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Joss Stirling Die Macht der Seelen 1

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Joss Stirling

Die Macht der Seelen 1

BB 1 71588

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Joss Stirling ist das Pseudonym von JuliaGolding, die in England sehr erfolgreichRomane für Kinder und Jugendlicheschreibt. Sie studierte Anglistik in Cam-bridge und war schon immer von derVorstellung fasziniert, dass es im Leben

mehr gibt, als man mit bloßem Auge sehen kann. Wei-tere Bücher von Joss Stirling, siehe Seite 4.

Michaela Kolodziejcok hat Sprachwissenschaften, Publizis-tik und Amerikanistik studiert, bevor sie mehrere Jahre ineinem renommierten Verlag als Lektorin für Kinder- undJugendbücher tätig war. Seit 2003 arbeitet sie als frei-berufliche Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt mit ihrerFamilie in Berlin.

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Joss Stirling

Die Macht der Seelen 1

Roman

Aus dem Englischen vonMichaela Kolodziejcok

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Von Joss Stirling sind außerdem bei dtv junior lieferbar:Saving Phoenix – Die Macht der Seelen 2Caling Crystal – Die Macht der Seelen 3

Das gesamte lieferbare Programmvon dtv junior und viele andereInformationen finden sich unter

www.dtvjunior.de

Ungekürzte Ausgabe2014 Deutscher Taschenbuch Verlag© der deutschsprachigen Ausgabe:

2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH und Co. KG, München© 2010 Joss Stirling

Titel der englischen Originalausgabe: ›Finding Sky‹,2010 erschienen bei Oxford University Press

This translation is published by arrangement with Oxford University PressUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggrafik: Johanna BasfordSatz: Fotosatz Amann, Memmingen

Gesetzt aus der BerlingDruck und Bindung: C.H.Beck, Nördlingen

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany ISBN 978-3-423-71588-1

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Für Lucy und Emily

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Kapitel 1

Das Auto fuhr davon und ließ das kleine Mädchen aufdem Parkplatz zurück. Es trug ein dünnes Baumwoll-hemdchen und Shorts. Zitternd vor Kälte setzte es sichhin und schlang seine Arme um die Beine, der Windfuhr in sein helles blondes Haar, das so blass war wieeine Pusteblume.

Du hältst die Klappe, Missgeburt, oder wir kommenzurück und machen dich fertig, hatten sie zu ihr gesagt.

Sie wollte nicht, dass sie zurückkamen. So viel wusstesie, auch wenn sie sich weder an ihren eigenen Namenerinnern konnte noch daran, wo sie wohnte.

Eine Familie ging auf dem Weg zu ihrem parkendenAuto an ihr vorbei, die Mutter trug ein Kopftuch undhatte ein Baby auf dem Arm, der Vater hielt ein Klein-kind an der Hand. Das Mädchen starrte auf den abge-wetzten Rasen und zählte die Gänseblümchen. Wie daswohl ist?, fragte sie sich. Im Arm getragen zu werden? Eswar so lange her, dass jemand liebevoll zu ihr gewesenwar, dass es ihr schwerfiel hinzusehen. Sie konnte den 7

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Goldschimmer sehen, der die Familie umstrahlte – dieFarbe der Liebe. Aber sie traute dieser Farbe nicht, siebrachte nur Schmerzen.

Dann hatte die Frau sie entdeckt. Das Mädchen zogihre Knie bis ans Kinn, versuchte sich so klein zumachen, dass niemand sie bemerkte.Aber es war zweck-los. Die Frau sagte etwas zu ihrem Mann, drückte ihmdas Baby in den Arm, kam näher, setzte sich neben dasMädchen in die Hocke. »Hast du dich verlaufen, Klei-nes?«

Du hältst die Klappe oder wir machen dich fertig.Das Mädchen schüttelte den Kopf.»Sind Mummy und Daddy da reingegangen?« Die

Frau runzelte die Stirn; die sie umgebenden Farbennahmen eine zornige Rottönung an.

Das Mädchen wusste nicht, ob es nicken sollte.Mummy und Daddy waren fortgegangen, aber schonvor langer Zeit.

Sie hatten sie nie aus dem Krankenhaus abgeholt,sondern waren zusammen im Feuer geblieben. DasMädchen beschloss, nichts zu sagen. Die Farben derFrau loderten in tiefem Purpur.

Das Mädchen zuckte zusammen: Sie hatte die Frauverärgert. Diejenigen, die gerade weggefahren waren,hatten also die Wahrheit gesagt. Sie war böse. Siemachte allen immer nur Kummer. Das Mädchen legteihren Kopf auf die Knie. Wenn sie einfach so tat, als obes sie gar nicht gäbe, wäre die Frau vielleicht wiederzufrieden und würde weggehen. Manchmal klapptedas.8

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»Armes, kleines Ding«, seufzte die Frau und erhobsich. »Jamal, würdest du bitte noch mal reingehen undBescheid sagen, dass hier draußen ein verirrtes Kindsitzt? Ich bleibe bei ihr.«

Das Mädchen hörte, wie der Mann beruhigend aufdas kleine Kind einsprach, und dann ihre Schritte, als siezusammen zum Restaurant zurückgingen.

»Hab keine Angst. Deine Familie sucht dich bestimmtschon.« Die Frau setzte sich neben sie und drückteNummer fünf und sechs der abgezählten Gänseblüm-chen platt.

Das Mädchen fing an, heftig zu zittern, und schüttelteden Kopf. Sie wollte nicht, dass sie nach ihr suchten –jetzt nicht, niemals.

»Alles okay. Wirklich. Ich weiß, du hast Angst, aberdu wirst im Nu wieder bei deiner Familie sein.«

Sie wimmerte und schlug sich schnell eine Hand vorden Mund. Ich darf keinen Laut von mir geben, ich darfkein Theater machen. Ich bin böse. Böse.

Aber sie war es gar nicht, die so viel Lärm machte. Siewar nicht schuld. Jetzt schwirrten viele Leute um sieherum. Polizisten in gelben Westen, die so aussahen wiedie, die an jenem Tag vor ihrem Haus gestanden hatten.Stimmen, die zu ihr sprachen. Nach ihrem Namen frag-ten.

Aber der war ein Geheimnis – und sie hatte die Ant-wort auf die Frage schon vor langer Zeit vergessen.

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Kapitel 2

Ich erwachte aus meinem altbekannten Albtraum, alsdas Auto anhielt und der Motor verstummte. MeinenKopf hatte ich auf das Kissen gepresst und war noch be-nommen vom Schlaf, sodass es eine Weile dauerte, bisich wieder wusste, wo ich war. Nicht an jener Auto-bahnraststätte, sondern in Colorado bei meinen Eltern.Beim Weiterziehen. Beim Umziehen.

»Und, was sagst du?« Simon, wie Dad lieber genanntwurde, stieg aus dem klapprigen Ford aus, den er in Den-ver gekauft hatte, und zeigte mit einer theatralischenGeste auf das Haus. Sein grau gesträhnter, brauner Zopflöste sich aus dem Haargummi, so schwungvoll war dieBegeisterung, mit der er uns unser neues Heim präsen-tierte. Spitzdach, Schindelwände und schmutzige Fens-ter – es sah nicht sonderlich einladend aus. Halb erwar-tete ich, dass die Adams Family zur Eingangstür hinaus-schwanken würde. Ich setzte mich aufrecht hin und riebmir die Augen, um die bohrende Angst zu vertreiben,die nach einem solchen Traum stets bei mir nachwirkte.10

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»Oh, Liebling, es ist wunderschön!« Sally, meineMutter, ließ sich durch nichts so schnell entmutigen –Simon nannte sie immer scherzhaft einen Terrier aufder Jagd nach dem Glück: Wenn sie ein Zipfelchen da-von zu fassen kriegte, schlug sie ihre Zähne hinein undließ einfach nicht mehr los. Sally stieg aus dem Auto aus.Ich folgte ihr ziemlich schwerfällig, wobei ich nichtwusste, ob das am Jetlag oder an meinem Traum lag. DieWorte, die mir beim Anblick des Hauses in den Kopfschossen, waren »düster«, »Bruchbude« und »runter-gekommen«, Sallys Vokabular unterschied sich vonmeinem gewaltig. »Ich glaube, das wird ganz toll. Sehteuch doch nur mal diese Fensterläden an – das müssennoch die originalen sein. Und diese Veranda! Ich habemich schon immer auf genau so einer Veranda imSchaukelstuhl sitzen und den Sonnenuntergang genie-ßen sehen.« Ihre braunen Augen strahlten vor Vorfreudeund ihre weichen Locken wippten bei jeder Stufe, diesie hinaufstieg.

Ich war nun schon seit meinem zehnten Lebensjahrbei ihnen und hatte mich mittlerweile damit abge-funden, dass meine Eltern beide eine Schraube lockerhatten. Sie lebten in ihrer eigenen kleinen Fantasiewelt,in der alte Bruchbuden »malerisch« und Schimmelbefall»stimmungsvoll« waren. Im Gegensatz zu Sally sah ichmich immer in einem ultramodernen Haus auf einemStuhl sitzen, der kein Paradies für Holzwürmer war, undin einem Schlafzimmer, an dessen Fensterscheiben dieEisblumen nicht innen wuchsen.

Aber mal abgesehen von dem Haus: Die Berge dahin- 11

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ter waren atemberaubend, imposant hoch ragten sie inden klaren Herbsthimmel hinein, ein Hauch von Weißauf den Gipfeln.Wie eine zu Stein gewordene Flutwelleam Horizont, die gerade noch rechtzeitig erstarrt war,bevor sie über uns zusammenschlug. Die felsigen Hängeschimmerten rosa im späten Nachmittagslicht und dort,wo sich lange Schatten auf die Schneefelder legten, zeig-ten sie sich schieferblau. Die waldbestandenen Seitenwaren bereits vom Herbstgold der Espen durchwirkt,die sich leuchtend gegen die dunklen Douglas-Tannenabzeichneten. Ich konnte eine Seilbahn erkennen unddie kahl geschlagenen Schneisen der steilen Skipisten.

Das mussten die High Rockys sein, von denen ichgelesen hatte, nachdem mir meine Eltern eröffneten,wir würden von Richmond-Upon-Thames, England,nach Colorado in den USA, genauer gesagt in eine kleineStadt namens Wrickenridge ziehen. Ihnen war dort eineinjähriges Stipendium als Artists-in-Residence in einemneuen Künstlerhaus angeboten worden. Ein ortsansässi-ger Multimillionär und Bewunderer ihrer Arbeiten hattees sich in den Kopf gesetzt, dass der Skiort westlich vonDenver dringend eine Kulturspritze benötigte – undmeine Eltern, Sally und Simon, sollten nun die Injek-tionslösung sein.

Als mir meine Eltern die ›frohe‹ Botschaft über-brachten, sah ich mir die Website der Stadt an underfuhr, dass Wrickenridge für seine jährlich fallendeSchneehöhe von 750 cm bekannt war und mehr auchnicht. Dort wäre also Skifahren angesagt – allerdingshatten wir uns die Klassenfahrten in die Alpen nie leisten12

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können und so würde ich meinen Altersgenossen dortLichtjahre hinterherhinken. Ich malte mir bereits aus,wie ich mich am ersten schneereichen Wochenendeam Babyhang bis auf die Knochen blamierte, währenddie anderen die schwarzen Pisten hinunterbretterten.

Aber meine Eltern waren begeistert von der Vorstel-lung, inmitten der Rockies zu malen, und ich brachtees nicht übers Herz, ihnen ihr großes Abenteuer zuvermiesen. Ich tat so, als hätte ich überhaupt keinProblem damit, dass ich die Oberstufe in Richmond,auf die alle meine Freunde gingen, verpasste undmich stattdessen an der Wrickenridge High einschrieb.Seit meiner Adoption vor sechs Jahren hatte ich mireinen Platz in der Gemeinde im Südwesten Londonserkämpft; ich hatte Todesangst und Sprachlosigkeitbesiegt, hatte meine Schüchternheit überwunden undmir einen Freundeskreis aufgebaut, in dem ich michgemocht fühlte. Ich hatte die befremdlichen Seitenmeiner Persönlichkeit tief in mir vergraben – beispiels-weise diese Sache mit den Farben, von der ich ge-träumt hatte. Ich achtete nicht mehr auf die Aura derLeute, so wie ich es als Kind getan hatte, und igno-rierte es, wenn ich es einmal nicht unter Kontrollehatte. Ich hatte mich normal gemacht – na ja, soweitdas möglich war. Jetzt wurde ich ins kalte Wasser ge-worfen. Ich hatte haufenweise amerikanische High-school-Filme gesehen und war ziemlich verunsichert,was meine neue Schule anging. Bestimmt hatten ge-wöhnliche amerikanische Teenager doch auch ab undzu mal Pickel und trugen bescheuerte Klamotten, 13

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oder? Sollten sich die amerikanischen Filme bewahrhei-ten, würde ich niemals dort hinpassen.

»Okay.« Simon wischte mit den Händen über seineOberschenkel, die in einer verblichenen Jeans steckten,eine Angewohnheit, aufgrund derer jedes Kleidungs-stück, das er besaß, mit Ölfarbe beschmiert war. Sally sahdagegen ziemlich schick aus mit einer neuen Hose undeinem Blazer, Klamotten, die sie sich extra für die Reisegekauft hatte. Ich lag mit meinem leicht verknautschtenLevis-Look irgendwo in der Mitte zwischen den beiden.»Lasst uns mal reingehen. Mr Rodenheim sagte, drinnenwaren schon die Handwerker zugange. Er hat verspro-chen, dass sie sich so bald wie möglich die Fassade vor-knöpfen.«

Darum sah’s hier also aus wie auf einer Müllkippe.Simon öffnete die Haustür. Sie quietschte, fiel aber

nicht aus den Angeln, was ich als kleinen Triumph füruns verbuchte. Die Handwerker waren ganz offensicht-lich eben erst gegangen – und hatten uns ihre Maler-planen und Leitern, Farbeimer und halb fertigen Wändeals Begrüßungsdekoration dagelassen. Ich sah mir dieRäume im ersten Stock an und entdeckte ein türkis-farben gestrichenes Zimmer mit einem Doppelbettund Ausblick auf die Berggipfel. Das musste unbedingtmir gehören.Vielleicht war’s hier doch nicht so übel.

Mit dem Fingernagel kratzte ich Farbreste von demalten Spiegel über der Kommode. Das blasse, ernsteMädchen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, tatdasselbe und starrte mich aus dunkelblauen Augen an.Sie sah in dem schummrigen Licht gespenstisch aus; das14

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blonde Haar fiel ihr in ungebändigten Locken ums ovaleGesicht. Sie wirkte zerbrechlich. Einsam. Eine Gefan-gene im Raum hinter dem Spiegel; eine Alice, die esniemals wieder in die echte Welt zurückschaffen würde.

Ich erschauerte. Der Traum verfolgte mich noch im-mer, zog mich zurück in die Vergangenheit. Ich musstedringend aufhören damit. Alle – Lehrer, Freunde – hat-ten mir gesagt, dass ich dazu neigte, in melancholischeTagträumereien abzudriften. Aber sie verstanden nicht,dass ich mich, wie soll ich sagen, dem Leben irgendwienicht gewachsen fühlte. Ich war mir selbst ein Rätsel –ein Bündel von bruchstückhaften Erinnerungen undunerforschten dunklen Abgründen. In meinem Kopfverbargen sich jede Menge Geheimnisse, aber die Karte,die mich zu ihnen führen konnte, war mir abhanden-gekommen.

Ich nahm meine Hände vom kalten Spiegelglas,drehte mich um und ging die Treppe nach unten. MeineEltern standen in der Küche, eng aneinandergeschmiegtwie immer. Sie führten die Art von Beziehung, die soinnig war, dass ich mich oft fragte, wie sie darin nochPlatz für mich gefunden hatten.

Sally umschlang Simons Taille und legte ihren Kopfan seine Schulter. »Nicht übel. Erinnerst du dich nochan unsere erste Bude am Earls Court, Liebling?«

»Ja. Die Wände waren grau und alles rappelte, sobalddie U-Bahn unter dem Haus entlangfuhr.« Er küsste ihrHaar. »Das hier ist ein Palast.«

Sally streckte die Hand nach mir aus, um mich indiesen Augenblick mit einzubeziehen. Ich hatte mich in 15

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den letzten paar Jahren darauf getrimmt, ihren liebe-vollen Gesten nicht zu misstrauen, und so nahm ichihre Hand. Sally drückte leicht meine Knöchel und er-kannte damit stillschweigend an, wie viel Überwindunges mich kostete, nicht vor ihnen zurückzuscheuen. »Ichbin so aufgeregt. Das ist fast so gut wie Heiligabend.«

Sie hatte schon immer eine Schwäche für Besche-rungen gehabt.

Ich lächelte. »Darauf wäre ich echt nie gekommen.«»Jemand zu Hause?« Es klopfte kurz an die Veranda-

tür und schon kam eine ältere Dame hereinmarschiert.Sie hatte schwarzes, mit Weiß durchwirktes Haar,dunkle Haut und an ihren Ohrläppchen baumeltenriesengroße dreieckige Ohrringe, die fast bis zum Kra-gen ihrer mit goldenem Stoff gefütterten Jacke hinun-terreichten. Schwer beladen mit einer Auflaufform,warf sie mit einem gekonnten Fußtritt die Tür hintersich zu.

»Da sind Sie ja. Ich habe Sie ankommen sehen. Will-kommen in Wrickenridge!«

Sally und Simon tauschten leicht belustigte Blickeaus, als die Frau wie selbstverständlich die Auflaufformauf den Tisch in der Diele stellte.

»Ich bin May Hoffman, Ihre Nachbarin von gegen-über. Und Sie sind die Brights aus England.«

Wie es aussah, brauchte Mrs Hoffman keinen Ge-sprächspartner, um eine Unterhaltung zu führen. IhrTemperament war geradezu beängstigend; ich ertapptemich bei dem Wunsch, mich wie eine Schildkröte inden Schutz meines Panzers zurückzuziehen.16

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»Ihre Tochter sieht aber keinem von Ihnen beidenbesonders ähnlich, was?« Mrs Hoffman rückte einenFarbeimer beiseite. »Ich habe Sie vorfahren sehen.Wussten Sie, dass Ihr Auto Öl verliert? Das wollen Siebestimmt reparieren lassen. Kingsley von der Werkstattwird sich das umgehend ansehen, wenn Sie sagen, dassSie auf meine Empfehlung kommen. Er verlangt sehrfaire Preise, allerdings müssen Sie aufpassen, dass erIhnen den Bringservice nicht in Rechnung stellt – dersollte nämlich inbegriffen sein.«

Simon sah mich mit entschuldigender Miene an. »Dasist ausgesprochen freundlich von Ihnen, Mrs Hoffman.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wirlegen hier großen Wert auf gute Nachbarschaft. Dasmüssen wir – warten Sie nur ab, bis der Winter kommt,dann werden Sie’s verstehen.«

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich; ihreAugen waren hellwach. »Und du? Hast du dich in derelften Klasse der Highschool angemeldet?«

»Ja, äh, Mrs Hoffman«, murmelte ich.»Das Halbjahr hat vor zwei Tagen begonnen, aber ich

vermute, das weißt du. Mein Enkel ist ebenfalls in derOberstufe. Ich werde ihm sagen, dass er ein Auge aufdich haben soll.«

Mich überkam die albtraumhafte Vision einer männ-lichen Ausgabe von Mrs Hoffman, die mich durch dieSchule schleuste. »Ich bin mir sicher, das wird nicht …«

Sie schnitt mir das Wort ab, indem sie auf die Auflauf-form zeigte. »Ich dachte mir, Sie würden es zu schätzenwissen, Ihre neue Küche mit etwas Hausmannskost ein- 17

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zuweihen.« Sie schnupperte. »Wie ich sehe, hat Mr Ro-denheim das Haus endlich renovieren lassen. Wurdeauch Zeit. Ich habe ihm immer gesagt, dass diesesHaus ein Schandfleck für die Nachbarschaft ist. Na ja,Sie ruhen sich jetzt erst mal aus, hören Sie, und wirsprechen uns wieder, wenn Sie sich ein bisschen einge-lebt haben.«

Sie war weg, bevor wir die Möglichkeit hatten, unsbei ihr zu bedanken.

»O-kay«, sagte Simon. »Das war ziemlich interessant.«»Bitte, lass das Ölleck gleich morgen reparieren«,

sagte Sally in gespieltem Flehen und verschränkte dieHände vor der Brust. »Ich möchte auf keinen Fall in derNähe sein, wenn sie herausfindet, dass du ihrem Ratnicht gefolgt bist – und sie kommt garantiert bald wie-der.«

»Wie ein Schnupfen«, stimmte er zu.»Sie ist schon … ziemlich amerikanisch, oder?«, sagte

ich zaghaft.Wir prusteten laut los – das Haus hätten wir auf keine

andere Weise besser einweihen können.

An diesem Abend packte ich meinen Koffer aus undräumte die Sachen in die alte Kommode, die ich mitSallys Hilfe mit Schrankpapier ausgekleidet hatte; sieroch noch immer muffig und die Schubladen klemm-ten, aber mir gefiel der blass-weiße Lasuranstrich. Dis-tressed Look, nannte Sally diesen Stil und erklärte, dassdie Kommode absichtlich so hergerichtet worden war,dass sie möglichst abgerissen und alt aussah. Vermutlich18

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gefiel mir dieser Look deshalb so gut, weil ich das Ge-fühl kannte, lädiert zu sein.

Ich dachte über Mrs Hoffman und diese seltsameStadt nach, in die wir gezogen waren. Alles fühlte sichhier so anders an – fremd. Sogar die Luft, die bedingtdurch die Höhenlage nie auszureichen schien, sodass ichdie ganze Zeit unterschwellige Kopfschmerzen hatte.Draußen vor meinem Fenster, umrahmt von den Ästeneines dicht am Haus stehenden Apfelbaumes, hob sichder dunkle Schattenriss der Berge gegen den fast schwar-zen, bewölkten Nachthimmel ab. Die Gipfel saßen überdie Stadt zu Gericht, mahnten uns Menschen, wie unbe-deutend und vergänglich wir doch waren.

Ich brauchte ziemlich lange, bis ich ausgesucht hatte,was ich an meinem ersten Schultag anziehen würde. Ichentschied mich für eine Jeans und ein T-Shirt von Gap,unscheinbare Klamotten, in denen ich aus der Masseder anderen Schüler nicht hervorstechen würde. Nachweiterem Überlegen kramte ich dann aber einen weitenPulli hervor mit dem Union Jack in Gold vorne drauf.Ich sollte einfach akzeptieren, wer ich war.

Das war etwas, was Simon und Sally mir beigebrachthatten. Sie wussten, wie schwierig es für mich war, michan meine Vergangenheit zu erinnern, und drängtenmich nie. Sie sagten stets, die Erinnerung käme zurück,sobald ich dazu bereit wäre. Ihnen genügte es vollkom-men, wer ich momentan war; ich brauchte mich fürmeine Defizite nicht zu entschuldigen. Doch das än-derte nichts daran, dass ich eine Heidenangst vor demUnbekannten hatte, das mich morgen erwartete. 19

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Ich kam mir ein klein bisschen feige vor, als ich SallysAngebot, dass sie mich zur Anmeldung in die Schulebegleiten könne, dankbar annahm. Wrickenridge Highlag ungefähr eine Meile bergab von unserem Haus ent-fernt, in der Nähe der Interstate 70 – die Hauptstraße,die die Stadt mit den anderen Skiorten in der Gegendverband. Das Gebäude zeugte vom Stolz der Erbauerauf seine Bestimmung: Der Name war oberhalb derausladenden Flügeltüren ins Mauerwerk gemeißelt, dieAußenanlagen machten einen gepflegten Eindruck. ImEingangsbereich hing ein Schwarzes Brett neben demanderen, alle übervoll mit Zetteln, auf denen jedeMenge Aktivitäten angeboten wurden, die den Schülernzur mehr oder weniger freiwilligen Teilnahme offen-standen. Ich dachte an das Oberstufenzentrum, das ichin England besucht hätte. Hinter einem Einkaufscen-ter versteckt, bestehend aus Sechzigerjahrebauten undRaumcontainern, war es ein eher unpersönlicher Ort,den man einfach aufsuchte, ohne sich zugehörig zu füh-len. Allmählich schwante mir, dass dazugehören einwichtiger Aspekt des Lebens in Wrickenridge war. Ichwar mir nicht sicher, wie ich das fand. Vermutlich wärees okay, wenn ich es schaffte, mich in meiner neuenSchule anzupassen, und richtig übel, wenn ich es ver-masselte.

Sally wusste, dass ich Muffensausen hatte, aber sietat so, als würde ich die erfolgreichste Schülerin allerZeiten werden.

»Sieh mal, die haben hier auch eine Kunst-AG«, sagtesie fröhlich. »Du könntest ja mal Töpfern ausprobieren.«20