zu einer Förderung eines höheren Integrationsgrad der unterschiedlichen Funktionen verhelfen. Solches muss jedoch immer von den gegebenen Ressourcen und aus eigener Bereitschaft des Betroffen passieren (Siegel 2010).     

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Lernen mit allen Sinnen und Arealen 

In Anlehnung an Modelle der Persönlichkeit nach Roth, Gasser, Jäncke und Spitzer Areale  können die wichtigsten Areale wie folgt lokalisiert werden:  

  Lernstile 

Der heutige Wissensstand vermag einige Teilfunktionen von Hirnregionen und ihre Lokalisation entweder auf der linken oder rechten Seite mit grosser Verlässlichkeit und voraussagen. Das lange beliebte Links‐Rechts‐Schema wird der Komplexität und Plastizität und den individuellen Unterschieden der einzelnen Menschen hingegen nur sehr begrenzt gerecht. Bestimmte sich manifestierende Präferenzen bezogen auf die Sinneskanäle, die Beschaffenheit der Erinnerung, der Vorstellung, der Deutung und des Gedächtnisses lassen neben aller Individualität auch gewisse Kategorisierungen zu.  

Linker  assoziativer Neocortex

• Faktenwissen, symbolische, lexikalisches, semantisch‐grammatikalisches Verstehen

• Zeichen/Schrift   • Sätze bilden/sprechen • Stimme/Artikulation 

erkennen • akustisch‐auditives 

Erinnern • Modal‐harmonische 

Abläufe      erfassen • Zahlenreihe/      Geometriesymbole • Tonlängen   • Rhythmus & Motive • Rhythmus in Klang &    Bewegung umsetzten • logisch‐analytisches 

beurteilen • sequentielle Abfolge       von Handlungen planen,        sich vorstellen,        umsetzen • Systematisch Probleme        lösen • Nach aussen orientiertes, 

sich annäherndes agieren • . . . 

• Aufmerksamkeit steuern • räumlich vorstellen • Farben wahrnehmen • Klangfarben & Stimmen 

erkennen • Metrum; 

Dynamik/Tonhöhen /Intervalle/Skalen, erfassen

• visuelle Muster erkennen, intra‐ und extrapolieren 

• bildhaft‐ intuitiv erinnern

• „mathematische“  Funktionen, 

• nicht lineare Planung komplexer Handlungen  (z.B.  musizieren)   

• kreativ vernetzen/ • Risiko‐Gelingen 

einschätzen • fremdes & eigenes 

unterscheiden • Soziale Kooperation   • Tonfall, Gesichtsausdruck 

interpretieren • sich emphatisch 

einfühlen • sich selbst in der Zeit 

und in der sozialen Umgebung verorten (autobiografisches Gedächtnis)

 

Leistungsbereitschaft, Motivation, positiv‐negativ & gut‐schlecht, Bewertung: Spass, Freude, Lust oder Überraschung, Angst, Furcht

Lebenssicherndes  Grundverhalten wie Annäherung/ Flucht/Verteidigung 

Beidseitig:  Signale des Tast‐Bewegungssinn Sensomotorik  Erfassen des Erlebens/ Verhaltens/des Gegenübers („Spiegel‐  neuronen“)  Geruchs‐empfinden Geschmacks‐empfinden

Rechter assoziativer Neocortex

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Heute wird davon ausgegangen, dass die genetische Disposition je nach Umwelteinwirkung bewirkt, dass bestimmte Areale dominanter genutzt werden als andere. Dabei reicht schon ein kleiner, durch genetische oder andere Einflüsse bewirkter Entwicklungsvorsprung aus, etwa dass ein für das Denken und die mentale Vorstellung zuständiges Assoziationszentrum leichter für einen Gedächtnisvorgang anspricht. Die bevorzugte Nutzung durch ein Individuum erfolgt nach dem Prinzip des geringeren Widerstands. Durch die Bevorzugung wird dieses Areal entsprechend trainiert, was den Entwicklungsvorsprung dieses Bereichs weiter ausbaut. 

Dies führt etwa dazu, dass einzelne Menschen systematisch und strukturiert ein Wissensthema erarbeiten und verinnerlichen, indem sie beispielsweise Inhalte nach logischen Kriterien aufreihen, aufschreiben und nummerieren. Dieser Prozess aktiviert grössere Areale der linken Hirnhälfte. Anderen hilft es mehr, sich die Inhalte räumlich oder als komplexe und farbige Skulpturen vorzustellen. Dies aktiviert mehr Areale der rechten Hemisphäre. Wieder andere lernen dann leicht, wenn die Zusammenhänge mit konkreten Gegenständen symbolisiert werden. Sie bevorzugen das Lernen über die haptische Erfahrung, das heisst es findet keine Lokalisierung einer spezifischen Seite statt. Die einen Menschen lernen am besten im sozialen Kontext, andere brauchen einen von anderen möglichst abgetrennten  Lernplatz, um ungestört und konzentriert lernen zu können.  Umgang mit individuellen Lernstilen 

Die diversen zirkulierenden Fragebögen zur Diagnose eines Lerntypus oder Lernstils halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand (Gasser 2008). Folgende Fragestellungen unterstützen eine subjektiv geleitete Hypothesenbildung und gemeinsame Überprüfung, wo die eigenen Stärken und Präferenzen oder diejenigen der Lernenden liegen könnten (adaptiert nach Müllener/Leonhard, Skript PPZ, Uster 2009, unveröffentlicht).  

Unter welchen Bedingungen lerne ich/lernt der Schüler/die Schülein am besten?   Wie erwerbe ich/erwerben die Lernenden Fertigkeiten und Fähigkeiten am leichtesten?   Wie merke ich mir/merken sich die Lernenden Wissenseinheiten am besten?   Unter welchen Bedingungen verlerne/vergesse ich am schnellsten?  

Lehrerinnen und Lehrer müssen ihren Unterricht so gestalten, dass möglichst viele Lernende die Lernhinhalte gezielt wahrnehmen, verstehen und erlernen können. Was muss bedacht werden, damit die Bedingungen für Lernprozesse der einzelnen Lernenden und einer ganzen Klasse möglichst optimal gestaltet sind? Was sind die didaktischen Folgen aus den neurologischen, psychologischen und pädagogischen Erkenntnissen?  Didaktische Konsequenzen 

Die vorliegenden Ausführungen und die aktuelle und vom Autor durchaus geteilte Begeisterung an den grossen Fortschritten neurologischer Forschung mögen dazu verführen, dass diese zu neuen didaktischen Erkenntnissen und draus abgeleiteten Methoden führen. Genau hingesehen vermögen sie vorerst nur zu erklären und tiefere Gründe zu beleuchten, wieso gewisse Vorgänge so und nicht anders ablaufen. Das Hirn lernt nicht anders, als es das „von Natur aus“ tut, daran ändert auch das Wissen darüber nichts. Wann und wie Lernprozess günstig verlaufen  und gefördert werden können, muss nicht erfunden werden. Dazu haben Jahrtausende menschlicher Erfahrung schon viel unbewusste und bewusste Erkenntnis gesammelt. 

Bestärken neue Erkenntnisse vor allem die bestehenden, können einzelne Aspekte und Details mit differenzierterem Verständnis durchaus an Bedeutung gewinnen. Manche alte „Mythen“ halten der Überprüfung nicht mehr stand. Beispielsweise betreffend der sogenannten Intuition (man hat sie, oder man hat sie nicht). Nach heutiger Erkenntnis ist Intuition ein Zusammenspiel von genetischer Disposition, 

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früher Prägung und einem grossen Anteil im Verlauf des Lernens erworbener impliziter, verinnerlichter Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissen. Intuition kann demnach geschult und gezielt „genährt“ werden. 

Ein weiterer Mythos als konstruiertes Zitat: „Es ist alles eine Frage des Willens. Nur mit Nulltoleranz gegenüber Fehlern und hohem Leistungsdruck von aussen werden höhere Leistungen erzielt“. Lernen unter Druck dauert länger und kann wegen des mitlaufenden Vermeidungs‐ und Schutzverhaltens weniger rasch abgerufen werden als Lernen aus innerer, nicht fremdgestimmter Annäherungs‐Motivation.  

Nachfolgend ein paar Blitzlichter möglicher didaktischen Konsequenzen   Der Anknüpfen an bereits Bekanntes, an eigene Erfahrungen der Lernenden  Einbezug der Eigenerfahrung über die Eigensprache der Lernenden  Einbezug der individuellen Lernstile  Entwicklung und Stärkung von individuell weniger ausgebildeten Lernformen  Ebenfalls lernverstärkend und damit rückwirkend lustvoll und motivierend sind folgende didaktischen Grundsätze   Der Einbezug und die Verbindung parallel angesprochener Sinne  Das Ansprechen verschiedener Gedächtnisformen im Wechsel  (zum Beispiel ausgehend von der 

konkreten handelnden Erfahrung über das „Be‐Greifen“ und dem Anschaulichen hinführend zum Symbolischen, Generalisierenden und Abstrakteren 

Der bewusste Einbezug der das Lernen begleitenden emotionale Prozesse, etwa durch respektvolles, behutsames und nicht zu direktes Nachfragen „wie hat sich das eben angefühlt?“. 

Ausgewählte Beispiele aus dem Musikunterricht

 

Zudem kann mit Blick auf die Bedeutung  der Motivationssysteme auf das Lernen folgender Grundsatz 

formuliert werden 

Das Erleben von Selbstwirksamkeit und den Selbstwert durch konstruktives Feedback und Förderung der Autonomie der Lernenden 

Beispiel 

Wie diese Grundsätze sich im konkreten Unterricht umsetzen lassen ist für alle Beteiligten hochindividuell. Neben bewährten Rezepten sind auch kreative, neue und einzigartige, in gemeinsamer 

Die Lehrperson macht ein Wurf‐ und Auffangspiel mit einem kleinen Ball. Die taktile Erfahrung des in der Hand liegenden Balls ist der Anknüpfungspunkt einer günstigen Handhaltung auf dem Instrument. 

Die Treppenstufen zum Unterrichtszimmer symbolisieren die Stufen der Tonleiter 

Der Schüler lässt die Melodie „einschlafen“ (Rallentando mit Diminuendo) 

Der Schüler übernimmt zuerst in kurzen, dann in längeren Abschnitten die Rolle der „Musikpolizei“, und benennt Übertretungen von „Musikverkehrsregeln“, beispielsweise wenn eine Pause überspielt wird 

Die Töne und Lagen bei einem Saiteninstrument werden über die kinästhetische Vorstellung, dem auditiven Klangergebnis und einer parallel mitlaufenden visualisierten Tabulatur eingeprägt. 

Dreiklänge werden im Gesangsunterricht zuerst mit einer Raumskulptur visualisiert, dann mit Bewegung der Hände als imaginäre Raumskulptur „geformt“, bis sie dann immer mehr rein stimmlich realisiert werden. 

„Schauen wir auf die letzten acht Wochen zurück. Was hast du alles neu hinzugelernt?“ 

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Interaktion zu entwickelnde Lösungen gefragt. Wie gewisse Ansätze in einem Kontext sehr stimmig, in einem anderen sehr ungünstig wirken können, illustriert folgendes Beispiel  

 Die heute bekannten neurologischen Zusammenhänge können das Verständnis der Zusammenhänge und Verhaltensweisen der jeweiligen Lernenden erhellen. So steht hinter scheinbarem „Unwillen“ meistens ein Unvermögen, eine gewisse Erwartung eines „Normalverhaltens“ zu erfüllen.   Beispiel 

 Weitere konkrete didaktische Anhaltspunkte für die persönliche Gestaltung der eigenen Unterrichtspraxis in den weiteren Skripts über das Lernen.  Spezifischen Themen zu Lernstörungen  

Der Einsatz bildgebender Verfahren zur Beobachtung von Gehirnaktivitäten ermöglichte es den For‐schenden in den letzten Jahren, die verschiedenen Hirntätigkeiten während alltäglichen oder ausserordentlichen Aktivitäten der Probanden viel detaillierter zu lokalisieren. Neurologische Prozesse als Ursache von Lernschwächen können so viel genauer erklärt werden. Beispielsweise bei Legasthenie, Diskalkulie, den aktuell viel diskutierten Formen der Aufmerksamkeitsschwäche ADS und auch bestimmte Formen des Authismus. Dank diesen Erklärungen können ungünstige Symptome wesentlich besser therapiert werden. 

Legasthenie  

Quelle/Zitat aus Masterdiplomarbeit von Karin Hender, ZHdK Zürich, 2000, unveröffentlicht 

„Mit Legasthenie sind Lernstörungen gemeint, die trotz genügender Intelligenz, guter Schulung, häuslicher Förderung und allgemeiner Schulreife das Lesen‐ und Schreibenlernen erschweren. Legasthenie ist keine Krankheit oder Behinderung, sondern ein anderer Umgang mit der Wahrnehmung eines Menschen, die sich hauptsächlich im Kontakt mit Symbolen (Buchstaben, Zahlen, Musiknoten...) bemerkbar macht. Legasthe‐niker hören, sehen und empfinden anders als Nicht‐Legastheniker. Der Legasthenie nahe verwandt ist die Diskalkulie. Sie ist eine Zahlenschwäche, auch Rechenschwäche genannt, und gehört ebenfalls zu den Lernstörungen, denen meistens eine veränderte Wahrnehmung eines Menschen zu Grunde liegt (Kopp‐Duller 2004).“  

Ein Lehrer spielt jeweils das ideale, finale Version eines Stücks vor, damit die Lernenden eine Vorstellung haben, wie es letztendlich richtig und gut klingt. Für Schüler, die über eine gute Selbsteinschätzung und ein gutes Selbstwirksamkeitserlebnis verfügen, ist das motivierend. Bei anderen, deren intrinsische Motivation weniger ausgeprägt ist, kann das   „unerreichbare Vorbild“ des Lehrers das Gefühl auslösen, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein und das Ideal niemals zu erreichen. 

Ein 5‐Jähriger Schüler vermag sich nach einem halben Jahr plötzlich nicht mehr länger als eine Minute auf ein Thema konzentrieren. Einzelne Gegenstände im Unterrichtsraum oder Wörter  bringen ihn auf immer wieder neue Gedanken und Ideen. Das eben Angefangene ist vergessen. Da sonst keine auffällige Symptomatik sichtbar ist, dürfen Lehrperson und Eltern annehmen, dass für neue Entwicklungsschritte für eine gewisse Zeitspanne das Aufmerksamkeitszentrum im Stirnhirn „aussetzt“. Die Umgebung muss darum die Lernsituation darauf hin anlegen. Es liegen keine vom Thema ablenkenden Gegenstände im Raum. Die einzelnen Unterrichtsteile liegen visuell und örtlich klar sichtbar in einer sequentiell abzuschreitenden Reihenfolge da. Störungen werden so gut wie möglich unmittelbar geklärt und das Thema in Erinnerung gerufen.  

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Zu den neurologischen Befunden bei einer Symptomatik von Legasthenie schreibt Hender: 

„Bereits Neugeborene aus Risikofamilien zeigen abweichende Hirnstrommuster bei der Darbietung sprachlicher und nicht‐sprachlicher, akustischer Stimuli. Auch bei Schülern und Erwachsenen mit Legasthenie konnten mit Hilfe von bildgebendem Verfahren beim Lesen Abweichungen der Aktivierungsmuster in der Großhirnrinde nachgewiesen werden.  

Diese betreffen vorwiegend die sprachverarbeitenden Zentren im Schläfen‐ und Stirnlappen der linken Hirnhälfte. Im Vergleich zu nicht‐legasthenischen Personen sind da andere Aktivierungszentren und –lokalisationen zu finden. Die Forschung erklärt dazu wie folgt. Etwa in der Mitte der Schwangerschaft verursacht ein Gen eine Disposition für Mangeldurchblutungen im Gehirn. Diese Mangelversorgung löst abnorme Zellwanderungen aus, die im Verlauf der weiteren Hirnentwicklung zu feinen Fehlbildungen und zu Fehlvernetzungen führen. Betroffen sind Hirnstrukturen, die mit der Verarbeitung visueller und au‐ditiver Reize und Hirnareale die mit Sprachfunktionen zu tun haben. Die Strukturen der rechten Hirnhälfte scheinen weniger betroffen zu sein. In manchen Regionen haben Forscher sogar eine günstigere Entwick‐lung im Vergleich zu normalen Verhältnissen gefunden. Das erklärt die mathematisch‐technischen und musischen Begabungen mit denen Legastheniker häufig in Verbindung gebracht werden. Diese scheinen von der Entwicklungshemmungen der linken Gehirnhälfte zu profitieren. Dazu gibt es Hinweise auf Defizite in der Verarbeitung schneller Folgen von Stimuli, die auf eine weniger effiziente Erregungserweiterung in der Seh‐ und Hörbahn zurückzuführen sind. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Deregulierung der Blicksteuerung beobachtet. Bei einem relativ hohen Prozentsatz von Kindern mit Legasthenie‐Symptome bewegten sich die Augen nicht in regelmässigen Blicksprüngen (…) nach rechts, sondern ganz unregelmässig in unterschiedlich langen Blicksprüngen und in zufälliger Folge nach links oder rechts. Auch bei älteren Kindern, die ihre Leseschwäche kompensiert hatten und bereits flüssig lesen konnten, hat man die gleichen erratischen Augenbewegungen festgestellt.“ (Hender Zitat Ende)  Beispiele weiterer typischer Indikatoren bei Legasthenie 

Wie in der Übersicht zu den assoziativen Arealen ersichtlich, werden in der rechten Hemisphäre die Vorstellungen (mehrdimensional) holistisch angeordnet. Bei legasthenischen Menschen kommt hinzu, dass sie die Perspektive, den eigenen Blickpunkt rotieren lassen. Sie betrachten also etwa einen räumlichen Gegenstand einmal von hinten, dann von vorne. Sie sind sich dabei des Perspektivenwechsels oft nicht bewusst. Daraus entspringt etwa die bekannte Verwechslung von der kleingeschriebenen Buchstaben „b“ und „d“, oder, wie unten noch weiter ausgeführt wird, dass bei musizierenden Legasthenikern die Melodie gelegentlich gespiegelt gelesen oder gehört erkannt wird (die Melodie lesen oder erkennen sie dann etwa als nach unten führend, obwohl tatsächlich das Gegenteil der Fall ist). Die Gleichzeitigkeit kann auch zum Vertauschen der Abfolge von Worten/ Wortgruppen in einem Satz oder zu rhythmischen Fehlern in der Musik führen. 

Da die Details nicht wahrgenommen oder übersehen werden, behelfen sich Legastheniker oft mit selbst hinzugedachten Ergänzungen, so genannten Restriktionen. Diese können auch zu Verwechslungen führen, wenn etwa bei zwei ähnlichen Zeichen die typischen Merkmale identisch sind. Da wird aus „Sachkompetenz“ beispielsweise rasch auch mal „Schachkompetenz“. 

Legastheniker sind auf einen guten Kontakt zu der jeweiligen Bezugsperson angewiesen. Sie sind auffallend anhänglich und zuwendungsbedürftig. Gibt man einem Legastheniker das Gefühl zu ihm zu stehen, hat man einen Freund fürs Leben gewonnen.  Für legasthenische Kinder gibt es bei der Verteilung der Zuneigung keinen Mittelweg. Entweder entscheiden sie sich für eine Person oder sie lehnen sie ab.  Legastheniker reagieren sehr sensibel auf Leistungsdruck. Noch viel ausgeprägter als andere benötigen sie ein von Grund auf positives, vom Optimismus des Lernbegleiters geprägtes Lernklima.     

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ADHS 

Die Aufmerksamkeitsdefizit‐/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), auch als Aufmerksamkeitsdefizit‐/Hyperaktivitätssyndrom oder Hyperkinetische Störung bezeichnet,  ist eine bereits im Kindesalter beginnende psychische Störung, die sich primär durch leichte Ablenkbarkeit und geringes Durchhaltever‐mögen, sowie ein leicht aufbrausendes Wesen mit der Neigung zum Handeln ohne nachzudenken, häufig auch in Kombination mit Hyperaktivität (ADHS), auszeichnet. Etwa 3 bis 10 Prozent aller Kinder zeigen Symptome im Sinne einer ADHS. Jungen werden deutlich häufiger diagnostiziert als Mädchen. Die Symptome können in unterschiedlicher Ausprägung bis ins Erwachsenenalter hinein fortbestehen.  

Je nach persönlichen Neigungen, individueller Lernbiografie und Umweltbedingungen bilden die Betroffenen unterschiedliche Strategien aus, mit den Überforderungssituationen der eigenen Wahrnehmungsverarbeitung umzugehen. Gelingt es einem Kind beispielsweise nicht Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, springt es in seiner Aufmerksamkeit vom einen zum nächsten. 

Übersicht oft beobachteter Symptome bei Menschen mit einer ADHS‐Diagnose: 

Hyperaktivität Die Betroffenen können nicht lange sitzen bleiben oder still sitzen und bewegen sich übertrieben, reagieren auf feinste Störungen wie etwa das Ticken eines Weckers, einen kleinen Fleck auf der Tapete. 

Hypoaktivität Die Betroffenen werden als lethargisch, tagträumend, faul oder antriebslos eingestuft, was aber als natürliche Schutzreaktion interpretiert werden kann, um die Überforderung des ungefilterten einströmenden Reizangebotes zu bewältigen 

Impulsivität Plötzliches voreiliges Verhalten. 

Hoher Bedarf an unmittelbarer Belohnung Die Betroffen brauchen viel e und unmittelbar grösser Belohnungsanreize, sie können entsprechende Erwartungen schlecht aufschieben. 

Abwehrverhalten Besteht in unbewussten Versuchen, erlittene Frustrationen oder Angriffe auf das Selbstwertgefühl abzuwehren, das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu bewahren, Misserfolgserlebnisse abzuschwächen, Versagens‐ und Schulderlebnisse und letztlich die Realität abzuleugnen. 

Kompensationsmechanismen Die Betroffenen fallen auf durch „wichtig tun“ „Kasperlespiel“ und „wildes Verhalten“. 

Aggressive Feindseligkeit Die Betroffenen fühlen sich vom Leben benachteiligt, sind streitsüchtig, angriffslustig, spotten, sind lästig, trotzig, überempfindlich, unfolgsam, störend, unruhig. Minderwertigkeitsgefühle, mangelndes Selbstvertrauen, dauernde Misserfolge und Fehlleistungen, Selbstunsicherheit, Misstrauen gegen die eigene Urteilsfähigkeit und Intelligenz sind Folgen der spezifischen Lernschwierigkeiten.  In der neurologischen Diagnostik kann unter anderem eine asynchrone, verzögerte Entwicklung des 

präfrontalen Aufmerksamkeitszentrums beobachtet werden. Dies bewirkt, dass es diesen Menschen 

schwer fällt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und gezielt die Aufmerksamkeit auf eine 

bestimmte Tätigkeit zu fokussieren. Gleichzeitig wird die Wahrnehmung von einer Unzahl ungefilterter 

Eindrücke förmlich überschwemmt. Ebenfalls betroffen ist das über Dopamin gesteuerte 

Motivationssystem. Auch unausgeglichenes Gleichgewicht bei den beiden Hormonen Noradrenalin und 

Serotin wirken sich ungünstig auf die Symptomatik aus. 

Mit Medikamenten ist es möglich, extreme Symptomatik zu lindern und damit den Betroffenen die Gelegenheit zu geben, unter akzeptablen Bedingungen zu lernen und mit geschickter Gestaltung des Lern‐ und Lebensalltags die Teilschwäche zu kompensieren und im besten Fall etwas auszugleichen. Die 

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enorme Zunahme der Medikamentenabgabe lässt jedoch annehmen, dass die Diagnose zu gestellt wird und möglicherweise nur spezifische asymmetrische Arealpräferenzen im Spiel sind.   Den Bezugspersonen wird bei ADHS‐Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen empfohlen 

Einstiegshilfen anbieten um sich auf eine Aufgabe einlassen zu   Unmittelbare, positive Rückmeldungen im Erfolgsfall  Klares Rhythmisieren des Unterrichts und der Lernumgebung  Schritt für Schritt‐Anweisungen kombiniert mit unmittelbarem, handlungsorientierten Lernen  Respektieren des Autonomiebedürfnisses  Hervorheben und Nutzen besonderer Teilstärken und Ressourcen, etwa im Bereich der 

Sozialkompetenz  Paradigmenwechsel Ressourcen‐ anstelle Defizitorientierung  

In den letzten Jahren nehmen die ADHS Diagnosen deutlich zu. Dies kann an der erhöhten Aufmerksam‐keit liegen, die diesen Auffälligkeiten zu Teil wird. Nach heutigem Stand der Forschung sind in Bezug auf die Legasthenie wie auch ADHS  um  die 10 Prozent der Weltbevölkerung verschiedengradig davon be‐troffen, wobei nur ein kleiner Teil tatsächlich nachteiliger Symptome offenbart (siehe u.a. in J. & K‐H. Krause, ADHS im Erwachsenalter, Schattauer 2009). Die Entwicklung der ADHS‐Symptomatik dürfte aber auch im westlichen Lebensstil liegen. Kinder sind einem nie dagewesenen, übervollen Konsumangebot, unzähligen Freizeitaktivitäten und einer Informationsflut der Medien ausgesetzt. 

Gerne werden diese abweichenden Wahrnehmungsstrukturen als Defizite dargestellt. Bei ungünstigen Bedingungen wie etwa Leistungsdruck oder der Forderung, gleich zu lernen und zu arbeiten wie linkshemisphärisch orientierte Menschen, können sich tatsächlich auch Defizite zeigen. 

Die so genannte evolutionäre Psychologie schliesst aus dem beobachteten hohen Prozentsatz der Bevölkerungsanteil, dass diese genetische Disposition auch ein spezifischer Überlebensvorteil anbietet. Es gibt etwa die Hypothese, dass diese Fähigkeiten des unmittelbar Reagierens auf ungewohnte Zeichen und das räumliche Vorstellungsvermögen sehr günstig für die Jagd war (Th. Knecht, Skript Grundriss der evolutionären Psychiatrie, Herisau, 2012, unveröffentlicht). Anm. AC: Ebenfalls für dies Hypothese spricht, dass deutlich mehr Männer als Frauen betroffen sind. 

Die Forschung geht davon aus, dass dank der Gleichzeitigkeit der tendenziell eher im räumlichen Areal stattfindenden Informationsverarbeitung die Denkprozesse bei Legasthenikern bis zu zweihundert Mal rascher ablaufen als bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die eher sequentiell vorgehen. 

Auch bei ADHS‐Betroffenen scheint das räumliche Vorstellungsvermögen viel früher differenziert zu werden als beim Durchschnitt (Neuhaus  2009). So wundert es wenig, dass viele bekannte Künstler und Wissenschaftler selbst den Rechtshemisphärisch Orientierten zugeordnet werden können.   Zitat aus Hender, 2007 

„Legastheniker benutzen die Fähigkeit des Gehirns, Sinneswahrnehmungen zu verändern und zu erzeugen. Sie sind fähig, eine mentale Vorstellung so zu „registrieren“, als ob es eine tatsächliche Wahrnehmung wäre. Sie erleben die eigenen Gedanken als real und verfügen über eine lebhafte Phantasie“ (es folgt das in  Beispiel von Kevin bei Meister Vitale, 1988). 

„Ich erinnere mich an Kevin, der immer zu spät zur Schule kam. Eines Morgens verkündete er mit seinen grossen, nach oben gerichteten Augen: «Ich habe ein Einhorn getroffen. Es hat mich nach dem Weg zum nächsten Regenbogen gefragt und versprochen, dass du mir nicht böse sein wirst.» Ich schrie ihn an: «Kevin, du weisst genau, dass es keine Einhörner gibt!» Voller Entrüstung schrie er zurück: «Einhörner gibt es doch!» während des folgenden Schuljahrs begriff ich, dass – zumindest für Kevin – Einhörner sehr real waren“ 

 

 

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Weitere Zitate aus der Arbeit Henders: 

„Ein Tagtraum könnte auch Einsteins Relativitätstheorie gewesen sein, in dem er sich an einem Lichtstrahl entlang fliegen sah. Seine Vision dauerte nur ein paar Sekunden, während ihre Erklärung eine Unmenge von Büchern brauchte. Für Einstein war sie ein einfacher Begriff, für andere, gewöhnliche Menschen ist sie unfassbar.  Die Wahrnehmungsverzerrungen der Legastheniker können der Kunst und der Wis‐senschaft nur dienen. Legastheniker können aber ihre Umgebung auch sehr bewusst wahrnehmen. Ihre sinnliche Wahrnehmung und ihr Denken sind vielschichtig.  

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ Das nonverbale Denken, in Zahlen ausgedrückt, kann 400 ‐ 2000 Mal schneller als das verbale Denken sein. Legastheniker sind vor allem Bilddenker und haben einen ausgeprägten Sinn für den Raum, die Dreidimensionalität. 

In einem Interview mit dem bedeutenden Pantomimen, Regisseur, Buchautor und Hochschulprofessor Samy Molcho im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt vom 8. Mai 1998 unter dem Titel “Bei mir ist alles OK“ stand: 

Hohe Auffassungsgabe, gute Beobachtungsgabe, Scharfblick und umfassendes technisches Verständnis sind Merkmale, die einen Legastheniker charakterisieren. Dazu kommt noch die aussergewöhnliche Ausdauer und überdurchschnittliche Wissbegierde, sich mit etwas zu beschäftigen. Er besitzt die „Gabe der Meisterschaft” ‐ das wahre Lernen, um etwas zu beherrschen. Legastheniker besitzen hohe Kreativität und starke Intuition. Ronald Davis beschreibt in seinem Buch „Legasthenie als Talentsignal“ die Intuition und den Zusammenhang zwischen dem Bildhaften Denken und der unterschwelligen Wahrnehmung. 

Scheinbar können Legastheniker einen unterschwelligen Denkprozess ins Bewusstsein heben und sich in einen Gegenstand so vertiefen bis sie die einzelnen Bilder eins nach dem anderen betrachten können. Vielleicht hat die intuitive Musikalität des Legasthenikers auch mit den unterschwelligen Denkprozessen zu tun. Die geschenkte Musikalität kann wegen den starken Aufmerksamkeitsschwankungen oft nicht in den Vordergrund treten. Die Intuition für Interpretation von Musik fällt sehr leicht. Manchmal steht der Überwindung der technischen Probleme vor allem der Zeitdruck im Weg. Komplizierte Gedankengänge werden leicht bewältigt.  

Offensichtlich haben Legastheniker eine besondere Art miteinander zu kommunizieren. Wenn zwei Legastheniker miteinander kommunizieren, hat ein nicht‐legasthener Mensch Schwierigkeiten ihnen zu folgen. Wenn sie miteinander arbeiten, passiert dies auf eine viel schnellere und effizientere Art und Weise als dies bei anderen Menschen der Fall ist. Dies ist auch dadurch bedingt, dass legasthene Menschen (…) über wesentlich schnellere Formen verfügen und sie auch nützen können, (einige) Gedankengänge werden übersprungen.“(Hender Zitat Ende) 

Bei Menschen mit ADHS‐Symptomatik und Legasthenikern kann zu einem signifikanten Anteil beobachtet werden, dass sie ein besonders differenziertes emotionales Sensorium für andere Menschen (Empathie‐fähigkeit) wie auch für soziale Vorgänge und Verantwortung entwickeln.   

„Niemand sollte entdecken, dass ich nicht schreiben kann. Wer im Versteck lebt, wird erfinderisch. Ich musste gut sein, damit ich mir jemanden leisten konnte, der meine Bücher schreibt... Meine sechs Bücher habe ich natürlich nicht selbst geschrieben, sondern diktiert... Ich verstehe Worte nicht linear, in einer Reihe, ich sehe das Gesamte, ein vollständiges Bild. ... Aus meiner Sicht hat man euch verzerrt, in die Eindimensionalität der Sprache gesperrt. Das Wort «Begriff» kommt doch von «greifbar». Die Schule hat das vergessen. Statt mit dem Greifbarem zu arbeiten, arbeitet sie mit Wörtern ...“ 

„Man nimmt das Produkt der Denkprozesse wahr, aber nicht ihren Ablauf. Man weiss die Antwort, ohne zu wissen, warum.“ 

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Förderung von Legasthenikern 

Bereits die Aufzählung der Ressourcen lassen auf verschiedene Förderungsansätze schliessen, welche sich auf die Entwicklung und das Lernen potentieller Legastheniker günstig auswirken können. Für einen guten Ablauf müssen die verschiedenen Wahrnehmungen gut zusammenarbeiten. Die Fähigkeit zur Sinneswahr‐nehmung kann darum bewusst durch Aufmerksamkeit gesteigert werden. Dabei ist es von Vorteil, die oben genannten Ressourcen und vor allem auch die in der Liste am Anfang genannten spezifischen Bewusstseinsformen der rechten Hemisphäre einzubeziehen. 

Bei der nach dem Forscher benannten Davis‐Methode für Legastheniker werden die betreuten Kinder dazu angehalten, die Buchstaben aus Knetmasse dreidimensional zu formen. Die konkret‐sinnliche Anschaulich‐keit, wie es etwa die Montessori‐Pädagogik für einfache bis komplexe mathematische, sprachliche und andere Lernziele anbietet, kommt einer Dominanz der Rechtshemisphäre sehr entgegen. Für die Musik können rhythmische Bausteine, aus Holz oder anderem Material, konstruierte Tonleitern (im wahrsten Sinn des Wortes), Tabulaturmodelle und vieles anderen mehr, Vergleichbares leisten. 

Die Lesefähigkeit in der Musik wird etwa gefördert, wenn nicht Einzelnoten und Tonlängen, sondern die sinnvolle Einheiten (Motive, rhythmischen Kerne etc.) als Ganzes erkannt und gelesen werden. Die tonalen und harmonischen Zusammenhänge werden mit Vorteil als tonaler Raum im wahrsten Sinn vorgestellt. Tabulaturen, wenn möglich sogar in dreidimensionaler Darstellung, unterstützen die Orientierung. Übungen sollen helfen, ein Notenbild nicht sukzessiv abzutasten, sondern möglichst als ganzen Raum zu überblicken, der sich vor einem ausbreitet. Das Nacheinander präsentiert sich damit als Nebeneinander. Ein Metrum regelmässig zu spüren, einen Rhythmus richtig zu realisieren ist gleichbedeutend mit dem Ab‐schreiten des Raumes entlang eines Stücks, ohne dass dabei die Gesamtsicht aus den Augen verloren wird. Auch das Erfassen von Musik über das Gehör kann mit einer räumlichen Vorstellung verknüpft werden. Mit der Musik sollen stets auch die emotionale Empfindung und inneren Bilder mitlaufen.  Autistisch wahrnehmende Menschen und Asperger‐Syndrom 

Entgegengesetzt zu den oben beschriebenen Dispositionen von Legasthenikern und Menschen mit ADHS weisen neurowissenschaftliche Untersuchungen bei autistisch wahrnehmenden Menschen auf eine ausserordentliche ausgeprägte linkshemisphärische Dominanz der assoziativen Areale hin. Erst als Hypothese wird dies derzeit einer genetischen bzw. sich daraus ergebenden hormonell bedingten vorgeburtlich unausgewogenen Entwicklung des Gehirns zugeschrieben (massive Dominanz männlicher Hormone). Autistisch wahrnehmende Menschen können in der Folge u. a. den Tonfall des Gegenübers nicht interpretieren und weder den Gesichtsausdruck deuten noch selbst diese Signale aussenden. Ebenfalls stark eingeschränkt ist die Funktionalität der Spiegelneuronen. Daraus entsteht das Unvermögen, in emotionale Verbundenheit zu treten, sowie das Gegenüber in Bezug auf die emotionale Disposition einzuschätzen, sich einzufühlen und die eigenen Befindlichkeiten und Intentionen kund zu tun.  

Je nach Ausprägung und Grad fällt es autistisch wahrnehmende Personen enorm schwer, sich räumlich und in komplexen Situationen zu orientieren. Für sie repräsentiert sich die Welt in einer riesigen, unüberblickbaren Menge an scheinbar unzusammenhängenden Einzelheiten. 

Eine oft beobachtete Kompensationsleistung sind das enorme Spezialwissen und das Faktengedächtnis. 

Diese vermitteln einem autistisch wahrnehmenden  Menschen das Gefühl, wenigstens in diesem Bereich 

selbstwirksam zu sein. Stereotype Bewegungen oder Handlungsabfolgen, Fixierung auf spezifische Details 

vermitteln ebenfalls eine Struktur in der sonst total chaotischen und unvorhersehbaren Umwelt. Ein 

heute selbst in der psychologischen Betreuung arbeitender Betroffener erzählt etwa von seinem 

geschärften Blick für Feuermelder in jedem neuen Raum, den er  jeweils betritt. Die aktuellen 

neurologischen Erkenntnisse tragen mit dazu bei, dass zusammen mit den Betroffenen für sie günstige 

Strategien entwickelt werden können, die ihnen die Alltagsbewältigung bis zu einem gewissen Grad 

erleichtern. 

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Hilfreich ist zudem 

Die Umgebung zeigt Verständnis für die Phänomene des Autismus und des Asperger‐Syndroms  

Konkrete Aufgabenstellung mit zum Teil bildhaften Anleitungen 

Eindeutige Anweisungen, ohne Ironie und Ungeduld  Bestmöglicher Schutz vor Blossstellung und sozialer Ausgrenzung 

Bereitstellung von Erholungsräumen 

Möglichst wenig Veränderungen, Chaos und verwirrende Unterrichtsformen 

Geschlechtsspezifische Unterschiede 

Zurückkommend zur Durchschnittsbevölkerung soll der Diskurs eines geschlechterspezifischen Lernstiles kurz und kritisch berührt werden. Dass die unterschiedlichen hormonellen Vorgänge auch gewisse Auswirkungen auf die Lernstile haben, ist zu erwarten. Zahlreiche Forschungen haben aber ergeben, dass die individuelle Streuung innerhalb eines Geschlechts viel grösser ist als zwischen den Geschlechtern (Baron‐Cohen in Gasser 2008, H. Poimann, Würzburg, mündliche Aussage). Angenommen werden darf, dass die Hirnasymetrie bei Männern häufig stärker ausgeprägt ist als bei Frauen.   Integration der spezifischen Funktionseben des Gehirns 

Der amerikanische Neuroforscher und Therapeut Daniel Siegel (2010)  und sein Team entwickelten erfolgreich das Therapiekonzept der neuralen Integration. Integration meint hier, dass die verschieden Funktionsebenen gezielt durch Übungen und geeignetes therapeutisches Setting einzeln gestärkt, miteinander vernetzt und über  Trainingselemente u Gunsten einer förderwirksamen sozialen Interaktion. Die Integration findet über regelmässige Achtsamkeitsübung und körperlich Fitness vertikal statt (Stärkung und Integration von tiefen und höheren Arealen). Horizontale Integration passiert über Schulung der Aufmerksamkeit und Planung, „narratives“ Stärken des autobiografischen Bewusstseins über das Gespräch und Erzählen, konkretisieren und versprachlichen der impliziten Prozess, (verknüpfen von links‐ und rechtshemisphärische Areale) , sowie mittels Übungen zur Stärkung der Empathiefähigkeiten und des eigenen Selbstbewusstseins. Siegel verweist nachdrücklich auf die Wirkung, die günstige (bzw. auch ungünstige) Gestaltung der Beziehung durch die Eltern, Lehrpersonen, Therapeuten/Therapeutinnen auf die neuronalen Vorgänge hat. Im günstigen Fall wird die Plastizität des Gehirns aktiv angeregt zu Gunsten eines tendenziellen Ausgleichs der spezifischen Arealen und Hirnfunktionen. Achtsamkeits‐ und Körperübungen und aktives Zuhören sind Elemente, die mit konkreter Anwendung in Form kurzer, ritualisierter Sequenzen den Unterricht bereichern und äusserst lernfördernde Wirkung entfalten. 

Zugang über idiolektisch geführtes Gespräch 

Die an der Eigensprach orientierte Gesprächsführung (Idiolektik) bietet bei der Begleitung von Menschen mit ADHS, Legasthenie oder anderen Lernschwächen die Chance an, einen Schlüssel zu finden zu individuellen Ressourcen. Durch das Eingehen auf die eigene Sprache des Gegenübers entfällt die Auseinandersetzung des Zentralen Nervensystems mit ihm fremden, von aussen angebotenen Signalen. Es kann sich ganz den inneren Prozessen zuwenden und di Energie für die Integrationsprozesse nutzen. Die Ressourcenorientierung der idiolektischen Gesprächsführung sowie das limbische System ansprechenden Fragen tragen zusätzlich zu einer Aktivierung der Vernetzung und Integrationsprozesse bei. Es ist jedenfalls günstig, wenn die  in vergangenen Jahren stark angestiegene Quote medikamentöser Behandlungen mit solchen Konzepten vermindert werden kann. Dies spricht nicht gegen deren Einsatz, um erst die Bedingungen für eine weitere Begleitung in diesem Sinn zu schaffen.         

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