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Katechetische Blätter 2/83 Februar Kösel Zeitschrift für # Religionsunterricht # Gemeindekatechese # Kirchliche Jugendarbeit Glauben lernen Glauben lernen in Israel Glauben lernen in - der Familie - der Gemeinde - der Schule - den öffentlichen Medien Glauben lernen in Vielfalt Ein Bild, das mich bewegt

Katechetische Blätter · Hubertus Halbfas: Der Sprung in den Brunnen (Wilhelm Albrecht) 158 Ralph Sauer (Hrsg.): Handbuch zum Lektionar für Gottesdienste mit Kindern

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KatechetischeBlätter2/83 Februar

Kösel

Zeitschrift für# Religionsunterricht# Gemeindekatechese# Kirchliche Jugendarbeit

Glauben lernen

Glauben lernen in IsraelGlauben lernen in- der Familie- der Gemeinde- der Schule- den öffentlichen MedienGlauben lernen in VielfaltEin Bild, das mich bewegt

Mitarbeiter dieses Heftes:Dr. Wilhelm Albrecht, Zweigstraße 5,8050 FreisingMichael Albus, ZDF, EssenheimerLandstraße, 6500 Mainz-LerchenbergProf. Dr. Josef Bommer, Lindenfeld-steig 9, CH-6006 LuzernProf. Dr. Adolf Exeler, Waldeyer-straße 41, 4400 MünsterProf. Dr. Bernhard Grom, Kaulbach-straße 31 a, 8000 München 22Leopold Haerst, Preysingstraße 83 c,8000 München 80Jürgen Hoeren, Südwestfunk, Hans-Bredow-Straße, 7570 Baden-BadenProf. Dr. Norbert Lohfink, OffenbacherLandstraße 224, 6000 Frankfurt 70Prof. Dr. Rudi Ott, Hinkelsteiner-straße 24, 6500 Mainz-BretzenheimJosef Ouadflieg, Jesuitenstraße 13,5500 TrierDr. Hans Schalk, Kirchplatz 65,8096 Gars am InnProf. Dr. Günter Stachel, Carl-Orff-Straße 12, 6500 Mainz 33Werner Trutwin, Winzerstraße 85,5300 Bonn 1Gertrud Weidinger, Pappelstraße 2 c,8031 Eichenau

Bildnachweis:Seite 82: Karl Schmidt-Rottluff.Holzschnitt um 1919Seite 85, 95, 101, 107. 113, 119:Stationen 2-7 aus dem Kreuzweg derJugend 1983 »Du machst meine Fin-sternis hell« mit Radierungen vonJosef Hegenbarth, (£>St. Benno-VerlagGmbH, Leipzig 1963Seite 133: Zeichnung: DeutschesAllgemeines Sonntagsblatt ( Langer 'Skoulas), HamburgSeite 136, 14 1: Jules Stauber, Schwaigb. NürnbergSeite 147: Ivan Steiger. MünchenSeite 149: Abfahrt. Triptychon vonMax Beckmann (1932 '33), 216x1 15 cm,Museum of Modern Art, New YorkSeite 157: Michael Hasted, Stellen-wechsel (1977), aus: Zieltelderru 9'10. Medienpaket: D 2. Kösel-Verlag, München 1981

2/83Katechetische BlätterZeitschrift für Religionsunterricht, Gemeindekatechese,Kirchliche Jugendarbeit

108. Jahrgang

Herausgegeben vom Deutschen Katecheten-Verein e.V. undder Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz

Redaktion: *Winfried Nonhoff, Flüggenstraße 2, 8000 München 19, Ruf 089/175077.

Verantwortlicher Schriftleiter:Prof. Dr. Günter Lange, Wiesbadener Str. 109, 4100 Duisburg 12,Ruf0203/42 14 17.

Redaktionsbeirat:Wilhelm Albrecht, Gottfried Bitter, Bernd Borger, Christa Kemmer,Gabriele Miller, Franz W. Niehl, Franz-Josef Nocke, Winfried Pilz,Jan Heiner Schneider, Alois Zenner.

Verlag:Kösel-Verlag GmbH & Co., Flüggenstraße 2, 8000 München 19.Auslieferung: Kösel-Verlag GmbH & Co., Flugplatzstraße 1, 8031 Gilching.

Deutscher Katecheten- Verein e. V.1. Vorsitzender Professor Dr. Adolf Exeler, Waldeyer Straße 41,4400 Münster, Ruf 02 51 / 8 14 79;Generalsekretär Dr. Valentin Hertle, Preysingstraße 83 c,8000 München 80, Ruf 0 89 /4 15 62 42.Für alle Angelegenheiten des Katecheten-Vereins, Auskunftei, Bibliothek.

Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen BischofskonferenzBundespräsides Peter Bleeser und Karl Wuchterl, Carl-Mosterts-Platz 1,4000 Düsseldorf 30, Ruf 02 11 /48 50 9 1-95.

Bezug:Durch Buchhandel oder durch den Kösel-Verlag GmbH & Co.,Flugplatzstraße 1, 803 1 Gilching, Ruf 0 81 05 /90 14.Bezugspreis: Einzelheftc DM 7,80, Jahresabonnement (12 Hefte)DM 70,80, für Studierende DM 60,-, jeweils zuzüglich Versandkosten.Kündigung nur 4 Wochen vor Ablauf des Kalenderjahres möglich.

ßesprechiingsstiicke:Unverlangt eingesandte Besprechungsstücke werden nicht zurückgesandt.Ihre Besprechung bleibt vorbehalten.

An zeigen Verwaltung:Für An/eigen und Beilagen verantwortlich: Marianne Schmid-Reichel,Kösel-Verlag GmbH & Co.. Rüggenstraße 2, 8000 München 19,Ruf 089/17 5077.Anzeigenpreisliste auf Wunsch.

Gesttmtherstellung:Kösel, Wartenseestraße 1 1, 8960 Kempten/Allgäu.

Beilagen hinweis:Patmos Verlag

* \UmusknPizus,elh,„gvn, Bücherzusendungen, sonstige Anfragen•ipt

erbitten wir an diese Anschrift.

THEMA

ERFAHRUNGEN

EIN BILD, DASMICH BEWEGT

PERSPEKTIVEN

BÜCHER

LESERRUCKMELDUNG

Inhaltsverzeichnis

Glauben lernen 83

Norbert Lohfink: Glauben lernen in Israel 84Bernhard Grom: Familie - Lernort des Glaubens 100Josef Bommer: Lernort Gemeinde - Gemeinden lernenihren Glauben 114Günter Stachel: Lernort »Schulischer Religions-unterricht« 121Jürgen Hoeren: Glauben lernen im Rundfunk 126Michael Albus: »Lernort des Glaubens - Öffentlichkeit«am Beispiel Fernsehen. ZDF, Redaktion Kircheund Leben (kath.) 128

Gertrud Weidinger: Glauben erfahren und leben inder Familie 131Leopold Haerst: Glaubenswege sind Lebenswege.Bericht von einem Emmaus-Gang 136Josef Quadflieg: Miteinander glauben lernen. Zu denErgebnissen einer Umfrage unter DKV-Mitgliedernim Bistum Trier 143Notizen 147

Werner Trutwin: Abfahrt (Triptychon von MaxBeckmann) 148

Adolf Exeler: »Einheit in der Vielfalt«. EineZusammenfassung 150

Hubertus Halbfas: Der Sprung in den Brunnen(Wilhelm Albrecht) 158Ralph Sauer (Hrsg.): Handbuch zum Lektionar fürGottesdienste mit Kindern. Bd. 1 (Rudi Ott) 159Günter Biemer und Doris Knab (Hrsg.): Lehrplanarbeitim Prozeß (Hans Schalk) 159

Anzeigenteil [1]

Wenn Norbert Lohfink nicht »zünftiger« Alttestamentier wäre, könnte man meinen, ersieht heutige Probleme der Weitergabe des Glaubens in einer pluralistischenGesellschaft in das Alte Testament hinein - so aktuell wirkt seine biblische Hinführungund Einführung in das Thema dieses Heftes: Das Deuteronomium enthält als Reaktionauf das Versagen von Familie und Schule bei der Glaubensvermittlung eine eigeneLernkonzeption des Glaubens. Ist ein solcher textorientierter Typ des Glaubenlernensohne Schulbetrieb denkbar? Ist er mehr als eine Utopie? Die Alternative am Schlußdes Artikels stellt dann die folgenreiche Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz desGlaubenlernens.Der Verschiedenheit der Lernorte des Glaubens entspricht dann im folgenden dieunterschiedliche Art der Autoren, je ihren Lernort zu bedenken:Bernhard Grom gibt einen Überblick über das, was in Erhebungen und in der Literaturzum Lernort Familie zu finden ist: Fakten, Trends, Interpretationen, Fragen, dieGrundlage für eine »normale« Elternarbeit sein können. Hingewiesen sei auf dieausführliche Literaturliste zum Thema am Ende dieses Beitrags. Die KatechetischenBlätter haben darüber hinaus in Heft 8/1982 »Glauben in der Familie« ausführlichMöglichkeiten eines religiösen Lebens in der Familie diskutiert.Josef Bommer filtert drei Gemeindetypen heraus und kann dadurch pointiert jeverschiedene Formen des Glaubenlernens in den jeweiligen Gemeinden einandergegenüberstellen: Diese idealtypische Argumentation reizt zur Diskussion—vielleichtgerade auch in Gemeinden.Günter Stachelkarva auf das Grundlagendokument der Synode zum Lernort Schule undauf die Didaktik der Korrelation verweisen, wie sie auch in den Katechetischen Blätternimmer wieder erörtert worden ist. Er benennt Schwachstellen des realen Religionsun-terrichts. Es sind nicht ohne weiteres diejenigen Schwächen, die bei »offizieller« Kritikam Religionsunterricht im Vordergrund stehen, wie z. B. geringes Glaubenswissen,schwache Glaubenspraxis.Jürgen Hoeren und Michael Albus fragen abschließend: Bieten die Medien Rundfunkbzw. Fernsehen Chancen bei der Weitergabe des Glaubens? Lassen sich nicht geradeüber sie elementare menschliche Grundvollzüge öffnen für christliche Lebensdeutung?Laßt sich auf diese Weise Glauben lernen?

Glauben lernen in IsraelNorbert Lohfink

Für Weihbischof Dr. Josef G. Plöger den größeren Teil seiner Zeit, um zu »ler-

zum60. Geburtstag nen«. Die Kindererziehung läuft nach demSpruch von Rabbi Jehuda ben-Tema, den uns

Gibt es etwas Verschulteres als einen richti- die Mischna im Traktat Abot überliefert, so:gen Juden? Jede Synagoge ist mehr ein »Mit fünf Jahren zur Bibel,Lehrhaus als ein Bethaus. Ein rechter Chasid mit zehn zur Mischna,verbringt selbst als Familienvater dort noch mit dreizehn zur Gebotsbeobachtung,

8 4 Norbert Lohfink

mit fünfzehn zum Talmud,mit achtzehn ins Brautgemach,mit zwanzig zum Erwerbsleben.«2

Also je fünf Jahre für Bibel, Mischna undTalmud - dann kann die vita activa beginnen,in der das »Lernen« aber keineswegs auf-hört. Man lernt, lernt, lernt, und zwar lerntman auswendig. Man lernt Texte. Um ihreunablässige Aufrechterhaltung im öffentli-chen Bewußtsein herum gruppiert sich danndas übrige des menschlichen Lebens. Allesist den ständig rezitierten Texten zugeordnet.

Lebensnahe Jahweerkenntnis

Nun fragen wir von dort aus ins Alte Testa-ment zurück. Aber da geraten wir in Verle-genheit. Zunächst einmal wegen des Inhaltsder Texte, die gelernt und rezitiert werden.Für uns Christen besteht der »Glaube« ausTheoremen über Gott, Christus, Kirche,Eschata - man denke an unser Glaubensbe-kenntnis. Das, was der Jude lernt und rezi-tiert, ist nicht eigentlich von dieser Art. Esdient in immer feinerer Verästelung alleinder Aneignung des rechten menschlichenVerhaltens. Es geht auf »Willen Gottes«: aufSozialordnung, Ritual und Mitmenschlich-keit. Und das bleibt auch so, wenn man sichdann in der Zeit rückwärts bewegt, ins AlteTestament hinein.Man darf sich da nicht durch Wörter täu-schen lassen. Der Basistext alles Glaubens-lernens ist die »Tora«. Dieses Wort hatMartin Buber spitzbübisch mit »Weisung«übersetzt, und unsere Einheitsübersetzunghat das übernommen. Ursprünglich und ei-gentlich bedeutet törah durchaus » Unterwei-sung« — Lehre, Belehrung. Doch achtet manauf den Inhalt dessen, was uns in der Bibel alstörah präsentiert wird, dann sieht man: Es istvon vorn bis hinten »Anweisung« = Befehl,Gebot, Einschärfung von Praxis.Oder: Propheten wie Hosea und Jeremia

machen sehr viel aus der dä'ät JHWH, der»Erkenntnis Jahwes«, dem »Jahwe-Wis-sen«. Israel müßte seinen Gott kennen underkennen. Fehlt die Erkenntnis Jahwes, danndroht das Gericht. Der Terminus »Jahwe-Er-kenntnis« ist für uns deshalb so wichtig, weilim Alten Testament er eigentlich die Positioneinnimmt, die im Neuen Testament und beiuns dann dem Wort »Glauben« zukommt.Das hebräische 'mn, dessen Kausativ wirgewöhnlich mit »glauben« übersetzen, ist,auf das Verhältnis Israels zu seinem Gottbezogen, höchst selten und meint einenbesonderen Aspekt3. Nimmt man sich alsodä'ät JHWH vor und macht Kontextstudien,dann stellt man auch hier, ganz analog zumBefund bei törah, fest: Das »Jahwewissen«und die »Jahweerkenntnis«, die die Prophe-ten in Israel erwarten, sind wiederum keinrein theoretisches Wissen, noch nicht einmalnur ein Wissen über Praxis, eine Art Anwei-sung zum Leben, sondern meinen oft sogarschlicht die Praxis des jahwegläubigen Israe-liten selbst.. Wer seinem Bruder in IsraelTreue und Gerechtigkeit zuwendet, der hat»Jahweerkenntnis«4.Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, daßso etwas wie theoretische Glaubensaxiome imalttestamentlich-jüdischen Raum außeror-dentlich zurücktreten. Natürlich impliziertjede Praxis auch ihre Theorie, hängt beimJahwewissen, das Hosea erwartet, alles auchdaran, daß man Jahwe als den weiß, derIsraels Gott ist von Ägypten an (so Hos12,10). Trotzdem: Wenn überhaupt in Israelund in der Synagoge »Glaube« gelehrt undgelernt wird, dann auf eine ganz andereWeise praxisorientiert und viel weniger in-formationsbesessen als das bei uns der Fallist.Vielleicht ist hier schon ein Punkt, an demwir zum Fragen kommen können. Was hilftes, wenn wir einer heranwachsenden Gene-ration heilsgeschichtliche oder gar dogmati-sche Theorie vermitteln, die Praxis unsererGesellschaft aber dieser Theorie diametral

Glauben lernen in Israel 85

entgegensteht, und wir dann, wenn es zumEthikunterricht kommt, letztlich doch nichtsanderes tun als unsere Schüler auf eine miteinigen kleinen Reserven versehene Anpas-sung an diese Gesellschaft hin zu sozialisie-ren? Wo gibt es bei uns noch in gesellschaftli-chen Dimensionen gelebte, unterscheidbarchristliche Praxis und eine von ihr prozeßhaftablesbare und dann lehrend vermittelteHandlungstheorie? Wäre nicht das eigent-lich erst »Glauben lehren« im Sinne desAlten Testaments und des Judentums?

Wie ging es in den Schulen?

Doch wir geraten noch in eine zweite Verle-genheit, wenn wir uns auf der Zeitlinierückwärts in das alttestamentliche Israelbegeben. Die das Judentum seit zweitausendJahren auszeichnende Mystik des Lernens istin dieser Form nämlich erst das Werk derpharisäischen Bewegung. Sie war unter denÜberlebenstechniken, die das Judentum ver-sucht hat, die einzige, die durchhielt. Diepharisäische, um das beständige Lernen desGotteswillens schwingende Gesellschafts-konstruktion einer unterdrückten Minder-heit war lebenskräftiger und dauerhafter alsjeder jüdische Aufstand und jüdische Staat,als - so fürchte ich - vielleicht auch der neueStaat Israel, der noch einmal das Gottesvolk-sein auf die Weise des Königs David zuverwirklichen sucht. Aber diese GesellschaftGottes auf der Basis von Schule und Aus-wendiglernen ist erst im gewaltlosen Wider-stand der Frommen gegen die drückendeHasmonäerherrschaft erfunden, erst unterdem Leidensdruck der Römerherrschaftweiterentwickelt und erst nach dem FallJerusalems unter Titus und dem Scheiterndes Aufstands unter Bar-Kochba voll akzep-tiert worden. Vorher war Israel nicht so. Eswar - in unserem Sinn - viel normaler. Eswar auch - im kultischen Sinn - viel »religiö-ser«. Und da die Bücher des Alten Testa-

ments ja nicht geschrieben wurden, umirgendwelche Historiker des 20. Jahrhun-derts über die Einzelheiten der alttestament-lichen Lebenswelt zu informieren, wissen wiraus unseren Quellen eigentlich gar nicht sogenau, wie und in welchem Maße man imalten Israel vor dem pharisäischen Lernim-puls seinen »Glauben« »lernte«.Natürlich gab es Schulen im alten Israel, auchschon vor dem babylonischen Exil. Gerade inden letzten Jahren ist uns da einiges bekanntgeworden, was wir früher kaum ahnen konn-ten5. Ausgrabungen haben Schülerübungenselbst aus vorstaatlicher Zeit zutagegeför-dert. Aus der staatlichen Zeit wurden solcheSchülerübungen nicht nur in den wichtigenStädten gefunden, sondern selbst in denletzten Vorposten der Zivilisation, etwaKuntilat-Ajrud am Rand der Sinaiwüste. Inmanchen Fällen läßt sich darüber streiten, obein aufgefundenes Fragment gerade eineSchülerübung ist. Aber in andern ist dieSache völlig klar, etwa wenn ein Lehreretwas mit sauberer Schrift vorgeschriebenund der Schüler es dann in der folgendenZeile mit ungelenker Hand nachgeschriebenhat. Wir wissen jetzt: Etwa im 8. Jahrhundertvor Christus nahm die Alphabetisierungsprunghaft zu. Es scheint dann ein dreifachgegliedertes Schulsystem gegeben zu haben.Elementarschulen gab es allerorten; mittlereSchulen, die für Verwaltungs- und Offiziers-tätigkeit ausbildeten, in wichtigeren Städten;und in Jerusalem hohe Schulen im Palast undim Tempel, wo man für Regierungsämter,Diplomatenposten unl hohe Priesterstellenerzogen wurde und auch fremde Sprachenlernte. Andre Lemaire meinte vor kurzem,gegen Ende der Königszeit, also im 7. Jahr-hundert, hätten in Juda wohl alle Eltern, diees wünschten, ihre Kinder in die Schuleschicken können6.

Nur: In welchem Ausmaß hat man in diesenSchulen den »Glauben« gelernt? Zweifellosfielen die verschiedenen Lebensbereiche da-mals nicht so auseinander wie in unserer

o 6 Norbert Lohfink

heutigen komplexen Gesellschaft. DerGlaube war auch in der Schule selbstver-ständlich dabei. Im ganzen alten Orientwaren die ersten richtigen Texte, an denenman im Elementarunterricht Lesen undSchreiben übte und die doch zugleich schoneine volle gesellschaftliche Internalisierungs-funktion hatten, Sprichwortsammlungen.Aus dem Israel der Königszeit sind uns dieSammlungen dieser Art in Spr 10—29 erhal-ten. Hier wird auf eine unglaublich intensiveund uns leider ganz abhanden gekommeneWeise den jungen Menschen »Welt« vermit-telt, in all ihren Dimensionen, in ihrerRationalität und Unbegreiflichkeit zugleich7,und wie selbstverständlich kommt darin auchJahwe immer wieder vor.Aber war das schon das Glaubenlernen, daswir meinen? Aus den Funden in KuntilatAjrud kennen wir das Briefformular, dasdort den Buben beigebracht wurde. Damalsbegann ein Brief mit einem Segenswunschfür den Empfänger, und so steht im Briefan-fang notwendigerweise auch der Name desGottes Israel. Nur: Die Segensformel desFormulars von Kuntilat Ajrud läßt sichfolgendermaßen rekonstruieren: »Ich spre-che Dir Segen zu vom Jahwe von Samariaund von seiner Aschera; er segne Dich und erbehüte Dich und er sei mit (Dir,) meinemHerrn.« Und jetzt dürfen sich die Hebraistenstreiten, was das heißt8. Ist die »Aschera«eine Göttin, und dann natürlich Jahwesgöttliche Gemahlin? Oder ist es nur einKultsymbol, das in Samaria neben demJahwealtar stand und von dem der Segengewissermaßen mitausging - ein »Kult-pfahl«, wie die Einheitsübersetzung sagt?Oder auch beides zugleich? Auf jeden Fallbegegnen wir hier am Rande der Sinaiwüsteim 8. Jahrhundert durchaus nicht jenerjahwistischen Orthodoxie, die einen KönigJoschija dann am Ende des 7. Jahrhundertsdazu brachte, nicht nur im ganzen Land alle»Aschera« genannten Kultpfähle umhauenzu lassen, sondern überhaupt alle Heiligtü-

mer dem Erdboden gleich zu machen und dieJahweverehrung allein auf den Tempel vonJerusalem zu konzentrieren - wo er undseine Priester den rechten Glauben unterKontrolle halten konnten.Die Schule von Kuntilat Ajrud war offenbarein ganzes Stück von diesem rechten Glau-ben entfernt. In ihr wehte religiös internatio-nale und pluralistische Luft. Auf einem derKrüge, auf die der Briefanfang geschriebenwar, sind auch Übungen aus dem Zeichenun-terricht. Unter ihnen befinden sich zweiDarstellungen des bisexuellen ägyptisch-in-ternationalen Gottes Bes mit mächtigemmännlichem Glied zwischen den Beinen9.Daher war das während der staatlichen Zeitin Israel ausgebaute Schulsystem, ohne ir-gendwie prinzipiell antijahwistisch zu sein,doch vermutlich keineswegs der Ort, wo derMensch den Glauben Israels lernen sollte.Eher wurden ihm dort vom Lebensgefühl derinternationalen Weisheit her unmerklich diePlausibilitäten des Jahweglaubens entzogen.

Nachahmung und Mitleben

Die wirklichen Orte des Glaubenlernenswerden die uralten gewesen sein. Vor allemdie Familie. Dann die Heiligtümer und ihrKult. Bei ihnen wäre noch einmal zu unter-scheiden zwischen den lokalen Heiligtümern(unseren Pfarrkirchen und dem, was sich ansie rankt, vergleichbar) und den Wallfahrts-heiligtümern (heute etwa Taize oder denKatholikentagen vergleichbar). Doch wederin den Familien noch an den Heiligtümernwurde wohl im engeren Sinn des Wortes»gelernt«. Sicher gab es so etwas wie»Texte«, die man sich aneignete, zumindestGebete und Lieder. Aber in der Hauptsachewurde der normal gelebte oder im Fest sichzum Ausdruck bringende Glaube ohne allzu-viel Reflexion durch Mimesis und Mitlebenübernommen.Überdies gab es so etwas wie Rollenträger

Glauben lernen in Israel 8 7

des Jahweglaubens: die Leviten und diePropheten. Von den Leviten wissen wir ausdieser Periode kaum etwas. Von den Prophe-ten vermuten wir, daß sie für ihren Nach-wuchs so etwas wie eigene Schulen hatten,aber eben nur für ihren Nachwuchs10. An dennächsten erreichbaren Propheten wandtesich die Familie, wenn jemand krank wurdeoder wenn andere Nöte entstanden, wennsich zum Beispiel die Eselinnen verlaufenhatten. Wenn der Prophet dann zu Jahwebetete, wenn er ein klärendes und helfendesWort sprach, wenn er in Jahwes Namen denKranken heilte, dann drang auch wieder einStück neuer Jahweplausibilität in die Familieein. Doch auch das war spontanes Gesche-hen, keine institutionalisierte Anwendungvon Lerntechniken11.

Krisen

Allerdings müssen wir uns für die voran-schreitende staatliche Zeit — vielleicht schonvom 9., sicher aber vom 8. Jahrhundert ab— fragen, wie weit diese Gestalt der ehergelebten als reflexen Weitergabe des Jahwe-glaubens überhaupt noch griff. Wir wissen daeiniges Bedenkliche. Die Frauen fandenallmählich Geschmack daran, Rosinenku-chen für die Himmelskönigin zu backen,den fruchtbarkeitsspendenden göttlichenAbendstern. Und im Hinnomtal übergaben

selbst Könige von Juda ihre Babys denheiligen Flammen, um Moloch zu besänfti-gen, den König der Unterwelt, den kinder-fressenden Morgenstern. Die Heiligtümerstaffierten sich mit neuen Kultsymbolen undRiten aus - wohl nie direkt gegen Jahwe,aber neben ihm oder ihn uminterpretierend.Das alles spiegelte nur, was sich an eigentlichgesellschaftlichen Umbauten tat - also indem Bereich, für den Jahwe, der Gott Israels,von Anfang an am sensibelsten gewesen war.Und die wenigen Propheten Jahwes, dieöffentlich gegen die zunehmende Ausbeu-tung der unteren Klassen und gegen denmenschenmordenden Spaß an der Machtpo-litik und am Kriegführen auftraten und andas alte Ideal der egalitären Jahwegesell-schaft erinnerten, waren Einzelgänger. Ge-gen sie stand die Masse der Propheten, diesich längst angepaßt hatten. Die Lehrer anden Schulen rümpften über die Jahwefanati-ker die Nase. Die königliche Polizei zwangnoch jeden bald in den Untergrund, falls mannicht gleich zu Festnahme und Hinrichtungschritt. So war offenbar das, was man die»natürliche« Weitergabe des Jahweglaubensnennen könnte, eine prekäre Sache gewor-den. Dort, wo gelernt wurde, in den Schulen,wurde nicht der Glaube gelernt. Dort, wo erohne Lernsysteme einfach durch Leben hätteweitergegeben werden sollen, entschwand erfast unbemerkt aus dem Leben.

Zu den folgenden Bildern

Diese Bilder sind Motive der Stationen zwei bis sieben des diesjährigen ökumenischen Kreuzweges der Jugend »Dumachst meine Finsternis hell«.Kann in diesen Radierungen von Josef Hegenbart nicht eine ganz zentrale Dimension des Themas dieses Heftessichtbar werden?Glauben lernen führt irgendwann an den Punkt, wo Erfahrungen benannt, wo Entscheidungen bewußt werden. Wieverhalten sich dann gelebte und gedeutete Geschichte zur Person und Geschichte dessen, von dem her christlicherGlaube Name und Profil erhält? Welche Rolle spielen wir im unabgeschlossenen Prozeß des Glaubens, der inmanchen Stücken widergespiegelt wird in jenem Prozeß, den man Jesus gemacht hat. Für beide gilt: die Verfahrenlaufen.

Plakate, Texthefte, Diaserie und Schallplatte zum diesjährigen Kreuzweg der Jugend sind zu beziehen überJugendhaus Düsseldorf e. V., Postfach 32 0520, 4000 Düsseldorf 30.

8 8 Norbert Lohfink

Das deuteronomische Phänomen

Genau in dieser geschichtlichen Konstella-tion kam es dann allerdings zum ersten füruns wirklich greifbaren Versuch, den Glau-ben Israels durch Lernen wieder stark zumachen. Dieser Versuch hat sich im BuchDeuteronomium niedergeschlagen.

Geschichtliche Hintergründe

Um das deuteronomische Phänomen in denBlick zu bekommen, muß man zunächst überDavid und Salomo nachdenken. Diese bei-den großen Männer haben Israel zum Staatgemacht. Das palästinensische Imperium l erPhilister war dabei, die allein personal, nichtterritorial definierbaren Jahwestämme, diesich Israel nannten, zu verschlucken. Davidrettete diese dezidiert antifeudale und anti-staatliche, akephal-segmentäre Stämmege-sellschaft, indem er sie in einen normalenTerritorialstaat mit Hauptstadt, Führungseli-te und stehendem Heer verwandelte. DieserStaat umfaßte nun nicht mehr nur die altenJahwestämme. Trotzdem wurde Jahwe überihn als Staatsgott gesetzt (und ebenso, als erauseinanderbrach, dann auch über die bei-den Nachfolgestaaten). Jahwe erhielt einenneuen, nationalen Kult. Jahwes altes Inter-esse an einer gerechten Gesellschaft wurdenicht in Frage gestellt. Es sollte in dem neuenMachtgefüge sogar einen neuen, besserenVerwirklichungsrahmen erhalten. Salomohat auch durch eine literarisch erstaunlichhochstehende Staatspropaganda (uns nochgreifbar in Texten wie der Ladeerzählung,der Geschichte vom Aufstieg Davids, derJ <sefsnovelle, ja, wohl dem ganzen jahwisti-schen Geschichtswerk12) den neuerrichtetenStaat geradezu als das geheime Ziel allerbisherigen Wege Jahwes plausibel zu machenverstanden13. Diese Schriften mögen in denhöheren Schulen Jerusalems dann zum obli-gaten Lesepensum oder doch mindestens

9 0 Norbert Lohfink

zum Bibliotheksbestand gehört haben - wieanders wären sie uns sonst erhalten ge-blieben?Doch faktisch ging die Rechnung Davids undSalomos nicht auf. Die Struktur »Staat«hatte ihre eigene, nicht zu den Intentionender früheren Jahwegesellschaft passendeDynamik. Am Anfang war der Staat wohlnur wie eine Glocke über die darunterweiterlebenden segmentären Strukturen ge-stülpt gewesen. Aber langsam fraß er sich indie Gesellschaft hinein. Die sich ausbreiten-de Schulbildung wird nur ein Faktor nebenanderen gewesen sein. Wichtiger war dasWachsen horizontaler Gesellschaftsschich-tung, der immer größere Unterschied vonReich und Arm. Zur Plausibilitätskrise desganzen Systems, vor allem aber auch desJahweglaubens, kam es dann durch denUntergang des Nordreichs und seine Ver-wandlung in assyrisches Reichsgebiet, demdie Unterwerfung des Südreichs unter assyri-sche Oberhoheit parallel ging. Das bedeuteteaußenpolitische Unselbständigkeit, wirt-schaftliche Ausbeutung und massiven Kul-turdruck14. Jahwe war nicht mehr plausibel,und die Frauen Jerusalems begannen, derHimmelskönigin Honigkuchen zu backen.Die Gesamtsituation war pluralistisch ge-worden.David und Salomo hatten sich geirrt. Oderwar ihr Ansatz doch richtig, und man hatteunterwegs nur Fehler gemacht? Genau diesist die Hypothese, von der die Könige Hiskiavon Juda und Joschija von Juda, mit denenwir die deuteronomische Reform verbindenmüssen15, und der von ihnen beschäftigteBraintrust, der das Deuteronomium undalles, was man als »deuteronomistisch« be-zeichnet, zumindest in seinen vorexilischenBestandteilen produziert hat16, ausgegangensind.Sie waren der Meinung, man müsse den Staatnur so ummodellieren, daß die Prinzipien deralten, vorstaatlichen Jahwegesellschaft inihm gelebt werden können, ja müssen-dann

werde auch wieder der Segen einziehen. Das,was sich im Laufe von vierhundert JahrenStaatlichkeit immer deutlicher als Antithesegezeigt hatte, versuchten sie jetzt doch nocheinmal in eine Synthese hineinzuzwingen. Sieprojektierten die nationale Bekehrung zurJahwegesellschaft im Jahwestaat.Daß sie nach dieser langen Zeit überhauptnoch einen Zugang zur vorstaatlichen Kon-zeption Israels besaßen, muß nicht nur aneiner guten Bibliothek in Jerusalem gelegenhaben. Seit den Anfängen unter David dürftees vielmehr immer so etwas wie eine anti-staatliche Nostalgie, ja einen antistaatlichenUntergrund gegeben haben. Nur in solchenDissidentenkreisen kann man zum Beispieldafür gesorgt haben, daß das deutlich miteiner antijerusalemer Spitze versehene Bun-desbuch (Ex 20,22-23,33) als Sammlungvon vorher nur mündlich tradierten Rechts-traditionen aus dem vorstaatlichen Israelniedergeschrieben und damit für erhofftebessere Zeiten erhalten wurde17. Es müssenbestimmte Familien gewesen sein, die ein-fach nicht mitmachten, und vor allem be-stimmte Prophetengruppen. Vielleicht ge-lang es ihnen im Nordreich leichter zuüberwintern als im Südreich18. Dann hättensie vielleicht gerade nach dem UntergangSamarias als Flüchtlinge und Emigrantenauch ihr altes Jahwewissen nach Jerusalemmitgebracht.

Das Deuteronomium

Jedenfalls griff man, als in Jerusalem sowohldem Staat als auch dem Jahweglauben dasWasser am Hals stand, auf das mit derradikalen Alleinverehrung Jahwes gekop-pelte Gesellschaftsideal der vorstaatlichenZeit zurück. Man versuchte, den Staat soumzumodeln, daß er, ohne aufzuhören, Staatzu sein, doch zugleich neu zur Jahwegesell-schaft wurde. Dem diente zweifellos dieKultzentralisation. Sie mußte einen Neube-

ginn im gottesdienstlichen Verhalten nachsich ziehen. Dem diente die Schaffung einesGesetzeskorpus, das die Rechtsstrukturender Frühzeit wiederbelebte und sie zugleichden neuen Verhältnissen adaptierte. Demdiente schließlich die Schaffung einer theolo-gischen Systematik, vor allem mit Hilfe desdamals von Assur her modischen Bundesge-dankens, verbunden mit einer ganz neuen,am assyrischen Prunkstil geschulten rhetori-schen Sprache. So erhielten die alten Tradi-tionen Durchsichtigkeit, Kohärenz und Ein-druckskraft19. Doch wie konnte man dieneue Konzeption auch in den Hirnen derMenschen durchsetzen?Natürlich stand dem Staat die Macht zurVerfügung. Bei Joschija wuchs sie sogar imgleichen Maß, in dem die Macht des zerfal-lenden Assyrerreiches verblaßte. Trotzdemkonnte Zwang nicht genügen. Es ging ja umdie Schaffung eines neuen Bewußtseins. Undhier ist nun die Stelle, wo zum erstenmal inder Geschichte Israels zugunsten des Jahwe-glaubens geradezu technokratisch zum »Ler-nen« gegriffen wurde.

Doch zunächst noch ein Hinweis! Das BuchDeuteronomium hat später, nach dem trotzder joschijanischen Reform eingetretenenUntergang auch des Staates Juda im Jahre586 dann noch eine weitere Geschichte imbabylonischen Exil gehabt. Die Kreise, die esin Jerusalem geschaffen hatten, haben inBabylon daran weitergearbeitet. Nun solltees nach der erhofften Heimkehr aus dem Exildie Basis des dann zu errichtenden neuenStaates »Israel« werden. Im einzelnen ist eshöchst umstritten und oft gar nicht zu klären,was im Buch Deuteronomium schon ausvorexilischer, was erst aus exilischer Zeitstammt. Ich nehme deshalb im folgenden dasBuch und seine Lernkonzeption als eineEinheit. Das muß keine Verfälschung sein.Der Gesellschaftsentwurf des Deuterono-miums wurde nach dem Exil nicht verwirk-licht. Aus den Heimkehrenden wurde keinStaat mehr. So ist das exilische Deuterono-

Glauben lernen in Israel

mium gerade hinsichtlich der uns interessie-renden Aspekte der lehrenden Vermittlungdes Glaubens nicht eine Weiterentwicklungaufgrund neuer Erfahrungen, sondern ehernur reflektierter Ausbau des Ansatzes ausder joschianischen Zeit.

Der Schlüsseltext zumGlaubenlernen

Der Schlüsseltext zum Glaubenlernen stehtinDtn6,4-920:

Höre, Israel!Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig!Darum sollst du Jahwe, deinen Gott, liebenmit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzerKraft!Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte,sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen21.Du sollst sie deine Söhne wiederholen lassen22.Du sollst sie rezitieren,wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straßegehst,wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst.Du sollst sie dir als Zeichen ums Handgelenk legen.Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirne werden.Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses schreiben,ja an die Wände deiner Stadttore23.

Wer ist hier angeredet? Nach dem Anfangdes Texts zweifellos ganz Israel, also alle inIsrael. Jeder also soll »diese Worte« auswen-dig kennen - denn das meint die hebräischeWendung, daß sie auf dem Herzen geschrie-ben sind, gewissermaßen auf den Schreibta-feln des Herzens. In Dtn 30,14 heißt es, das»Wort« sei dem Israeliten ganz nah undvertraut, denn es sei »in seinem Mund«, erpflege es zu rezitieren, und das könne er, weiles - zuvor schon - »in seinem Herzen« sei,weil er es auswendig kenne.Um welches »Wort« handelt es sich? Wassind die »Worte, auf die« Mose »dich heuteverpflichtet«? In dem Text aus Dtn 30 ist eszweifellos das ganze deuteronomische Ge-setz. Hier in Dtn 6 liegt es zwar nah, vomspäteren jüdischen Brauchtum der Tefilimund der Mesusah her nur an die vorangehen-

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den Sätze von Jahwe, dem einzigen GottIsraels, und vom Gebot der Gottesliebe zudenken, vielleicht auch noch an den imKapitel 5 stehenden Dekalog. Aber einegenauere Untersuchung der deuteronomi-schen Terminologie zeigt, daß auch hier dasganze deuteronomische Gesetz gemeint war,zumindest der Text von Kapitel 5 bis Kapitel2624. Natürlich ist das Bekenntnis zur Einzig-keit Jahwes und die Forderung der Liebe zuJahwe gewissermaßen das Zentrum diesesGesetzes, in dem schon alles andere mit-enthalten ist25. Aber wenn hier sehr konkretvom Auswendigwissen gesprochen wird,dann sind nicht nur zwei kleine Verse ge-meint. Gemeint ist ein recht umfangreicherText, der gelernt werden muß.

Beständiges Rezitieren

Deshalb wird sofort vom Lehren und Lernengesprochen. Die heranwachsende Genera-tion soll sich den Text des Deuteronomiumsmit jenen Techniken aneignen, die in denSchulen üblich sind. Soll das vielleicht in denSchulen selbst geschehen? Eher sind dieVäter angesprochen, obwohl die Rede vonden »Söhnen« in jener Kultur nicht eindeutigist. Denn auch die Lehrer in der Schulewurden als »Väter« und die Schüler als deren»Söhne« bezeichnet. Trotzdem ist offenbarnicht an den speziellen Ort der Schule und anspezielle Unterrichtszeiten gedacht. Viel-mehr soll dieses gemeinsame Rezitieren desTextes gewissermaßen allgegenwärtig vorsich gehen. In der Dimension des Raumes:sowohl zu Hause, im privaten Bereich, alsauch auf der Straße, wenn man sich in derÖffentlichkeit bewegt. In der Dimension derZeit: abends bis zum Schlafengehen undmorgens sofort wieder vom Aufstehen an.Hier ist offenbar an eine Jugend gedacht, diesozialisiert wird, indem sie neben den Elternherläuft und deren Leben mitlebt. Das dabeibeständig weiter geführte Rezitieren des

Glaubenstextes wird recht bald den Charak-ter des gleichsam schulischen Lernens verlie-ren und zu einem gemeinsamen lauten Medi-tieren werden, dem mittelalterlichen Rosen-kranzbeten vergleichbar, oder dem Aufsa-gen der 99 Namen Allahs bei den Moham-medanern oder dem Psalmenaufsagen derägyptischen Anachoreten beim Matten-flechten.Schließlich wird der Text sich selbst beimAtmen sprechen. Man lebt in ihm wie ineiner Landschaft. Er bringt sich auch vonaußen immer wieder in Erinnerung. Dennvorn am Turban, den man nach dem Ausweisassyrischer Reliefs damals in Juda als Kopf-bedeckung trug, soll der Israelit sich eineBrosche anstecken, die ihn als jahwezugehö-rig zeichnet - genau so, wie die Hierodulender Liebesgöttin sich durch ihren Stirn-schmuck als der Ischtar zugehörig bekann-ten. Auch der Armreif soll das ZeichenJahwes tragen26. An der hellsten Stelle desWohnraums, am Türpfosten, soll ein Text ausdem Deuteronomium auf den weißen Wand-verputz gemalt sein, und solche Texte sollenauch auf den Wänden der Torhalle desStadttors stehen, wo die Bürgergemeindesich zu versammeln pflegt27. Wir sehen: Dtn6,6-9, dieser Text über das Lernen desneuen, umfangreichen Glaubenstextes Isra-els, führt uns weit über alles Lerntechnischehinaus in das normale Lebensgeschehen, dasallerdings ganz und gar von diesem Textbegleitet sein soll.

Situationsorientiert undsituationsreflektierend

Das wäre, wenn auch in erstaunlich lebens-verbundenem Ausmaß, dennoch textorien-tiertes Glaubenlernen. Doch das Deuterono-mium weist dann in sich selbst zugleich an,wie der Glaube auch situationsorientiert undsituationsreflektierend gelernt werden kann.Der klassische Fall ist die jährliche Familien-

wallfahrt nach Jerusalem, bei der in einemKorb die Erstlinge der Feldfrüchte mitge-nommen werden. Sie war wohl identisch mitder Wallfahrt am Laubhüttenfest. Nach derDarbringung spricht der Familienvater dassogenannte kleine historische Credo. Esdeutet den Segen der jetzigen Ernte alsFrucht der Befreiung der Ahnen aus der Notin Ägypten durch Jahwe (Dtn 26,5-10)28.Wohl bei der gleichen Gelegenheit sprichtder Vater auch in jedem dritten Jahr eineErklärung, er habe in voller Weise so, wieJahwe es will, für die Armen gesorgt(26,13-15). Der Gang des Jahres führt alsozu einer Station, wo der Familienvater sichund andern öffentlich die Wirklichkeit seinesLebens deutet. Solch ein Bekenntnis kannauch in spontan erstehenden Situationennötig werden, und auch hierzu gibt dasDeuteronomium einen Vorentwurf. Wennnämlich den Kindern, die in dieser wahrenKontrastgesellschaft heranwachsen, der Un-terschied zu den umgebenden Völkern auf-geht und sie die Eltern fragen, warum dieIsraeliten denn nicht so leben wie die ande-ren, dann muß ihnen geantwortet werden.Wie die Antwort laufen könnte, ist in Dtn6,21-25 vorformuliert29. Wieder handelt essich um ein kleines historisches Credo. Viel-leicht haben wir hier einen Hinweis darauf,was eigentlich der »Sitz im Leben« vonsogenannten »Kurzformeln des Glaubens«sein sollte, wie sie heute immer wiedergefordert werden, aber offenbar nicht gelin-gen wollen.

öffentliches Lernritual

Neben das Lernen und Rezitieren desGrundtextes des Glaubens und neben die indiesem Text vorentworfene gläubige Deu-tung voraussehbarer Lebenssituationen trittdann im Deuteronomium noch eine dritteGestalt des Lernens. Sie ist für uns vielleichtam befremdendsten. Man könnte vom »fest-

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liehen Lernritual« sprechen. Die Anweisungdazu steht in Dtn 31,10-13:

Am Ende jedes siebten Jahrs,in einer der Festzeiten des Brachjahres,nämlich beim Laubhüttenfest,wenn ganz Israel zusammenkommt,um an der Stätte, die Jahwe auswählt,das Angesicht Jahwes, deines Gottes, zu schauen,sollst du diese Tora vor ganz Israel laut vortragen.Versammle das Volk- die Männer und Frauen, Kinder und Greise,auch die Fremden, die in deinen Stadtbereichen Wohn-recht haben - ,damit sie zuhörenund damit sie lernenund Jahwe, euren Gott, fürchtenund darauf achten, daß sie alle Worte dieser Tora halten.Vor allem ihre Söhne, die noch keine Kenntnis haben,sollen zuhörenund lernen, Jahwe, euren Gott, zu fürchten30.

In Wirklichkeit ist allen hier Beteiligten dervorgetragene Text voll bekannt. Es ist eineFiktion, daß die Kinder ihn erstmalig hören,denn sie schlafen ja jede Nacht neben ihremVater, der ihn beim Schlafengehen und beimAufstehen rezitiert. Nur 50, als von denlevitischen Priestern und den Ältesten vorge-sprochene und von den versammelten Tau-senden im Chor nachgesprochene sprach-liche Brandung, haben sie ihn noch nichterlebt. Aber genau da erleben sie ihn eigent-lich erst in seiner vollen Realität. Bei diesemLernen entsteht in ihnen jener innere Schau-der und jene innere Faszination, die dasDeuteronomium als die »Furcht Jahwes«bezeichnet. Ihr archetypischer Ort ist dieOffenbarung am Horeb, der »Tag der Ver-sammlung« (Dtn 18,16) in seiner Urgestalt,der Tag des Bundesschlusses, wie er amAnfang der rezitierten Tora, in Dtn 5, ge-schildert wird. Im rituellen Spiel des Lernenseines ganzen Volkes gerät dieses wieder indie Ursituation hinein, aus der seine Lebens-ordnung entspringt31. Das geschieht in demAugenblick, wo es von neuem als Gottesvolkin ganzer Reinheit hergestellt ist. Denn dieSchulden, die ein Volksgenosse gemacht hat,werden ihm im 7. Jahr erlassen (Dtn 15,1-6).Wer wegen seiner Schulden Sklave geworden

war, wird in diesem Jahr freigegeben underhält soviel an Gütern, daß er eine neueExistenz beginnen kann (15,12-18). Dieursprüngliche Egalität und Bruderschaft vorJahwe ist wieder da, und das höchste undfreudigste der Feste ist gekommen, wo dasganze Volk in Jerusalem eine rauschendesiebentägige Fete bei Essen, Trinken undTanz feiert (16,13-15). Mitten in diesemFest ereignet es sich dann: In einem öffentli-chen Lernritual steht Israel als »Versamm-lung« wieder am Horeb, und die GesellschaftJahwes wird im kollektiven Bewußtsein neugeboren. Was früher vielleicht der Opferkultgeleistet hat, selbst das ist jetzt vom Lernengeprägtes Ritual in einer unglaublich säkula-ren, jedoch keineswegs das große Fest ent-behrenden Gesellschaft.

Lernen für künftige Katastrophen

Es gibt sogar noch eine vierte Form desLernens: Lernen gewissermaßen auf Vorratfür den Katastrophenfall. Unmittelbar nachder Anweisung zum großen Lernritual injedem siebten Jahr lehrt Mose die Israelitennoch ein »Lied«, das sie ebenfalls durch dieGenerationen weitergeben und rezitierensollen32, das sogenannte Moselied, Dtn32,1-43. Es ist, nun in poetischer Form,nochmals so etwas wie ein historischesCredo, selbst den Abfall Israels und denvernichtenden Zorn Jahwes miteinschlie-ßend, ebenso allerdings dann Hoffnung ma-chend auf neue Zuwendung Jahwes zu sei-nem Volk nach der Katastrophe. Selbst diesean sich niemals wünschenswerte Randmög-lichkeit der Geschichte der Jahwegesell-schaft wird also lernend schon im voraus zubewältigen versucht.

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Der Entwurf eines lernendenJahwestaates

Auch damit ist noch lange nicht alles gesagt,was im Zusammenhang mit dem Deuterono-mium vom Thema »Lehren und Lernen« zuberichten wäre. Denn neben diesen Ortsan-weisungen für das Lernen in der vom Deute-ronomium angezielten Synthese von Staatund Jahwegesellschaft gibt es nun auch nochso etwas wie eine alles fundierende Theolo-gie des Lernens. Jahwe ist der große, gött-liche Erzieher Israels, und Mose ist der großearchetypische Lehrer Israels33. Es gibt fernerbestimmte Rollen in Israel, die bezüglich derTora besondere Aufgaben übernehmen:Priester, König und Propheten34. Undschließlich müßte das Wort Tora, dieseSelbstbezeichnung des Deuteronomiums,näher untersucht werden35. Im Fall desDeuteronomiums würde man vielleicht docham besten einfach mit »Lehre« übersetzen.Noch wichtiger ist aber die Frage, welchenInstitutionen dieser deuteronomische Ge-sellschaftsentwurf für das Lernen des Glau-bens nichts mehr zutraut. Es ist die »Schule«,deren Herauslösung aus dem weisheitlichenBildungspluralismus man sich offensichtlichnicht mehr vorstellen kann, und es ist der»Kult« des alten Typs, also der lokale Kultund selbst am Wallfahrtsort das früher allesbestimmende latreutische Opferritual. ImDeuteronomium wird die ganze Hoffnungfür die lernende Aneignung des Glaubenseinerseits auf die Familie geworfen, die dafürauch Techniken der Schule übernehmenmuß, und andererseits auf die große allge-meine Volksversammlung, die auch dasübernimmt, was früher der hohe Kult lei-stete.

Vielleicht erscheint uns dieser Entwurf eineslernenden Jahwestaats sehr weit weg vonunseren Problemen. Allerdings gibt es auchseltsam erregende Berührungspunkte. Dochwir sollten nie vergessen, daß dies alles imwesentlichen Utopie geblieben ist, zumin-

dest wenn man es als Gesamtsystem nimmt.Die geschichtlichen Ereignisse nach dembabylonischen Exil haben es überrollt.

Die nachexilische Tempelgemeinde

Nach der Heimkehr entstand eine viel mehrkultisch orientierte neue Wirklichkeit. Eswar die als Subsystem innerhalb des Perser-reiches wie in einer Nische eingelasseneTempelgemeinde36.Die Verfasser der deuteronomistischen Lite-ratur scheinen am Ende ihrer Tätigkeitgespürt zu haben, daß der Aufbau derGesellschaft Gottes durch allbeherrschendes»Lernen« des »Glaubens« eigentlich nochnicht das Ende der Wege Jahwes sein kann.Denn dann hängt ja doch noch alles ammenschlichen Tun, und das ist nie verläßlich.In der gegen Ende des Exils formuliertenWeissagung vom »Neuen Bund« haben sieim Jeremiabuch für die Zeit nach der Heim-kehr eine Gesellschaft verheißen, in der dieTora nicht mehr gelernt werden muß, weilJahwe sie schon jedem ins Herz gegeben hat.Denn:

»Keiner wird mehr den anderen lehren müssen.Keiner wird mehr seinem Bruder sagen müssen: LerneJahwe kennen!Vielmehr werden mich alle kennen,vom Kleinsten bis zum Größten (Jer 31,34)37.«

Während das formuliert wurde, arbeitetendie Autoren der Priesterschrift schon aneiner eigenen Neudarstellung der Heilsge-schichte und einem neuen Gesellschaftsent-wurf für Israel. Ihr Konzept war von uraltenkultischen Kategorien her gedacht und standin diametralem Gegensatz zu dem eigentlichunglaublich säkularen deuteronomischenImpuls38.Was dann nach der Heimkehr in Jerusalementstand, vereinte Elemente aus beiden Ent-würfen. Doch anderes blieb auf der Strecke,und so aus dem deuteronomischen Entwurfwohl auch die zentrale und auf Familie und

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große Festversammlung konzentrierte Rolledes Lernens.Selbstverständlich wurde auch in der nach-exilischen Tempelgemeinde gelernt. Aberoffensichtlich vor allem wieder in der Schuleund auf die alte Weise der Schule. Allmählichwurden die typischen Inhalte des GlaubensIsraels, wie sie nun im Pentateuch, in denGeschichts- und Prophetenbüchern zusam-mengefaßt wurden, auch in die im Elemen-tarunterricht benutzte Weisheitsliteraturselbst hineingezogen. Neue Schulbücher ent-standen, etwa Spr 1-9 oder später JesusSirach. Doch parallel dazu geriet in denfolgenden Jahrhunderten das JerusalemerSchulsystem auch in den Sog der hellenisti-schen Bildung und war wesentlich an jenerinneren Aushöhlung der kultzentriertenTempelgemeinde beteiligt, auf die dann wie-der der Makkabäeraufstand die Reaktion imNamen des alten Glaubens war39.

Die Pharisäer und Jesus

Auch dieser Aufstand war vergebens. Ermündete wieder in einen Staat, und zwar ineinen, dessen wesensbedingte Jahwefernenicht mehr so lange wie die des StaatesDavids brauchte, um sich voll zu zeigen. Inder so entstehenden Not der Hasmonäerzeitkam es mit der pharisäischen Bewegung zujenem neuen Impuls der Konstruktion einerJahwegesellschaft um die synagogalen Lehr-häuser herum, von dem unsere Überlegun-gen ausgegangen sind. Der pharisäische An-satz hat zweifellos viel von der deuteronomi-schen Konzeption des Glaubenlernens ge-lernt. Trotzdem ist er etwas Neues miteigener Gesamtgestalt. Er hat seinen eigenenReiz und seine eigenen Gefährdungen. Erwill vor allem die Jahwegesellschaft nichtmehr als Staat - doch keineswegs deshalbweniger als »Gesellschaft«.Als Jesus auftrat und als die frühen christli-chen Gemeinden entstanden, war die phari-

säische Bewegung eine unter vielen. Wirmachen uns vielleicht oft zu wenig klar, wienah Jesus ihr stand. Er wird von der in denEvangelien erhaltenen christlichen Traditionvor allem anderen als »Lehrer« bezeichnet,und die, welche sich ihm anschlössen, alsseine »Schüler« (unser bibelsprachlichesSonderwort »Jünger« ist völlig irreführendund verschleiert diesen Sachverhalt). Erlehrte allerdings anders als die pharisäischenLehrer: »wie einer, der Macht hat«. Dochdas darf uns nicht vergessen machen, daß ereben »lehrte«40. Wir müßten viel genauerfragen, inwiefern jene Kontrastgesellschaft,als die die frühen christlichen Gemeindensich verstanden, nicht ähnlich wie die Gesell-schaft des Deuteronomiums und die phari-säische Gesellschaft entscheidend um Leh-ren und Lernen des Glaubens herum kon-struiert war. Die bittere Trennung der christ-lichen Kirche vom jüdischen Mutterbodengenau in dem Augenblick, als dort daspharisäische Konzept sich durchsetzte, zeigtzwar, daß man mit sehr tiefgreifenden Unter-schieden rechnen muß — doch könnten siesich auf die Weise des Lehrens und auf denInhalt der Lehre beziehen, und keineswegsnotwendigerweise darauf, daß die »Lehre«und das »Lernen« in der Konstruktion dieserneuen, auf Jesus, den Lehrer, aufbauendenKontrastgesellschaft weniger bedeutsam ge-wesen wäre.

Fazit: Lernen derKontrastgesellschaft Gottes

Doch hier endet die Kompetenz des Altte-stamentlers. Er kann nur noch versuchen, einFazit zu ziehen. Dieses muß vor allemunterstreichen, daß man über das Glauben-lernen offenbar nicht reden kann, ohne denZusammenhang mit der gesellschaftlichenKonstruktion, die vorhanden ist oder diegewollt wird, mitzureflektieren. Meint man,die Rede vom »Volk Gottes« sei eine billige

Glauben lernen in Israel 5 J7

Metapher, die keinen eigenen gesellschaftli-chen Willen der Christen impliziert, sondernes erlaubt, daß diese sich einer von woandersher konzipierten Großgesellschaft gefügigeinpassen, dann muß man das Glaubenler-nen (falls man ihm unter den heutigenUmständen dann überhaupt noch eine echteChance geben will) völlig anders konzipie-ren, als wenn man diejenige Linie weiter-zieht, die sich im Alten Testament zeigt unddann das pharisäische Judentum ebenso be-stimmt wie die beginnende Christenheit, daß»Volk Gottes« nämlich auf eine Kontrastge-sellschaft zu den Gesellschaften der Welthinauslaufen muß. Konkret bedeutet dies,daß man entweder die Institutionen, indenen »Lernen« sich vollzieht, unhinterfragthinnimmt und dann nur darüber diskutiert,wie innerhalb der gegebenen Strukturen vonFamilie, Gemeinde, Schule und umfassenderÖffentlichkeit der Medien auch das Glau-benlernen noch möglichst wirksam einge-bracht werden kann, oder aber daß man umdes für die Kontrastgesellschaft Gottes es-sentiellen Lernens des Glaubens willen überden Sinn und das Zusammenspiel der einzel-nen Institutionen selbst nachzudenken be-ginnt und es für möglich hält, daß es zumGlauben gehören kann, aus dem Land, indem man bisher gelebt hat, auszuziehen undin ein anderes Land zu ziehen, das Gottbereitet hat. Die deuteronomistischen Re-former, denen unsere Überlegungen vorallem galten, meinten das Letztere. Nurmeinten sie es vielleicht noch nicht einmalradikal genug, denn sie glaubten noch an dieMöglichkeit, den Staat selbst zu verwandeln.

Anmerkungen

1 Dieser Vortrag ist in ständigem Gespräch mit G.Braulik ausgearbeitet worden und verdankt ihm vieleAnregungen. Er wurde auf der ReligionspädagogischenJahrestagung des DKV am 24.-28.9.1982 in Leitersho-fen/Augsburg gehalten.2 Abot 5,21.

3 Vgl. die bei A. Jepsen, 'amän: ThWAT I, 313-348,gesammelte Literatur.4 Die wichtigsten Untersuchungen hierzu sind: J. Hänel,Das Erkennen Gottes bei den Schriftpropheten (BWAT29; Stuttgart 1923); S. Mowinckel, Die ErkenntnisGottes bei den alttestamentlichen Propheten (1941); H.W. Wolff, »Wissen um Gott« als Urform von Theologie,in: ders., GStzAT (ThB 22; München 21973) 182-20.5 Vgl. A. Lemaire, Les Ecoles et la formation de la Bibledans l'ancien Israel (OBO 39; Fribourg und Göttingen1981). Dort ist die ältere Literatur gut dokumentiert.6 Ebd., 58.7 Vgl. hierzu vor allem G. von Rad, Weisheit in Israel(Neukirchen-Vluyn 1970).8 Letzte gründliche Diskussion der Frage: /. A. Emer-ton, New Light on Israelite Religion: The Implicationsof the Inscriptions of Kuntillet 'Ajrud: ZAW 94 (1982)2-20. Die im Text gegebene Rekonstruktion ist aus zweiverschiedenen Inschriften zusammengebaut.9 Die beste Bildanalyse hat O. Keel in dem von ihmherausgegebenen Buch »Monotheismus im Alten Israelund seiner Umwelt« (BB 14; Fribourg 1980) 168-170gegeben.10 Zu den prophetischen »Schulen« vgl. B. Lang, Wiewird man Prophet in Israel?, in seinem gleichnamigenSammelband (Düsseldorf 1980) 31-58.11 Zur Familienfrömmigkeit vgl. vor allem E. S. Ger-stenberger, Der bittende Mensch (WMANT 51; Neukir-chen-Vluyn 1980); R. Albertz, Persönliche Frömmig-keit und offizielle Religion (CThM A,9; Stuttgart 1978).Zu letzterem vgl. auch meine Kritik in ThPh 56 (1981)591f.12 Ich bin zurückhaltend gegenüber einer im Augenblickbemerkbaren Tendenz der Alttestamentier, die literari-sche Leistung des davidisch-salomonischen Hofes mög-lichst zu reduzieren. Die angebotenen literarkritischenAnalysen und historischen Hypothesen scheinen mirmehr Probleme zu schaffen als zu lösen.13 Vgl. zum ganzen vor allem F. Crüsemann, DerWiderstand gegen das Königtum (WMANT 49; Neukir-chen-Vluyn 1978).14 Vgl. hierzu N. Lohfink, Unsere großen Wörter(Freiburg 21979) 24-43.15 Daß es schon eine erste Kultzentralisation unterHiskia gab, legen die Ausgrabungsbefunde am Heilig-tum von Arad nahe: vgl. /. Aharoni, Arad: BA 31(1968) 2-32. Hiskia scheint nur die Opfer auf Jerusalembeschränkt zu haben. Joschija hat die Heiligtümeraußerhalb Jerusalems ganz vernichtet und so jede Artvon Kult am Wohnort verhindert.16 Vgl. M. Weinfeld, Deuteronomy and the Deuterono-mic School (Oxford 1972); N. Lohfink, Die Gattung der»Historischen Kurzgeschichte« in den letzten Jahrenvon Juda und in der Zeit des babylonischen Exils: ZAW90 (1978) 319-347.17 Hierzu vgl. J. Halbe, Das Privilegrecht Jahwes Ex34,10-26 (FRLANT 114; Göttingen 1975).18 Nur das kann der Wahrheitskern der immer wiederaufkommenden Vermutung sein, das Deuteronomiumgehe auf »Nordreichstraditionen« zurück. Es kann sichnicht um die offizielle Staatsideologie des Nordreichs

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handeln.19 Vgl. das in Anm. 14 zitierte Kapitel meines Buchs»Unsere großen Wörter«.20 Dies ist möglicherweise der Anfang des »Toratextes«und »Bundestextes«, auf den Joschija und sein Staats-volk im Jahre 622 v. Chr. im Tempel von Jerusalem denEid ablegten (2 Kön 23,1-3) .21 Ich habe das Wort »geschrieben« ergänzt, um dasBild, das zugrundeliegt und uns nicht mehr vertraut ist,deutlicher werden zu lassen. Das Herz ist mit einerSchreibtafel verglichen. Vgl. das französische »savoirpar coeur«. Die Parallelstelle in Dtn 11,18 ist etwasdeutlicher. Dort bedeutet das hebräische sjm soviel wie»(eine Inschrift) anbringen = schreiben«.22 Das hebräische snn I I meint wahrscheinlich dietypische Technik des Textelernens in der orientalischenAnt ike . D e r Lehrende sprach vor, die Lernendenwiederhol ten, beide mit lauter St imme, und das so lange,bis der Text saß.23 Wört l ich: »in deine Stadt tore«. Dami t ist das ganzeTorgebäude mit dem hallenart igen Durchgang gemeint .Z u m besseren Verständnis habe ich »Wände« ergänzt.24 Vgl. G. Braulik, D ie Ausdrücke für »Gesetz« im BuchDeuteronomium: Bib 51 (1970) 39-66.25 Hierzu vgl. N. Lohfink, Das Hauptgebot (AnBib 20;Rom 1963); ders., Unsere großen Wörter (Freiburg21979) 44-56.26 Ein solches wörtliches Verständnis von 6,8 hat gegendie in der modernen Exegese übliche bildhafte Ausle-gung (und auch gegen die zwar schon vorchristliche,aber dennoch sekundäre jüdische Praxis der Tefilim) O.Keel, Ze ichen der Verbundenhei t , in : Melanges D o m i -nique Bar the lemy ( O B O 3 8 ; Fribourg und Gött ingen1981) 1 5 9 - 2 5 0 , wahrscheinlich gemacht .27 Lemaire (vgl. oben A n m . 5) 32, weist auf eine nebender Tür im Verputz plazierte Inschrift in Kuntilat Ajrudhin, die er als Lernhilfe, unseren Schultafeln vergleich-bar, interpretiert.28 Zur Theologie dieses Textes vgl. G. Braulik, Sage, wasdu glaubst (Stuttgart 1979). Ferner N. Lohfink, Unseregroßen Wörter (Freiburg i. B. 21979) 76-91.29 Vgl. H.-J. Fabry, Gott im Gespräch zwischen denGenerationen, in: KatBl 1982/Heft 10, 754-760.30 Bei den Kindern stoppt die Anweisung nach »fürch-ten«. Die eigentliche Gebotsbeobachtung war erstSache der Erwachsenen - bei den Juden wurde manspäter mit 13 Jahren ein Bar-Mizwa, ein zur Beobach-tung der Gebote Verpflichteter. Vgl. den am Anfangzitierten Text von Rabbi Jehuda ben Tema.31 Dieses text- und lernorientierte Festritual hängt mitder theologischen Systematisierung des Gottesverhält-nisses als »Vertrag«, »Bund« zusammen. Vor allem inder assyrischen Kultur gehörten zu wichtigen Verträgenauch große Vertragschließungszeremonien und regel-mäßig stattfindende zeremonielle Vertragsverlesungenin Gegenwart aller Betroffenen. Vgl. D. J. McCarthy,Treaty and Covenant (AnBib 2 1 ; Rom 21978); N.Lohfink, Gott im Buch Deuteronomium, in: La notion

biblique de Dieu ( B E T L 4 1 ; Gembloux 1976) 101-126,hier 115, Anm. 52.32 Das geht aus 31,21 und 32,46f. hervor. In 31,21 heißtes, dieses Lied werde nicht »vergessen werden weg vomMunde seines Samens«. Die Einheitsübersetzung gibtdas zutreffend wieder mit: »seine Nachkommen werdenes nicht vergessen, sondern es auswendig wissen«.Besser wäre vielleicht noch: »es regelmäßig rezitieren«.In 32,46f. wird das Lied gewissermaßen in die deutero-nomische »Tora« hineingenommen.33 Vgl. E. Schawe, Gott als Lehrer im Alten Testament(Dissertation Fribourg 1979).34 Priester: vgl. Dtn 17 ,10f . l8 ; 31,9.25f; König: vgl.17,18-20; Propheten: vgl. 18,15-20. Vgl. N. Lohfink,Die Sicherung der Wirksamkeit des Gotteswortes durchdas Prinzip der Schriftlichkeit der Tora und durch dasPrinzip der Gewaltenteilung nach dem Ämtergesetz desBuches Deuteronomium (Dt 16,18-18,22), in: Testi-monium Veritati (FS Bischof W. Kempf; FrankfThSt 7;Frankfurt 1971) 143-155.35 Vgl. A. Renker, Die Tora bei Maleachi (FreibThSt112; Freiburg 1979); G. Braulik, Gesetz als Evange-lium: ZThK 79 (1982) 127-160.36 Vgl. N. Lohfink, Ki rchent räume (Freiburg 1982)9 1 - 1 1 1 .37 Diese letzte Wende der deuteronomistischen Theolo-gie, weg vom Zutrauen auf die Kraft des Lernens,spiegelt sich sogar in einer späten Stelle des BuchsDeuteronomium selbst, wenn auch ohne Bezugnahmeauf die Kategorie des Lernens: Dtn 30,6-8. Dazu vgl. G.Vanoni, Der Geist und der Buchstabe: BN 14 (1981)65-98; G. Braulik, Gesetz als Evangelium (vgl. Anmer-kung 35). Zum deuteronomistischen Charakter von Jer31,31-34 vgl. zuletzt: N. Lohfink, Die Gotteswortver-schachtelung in Jer 30-31, in: Künder des Wortes (FSJosef Schreiner; Würzburg 1982) 105-119.38 Inzwischen muß die Idee des Lernens eines umfang-reicheren Glaubenstextes vom deuteronomischen Vor-bild her allerdings gewissermaßen obligatorisch gewesensein. Obwohl die priesterliche Konzeption die Gesell-schaft Israel ganz vom kultischen Geschehen im Heilig-tum her konzipiert, wird diese Konzeption dann dochoffensichtlich in einem Lerntext mitgeteilt. Das ergibtsich aus der stilistischen Analyse der priesterlichenSprache, die sehr große Ähnlichkeiten mit modernerKinderliteratur aufweist: vgl. 5. £. McEvenue, TheNarrative Style of the Priestly Writer (AnBib 50; Rom1971).39 Einen extrem riskanten Versuch, sich voll auf denhellenistischen Welthorizont einzulassen, ohne dabeiden Jahweglauben aufzugeben, und dieses Ganze dannsogar in die schulische Bildung einzubringen, stellt dasgerade uns heute so faszinierende Buch Kohelet aus derWende vom 3. zum 2. Jahrhundert v. Chr. dar. Zudiesem Aspekt vgl. N. Lohfink, Kohelet (Neue EchterBibel; Würzburg 21982), vor allem die Einleitung.40 Vgl. R. Riesner, Jesus als Lehrer (WUNT 2,7;Tübingen 1981).

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