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Struktunnodelle des Selbstbewußtseins Ein systematischer Entwurf Klaus Düsing (Köln) Die Begründung einer Theorie des Selbstbewußtseins oder der Subjektivität steht heute einerseits in der Tradition der bedeutenden und hochkomplexen Subjektivitätstheorien der klassischen deutschen Philosophie von Kant über Fichte bis zu Hegel sowie in der Tradition des Neukantianismus und der Phänomenologie, insbesondere der transzendentalen Phänomenologie im früheren zwanzigsten Jahrhundert. Andererseits muß sie dem reißenden Strom zahlreicher Kritiken standhalten, der seit Machs Diktum schon vor über hun- dert Jahren, »das Ich« sei »unrettbar«,! immer heftiger angeschwollen ist. Zwar beginnt sich seit kurzem das philosophische Interesse für ein Begreifen von Selbstbewußtsein und Subjektivität wieder zu regen; aber der Chor der Kritiker ist nach wie vor dominant, wenn auch in sich dissonant. So wird in der positivistischen und in der analytischen Philosophie die Annahme eines eigenständigen Selbstbewußtseins oder gar eines transzendentalen Ich durch- weg kritisiert, wenn auch seit kürzerer Zeit diese Kritik partiell gemildert wird und einzelne eigene positive Schritte versucht werden. Ebenso weist die dialektische oder die systemtheoretische Sozialphilosophie und Gesellschafts- theorie die Konzeption eines eigenständigen, erst recht eines transzendentalen Selbstbewußtseins zurück; und in vergleichbarer Weise leugnet ontologische Kritik die Selbständigkeit oder gar den Prinzipcharakter von Selbstbewußtsein und ordnet es der Sphäre des Objekts oder dem von sich her aufgehenden Seienden in seinem Sein nach. Die Gültigkeit aller dieser Kritiken setzt die 1. E. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychi- schen (zuerst: 1886). Mit einem Vorwort zum Neudruck von G. Wolters, Dannstadt 1985, 20. In ähnlicher Weise erklärt Wittgenstein z.B. 1936: »Die Vorstellung des Ich, das einen Körper bewohnt, muß aufgegeben werden« (s. ders.: »Notes for Lectures on >Private Experience< and >Sense Data<<<, in: Philosophical Review 77 (1968), 282).

K.Duesing - Strukturmodelle Des Selbsbewusstseins - Fichte-Studien 1995

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Selbstbewusstsein

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  • Struktunnodelle des SelbstbewutseinsEin systematischer Entwurf

    Klaus Dsing (Kln)

    Die Begrndung einer Theorie des Selbstbewutseins oder der Subjektivittsteht heute einerseits in der Tradition der bedeutenden und hochkomplexenSubjektivittstheorien der klassischen deutschen Philosophie von Kant berFichte bis zu Hegel sowie in der Tradition des Neukantianismus und derPhnomenologie, insbesondere der transzendentalen Phnomenologie imfrheren zwanzigsten Jahrhundert. Andererseits mu sie dem reienden Stromzahlreicher Kritiken standhalten, der seit Machs Diktum schon vor ber hun-dert Jahren, das Ich sei unrettbar,! immer heftiger angeschwollen ist.Zwar beginnt sich seit kurzem das philosophische Interesse fr ein Begreifenvon Selbstbewutsein und Subjektivitt wieder zu regen; aber der Chor derKritiker ist nach wie vor dominant, wenn auch in sich dissonant. So wird inder positivistischen und in der analytischen Philosophie die Annahme eineseigenstndigen Selbstbewutseins oder gar eines transzendentalen Ich durch-weg kritisiert, wenn auch seit krzerer Zeit diese Kritik partiell gemildert wirdund einzelne eigene positive Schritte versucht werden. Ebenso weist diedialektische oder die systemtheoretische Sozialphilosophie und Gesellschafts-theorie die Konzeption eines eigenstndigen, erst recht eines transzendentalenSelbstbewutseins zurck; und in vergleichbarer Weise leugnet ontologischeKritik die Selbstndigkeit oder gar den Prinzipcharakter von Selbstbewutseinund ordnet es der Sphre des Objekts oder dem von sich her aufgehendenSeienden in seinem Sein nach. Die Gltigkeit aller dieser Kritiken setzt die

    1. E. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhltnis des Physischen zum Psychi-schen (zuerst: 1886). Mit einem Vorwort zum Neudruck von G. Wolters, Dannstadt 1985, 20. Inhnlicher Weise erklrt Wittgenstein z.B. 1936: Die Vorstellung des Ich, das einen Krperbewohnt, mu aufgegeben werden (s. ders.: Notes for Lectures on >Private Experience< and>Sense Data

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    Gltigkeit jener Theorien und ihrer Prmissen voraus, die untereinander kaumkompatibel sind.2

    Ein grundstzlicher Einwand ist jedoch immanent und beruht offenbarnicht auf der Gltigkeit von Prmissen einer bestimmten philosophischenTheorie; er tritt in den beiden Versionen einer unendlichen Iteration derVoraussetzung des Ich in der Selbstvorstellung bzw. eines Zirkels in der de-finitorischen Bestimmung von Selbstbewutsein auf. Beide Einwandversionenmssen ausgerumt werden, wenn eine Theorie des Selbstbewutseins oderder Subjektivitt mglich sein soll.

    Daher sei in einem ersten Teil dieser Einwand mit seinen beiden Versionenin Orientierung an Fichte errtert und gezeigt, da der Geltungsbereich diesesEinwandes durchaus begrenzt ist und da weder die von Fichte konzipierteintellektuelle Selbstanschauung des Ich noch die gestuften Selbstbewutseins-bestimmungen einer idealistischen Geschichte des Selbstbewutseins davonwesentlich betroffen sind. Im Anschlu daran soll in einem neuen Entwurfeine Sequenz von Strukturmodellen des Selbstbewutseins umrissen werden,und zwar in einem zweiten Teil Modelle mit Typen einfacher, unmittelbarerSelbstbeziehung des Ich, die von jenem Einwand nicht tangiert sind, und ineinem dritten Teil komplexere, hher entwickelte Selbstbewutseinsmodelle,von denen zu zeigen ist, da auch sie jenem Einwand nicht erliegen. DieseAbfolge soll sich als Idealgenese eines Konstitutions- und Entwicklungsrno-delIs von Selbstbewutsein erweisen.

    I. Der Zirkeleinwand und der Einwand der unendlichen Iteration in derSelbstvorstellung

    Der Zirkeleinwand, der behauptet, da die Bestimmung des Selbstbewutseinsunvermeidlich in einen Zirkel fhre, ist ein methodischer Einwand. Unmittel-barer zugnglich ist der Vorwurf der unendlichen Iteration des Ich, die sich indessen Selbstvorstellung als solcher ergeben soll. Auf diesen Vorwurf fhrtletztlich, wie sich zeigen wird, der Zirkeleinwand zurck.

    Der Einwand der unendlichen Iteration des Ich in der Selbstvorstellungkann auf der Subjekt- und auf der Objektseite entwickelt werden. Auf derSubjektseite entwickelt, lautet er folgendermaen: Das Selbstbewutsein oderdas Ich, was hier bedeutungsgleich sein soll, sucht vollstndig sich selbst als

    2. Diese Kritiken und Entgegnungen auf sie sollen in einem greren Zusammenhang entfal-tet werden, in dem auch der folgende Entwurf weiter ausgefhrt wird.

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    thematischen Vorstellungsinhalt zu betrachten, um darin sich als das, was esist, zu erfassen und sich als Vorstellendes mit sich als Vorgestelltem inhaltlichzu identifizieren. Dies kann ohne Bedeutungsverschiebung dahingehend inter-pretiert werden, da das vorstellende Ich als Subjekt sich im vorgestelltenObjekt, das nur sein thematischer Vorstellungsinhalt ist, vollstndig zu erfas-sen sucht. Subjekt und Objekt bilden hierbei eigenstndige, wiewohl korrelati-ve Bedeutungsinstanzen. Thematisch erfat ist hierbei aber nur das Ich-Ob-jekt. Das Ich-Subjekt als Acteur jenes Aktes der Selbstvorstellung ist hierbeizunchst unthematisch und insofern verborgen. Da der Acteur dieses Aktsaber Vollzugsich sein soll, dem als Ich wesentlich zukommt, sich selbstvorzustellen und zu erfassen, mu dieses Vollzugsich sich nun seinerseitseigens thematisieren und sich inhaltlich ganz als Ich-Objekt vorstellen, umsich mit diesem zu identifizieren. Da dieser Selbsterfassung zweiter Ordnung,die hier auf der Subjektseite stattfindet, aber wiederum als Acteur ein verbor-genes Vollzugsich zugrunde liegt, wird der gleiche Proze der Selbstthemati-sierung auf hherer Ebene wieder erforderlich usf. ins Unendliche. Darausfolgt: Nie gelingt wirkliche Selbsterfassung des Ich.

    Man kann die unendliche Iteration auch auf der Objektseite entwickeln;dann ergibt sich: Das Ich erfat sich selbst und ist darin als thematisierterInhalt oder als Objekt das Sich-Vorstellende und Sich-Erfassende. Fragt mannun, was hierbei das >Sich< bedeutet, so lautet die Antwort: das eigene Ich.Wird dieses nun seinerseits vorgestellt, so zeigt es sich erneut als das Sich-Vorstellende usf. ins Unendliche; immer wieder tritt das Ich bei solcherwiederholten Thematisierung auf der Objektseite in unvernderter inhaltlicherBedeutung als das Sich-Vorstellende auf; nie gelangt es zur endgltigenErfassung seiner selbst.

    Die andere Einwandversion besteht im Zirkeleinwand. Er betrifft denVersuch, Selbstbewutsein theoretisch zu bestimmen, genauer: zu definieren.Will man nmlich auch nur begrifflich oder nominal definieren, was Selbst-bewutsein bedeutet, so mu man in den definierenden Bestimmungen bereitsTermini vorstellender Selbstbezglichkeit verwenden. Der vorstellendenSelbstbeziehung als Definiendum gehen also Termini derartiger Selbstbezg-lichkeit als Definientia in der gleichen Bedeutung voraus. Wollte man nun diedefinierenden Termini, die schon Selbstbezglichkeit in ihrer Bedeutungenthalten, ihrerseits definieren, so mten wieder Termini mit der Bedeutungsolcher Selbstbezglichkeit vorausgehen usf. ins Unendliche. Da dies zukeinem Ende fhrt, Selbstbewutsein also nicht bestimmt wird, bleibt dieAuffassung, da diese Selbstbezglichkeit eben ursprnglich und nicht ausanderem herleitbar ist; dann aber mirt jene Begriffsdefinition von Selbst-

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    bewutsein zu einem Zirkel in der Definition. Wie man sieht, wiederholt sichbeim Versuch, Selbstbewutsein zu definieren, die soeben dargelegte unendli-che Iteration in der Selbstvorstellung auf methodischer Ebene, und der Zirkel-einwand ist nur eine Folgerung daraus.

    Die Formel von einem Zirkel in der Semantik der >ichich

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    tungsbereich dieses Vorwurfs auf alle sogenannten traditionellen Selbst-bewutseinstheorien, die die Selbstvorstellung als dem Selbstbewutseininterne Leistung zu erklren suchen-; vielmehr msse alle Analyse der Bedeu-tung von Selbstbewutsein von der Analyse des Sprachgebrauchs ausgehen,was Henrich seinerseits zurckweist.4 - Wie sich oben schon zeigte, wirdaber der Geltungsbereich des Zirkeleinwandes in dieser Auseinandersetzungentschieden berschtzt, da dieser Einwand spezifisch vom Modell der Selbst-beziehung des Selbstbewutseins als symmetrischer Subjekt-Objekt-Beziehungausgeht.

    Der Einwand der unendlichen Interation der Voraussetzung des Ich indessen Selbstvorstellung, gelegentlich auch als Einwand eines unendlichenRegresses bezeichnet, ist in der Geschichte der Philosophie bis in die Gegen-wart immer wieder erhoben worden. Die unendliche Iteration des Ich auf derObjektseite stellt Herbart dar. In immer weiterer Einschachtelung erweist dasIch sich auf der Objektseite als das Sich-Vorstellende, da nmlich das >SichIch denke

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    Selbstgewiheit dieses reinen Ich vertritt Fichte zugleich eine der klassischgewordenen Positionen transzendentaler Prinzipientheorie.

    Doch nicht nur das Prinzip des reinen Ich, auch die konkreteren Bestim-mungen des Ich mssen die unendliche Iteration des Ich in der Selbstvorstel-lung und den Zirkel vermeiden. Solche konkreteren Bestimmungen werden inder von Fichte konzipierten, von Schelling und Hegel dann fortgefhrtenidealistischen Geschichte des Selbstbewutseins entwickelt. Die idealistischeGeschichte des Selbstbewutseins, die fr Fichte in der Grundlage von1794/95 zunchst nur einen Teil der Wissenschaftslehre, innerhalb der Wis-senschajtslehre nova methodo aber im Prinzip den ganzen transzendentalenIdealisnlus ausmacht, vermeidet sowohl das bloe Nebeneinanderstellen derVermgen wie in der empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts, somitden Sack voller Vermgen9, wie Hegel spottet, als auch die Schilderungeiner lediglich empirisch-zeitlichen Entwicklung eines Vermgens nach demanderen wie etwa im Sensualismus Condillacs als auch die apriorische stati-sche Systematik der Vermgen, wie Kant sie aufstellt. Die idealistischeGeschichte des Selbstbewutseins soll fr Fichte als transzendentalphilosophi-sche Fundierung von Anthropologie und Psychologie vielmehr die dynami-sche ideale Genesis erfllten Selbstbewutseins aufzeigen. Dabei hat sie zweigrundlegende Aufgaben zu bewltigen: Sie mu zum einen die verschiedenenVorstellungsvermgen und -leistungen in systematisch geregeltem Zusammen-hang stufenweise idealgenetisch entwickeln, bis komplexe, erfllte Selbstvor-stellung erreicht ist. Sie mu zum anderen zwischen dem betrachtenden,vollstndig entwickelten philosophischen Ich einerseits und dem betrachtetenIch, das entwickelt wird, andererseits prinzipiell unterscheiden und in derExplikation der Entwicklung der Vermgen zeigen, wie das betrachtete Ichoder das Ich-Objekt sich im Fortgang zunehmend mit Bestimmungen derSubjektivitt anreichert, bis es die Struktur des vollentwickelten Ich unddessen Selbstvorstellung erreicht, so da sich dieses im Ich-Objekt vollstndigwiederfindet. Die systematische Kombination beider Aufgaben findet sichdann deutlicher in Schellings System des transzendentalen Idealismus und inHegels Phnomenologie. 10

    9. G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 4, 237; vgl. auch Bd. 9, 169.10. Zum Programm der idealistischen Geschichte des Selbstbewutseins bei Fichte vgl. X.

    Tilliette: Geschichte und Geschichten des Selbstbewutseins, in: Annalen der internationalenGesellschaft fr dialektische Philosophie. Societas Hegeliana, Jg. 1983, Kln 1983, 92ff. und E.Dsing: Intersubjektivitt und Selbstbewutsein. Behavioristische, phnomenologische und idea-listische Begrndungstheorien bei Mead, Schtz, Fichte und Hegel, Kln 1986, bes. 260ff.; fernermag der Hinweis auf Untersuchungen des Verl.s~~~b~~~:~i~l:!!I~ul}~lg'!fLuncls~lbslbewu-- _

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    Im Grundri des Eigentmlichen der Wissenschaftslehre von 1795, in demFichte detailliert diese Geschichte des Selbstbewutseins ber die Grundlagevon 1794/95 hinaus fr das theoretische Ich zu entfalten sucht, geht er nocheinseitig vom Reflexionsmodell von Selbstbewutsein aus. Das Ich ist danachin der Ausbung eines bestimmten Actus selbstverloren und gewinnt erst inder Reflexion auf diesen Actus ein Wissen von sich. Durch Reflexion istfreilich die Art des Sich-Gewahrens des Ich noch nicht bestimmt; Fichtenimmt vielmehr an, durch jeweilige Reflexion auf verschieden gestufte Akteergeben sich verschiedenartige Leistungen und Vermgen des Ich mit jeweilssich weiterentwickelnder Selbstvorstellung. So ist das empfindende Ich selbst-verloren; durch Reflexion darauf gewinnt es ein Selbstgefhl, durch erneuteReflexion auf diesen Actus wird es innerlich und uerlich anschauendes Ichusf. Doch bleibt der Abschlu offen. Gegen diese Theorie lt sich der Ein-wand der unendlichen Iteration erheben; prinzipiell kann man solche Re-flexionsstufung mit jeweils neuer Voraussetzung eines agierenden, aber selbst-vergessenen Ich ins Unendliche treiben. Der im Versuch einer neuen Darstel-lung der Wissenschaftslehre dargelegte Einwand der unendlichen Iterationmu nicht nur fr das Ich-Prinzip, sondern auch fr die konkreten Bestim-mungen des betrachteten Ich auf seinen jeweiligen Entwicklungsstufen ver-mieden werden. Dies ist um so schwieriger, als Fichte an der Bedeutung derReflexion fr den Entwicklungsgang des Ich generell, wenn auch nicht mehrausschlielich festhlt. - Aus seiner Darlegung lt sich allenfalls implizitentnehmen, da zwar betrachtendes und betrachtetes Ich als Subjekt undObjekt angesehen werden, da aber dC:\s Sich-Gewahren und die Selbstbezie-hung des Ich, gerade weil sie von Stufe zu Stufe komplexer entwickelt wer-den, nicht dem Modell symmetrischer Subjekt-Objekt-Beziehung unterstehen;die jeweils erreichte Selbstbeziehung ist vielmehr asymmetrisch. Dann abergeht im betrachteten Ich-Objekt, auf welcher Stufe auch immer, dem gewu-ten Ich nicht wieder ein Ich-Subjekt in der gleichen Bedeutung voraus, wie esim Vorwurf der unendlichen Iteration angesetzt ist und wie es auf methodi-scher Ebene der Zirkeleinwand besagt. So lt sich auch die idealistischeGeschichte des Selbstbewutseins und das Programm einer Idealgenese deskonkreten erfllten Ich prinzipiell in einer Weise entwickeln, die jenen Ein-wnden nicht ausgesetzt ist.

    Die im Folgenden skizzierte Sequenz von Strukturmodellen des Selbstbe-wutseins knpft partiell an diese idealistische Geschichte des Selbstbewut-

    tes Dasein beim frhen Fichte, in: Kategorien der Existenz. W. Janke zum 65. Geburtstag,Wrzburg 1993,61-76 und vom Verf.: Hegels Phnomenologie und die idealistische Geschichtedes Selbstbewutseins, in: Hegel-Studien 28 (1993), 103-126.

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    seins an; sie gilt demgem grundlegenden Bestimmungen nicht des Ich-Prin-zips, sondern des konkreten Selbst. Gemeinsam mit jenem Programm ist demfolgenden Entwurf die Darlegung einer idealen Genesis von komplexem, jaerflltem Selbstbewutsein ber Selbstvorstellungsstufen. Eine realgeschicht-liche Schilderung der Bildung von Selbstbewutseinsmodellen ist nicht nurdeshalb schwierig, weil uns zu wenig ur- und frhgeschichtliche Fakten zurVerfgung stehen; sie mte auch, wenn sie gelnge, eine Konzeption solcherSelbstbewutseinsmodelle als Grundlage schon voraussetzen, um derartigeModelle und deren Entwicklung dann in concreto realgeschichtlich aufweisenzu knnen. Ferner kann dieser Entwurf auch als philosophische Grundlegungvon Teilen der Anthropologie und Psychologie gelten, freilich nur mit Rekursauf idealtypisch gedeutete Basiserfahrungen. Anders als in der idealistischenGeschichte des Selbstbewutseins werden keine Vermgen und ihnen gemeLeistungen des menschlichen Geistes untersucht, sondern nur Selbstvorstel-lungs- und Selbstbeziehungsweisen. Auerdem wird nicht mehr ein determi-nierendes teleologisches Prinzip des Ich vorausgesetzt, das die systematischeEntwicklung reguliert. Vielmehr ist zumeist in einem Struktunnodell vonSelbstbewutsein der Mglichkeit nach das folgende schon angelegt, abernicht festgelegt; so bleiben PJternativen ebenso wie Krisen mglich; der Aus-gang ist kein endgltiger Abschlu. Vor allem aber orientiert sich der folgen-de Entwurf weder einseitig am Modell der Selbstbeziehung als Subjekt-Objekt-Beziehung noch am Reflexionsmodell von Selbstbewutsein; es sollvielmehr erwiesen werden, da es sich bei jenen Modellen nur um begrenztgltige Modelle handelt, die jedoch auch nicht - wie es in der Kritik auf-grund jener Einwnde oder in der henneneutischen bzw. analytischen Philoso-phie oft geschieht - einfach verworfen werden sollen.

    II. Strukturmodelle von einfacher, unmittelbarer Selbstvorstellung

    Im Folgenden sollen nun Struktunnodelle von Selbstbewutsein in einem ide-algenetischen Zusammenhang entworfen werden. Diese sind keine reinenKonstruktionen; sie stellen vielm~hr zum einen ermglichende Grundlagen darfr empirische Anthropologie und Psychologie; und sie rekurrieren zum ande-ren selbst auf einfache Grunderfahrungen, die freilich idealtypisch interpretiertwerden und in dieser Weise eine Basis fr jene Struktunnodelle bilden. Dabeisoll zugleich ein Spektrum von Selbstbewutseinsphnomenen wiedergewon-nen werden, das in der gegenwrtigen, neuerdings vorwiegend analytisch

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    beherrschten Diskussion allzusehr verengt wurde. l1 - Die Bedeutung derIntersubjektivitt sei hier jeweils nur am Rande vermerkt, auch wenn siebestimmte Typen des Sich-Gewahrens und der Selbstbeziehung mitkon-stituiert, 12 da hier nur die Strukturmodelle solcher Selbstvorstellungs- undSelbstbeziehungsweisen in ihrem genetischen Zusammenhang skizziert werdensollen.

    Grundlage insbesondere des ersten und einfachsten, noch rudimentrenSelbstbewutseinsmodells ist nun der Unterschied und die Beziehung vonBewutsein und Selbstbewutsein. Bewutsein ist immer Bewutsein vonetwas und bedeutet ein Gewahren und klares Gegenwrtighaben von Umwelt-gegebenheiten und eine Orientierung in ihnen. Vermge des Bewutseinsfinden wir uns immer schon in einer Umwelt, die uns umgibt; es ist umwelt-erschlieend und ermglicht wenigstens im Prinzip, da wir uns darin irgend-wie zurechtfinden. Selbstbewutsein dagegen bedeutet in ganz allgemeinemSinne, da der Bewutseiende zugleich nicht etwas anderes, sondern sichselbst vorstel~t. Diese vorstellende Selbstgegenwrtigkeit oder Selbstbeziehungdarf man nicht sogleich nach dem Modell der Subjekt-Objekt-Relation bestim-men, da dann die Vielfalt der Erfllungsmglichkeiten verlorengeht. DieseKennzeichnung des Selbstbewutseins bleibt allgemein, weil alle Konkretisie-rung zu den bestimmteren Stufen der Selbstbewutseinsmodelle gehrt. Ausdem jeweiligen Typ der Selbstbeziehung ergibt sich auch erst der jeweiligespezifische Charakter der Relata.

    Solches Selbstbewutsein beruht nun immer auf Bewutsein; es kommt nureinem Wesen zu, dem durch Bewutsein seine Umwelt erschlossen ist unddas sich als in ihr befindlich wei. 13 Das menschliche Bewutsein aber, demseine Umwelt durch Wahrnehmungen und Stimmungen erschlossen ist, bleibt

    11. Insbesondere das immer wiederholte Wittgensteinsche Beispiel: Ich habe Zahnschmer-zen ist kein eindeutiges Beispiel fr Sich-Gewahren eines Selbstbewutseins oder einer ihrerselbst bewuten Person; Zahnschmerzen knnen auch Hunden oder Katzen widerfahren. - Fernersind die beliebten Untersuchungen zu Stzen ber seit Wittgenstein so bezeichnete

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    nicht vllig selbstverloren; der Bewutseiende ist dabei seiner zugleich ineiner ersten Weise irgendwie inne; dies ist nach dem phnomenologischenHorizontmodell von Selbstbewutsein, wie es genannt werden soll, nher zubestimmen.14 Das Bewutsein eines Wahrnehmenden ist intentional auf be-stimmte Dinge gerichtet, z.B. auf dieses Fenster, und zwar zumeist in be-stimmten praxisorientierten Situationen, etwa um es zu ffnen. Nun hatHusserl in vielen Deskriptionen gezeigt, da der Wahrnehmende dabei immerder horizonthaften Umgebungen mitbewut ist, z.B. da das Fenster zu die-sem Hrsaal gehrt, da dieser Hrsaal in einem Universittsgebude liegt,da sich die Universitt in einer groen Stadt befindet usf.; dies alles ist alsHorizont jener klaren thematischen Wahrnehmungsgegebenheit in vielleichtabnehmenden Graden der Deutlichkeit unthematisch mitbewut. - DieseEinsicht lt sich nun auch auf das Verhltnis von Bewutsein und Selbst-bewutsein anwenden, was Husserl nicht tat. Dann ergibt sich, da jemandein klares und abgehobenes Bewutsein von etwas hat, z.B. dieses Fensterwahrnimmt und dabei seiner selbst als Horizont dieser Wahrnehmung unthe-matisch inne ist. Das Selbst bleibt hierbei also nicht verborgen, wird aberauch nicht eigenes Vorstellungsthema; es wird im intentional auf andereGegebenheiten gerichteten Bewutsein am Rande mitgegenwrtig, liegt so-zusagen im >Halbschatten des Aufmerksamkeitslichtkegels

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    durch die Signale aus dem linken Wahrnehmungsfeld im wesentlichen alleinin die rechte, in der Regel subdominante Gehirnhlfte bennittelt werden, istsie sich nicht bewut; sie kann darber keine Auskunft geben, und sie erfhrtmit Befremden die Mitteilung anderer, da sie gleichwohl wahrgenommenhat. Es ist eine philosophische Aufgabe, die Art der Selbstgegenwrtigkeit inden Wahrnehmungen nher zu bestimmen, deren die Person sich bewut undin denen sie ihrer zunchst unthematisch mitbewut ist. Die Selbstgegenwr-tigkeit und das Bewutsein seiner selbst sind hier nach dem phnomenologi-schen Horizontmodell zu denken, das zugleich die Mglichkeit enthlt, jeder-zeit zu einer thematischen Vorstellung des Selbst von sich berzugehen.

    Auf dieses phnomenologische Horizontmodell hat Heidegger in seinerKantinterpretation in den Marburger Vorlesungen hingedeutet, indem er derreinen Apperzeption in deren intentionaler Konstitution von objektivem Seien-den ein unthematisches Mitenthlltsein des Selbst zuschrieb. 15 Als eigenesSelbstbewutseinsmodell fhrte er dies jedoch nicht aus. - Es bedarf keinerlangen Ausfhrungen, da dies phnomenologische Horizontmodell nicht dersymmetrischen Subjekt-Objekt-Relation folgt und daher auch nicht dem Ite-rations- oder Zirkeleinwand unterliegt.

    Was nur horizonthaft mitbewut ist, kann eigens thematisiert werden; diesfhrt, wenn das Selbst seiner zuerst thematisch unmittelbar bewut ist, auf dasModell der thematischen Unmittelbarkeit der Selbstbeziehung. Die Selbstvor-stellungsart kann hierbei verschieden sein; sie kann a. holistischeGestimmtheit, b. psychophysisches Selbstgefhl und c. intuitive oder imagina-tive Selbstgegebenheit sein.

    a. In holistischer Gestimmtheit ist ein Selbst von einer Stimmung ganzergriffen und darin sich gegenwrtig; Selbsterschlossenheit und Umwelter-schlossenheit bilden hier ein Ganzes. Solche grundlegenden Gestimmtheitensind z.B. Freude oder Schwennut, so da das Selbst sich insgesamt entwederals freudig erschlossen ist, dem in seiner Umwelt alles leicht wird, oder aberinsgesamt als schwenntig erschlossen ist, dem in seiner Umwelt alles lastendwird. In solcher Selbstrelation der Gestimmtheit sind erfahrendes und erfahre-nes Selbst unmittelbar eins als gestimmtes Selbst. Was in solcher grundlegen-den Gestimmtheit als ein Ganzes erlebt wird, nlu die Theorie freilich als eineursprngliche Relation bestimmen. Die gestimmte Selbstgegenwrtigkeitenthlt die unmittelbare, "einfache Relation, da ein Selbst fr sich ist; dieRelata sind hier jedoch nicht selbstndig, sondern einbehalten in die Grund-gestimmtheit als fluides Ganzes. Auf solche ursprngliche, einfache, unmittel-

    15. Vgl. M. Heidegger: Gesamtausgabe. Bd. 21, 339, vgl. Bd. 24, 224.

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    bare Selbstbeziehung, die thematisch ist, findet das Modell der Subjekt-Objekt-Relation keine Anwendung; denn diese bedeutet eine Relation zweierunterschiedener, bedeutungsmig selbstndiger, wiewohl korrelativer, thema-tisch vorgestellter Relata, was hier nicht der Fall ist. Deshalb gibt es auch frdie anfangs geschilderten Einwnde der unendlichen Iteration oder des Zirkelshier keine Ansatzpunkte.

    b. Eine andere Weise thematischer unmittelbarer Selbstbeziehung ist daspsychophysische Selbstgefhl. Hierbei erfhrt das Selbst, das auf seine eige-nen krperlichen Ttigkeiten und Leistungen aufmerksam ist, seinen eigenenZustand und seine Fhigkeiten. Dies geschieht z. B. bei einem Genesenden,der seine Krfte und damit seine Mglichkeiten wiederkehren fhlt, oder beieinem Gesunden, der etwa Ausgleichssport treibt und darin seine Krfte undseinen Zustand sprt. In solchen Vorgngen geht das Selbst nicht einfach auf,wie es bei Tieren offensichtlich der Fall ist; das Selbst erfhrt sich in ihnenvielmehr in eigener Selbstgegenwrtigkeit. Auch in diesem psychophysischenSelbstgefhl erlebt das Selbst sich als unmittelbare Einheit; theoretisch mues bestimmt werden als thematische, unmittelbare, einfache Relation desFrsichseins, deren Relata im Ganzen des Selbstgefhls einbehalten bleiben;es erfolgt keine Aufteilung in ein selbstndiges, fr sich vorgestelltes Subjektund ein selbstndiges, fr sich vorgestelltes Objekt.

    c. Eine dritte Weise thematischer unmittelbarer Selbstbeziehung ist dieintuitive wahrnehmungsmige oder auch imaginative Selbstgegebenheit. Diesist z.B. beim Hren der eigenen Stimme der Fall, wenn der Betreffendeunmittelbar erkennt, da es die eigene ist, und er sich damit unmittelbargegenwrtig ist, oder beim Betrachten des eigenen Bildes etw~ im Spiegel.Auch wenn solche Selbstwahmehmung von Verfremdungserlebnissen begleitetsein kann, etwa dem Erschrecken ber die eigene Stimme oder das eigeneAussehen, ist die Selbsterkenntnis hierin unmittelbar intuitiv. Imaginativ wirdsolche Selbstgegebenheit, wenn das Selbst ein unmittelbares anschaulichesZukunftsbild von sich unwillkrlich entwirft etwa als Wunschbild oder wennihm unwillkrliche Erinnerungen an eigene frhere Erlebnisse aufsteigen.Obwohl das Selbst sich in solchen Vorstellungen schon gegenbersteht, erlebtes sich doch mit seinem Vorgestellten als anschaulich oder imaginativ eins. Inder Theorie freilich erweist sich diese unmittelbare thematische wahmeh-mungsmige oder imaginative Selbstvorstellung als unmittelbare Relationeines Frsichseins, in der die Relata bereits eine anschauliche oder imaginati-ve Unterschiedenheit gewinnen; sie bleiben jedoch auch hier als unselbstndi-ge einbehalten in das Ganze dieser intuitiven oder imaginativen Selbstgege-benheit. So werden die Relata auch hier nicht als selbstndige, fr sich vor-

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    zustellende Bedeutungsinstanzen verstanden, wie es bei der Subjekt-Objekt-Relation der Fall ist. Alle drei Weisen dieser thematischen unmittelbarenSelbstgegenwrtigkeit werden also zwar holistisch erlebt; die Theorie mudiese Selbstgegenwrtigkeit jedoch jeweils als ursprngliche, unmittelbare,einfache Relation bestimmen, die ihre Relata noch nicht in eine je eigeneselbstndige Bedeutung entlt. Diese Relata befinden sich zudem inhaltlicheindeutig in asymmetrischer Beziehung, da das Ich der Grundgestimmtheit,des Selbstgefhls sowie des intuitiven und imaginativen Sich-Gewahrens auchim eigenen Bewutsein ber reichhaltige Mglichkeiten verfgt, die berdasjenige hinausgehen, als was es sich jeweils in diesen Weisen thematischunmittelbar vorstellt.

    Solche Modelle unthematischer oder thematischer unmittelbarer Selbstbe-ziehung in ihren verschiedenen Grundarten, die sich schon bei Dilthey oderbeim frhen Heidegger abzeichnen, wenn auch nicht spezifisch als Selbstbe-wutseinsmodelle, haben ihre eigene Berechtigung innerhalb des Aufbauseiner Subjektivittstheorie. Durch sie ist es aber nicht gerechtfertigt, kom-plexere Selbstbewutseinsmodelle, insbesondere intellektuelle Formen vonSelbstbeziehung zu verwerfen.

    111. Komplexere Selbstbewutseinsmodelle

    Die bisher dargelegten Selbstbewutseinsmodelle sind auf Sprache als Fun-dament nicht notwendig angewiesen;' ihre Selbstbeziehungsweisen knnenauch vorsprachlich zustande kommen. Die Sprache erweitert und differenziertallerdings nicht nur in entscheidender Weise Umwelterfahrungen, sondernebenso Selbstvergegenwrtigungsarten; sie liegt gerade Modellen von kom-plexerer, vermittelter Selbstbeziehung ermglichend zugrunde.

    Das erste komplexere Modell dieser Art ist das Modell der partiellenSelbstidentifikation. Es bedeutet, da ein Selbst sich eine bestimmte dauerhaf-te Eigenschaft oder Fhigkeit zuschreibt und darin in bestimmter Weise vonsich wei. Dies geschieht in der Regel in Aussagen. Vier Konstituentien sinddazu erforderlich:

    1. Das Selbst mu eine Synthesis bestimmter Erlebnisse vornehmen, diezumindest basal schon durch eine thematische unmittelbare Selbstbeziehunggeprgt sind. So kann das Selbst von sich z.B. sagen: Ich bin ein Melan-choliker oder Ich bin ein guter Bergsteiger. Jeweils liegen unmittelbareSelbstbeziehungserlebnisse entweder der holistischen Gestimmtheit oder despsychophysischen Selbstgefhls zugrunde. Die hierbei zusammengefgten

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    Erlebnisse sind diskontinuierlich; der Bergsteiger etwa ist nur von Zeit zu Zeitam Berg ttig; viele andere Erlebnisse, die ebenfalls zum Selbst gehren, sindeingestreut.

    2. Aufgrund der vollzogenen Synthesis solcher Erlebnisse, die schon un-mittelbare Selbstbeziehung enthalten, mu das Selbst seiner als eines identi-schen in diesen verschiedenen diskontinuierlichen Erlebnissen bewut werden.Das Wissen des Selbst von sich in ihnen erfordert somit eine eigeneIdentifikationsleistung.

    3. Das Selbst wei sich darin aber nicht nur berhaupt als identisches,sondern als eines und dasselbe in einer spezifischen Bestimmtheit. Es schreibtsich eine dauerhafte Eigenschaft oder Fhigkeit zu. Sie wird artikuliert imPrdikat der Aussage einer partiellen Selbstidentifikation; sie hatte zugleichschon unausdrcklich Leitfadenfunktion in der selektiven Synthesis bestimm-ter diskontinuierlicher Erlebnisse.

    4. Hingewiesen sei nur darauf, da die Genesis solcher Selbst-zuschreibungen, unbeschadet der hierzu erforderlichen eigenen Aktivitt desSelbst, intersubjektiv mitkonstituiert ist. Doch dies sei lediglich genannt, da eshier nur auf die innere Struktur dieser Art von Selbstbeziehung ankommt.

    Auf dies Selbstbewutseinsmodell treffen der Iterations- und der Zirkel-einwand nicht zu; denn zum einen wird auch hier Selbstbeziehung nicht nachdem Muster der Subjekt-Objekt-Beziehung gedacht; es handelt sich bei derSelbstzuschreibung nicht um zwei je selbstndige Bedeutungsinstanzen; viel-mehr ist die zugeschriebene Eigenschaft oder Fhigkeit von unselbstndigerBedeutung, eine vom Selbst abhngige Variable; das Umgekehrte aber giltnicht. Zum andern ist die Selbstrelation hier eindeutig asymmetrisch; dasSelbst, das noch viele andere Eigenschaften oder Fhigkeiten hat, schreibtsich nur eine bestimmte zu.

    Wird nun etwa auf solche Selbstzuschreibung eigens reflektiert, so ge-schieht dies nach dem Reflexionsmodell von Selbstbewutsein. Die Reflexionkann auch auf andere Arten der Selbstbeziehung erfolgen, z.B. auf themati-sche unlnittelbare Selbstbeziehung; doch richtet sie sich oft auf Selbst-zuschreibungen. Daraus ersieht man, da Reflexion schon selbstbezglicheErlebnisse voraussetzt und nicht allererst Selbstbeziehung zustande bringt. Siestellt jedoch strukturell eine hherstufige Weise von Selbstbeziehung dar, z. B.in dem Satz: Ich wei, da ich Kenner der antiken rmischen Geschichtebin. Hier kann das Verhltnis des reflektierenden zum reflektierten Ich alseine Subjekt-Objekt-Relation verstanden werden. Dennoch stellt sich auch hiernicht zwangslufig der Iterations- oder Zirkeleinwand ein. So kann man z. B.sagen: Ich sehe mich als Kenner der antiken rmischen Geschichte an. Ich

  • Strukturmodelle des Selbstbewutseins 23

    erinnere mich, da ich Kenner der antiken rmischen Geschichte war. Ichwei, da ich mich erinnere, ein solcher Kenner gewesen zu sein. Ich wei,da ich wei, da ich mich erinnere [...] usf. Dreierlei ist in diesem Beispielaufschlureich: 1. Schon im ersten Akt wird eine partielle Selbstidentifikationvorgenommen, die durch die folgenden gestuften Reflexionsakte keineswegsungltig wird. 2. In den Stzen, die Reflexionen hherer Ordnung ausdrckenwie: Ich wei, da ich mich erinnere [...], ich wei, da ich wei, da ich[...] usf. wird die weitere Iteration inhaltsleer; sie fhrt zu keinem neuenSelbstbeziehungsgehalt mehr. Die Iteration wird blo formal 16; inhaltlich wirdallein die Beziehung eines reflektierenden auf ein reflektiertes Ich ausge-drckt. 3. Auf den ersten beiden Stufen ist das Verhltnis des reflektierendenzum reflektierten Ich asymmetrisch: Ich erinnere mich, da ich Kenner derantiken rmischen Geschichte war und es heute evtl. nicht mehr bin. DerIterations- oder Zirkeleinwand aber wendet sich, wie gezeigt, gegen eineSelbstbeziehung als symmetrische Subjekt-Objekt-Relation.

    In der partiellen Selbstidentifikation und dem reflexiven Wissen darbersind die Horizonte weiterer Selbstzuschreibungsmglichkeiten und des Wis-sens ber sie enthalten. Werden solche weiteren Selbstzuschreibungen vor-genommen, kann dies zum epistemischen Intentionalittsmodell von Selbst-bewutsein fhren. Zunchst unterscheidet das Selbst unter seinen Eigen-schaften wesentliche von unwesentlichen oder zuflligen; zufllig ist dieEigenschaft, wenn es z. B. von sich sagt: Ich bin Fugnger. Diese Eigen-schaft kann ihm zukommen, aber auch fehlen oder zuweilen zukommen,zuweilen nicht. Wesentlich oder unabdingbar im eigenen Verstndnis desSelbst sind zumindest drei Grundarten von Attributen, wobei hier offen bleibe,ob das Selbst ontologisch als Substanz zu denken sei und ein Wesen, eineEssentia habe oder nicht; hier wird nur das eigene ursprngliche Selbstver-stndnis des Selbst untersucht. Danach hat das Selbst als wesentliche und esdauerhaft prgende Bestimmungen 1. generelle Persnlichkeitseigenschaften,etwa da es sein eigener Herr und nicht Sklave eines anderen sei, da es einRecht auf Leben habe, da es brgerlich frei sei und dergleichen. 2. DasSelbst verfgt vor allem als bleibende Eigenschaften ber Charakterzge, z. B.wenn es von sich sagt: Ich bin langmtig, nicht nachtragend, besonnen u..3. Schlielich kommen dem Selbst als bleibende Attribute auch Kulturkreis-eigenschaften und -fhigkeiten zu, etwa wenn seine Muttersprache Deutschist, wenn sein Denken von der klassischen deutschen Literatur geprgt ist undVergleichbares.

    16. Vgl. hierzu z.B. E. Husserl: Erste Philosophie (1923/24), in: Husserliana Bd. VIII, 88ff.

  • 24 Klaus Dsing

    Das Selbst schreibt sich jedoch nicht nur solche einzelnen Attribute zu,deren Erfahrungsbasis immer unmittelbare Selbstbeziehungsweisen impliziert,wie bei der partiellen Selbstidentifikation gezeigt wurde; es synthetisiert sie,um sich zu erkennen, d.h. um sich in einem Persnlichkeitsbild zu erfassen.Dabei begreift es sich nicht blo als Agglomerat jener Attribute, auch nichtlediglich als Ganzes der Eigenschaften und Fhigkeiten, die ihm zukommen,ferner nicht nur als statisches Spontaneittszentrum, sondern als dynamisches,sich entwickelndes, Verstehen konstituierendes Spontaneittszentrum seinerEigenschaften und Fhigkeiten. - Nicht immer bringt ein Selbst ein solcheskomplexes Persnlichkeitsbild von sich wirklich zustande; nicht immer wirddies Selbstbewutseinsmodell im ganzen realisiert; dann bleibt oft - wietheoretisch etwa im Sozialbehaviorismus und seinen Fortsetzungen bis heutefestgeschrieben wird - nur die Auffassung vom Selbst als im wesentlichenpassivem Kreuzungspunkt gesellschaftlicher Einflsse und Rollenangebote.Ein solches Menschenbild ist reduktionistisch. Es kann auch sein, da diesSelbstbewutseinsmodell in Identittskrisen nicht realisiert wird. Diese mgenzwar - so wie die Bildung eines Persnlichkeitsbildes - intersubjektivverstrkt oder veranlat sein, wie insbesondere Erikson zeigt; aber es handeltsich doch wesentlich um Selbstverstndigungsprobleme, die durch Distanzie-rung von frheren Selbstverstndigungen entstehen; und es kann geschehen,da der Versuch der Konstitution eines neuen komplexen Persnlichkeitsbil-des scheitert.!?

    In diesem epistemischen Intentionalittsmodell kann zwar das sich verste-hende Selbst als Subjekt und das verstandene als Objekt gedeutet werden;aber das hier intendierte epistemische Selbstverstndnis ist keine einfacheSubjekt-C)bjekt-Relation mehr, die, wie sich wohl gezeigt hat, ohnehin nur einformales Schema und keine ursprngliche Selbstbeziehungsweise ist. Dasverstehende Selbst ist fr sich zweifaches intentionales, d.h. bewutseinsim-manent bleibendes Objekt in weitem Sinne als thematischer Vorstellungsin-halt; es erkennt sich in Attributen, wie es sie gegenwrtig erreicht hat, und esentwirft sich in seiner Selbstdeutung in weiteren Attributen, wie es sich selbsterstrebt. Dies Verhltnis ist komplexer als die einfache Subjekt-Objekt-R~lation; und es ist asymmetrisch, da das sich deutende Selbst inhaltlich in der

    17. Vgl. E. H. Erikson: Identitt und Lebenszyklus. Drei Aufstze. Aus dem Amerikanischenbersetzt von K. Hgel, Frankfurt a.M. 1973. - Die Mglichkeit des Scheitems eines Persnlich-keitsbildes und einer Lebensanschauung zeigt generell Kierkegaard in seiner Stadienlehre auf; vgl.dazu E. Dsing: Krisen der Selbstgewiheit in Kierkegaards Konzeption der Existenz-Stadien,in: Kategorien der Existenz. W. Janke zum 65. Geburtstag, Wrzburg 1993, 213-240.

  • Struktunnodelle des Selbstbewutseins 25

    Regel vom zweifach gedeuteten Selbst verschieden ist. Der Iterations- oderZirkeleinwand trifft also auch dies Selbstbewutseinsmodell nicht.

    Wird die Differenz von erreichtem und erstrebtem Persnlichkeitsbild mitdem Impuls verbunden, durch eigene Handlungen vom einen zum anderen zugelangen, wie dies im epistemischen Intentionalittsmodell der Mglichkeitnach angelegt ist, so ergibt sich das Selbstbewutseinsmodell der volunta-tiven Selbstbestimmung. Hier deutet das Selbst sich nicht nur in jenem zweifa-chen intentionalen Objekt, d. h. im erreichten und erstrebten Persnlichkeits-bild, sondern es will darber hinaus das erstrebte durch eigene Handlungenrealisieren. Dabei entwirft das Selbst in praktischer Absicht ein Ziel seinesLebens, ein Bild seiner Persnlichkeit, die es durch eigene Handlungen erstwerden will. Hier sind ethische Sinn- und Zielvorstellungen sowie Vorstel-lungen ber die auszubildenden Haltungen ethischen Selbstverstndnisses,nmlich ber die altertrrllich so bezeichneten Tugenden impliziert. Dies seihier nur genannt; Grundstze dazu gilt es, in einer eigenen subjektivittstheo-retischen Ethik auszufhren, die an Kants und Fichtes Ethik anknpft. Ebensobildet dies Modell der voluntativen Selbstbestimmung die allgemeine Grund-lage fr hochkomplexe Welt- und Selbstdeutungen in Kunst, Religion undPhilosophie. - Es ist wie schon das epistemische Intentionalittsmodell, vondem es ausgeht, komplexer als die einfache Subjekt-Objekt-Beziehung undenthlt eine voluntative, asymmetrisch bleibende Selbstbeziehung in derSpannung des erreichten und erstrebten, gewollten Persnlichkeitsbildes. DerIterations- und der Zirkeleinwand finden also auch hier keine Anwendung. -Doch kann es geschehen, da auch dies Selbstbewutseinsmodell von Perso-nen nicht realisiert wird, sei es aufgrund staatlicher Repression, sei es auf-grund von Identittskrisen oder aufgrund eigener persnlicher Verfehlung. DasPersnlichkeitsbild, das unter Verzicht auf die Realisierung voluntativerSelbstbestimmung entworfen wird, ist jedoch defizient oder reduktionistisch.

    So hat sich wohl gezeigt, da auf der Basis von unbestreitbaren Selbstbe-wutseinsphnomenen eine Abfolge 'idealtypischer Struktunnodelle vonSelbstbewutsein als Grundlage besonderer Erfahrungen des Selbst von sichdargelegt werden kann. In der Realisierung komplexer Selbstbewutseinsmo-delle bleiben dabei die Selbstbeziehungen gem einfacheren Selbstbezie-hungstypen in Kraft. Auch etwa das sich nach dem epistemischen Inten-tionalittsmodell erkennende Selbst bleibt ein gestimmtes oder sich psycho-physisch selbst fhlendes Ich. Zwar werden die komplexeren Selbstbewut-seinsmodelle nicht immer oder nicht immer vollstndig realisiert; gerade inihnen aber erlangt das Selbst jeweils bestimmte Erfllung. Dieser dynamischeAufbau oder diese Idealgenese eines internen Zusammenhangs der Selbstbe-

  • 26 Klaus Dsing

    wutseinsmodelle fhrt nun auf die allgemeine Konzeption eines Konsti-tutions- und Entwicklungsmodells von Selbstbewutsein; dies ist nicht einModell neben den anderen; vielmehr ist es ein integratives Selbstbewut-seinsmodell, das den Ermglichungsgrund dafr darstellt, da die genetischgestufte Abfolge aller anderen skizzierten Selbstbewutseinsmodelle und da-mit eine Erfllung des Selbstbewutseins in seinen grundlegenden Selbstbe-ziehungsweisen zustande kommen kann. Fr den Iterations- und den Zirkel-einwand gibt es auch hier keine Ansatzpunkte. - So drfte sich erwiesenhaben, da eine Theorie der Strukturmodelle von Selbstbewutsein, in denendas konkrete Selbst entwickelt wird, d. h. eine Theorie der konkreten Subjekti-vitt und mit ihr berhaupt eine Subjektivittstheorie mglich und sinnvolldurchfhrbar ist.