12
7 Akalkulie K. Willmes-von Hinckeldey 7.1 Definition Patienten mit einer Akalkulie zeigen als Folge einer erworbenen HirnschȨdigung, vorwiegend der linken HirnhȨlfte, Störungen im Umgang mit Zahlen und beim Rechnen (Ardila u. Rosselli, 2002; Grafman u. Rickard, 1997). Diese zeigen sich nicht nur in Testuntersuchungen, sondern betreffen auch viele Verrichtun- gen im Alltag, wie etwa das Einkaufen, Transaktionen bei einer Bank, das Umgehen mit Telefonnummern, Zeitangaben, Maß- einheiten sowie den approximativen Umgang mit Zahlen (z. B. bei Ƞberschlagsrechnungen oder beim AbschȨtzen von Anzah- len, Entfernungen, PreisnachlȨssen). Der Begriff „Akalkulie“ wurde von Solomon Henschen (1919) geprȨgt, obwohl Lewandowsky u. Stadelmann (1908) bereits detailliert einen Fall beschrieben hatten, in dem RechenstɆrungen als eigenstȨndige Folge einer Hirn- schȨdigung darstellt wurden und nicht als Bestandteil ei- ner SprachstɆrung. Auch Berger (1926) grenzte die sog. sekundȨre Akalkulie bei Patienten mit StɆrungen der Auf- merksamkeit, des Kurz- oder LangzeitgedȨchtnisses, der Sprache oder des Lesens von der primȨren oder reinen Form der Akalkulie ab, die nicht auf eine dieser StɆrungen zurɒckgefɒhrt werden kann. Akalkulie als StɆrung oder Verlust der bereits erworbe- nen RechenfȨhigkeit ist von der (Entwicklungs-)Dyskal- kulie abzugrenzen, die eine von Kindheit an bestehende RechenschwȨche bezeichnet. Hier liegt eine Teilleistungs- schwȨche im Rechnen bei ansonsten im Normalbereich lie- genden FȨhigkeiten und Fertigkeiten vor (Butterworth, 2005). 7.2 Grundlagen Vor einer Darstellung der auch klinisch zu beobachtenden Symptommuster ist es sehr hilfreich, die wichtigsten men- talen Operationen beim Umgang mit Zahlen und deren Or- ganisation zu charakterisieren. Dieses Vorgehen liefert dann bereits den konzeptuellen Rahmen fɒr eine systema- tische klinisch-diagnostische Untersuchung. 7.2.1 Mentale ReprȨsentation Unser Wissen ɒber Zahlen besitzen wir zumindest in drei Formaten, mit denen diese im Gehirn reprȨsentiert sind (vgl. das Triple-Code Modell von Dehaene u. Cohen, 1995): 1. Sequenz oder Kette von arabischen Ziffern ( z. B. 57), 2. Sequenz von ZahlwɆrtern aus einem begrenzen Zahl- wortlexikon mit bestimmten syntaktisch-morphologi- schen Kombinationsregeln, die etwa fɒr das Deutsche bei zweistelligen Zahlen noch die sog. Inversion von Ei- ner- und Zehnerzahl beinhalten (z. B. „fɒnfzig-sieben“ = „siebenundfɒnfzig“), 3. abstrakte, nicht an eine bestimmte Notation gebundene QuantitȨt/NumerositȨt. Die kulturell gebundenen und kulturell vermittelten sym- bolischen Notationssysteme erlauben prinzipiell die exakte Enkodierung einer jeden beliebigen Zahl. Es gibt viele unter- schiedliche Belege dafɒr, dass die quantitative ReprȨsenta- tion (oft modelliert als ein von links nach rechts orientierter mentaler Zahlenstrahl) approximativ ist und dass die Ge- nauigkeit mit steigender QuantitȨt abnimmt (mit breiter werdenden und damit stȨrker ɒberlappenden Aktivierungs- abschnitten auf diesem Zahlenstrahl; Dehaene, 2003). Bestimmte Zahlen kɆnnen sich zudem neben einer QuantitȨt auch auf bestimmte Aspekte von episodischem oder deklarativem Faktenwissen beziehen, wie z. B. „4711“, „1945“ oder wie das individuelle Geburtsjahr oder Lebensalter. 7.2.2 Input/Output Q GehɆrte oder geschriebene ZahlwɆrter kɆnnen wie an- dere WɆrter auch identifiziert bzw. gesprochen und ge- schrieben werden. Q Arabische Zahlen kɆnnen lediglich visuell identifiziert und geschrieben werden, wobei eine einzelne Ziffer be- reits einem Wort mit bestimmter Bedeutung/Semantik (der durch die Ziffer bezeichneten numerischen Anzahl/ QuantitȨt) und nicht einem Buchstaben entspricht. Q Die Anzahl einer Menge von (visuellen) Objekten (auch Punkt- und Fingermuster oder die Augenzahl eines Wɒr- fels) erlaubt die nichtsprachliche Enkodierung von nu- merischer QuantitȨt. Auch Handgesten kɆnnen zum Ausdrɒcken von Anzahlen in nichtsprachlicher Form ein- gesetzt werden. 7.2.3 Transkodieren/Umformen Die verschiedenen Zahlencodes kɆnnen nach festen Regeln ineinander ɒberfɒhrt werden. Beim (lauten) Lesen von ara- bischen Zahlen (z. B. „56“ = „sechsundfɒnfzig“) mɒssen die einzelnen Ziffern einschließlich ihrer Position in der Zif- fernsequenz identifiziert werden. Bei der Zahl 56 muss aus dem Zahlwortlexikon das fɒnfte Element aus der Menge der DekadenwɆrter und das sechste aus der Menge der Ei- nerwɆrter abgerufen werden und unter Beachtung der In- 84 Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218), # 2005 Georg Thieme Verlag KG

Kognitive Neurologie (RRN) Karnath/Hartje/Ziegler 7 Akalkulie · 2019. 6. 14. · dem Zahlwortlexikon das fnfte Element aus der Menge der Dekadenwrter und das sechste aus der Menge

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • 7 AkalkulieK. Willmes-von Hinckeldey

    7.1 Definition

    Patienten mit einer Akalkulie zeigen als Folge einer erworbenenHirnsch�digung, vorwiegend der linken Hirnh�lfte, St�rungenim Umgang mit Zahlen und beim Rechnen (Ardila u. Rosselli,2002; Grafman u. Rickard, 1997). Diese zeigen sich nicht nur inTestuntersuchungen, sondern betreffen auch viele Verrichtun-gen im Alltag, wie etwa das Einkaufen, Transaktionen bei einerBank, das Umgehen mit Telefonnummern, Zeitangaben, Maß-einheiten sowie den approximativen Umgang mit Zahlen (z. B.bei �berschlagsrechnungen oder beim Absch�tzen von Anzah-len, Entfernungen, Preisnachl�ssen).

    Der Begriff „Akalkulie“ wurde von Solomon Henschen(1919) gepr�gt, obwohl Lewandowsky u. Stadelmann(1908) bereits detailliert einen Fall beschrieben hatten, indem Rechenst�rungen als eigenst�ndige Folge einer Hirn-sch�digung darstellt wurden und nicht als Bestandteil ei-ner Sprachst�rung. Auch Berger (1926) grenzte die sog.sekund�re Akalkulie bei Patienten mit St�rungen der Auf-merksamkeit, des Kurz- oder Langzeitged�chtnisses, derSprache oder des Lesens von der prim�ren oder reinenForm der Akalkulie ab, die nicht auf eine dieser St�rungenzur�ckgef�hrt werden kann.

    Akalkulie als St�rung oder Verlust der bereits erworbe-nen Rechenf�higkeit ist von der (Entwicklungs-)Dyskal-kulie abzugrenzen, die eine von Kindheit an bestehendeRechenschw�che bezeichnet. Hier liegt eine Teilleistungs-schw�che im Rechnen bei ansonsten im Normalbereich lie-genden F�higkeiten und Fertigkeiten vor (Butterworth,2005).

    7.2 Grundlagen

    Vor einer Darstellung der auch klinisch zu beobachtendenSymptommuster ist es sehr hilfreich, die wichtigsten men-talen Operationen beim Umgang mit Zahlen und deren Or-ganisation zu charakterisieren. Dieses Vorgehen liefertdann bereits den konzeptuellen Rahmen f�r eine systema-tische klinisch-diagnostische Untersuchung.

    7.2.1 Mentale Repr�sentation

    Unser Wissen �ber Zahlen besitzen wir zumindest in dreiFormaten, mit denen diese im Gehirn repr�sentiert sind(vgl. das Triple-Code Modell von Dehaene u. Cohen, 1995):1. Sequenz oder Kette von arabischen Ziffern ( z. B. 57),2. Sequenz von Zahlw�rtern aus einem begrenzen Zahl-

    wortlexikon mit bestimmten syntaktisch-morphologi-

    schen Kombinationsregeln, die etwa f�r das Deutschebei zweistelligen Zahlen noch die sog. Inversion von Ei-ner- und Zehnerzahl beinhalten (z. B. „f�nfzig-sieben“ =„siebenundf�nfzig“),

    3. abstrakte, nicht an eine bestimmte Notation gebundeneQuantit�t/Numerosit�t.

    Die kulturell gebundenen und kulturell vermittelten sym-bolischen Notationssysteme erlauben prinzipiell die exakteEnkodierung einer jeden beliebigen Zahl. Es gibt viele unter-schiedliche Belege daf�r, dass die quantitative Repr�senta-tion (oft modelliert als ein von links nach rechts orientiertermentaler Zahlenstrahl) approximativ ist und dass die Ge-nauigkeit mit steigender Quantit�t abnimmt (mit breiterwerdenden und damit st�rker �berlappenden Aktivierungs-abschnitten auf diesem Zahlenstrahl; Dehaene, 2003).

    Bestimmte Zahlen k�nnen sich zudem neben einerQuantit�t auch auf bestimmte Aspekte von episodischemoder deklarativem Faktenwissen beziehen, wie z. B.„4711“, „1945“ oder wie das individuelle Geburtsjahr oderLebensalter.

    7.2.2 Input/Output

    Q Geh�rte oder geschriebene Zahlw�rter k�nnen wie an-dere W�rter auch identifiziert bzw. gesprochen und ge-schrieben werden.

    Q Arabische Zahlen k�nnen lediglich visuell identifiziertund geschrieben werden, wobei eine einzelne Ziffer be-reits einem Wort mit bestimmter Bedeutung/Semantik(der durch die Ziffer bezeichneten numerischen Anzahl/Quantit�t) und nicht einem Buchstaben entspricht.

    Q Die Anzahl einer Menge von (visuellen) Objekten (auchPunkt- und Fingermuster oder die Augenzahl eines W�r-fels) erlaubt die nichtsprachliche Enkodierung von nu-merischer Quantit�t. Auch Handgesten k�nnen zumAusdr�cken von Anzahlen in nichtsprachlicher Form ein-gesetzt werden.

    7.2.3 Transkodieren/Umformen

    Die verschiedenen Zahlencodes k�nnen nach festen Regelnineinander �berf�hrt werden. Beim (lauten) Lesen von ara-bischen Zahlen (z. B. „56“ = „sechsundf�nfzig“) m�ssen dieeinzelnen Ziffern einschließlich ihrer Position in der Zif-fernsequenz identifiziert werden. Bei der Zahl 56 muss ausdem Zahlwortlexikon das f�nfte Element aus der Mengeder Dekadenw�rter und das sechste aus der Menge der Ei-nerw�rter abgerufen werden und unter Beachtung der In-

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    84

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • version und Verwendung des Partikels „und“ kombiniertwerden.

    Entsprechend gibt es andere Transkodierungsprozessef�r die �berf�hrung zwischen je zwei der drei mentalenRepr�sentationen, z. B.Q beim Schreiben von Zahlen oder Zahlw�rtern nach Dik-

    tat,Q beim Benennen der Gr�ße einer Punktmenge oderQ beim Zugriff auf die numerische Quantit�t einer auditiv

    oder visuell dargebotenen Zahl.

    7.2.4 Rechnen

    Die drei Zahlencodes sind in unterschiedlicher Weise undKombination beim m�ndlichen oder schriftlichen Rechnenbeteiligt.Q Das kleine Einmaleins etwa ist hoch �berlernt. Bei der

    Vorgabe von z. B. „7 � 8“ wird �blicherweise die Aufgabeintern in eine verbale Repr�sentation �berf�hrt („siebenmal acht“), welche den Abruf des gespeichertes Ergeb-nisses in sprachlicher Form („sechsundf�nfzig“) erm�g-licht.

    Q Aufgaben in den Grundrechenarten mit gr�ßeren ara-bischen Zahlen nutzen die einzigartigen M�glichkeitendes „Position-mal-Wert“-Notationssystems, um ent-sprechende, meist auch hoch �berlernte Rechenalgorith-men (z. B. „342–189“; „342 � 189“) zur L�sung auf dieseZahlen anzuwenden.

    Q Die abstrakte Gr�ßenrepr�sentation wird beim numeri-schen Gr�ßenvergleich (welche von zwei/mehreren Zahlist die gr�ßere/gr�ßte?) eingesetzt, mit schnelleren undweniger mit Fehlern behafteten Entscheidungen bei wei-ter auseinander liegenden Zahlen (sog. Distanzeffekt) –was anhand der angenommenen quantitativen numeri-schen Gr�ßenrepr�sentation auf einem analogen Zahlen-strahl gut erkl�rbar ist.

    Bei komplexeren Aufgabenstellungen im Umgang mit Zah-len und beim Rechnen werden zus�tzlich mehr oder weni-ger starke Anforderungen an das (sprachliche) Arbeits-ged�chtnis und an (sprachliche) Aufmerksamkeits- undExekutivfunktionen gestellt.

    Rechnen erfordert eine Vielzahl von Teilprozessen:Q Zahlen (und Rechenzeichen) m�ssen in der jeweiligen

    Notation erkannt, verstanden und produziert werden.Q Im Ged�chtnis gespeicherte Rechenfakten m�ssen ab-

    gerufen werden.Q Im Ged�chtnis gespeicherte Rechenprozeduren m�ssen

    als eine Sequenz von Rechenschritten abgerufen wer-den.Die (mentale) Ausf�hrung von Transkodierungs- und Re-chenprozessen erfordert kognitive Ressourcen wie Auf-merksamkeits-, Arbeitsged�chtnis- und Probleml�se-prozesse.

    7.3 KlinikDie Symptome einer Akalkulie lassen sich grob unterteilenin:1. St�rungen des Transkodierens (d. h. der Zahlenver-

    arbeitung), die etwa das (auditive) Verst�ndnis f�r Zah-len oder das (laute) Lesen und Schreiben von Zahlen be-treffen,

    2. St�rungen der quantitativen Gr�ßenrepr�sentation(d. h. der mentalen Verarbeitung von numerischenQuantit�ten), wie etwa beim numerischen Gr�ßenver-gleich und

    3. St�rungen des (m�ndlichen oder schriftlichen) Rech-nens, einschließlich der Verarbeitung der Rechenzei-chen.

    7.3.1 St�rungen des Transkodierens

    F�r die drei symbolischen Repr�sentationen „arabischeZahlen“, „gesprochene Zahlw�rter“ und „geschriebeneZahlw�rter“ gibt es insgesamt 6 verschiedene Transkodie-rungswege, die alle in neuropsychologischen Studien un-tersucht worden sind (Noel, 2000). Beim exemplarisch ge-nauer erl�uterten (lauten) Lesen von arabischen Zahlen,welches sich wesentlich auf die (linke) sprachdominanteHemisph�re st�tzt, sind drei sequenzielle Verarbeitungs-schritte erforderlich:1. die Identifizierung der Ziffernkette (Enkodierung),2. die (mentale) �berf�hrung in eine Abfolge von W�rtern

    und3. deren �ußerung.

    Identifizierung von Ziffern

    St�rungen in der initialen (Enkodierungs-)Phase findetman bei reiner Alexie. Trotzdem sind diese Patienten inder Lage, auch mehrstellige Zahlen hinsichtlich ihrer nu-merischen Gr�ße miteinander zu vergleichen (da die rech-te Hemisph�re ebenfalls arabische Zahlen enkodieren undden Gr�ßenvergleich anhand der quantitativen Gr�ßenre-pr�sentation ausf�hren kann).

    �berf�hrung in ein Zahlwort

    Bei der Transkodierung in ein Zahlwort treten unterschied-liche Arten von Fehlern auf:Q Bei sog. lexikalischen Fehlern wird ein lexikalisches Ele-

    ment durch ein anderes Element aus derselben lexika-lischen Zahlwortklasse (Einer: 0 –9; „Teens“: 11 –19,Dekaden: 10 –90) ersetzt, w�hrend die gesamte morpho-syntaktische Struktur (sog. Zahlwortrahmen) des Ziel-zahlworts erhalten ist (z. B. „56“ = „sechsundsiebzig“oder „411“ = „vierhundertzw�lf“).

    Q Syntaktische Fehler sind dadurch charakterisiert, dass einfalscher syntaktischer Rahmen erzeugt wird und in diesenentsprechend der Ziffern der arabischen Zahl das „richtige“Zahlwort eingesetzt wird (z. B. „56“ = „f�nfhundertsechs“).

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    7.3 Klinik 85

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • Q In Sprachen wie dem Deutschen treten zudem als cha-rakteristische Fehler Inversionsfehler bei zweistelligenZahlen oder Fehler bei Zehner- und Einerstellen inmehrstelligen Zahlen auf (z. B. „56“ = „f�nfundsechzig“).Beim Lesen mehrstelliger Zahlen werden u. U. Zahlwort-morpheme – insbesondere sog. Multiplikatorw�rter(„hundert“, „tausend“, „million“) – ausgelassen (z. B.„30160“ = „dreißig hundertsechzig“).

    Beim „umgekehrten“ Transkodierungsweg des Schreibensvon arabischen Zahlen nach Diktat kommt neben den zu-vor beschriebenen lexikalischen und syntaktischen Fehlernh�ufiger folgender Fehlertyp vor: „viertausenddreihun-dertachtundsechzig“ = „400030068“. Das Zahlwort wirddabei abschnittweise („term-by-term“) transkodiert, unddie sog. �berschreibungsregeln f�r die Nullen werdennicht beachtet; d.h das additive Kompositionsprinzipmehrstelliger Zahlen wird nicht korrekt angewendet.

    Trotz gravierender Transkodierungsprobleme, z. B. beimlauten Lesen selbst einstelliger Zahlen, kann ein gutes Ver-st�ndnis f�r dieselben Zahlen vorliegen. Neben der quanti-tativen Bedeutung der Zahlen kann u. U. auch semanti-sches deklaratives Wissen aktiviert und statt desZahlwortes ge�ußert werden (z. B. „1945“ – „Hitler weg“).Patienten mit schwereren Benennst�rungen benutzen vor-wiegend bei kleineren Zahlen h�ufiger das besser erhalteneautomatisierte Aufw�rtsz�hlen, um bis zur richtigen Zahlhoch zu z�hlen. Bei diesem Hochz�hlen kommt es ganz�berwiegend nicht zu Fehlern; insbesondere wird nicht�ber die Zielzahl hinaus weiter gez�hlt. Alternativ werdenals Kompensationsstrategie auch die Finger zum Zeigender Anzahl oder der Zeigefinger zum „imagin�ren“ Schrei-ben der arabischen Zahl auf einer Unterlage oder in derLuft eingesetzt.

    Diese Strategien sind nicht nur beim Transkodieren zufinden, sondern auch dann, wenn in einer Aufgabenstel-lung mit Zahlen eine m�ndliche �ußerung als Antwort ge-fragt ist, sprachlich expressive Probleme aber den lexika-lischen Zugriff verhindern.

    �ußerung des Zahlwortes

    F�r die letzte Phase der (laut-)sprachlichen �ußerung ei-nes Zahlwortes werden generelle Sprachverarbeitungspro-zesse angenommen, obwohl auch hier Leistungsdissozia-tionen beobachtet werden k�nnen.

    Klinische Beispiele

    Akalkulie und Aphasie treten h�ufig assoziiert auf. Den-noch sind Zahlenverarbeitungsprobleme (und Rechenst�-rungen) von Aphasikern nicht unbedingt auf die Sprachst�-rung zur�ckzuf�hren (Basso et al., 2005) – auch wenn beiAphasien oft St�rungen der rezeptiven wie produktivenZahlenverarbeitung auftreten (�berblick bei Claros Salinasu. Willmes, 2000), bei vielen Patienten in Kombination miteiner generellen Lese- und Schreibst�rung.

    St�rungen des Zahlenlesens und -schreibens treten vor-wiegend zusammen auf, k�nnen aber auch dissoziiert sein:Ein Patient mit Jargon-Aphasie (Benson u. Denkla, 1969),der �ber ein gutes Zahlenverst�ndnis (d. h. eine korrekteZuordnung m�ndlich vorgegebener Zahlw�rter zu schrift-lichen Zahlen oder Punktmengen) verf�gte, produziertebeim Benennen arabischer Ziffern und Zahlen nur Parapha-sien. H�ufiger zu beobachten ist der Fall, dass ein Aphasi-ker bei einem schriftlich vorgegebenen ein- oder mehrstel-ligen Zahlenpaar richtig die gr�ßere Zahl zeigen kann,ohne dass das f�r geschriebene bzw. auditiv vorgegebeneZahlw�rter auch der Fall w�re.

    Broca-Aphasiker zeigen h�ufiger syntaktische als lexika-lische Transkodierungsfehler; bei Wernicke-Aphasikernfindet man keine deutlichen Unterschiede zwischen diesenFehlerarten.

    Auch bei neuropsychologischen Patienten ohne Aphasiefindet man verschiedene Arten von St�rungen der Zahlen-verarbeitung.Q Typisch f�r eine eingeschr�nkte Zahlenmerkspanne ist

    beim Diktat-Schreiben von mehrstelligen Zahlen – be-sonders mit ausschließlich von Null verschiedenen Zif-fern – ein Abbruch nach wenigen Ziffern.

    Q Bei Zahlen mit „eingebetteten“ Nullen werden bei Pa-tienten mit r�umlich-konstruktiven Problemen biswei-len als vorwiegende Fehlerart Nullstellen ausgelassenoder hinzugef�gt.

    Q Visuelle Wahrnehmungsst�rungen (Hemianopsie) oderein visueller Neglect k�nnen sich als Vernachl�ssigun-gen von Ziffern im rechten Teil mehrstelliger Zahlen oder(seltener) am Anfang zeigen (H�caen et al., 1961), ohnedass semantisch gehaltvolleres Sprachmaterial ebenfallsbetroffen sein m�sste.

    Q Ein vermutlich auf mangelhafte kognitive Kontroll-mechanismen zur�ckgehender Transkodierungsfehler,der bislang vorwiegend f�r die Zahlenverarbeitung beiAlzheimer-Patienten beschrieben worden ist (Kessler u.Kalbe, 1996), beinhaltet, dass Teile der Zielzahl in derNotation des Quellcodes geschrieben werden, z. B.:„2457“ = „2 tausendvierhundert57“. Empirisch begr�n-dete Kritik an der Verwendung dieser Fehlerart als Diag-nosekriterium f�r eine beginnende Alzheimer-Demenz�ußern Della Sala et al. (2000).

    Q R�umlich-visuelle bzw. r�umlich-konstruktive St�run-gen sind beim schriftlichen Rechnen in den Grund-rechenarten hinderlich. Dort ist es erforderlich, Zahlennach bestimmten Regeln anzuordnen (Hartje, 1987):Beim Addieren mehrerer Zahlen gelingt es nicht, dieseexakt auf den Stellenwert bezogen anzuordnen, und eskommt zum „Verrutschen“ in den Spalten. Beim schrift-lichen Multiplizieren kann die Anordnung der Zwi-schenergebnisse z. B. durch fehlendes oder falsches Ein-r�cken fehlerhaft sein.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    86 7 Akalkulie

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • 7.3.2 St�rungen der quantitativenGr�ßenrepr�sentation

    Im Unterschied zu den leichter festzustellenden sprach-bezogenen Fehlern sind Probleme mit der mentalen Ver-arbeitung der abstrakten numerischen Gr�ße wenigerstark beachtet worden; zumal die bilaterale Repr�senta-tion der quantitativen Gr�ßenrepr�sentation diese vermut-lich weniger anf�llig f�r umschriebene Hirnsch�digungenmacht.

    Es sind nur wenige Patienten beschrieben worden, diebei erhaltenen sprachlichen F�higkeiten Fehler im Umgangmit abstrakten Quantit�ten zeigten (Dehaene u. Cohen,1997; Delazer u. Benke, 1997; Lemer et al., 2003). Diese Pa-tienten hatten L�sionen in der intraparietalen Region dersprachdominanten Hemisph�re. Sie konnten Zahlen lautlesen und andere numerische Symbole (wie Punktmustervon W�rfeln) transkodieren sowie automatisierte Reihenvon Zahlw�rtern (wie beim Hochz�hlen oder Aufsagen vonMultiplikationsreihen) produzieren. Beim Gr�ßenvergleichvon arabischen Zahlen kam es aber zu Fehlern, und auchsog. Zahlenbisektionsaufgaben („Welches ist die numeri-sche Mitte zwischen zwei vorgegebenen Zahlen?“) konn-ten nicht gel�st werden. Weiterhin konnten selbst ein-fachste Subtraktionsaufgaben nicht gel�st werden, vondenen man nicht annimmt, dass sie im Ged�chtnis gespei-chert sind. Diese Patienten k�nnen auch nicht �berschlags-m�ßig rechnen. Semantische Probleme traten h�ufiger no-tationsunabh�ngig auf, etwa auch beim Gr�ßenvergleichvon Punktmengen.

    Sehr eindrucksvoll ist der von Delazer und Mitarbeitern(2005) untersuchte Fall einer Patientin mit bilateraler, st�r-ker rechtshemisph�risch ausgepr�gter, posteriorer kortika-ler Atrophie, die ein Symptommuster zeigte, das gut mit ei-ner parietalen Degeneration vereinbar war:Q In Aufgabenstellungen zur numerischen Kognition, die

    zunehmende visuo-spatiale F�higkeiten erforderten,kam es zu vielen Fehlern: z. B. beim Abz�hlen vonPunktmengen im Bereich von 11 bis 30 und bei einersog. Zahlenstrahl-Aufgabe, bei der die Patientin die un-gef�hre Position einer vorgegebenen Zahl auf einer Stre-cke von 0 –100 bzw. 0 –50 markieren musste.

    Q Fehler traten auch bei den Aufgabenstellungen auf, indenen der Zugriff auf eine quantitative Gr�ßenrepr�-sentation erforderlich war: So z. B. bei der Zahlenbisek-tionsaufgabe, bei der die numerische Mitte zwischenzwei vorgegebenen anderen Zahlen angegeben werdensoll (Produktionsvariante) oder ein vorgegebenes Zah-lentripel daraufhin beurteilt werden soll, ob die in derMitte des Tripels angeordnete Zahl auch die numerischeMitte ist (rezeptive Variante; z. B. 22– 25–28 vs.21–23– 28).

    Q Viele Fehler traten auch beim approximativen Rechnenauf, bei dem aus zwei falschen Ergebnissen einer arith-metischen Rechnung schnell die besser passende L�sungausgew�hlt werden musste; sowie bei numerischenSch�tzaufgaben (Gr�ße, Gewicht, Anzahl, Zeitdauer)und Aufgaben zum semantischen deklarativen numeri-

    schen Wissen (Anzahlen, Preise von allt�glichen Dingen).Die Beeintr�chtigung des semantischen Wissens war da-bei auf numerisches Wissen beschr�nkt.

    7.3.3 St�rungen des Rechnens und derVerarbeitung von Rechenzeichen

    Probleme beim Rechnen im engeren Sinn lassen sich ein-teilen in:1. St�rungen des arithmetischen Faktenabrufs und2. St�rungen der F�higkeit, Rechenoperationen auszuf�h-

    ren (vgl. Warrington, 1982).

    Beide Funktionen k�nnen auf Grund ihrer angenommenenModularit�t unabh�ngig voneinander beeintr�chtigt sein(Caramazza u. McCloskey 1987; McCloskey et al., 1991).

    St�rungen des arithmetischen Faktenabrufs

    St�rungen des Abrufs von Rechenfakten umfassen Fehlerbeim einfachen Addieren und Subtrahieren (im Zahlen-raum unter 20), beim einfachen Multiplizieren (kleinesEinmaleins) und evtl. beim einfachen Dividieren durchkleine einstellige Zahlen. Normalerweise f�hrt man f�r sol-che Aufgaben keine schrittweisen Berechnungen aus, son-dern ruft im Langzeitged�chtnis gespeicherte Ergebnisseab (wie bei anderen, stark �berlernten Fakten). Multiplika-tionen mit Null oder Eins geh�ren eher zum Regelwissenund k�nnen selektiv besser oder schlechter erhalten seinals das Rechnen mit anderen Zahlen (�berblick bei Pesentiet al., 2000). Fehlerhafte Ergebnisse bei einfachen Multipli-kationen stammen h�ufiger aus derselben Multiplikations-reihe (z. B. „7 � 9 = 54“; sog. Tafel-Fehler) als aus anderenReihen oder nicht aus dem kleinen Einmaleins.

    Probleme des Faktenabrufs k�nnen sich auch (aus-schließlich) in deutlich erh�hten L�sungszeiten ausdr�-cken (Warrington, 1982), was auf den Einsatz von Rechen-strategien bei erschwertem oder nicht m�glichemGed�chtnisabruf hinweist.

    St�rungen der F�higkeit, Rechnoperationenauszuf�hren

    St�rungen der Durchf�hrung mehrschrittiger Rechenope-rationen oder der Beherrschung arithmetischer Prozedurensind durch die inkorrekte oder unvollst�ndige Anwendungvon L�sungsalgorithmen gekennzeichnet. Bei schriftlichenAdditionsvorg�ngen werden h�ufig die Zehner�bertr�genicht ber�cksichtigt; ebenso wird bei schriftlicher Subtrak-tion das Zehnerborgen ausgelassen oder fehlerhaft aus-gef�hrt. Weitere Fehlerarten sind bei Claros, Salinas undWillmes (2000) zusammengefasst.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    7.3 Klinik 87

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • Klinische Beispiele

    Gest�rte Verarbeitung von Rechenzeichen,gest�rte Z�hlf�higkeit

    Bei Aphasikern kann sich eine gest�rte Verarbeitung vonRechenzeichen so �ußern, dass auditiv vorgegebene Re-chenzeichen nicht verstanden oder mit anderen Rechenzei-chen verwechselt werden. Derartige Probleme k�nnen auchselektiv, ohne Beeintr�chtigungen bei der Verarbeitung an-derer visueller Symbole auftreten (Ferro u. Botelho, 1980).

    Beeintr�chtigungen der Z�hlf�higkeit als entwicklungs-psychologischem Vorl�ufer von Additions- und Subtrak-tionsverm�gen (Wynn, 1998) sind bei aphasischen Patien-ten h�ufig zu beobachten. Allerdings beginnen die Problemein den meisten F�llen erst bei zwei- oder mehrstelligenZahlen (neologistische oder paraphasische Ver�nderungensowie Auslassen einzelner oder mehrerer Zahlen). Beimwenig automatisierten R�ckw�rtsz�hlen kommen Beein-tr�chtigungen des verbalen Arbeitsged�chtnisses hinzu.Als spezieller Fehler wird beim �bergang zum n�chst klei-neren Zehner oft die n�chst kleinere oder eine andere fal-sche Zehnerzahl ge�ußert (z. B. „23, 22, 21, 10“).

    Rechenst�rung im engeren Sinne

    Die F�higkeit zu rechnen kann komplett oder auch selektiv,f�r einzelne Grundrechenarten ausfallen. Patienten mitschwerer Aphasie k�nnen h�ufig selbst einfache Grund-rechenaufgaben nicht mehr l�sen oder nur einfache Addi-tionsaufgaben bei visueller Vorgabe. Bei weniger schwerenAphasien ist die F�higkeit zu addieren und zu subtrahierenmeist deutlich besser erhalten, auch wenn z. B. das Zehner-borgen bei Subtraktionsaufgaben konsistent fehlerhaft seinkann (Girelli u. Delazer, 1996). Das Multiplizieren kannh�ufiger selektiv stark beeintr�chtigt sein, da hier – mehrals bei den anderen Rechenarten – ein direkter Abruf ausdem Ged�chtnis erfolgt. Pesenti und Mitarbeiter (1994) be-richten �ber einen Fall mit selektiv erhaltener Subtrak-tionsleistung.

    Delazer und Mitarbeiter (1999) untersuchten in einergr�ßeren Gruppenstudie aphasische Patienten bei Trans-kodier- und Rechenaufgaben. Die Gesamtzahl an Fehlernkorrelierte mit dem Schweregrad der aphasischen Sprach-st�rung.Q Patienten mit Broca-Aphasie waren besonders beim Ab-

    ruf der Ergebnisse einfacher Multiplikationen beein-tr�chtigt (vermutlich wegen der erforderlichen verbalenMediierung), w�hrend Patienten mit globaler oder Wer-nicke-Aphasie eher Fehler bei den Rechenprozedurenunterliefen.

    Q Patienten mit Broca-Aphasie machten mehr sog. syntak-tische Fehler beim lauten Lesen arabischer Zahlen (z. B.„406“ = „sechsundvierzig“; allerdings in italienischerSprache; falsch angelegter syntaktischen Zahlwortrah-men, aber korrekte lexikalische Elemente).

    Q Wernicke-Aphasiker hingegen begingen mehr sog. lexi-kalische Fehler (z. B. „24“ = „vierunddreißig“; in italie-

    nischer Sprache; korrekt angelegter syntaktischer Rah-men und fehlerhaft ausgew�hltes lexikalisches Elementf�r die Dekadenzahl).

    Nach Interpretation der Autoren weisen diese Befunde ins-gesamt auf eine Assoziation zwischen den St�rungen vonSprache und Zahlenverarbeitung hin.

    Ein Fall mit posteriorer kortikaler Atrophie von Delazerund Mitarbeitern (2005) ist bez�glich des unterschied-lichen Status der verschiedenen Grundrechenarten sehrinteressant. Einfache Kopfrechenaufgaben zu hoch �ber-lernten Additions- und Multiplikationsfakten konnten (na-hezu) fehlerfrei beantwortet werden, ganz im Gegensatzzu einfachen Subtraktions- und Divisionsaufgaben.

    Nach neueren modelltheoretischen �berlegungen vonLemer et al. (2003) sowie Dehaene et al. (2004) st�tzensich einfache Addition und Multiplikation auf sprachlicheProzesse und einen sprachlich mediierten Ged�chtnisabrufvon �berlernten Rechenfakten, w�hrend sich die Subtrak-tion wie das approximative Rechnen und Absch�tzen aufdie (beeintr�chtigte) quantitative Gr�ßenrepr�sentationst�tzt.

    Die wichtigsten Symptome einer Akalkulie betreffen:Q die Zahlenverarbeitung beim �berf�hren einer Zahlen-

    notation in eine andere (Transkodieren), wie etwa dasauditive Verst�ndnis f�r Zahlw�rter und das Lesesinn-verst�ndnis f�r Zahlen und Zahlw�rter sowie das (laute)Lesen und Schreiben von Zahlen,

    Q die mentale Verarbeitung von numerischen Gr�ßen, wiebeim numerischen Gr�ßenvergleich,

    Q das m�ndliche oder schriftliche Rechnen, wie den Abrufvon Rechenfakten, das Anwenden von Rechenprozedu-ren und Strategien,

    Q das konzeptuelle Verst�ndnis von arithmetischen Regelnund Prinzipien.

    7.3.4 Exkurs: Zum Zusammenhangvon Aphasie und Akalkulie

    Auch wenn gesunde Probanden sprachliche Funktionenbeim Rechnen und Verarbeiten von Zahlen einsetzen, stelltsich die wichtige Frage, in welchem Ausmaß Zahlenver-arbeitung und Rechnen funktionell unabh�ngig von Spra-che sind.

    Basso et al. (2000) haben auf Grund einer gr�ßeren re-trospektiven Studie argumentiert, dass sprachliche Funk-tionen und Rechnen voneinander unabh�ngig sind und beilinkshemisph�rischer L�sion selektiv eine Akalkulie vorlie-gen kann; umgekehrt war bei einem betr�chtlichen Pro-zentsatz von Aphasikern (50 % der Broca- und 39 % derWernicke-Aphasiker) bei Einsatz der EC 301 R Akalkulie-Testbatterie keine Akalkulie zu diagnostizieren. Auch diesprachlichen Beeintr�chtigungen bei Patienten mit undohne Akalkulie waren weder qualitativ noch quantitativauf Gruppenebene verschieden.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    88 7 Akalkulie

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • Zu einem anderen Ergebnis kamen Basso et al. (2005)anhand einer vergr�ßerten Datenbasis, die eine „signifi-kante Assoziation“ bei 36 von 61 rechtsh�ndigen Patientenmit ausschließlich linkshemisph�rischer L�sion feststell-ten. Andererseits zeigten von den restlichen 25 Patienten19 ausschließlich eine Aphasie und 6 ausschließlich eineAkalkulie. Die Autoren weisen in ihrer Diskussion der Er-gebnisse darauf hin, dass diese Assoziation auch lediglichein Artefakt der Vaskularisation des Gehirns sein kann, beider benachbarte Hirnareale (besonders im Versorgungs-gebiet des hinteren Astes der A. cerebri media) gemeinsamvon einer L�sion betroffen sein k�nnen, auch wenn anato-misch eine Separierbarkeit der die sprachlichen und rech-nerischen Funktionen unterst�tzenden Areale gegeben ist.

    Die Frage nach einer Assoziation zwischen Aphasie undAkalkulie spiegelt ein wichtiges Thema der kognitivenNeurowissenschaften wider: In welchem Umfang st�tzensich h�here kognitive Funktionen auf Sprache?

    Exaktes Rechnen vollzieht sich vermutlich unter Einsatzdes sprachlichen Codes, und mathematisches Faktenwis-sen ist zumindest teilweise in sprachlicher Form im Lang-zeitged�chtnis gespeichert (z. B. das kleine Einmaleins).Das Spektrum der Annahmen reicht von einer notwendi-gen Mediierung mathematischer Berechnungen durch lexi-kalische und syntaktische sprachliche Prozesse hin zu derBehauptung, dass im entwickelten Zustand des Erwachse-nenalters das Rechnen unabh�ngig von Sprache sein kann.

    In einer viel beachteten Studie wurden von Varley et al.(2005) drei Patienten mit ausgedehnten L�sionen im Ver-sorgungsbereich der A. cerebri media unter Einschluss pe-risylvischer temporaler, parietaler und frontaler Kor-texareale und klinisch schweren chronischen Aphasienvorgestellt. Die Aphasien waren durch schwere rezeptiveund expressive sprachliche syntaktische Probleme charak-terisiert (Agrammatismus). Trotzdem konnten die Patien-ten in Arithmetikaufgaben syntaktische Prinzipien wie Re-kursivit�t und den Umgang mit Klammerausdr�cken (z. B.„50 – ((4 + 7) � 4)“), die eine Abweichung von einer linea-ren Abarbeitung von links nach rechts erforderten, korrektbeachten. Bei sonstigen sprachlichen �ußerungen und An-forderungen standen den Patienten diese Operationen imrein sprachlichen Kontext nicht oder nur deutlich einge-schr�nkt zur Verf�gung.

    7.4 Diagnostik

    Spezifische Verfahren zur Untersuchung einer Akalkuliegibt es – auch international – nur wenige. G�ngige Intelli-genztestverfahren enthalten oft einzelne Untertests mitRechenanforderungen; dar�ber hinaus gibt es eine gr�ßereZahl von nach Klassenstufen gestaffelten Schulleistungs-tests. Doch werden hier die verschiedenen beim Rechnenund in der Zahlenverarbeitung beteiligten Komponentenund Prozesse nicht hinreichend genau und differenziert er-fasst.

    7.4.1 Klinisch-neuropsychologischeDiagnostik

    Screening-Verfahren: ZRT und EC 301 R

    F�r die klinisch-neuropsychologische Anwendung sindzwei umfangreichere Screening-Verfahren geeignet:Q der Zahlenverarbeitungs- und Rechentest (ZRT; Kalbe et

    al., 2002) in Verbindung mit dem Test f�r KognitivesSch�tzen (TKS; Brand et al., 2002) und

    Q die deutsche Fassung der in einem EU-Projekt entwickel-ten EC 301 R (Claros Salinas, 1994).

    Beide Verfahren orientieren sich explizit an den aktuellenkognitiv-neuropsychologischen Modellen. Mit ihnen kannman in 30 –60 Minuten die wichtigsten Komponentenrechnerischer bzw. allgemein auf Zahlen bezogener rezep-tiver und expressiver F�higkeiten erfassen. Der Test bein-haltet: Z�hlelemente in korrekter Abfolge �ußern, Zahlentranskodieren, Mengen durch Absch�tzen erfassen, Z�hlenund Abz�hlen. Ferner werden gepr�ft: Kenntnisse des ein-fachen Rechnens, einschließlich des Zugangs zu arithmeti-schem Faktenwissen; prozedurale Kenntnisse �ber dieGrundrechenarten; die Verf�gbarkeit semantischer Men-genrepr�sentationen (durch numerische Gr�ßenvergleiche,Absch�tzen der Gr�ßenverh�ltnisse bildlicher Stimuli, z. B.der H�he einer abgebildeten Pflanze, und kontextuellesMengensch�tzen, z. B. „Zwanzig Seiten f�r einen Brief; istdas viel, mittel oder wenig?“).

    Beide Screening-Verfahren erlauben eine Einsch�tzung,ob eine Leistung im Vergleich zu einer Stichprobe nichthirngesch�digter Personen als normal oder als beeintr�ch-tigt einzustufen ist. Der ZRT sieht im St�rungsbereich zu-s�tzlich eine grobe Abstufung nach 3 Schweregraden vor,ohne jedoch eine Differenzierung nach Bildungsstufen vor-zunehmen. Bereits bei den recht einfachen Aufgaben zumschriftlichen Rechnen in der Testbatterie EC 301 R ist derTrennwert zur Beeintr�chtigung abh�ngig von der Schul-bildung.

    Neuere Testbatterie: Die NPC

    Eine neue, ebenfalls eng an den kognitiven Verarbeitungs-modellen orientierte Testbatterie mit dem K�rzel NPC(Number Processing and Calculation Battery; Delazer etal., 2003) enth�lt insgesamt 35 Aufgabenstellungen zumZ�hlen, zum (semantischen) Verst�ndnis von Zahlen, zumTranskodieren, zum exakten Kopfrechnen, zum schriftli-chen sowie zum approximativen Rechnen. �ber die ande-ren Testbatterien hinausgehend gibt es Textaufgaben undAufgabenstellungen zum Verst�ndnis mathematischerPrinzipien bei der Addition und Multiplikation – was f�reine detailliertere Untersuchung der genauen St�rungs-form und auch f�r eine gezielte Planung von spezifischenTherapiemaßnahmen hilfreich ist. F�r die NPC liegen auchTrennwerte vor (bei Prozentrang 10), separat f�r vier Al-ters- und zwei Bildungsgruppen. Die Durchf�hrung dauertca. 90 Minuten.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    7.4 Diagnostik 89

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • 7.4.2 Berufsbezogene Diagnostik

    M�nchner Akalkulie-Pr�fung

    F�r Patienten mit leichter Akalkulie, deren berufliche Re-habilitation ansteht, gibt es mit der M�nchner Akalkulie-Pr�fung (Claros Salinas, 1993) eine Sammlung von Auf-gabenstellungen, in der numerische Leistungsdefizite f�rkomplexere, im beruflichen Alltag relevante Anforderun-gen erfasst werden.Q Im Teil Zahlenverarbeitung geht es um lautes Lesen,

    Schreiben nach Diktat und stellenwertbezogenes Anord-nen von unterschiedlich komplexem Zahlenmaterial.

    Q Im Arithmetik-Teil sind es einfache und – auch f�r Per-sonen ohne Hirnsch�digung nicht fehlerfrei beherrschte– komplexere Aufgaben zu den vier Grundrechenarten,in den Modalit�ten:– Kopfrechnen auf auditive oder visuelle Aufgabenpr�-

    sentation und– schriftliches Rechnen.

    Bei der Auswertung werden qualitative Aspekte ber�ck-sichtigt, z. B. inwieweit inkorrekte Ergebnisse auf ihre Plau-sibilit�t hin kontrolliert werden.

    Intelligenztests und Schulleistungstests

    G�ngige Intelligenztests enthalten einzelne, u. U. bereitsnach Bildungsgruppen und Alter gut normierte Untertests.

    Weiterhin gibt es nach Schulstufen differenzierte Schul-leistungstests zum Rechnen. Die Aufgaben in diesen Testssind aber oft nicht nach kognitionspsychologischen Ge-sichtspunkten ausgew�hlt, sondern nach psychometri-schen G�tekriterien und an den Rahmen-Lehrpl�nen f�rdie einzelnen Klassenstufen orientiert. Deshalb sind dieseVerfahren nur sehr bedingt f�r eine differenziertere neuro-psychologische Diagnostik geeignet. Die zu einem Rohwertzusammengefassten Items bilden h�ufig sehr unterschied-liche Verarbeitungsprozesse ab.

    Wenn aber bez�glich eines Patienten Empfehlungen�ber einen m�glichen Wiedereintritt ins Berufsleben aus-gesprochen werden sollen, eignet sich der aufw�ndig nachBildungsabschl�ssen normierte Mathematiktest (Ibrahi-movic et al., 2002) gut. Mit ihm ist eine Aussage dar�berm�glich, ob das zum Ende der 9. Klassenstufe erwarteteschulische Wissen in Arithmetik und Geometrie weiterhinverf�gbar ist, und ob der Umgang mit Textaufgaben, mitTabellen und Grafiken gelingt.

    7.4.3 Differenzialdiagnose

    Wie bereits dargestellt, sollte eine orientierende klinischeund klinisch-neuropsychologische Untersuchung sowohlsprachliche wie nichtsprachliche Aspekte der Zahlenver-arbeitung und des Rechnens enthalten. Die konkretenVorschl�ge verschiedener Autoren variieren jedoch hin-sichtlich der Anzahl und Art der empfohlenen Aufgaben-stellungen, dem Schweregrad der Anforderungen und derAnzahl der Items je Aufgabenstellung betr�chtlich.

    Generell wird empfohlen, stets auch sprachliche Funk-tionen, Lesen und Schreiben, visuo-spatiale Verarbeitung,verschiedene Aufmerksamkeitsfunktionen (Alertness, se-lektive, geteilte und Daueraufmerksamkeit), das sprach-liche und nichtsprachliche Arbeitsged�chtnis sowie exe-kutive Funktionen zumindest orientierend zu untersuchen.

    Ardila und Rosselli (2002) geben einen guten klinisch-neuropsychologisch orientierten �berblick mit klinischenBeschreibungen der verschiedenen Formen von Akalkulieund einer Darstellung von Problemen bez�glich der Zah-lenverarbeitung und dem Rechnen bei anderen St�rungs-bildern.

    Gerstmann-Syndrom

    In den letzten Jahren ist im Zusammenhang mit Zahlenver-arbeitungs- und Rechenst�rungen die urspr�nglich vonGerstmann beschriebene Symptomkombination verst�rktbeachtet worden (Akalkulie, Rechts-Links-Orientierungs-st�rung, Agraphie und Fingeragnosie als Ausdruck einerSt�rung des K�rperschemas, mit besonderer Beteiligungvon Fingern und H�nden). Gerstmann vermutete, dass dieVerbindung zur Akalkulie �ber die wichtige Rolle gestiftetwird, die die einzelnen Finger sowie deren Lateralit�t f�rden Erwerb der Rechenf�higkeit spielen. Die Annahme ei-nes einzigen zu Grunde liegenden Defizits wird ganz �ber-wiegend bestritten (Benton 1992). Man nimmt vielmehreine zuf�llige Assoziation verschiedener St�rungen an, we-gen ihrer anatomisch-funktionellen N�he in benachbartenRegionen des inferioren Parietalhirns. Von der Arbeits-gruppe um Dehaene wird diskutiert, dass eine funktionelleGemeinsamkeit in der St�tzung genereller r�umlicher undsensomotorischer Funktionen durch das Parietalhirn zu se-hen ist. Dies st�tzt sich auf verschiedene fMRT-Studien (et-wa Simon et al., 2002) zu Aktivierungen im und um den in-traparietalen Kortex bei Rechenaufgaben, Zeige- undGreifbewegungen von Fingern und Hand, sowie bei derr�umlichen Aufmerksamkeitsausrichtung.

    Insbesondere die Form der Akalkulie bei Vorliegen eines„reinen“ Gerstmann-Syndroms ohne Aphasie ist vereinbarmit einem semantischen Defizit in der Verarbeitung nume-rischer Gr�ßeninformation, die sich nach vielen funktionellbildgebenden Studien auf Regionen im horizontalen Anteildes intraparietalen Sulkus (HIPS; Dehaene et al., 2003)st�tzt. Auch die anatomische N�he zu inferior parietalenSpracharealen sowie zu superior parietalen Arealen derRaumverarbeitung macht komplexere Muster bei St�run-gen der Zahlenverarbeitung plausibel.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    90 7 Akalkulie

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • Die neuropsychologische Diagnose einer Akalkulie sollte sichstets auf eine standardisierte Aufgabensammlung mit An-gabe von Trennwerten st�tzen (oder zus�tzlich auf ein nor-miertes Testverfahren mit der Ber�cksichtigung von Bil-dungsgruppen).Die Aufgabensammlung sollte sich an einem (kogni-tiv-)neuropsychologischen Verarbeitungsmodell orientie-ren. Gepr�ft werden sollten:Q die wichtigsten mentalen Repr�sentationen von Zahlen

    (quantitative approximative Gr�ße in numerischen Gr�-ßenvergleichen, exakte sprachlich kodierte Gr�ße),

    Q die wichtigsten Transkodierungswege (Schreiben vonarabischen Zahlen nach auditiver Vorgabe, (lautes) Le-sen von arabischen Zahlen),

    Q die wichtigsten arithmetischen Grundrechenarten,Q das Z�hlen,Q die Zahlenmerkspanne vorw�rts und r�ckw�rts.

    F�r eine orientierende klinische Untersuchung im aku-ten Krankheitsstadium reichen in der Regel wenige, zuden einfacheren Aufgaben der standardisierten Auf-gabensammlungen analoge Items.

    7.5 Pathophysiologie

    St�rungen beim einfachen Umgang mit Zahlen, beim Rech-nen sowie beim konzeptuellen Umgang mit Zahlen undmathematischen Formeln unterschiedlicher Art undSchwere sind bei allen Formen und �tiologien erworbenerHirnsch�digungen fokaler und diffuser Art zu beobachten.Einen aktuellen �berblick �ber die h�ufigen akalkulischenProbleme (oft fr�hes Zeichen einer Demenz) geben Girelliund Delazer (2001).

    Je nach Art, Lage und Ausmaß der Sch�digung treten dieSt�rungen eher isoliert oder (h�ufiger) in Kombination mitanderen St�rungen sprachlicher oder anderer h�herer ko-gnitiver Funktionen auf (z. B. Aufmerksamkeit, Arbeits-ged�chtnis, visuo-spatiale, visuo-konstruktive, exekutiveFunktionen). Dies ist auch nicht anders zu erwarten; dennbereits recht einfache, h�ufig ge�bte schriftliche Aufgabenzu den Grundrechenarten erfordern die korrekte Ausf�h-rung und Sequenzierung einer Vielzahl von Teilprozessen,mit unterschiedlicher Beanspruchung von Aspekten desArbeitsged�chtnisses und der mentalen Kontrolle und�berwachung.

    Gut gesicherte epidemiologische Daten �ber die H�ufig-keit von Akalkulien liegen nicht vor (Girelli u. Seron, 2001).Man muss aber davon ausgehen, dass wegen der rechth�ufigen Assoziation von Aphasie und Akalkulie bei links-hemisph�rischen L�sionen und den anderen Assoziationenvon kognitiven Funktionsst�rungen und Akalkulie ein �hn-licher Prozentsatz an Patienten initial oder auch dauerhaftmehr oder weniger ausgepr�gte Probleme im Umgang mitZahlen und dem Rechnen hat, wie es f�r Aphasien berich-tet worden ist.

    7.6 AnatomieBereits Henschen (1919) hat verschiedene kortikale Zen-tren postuliert, die mit verschiedenen Komponenten desRechnens in Zusammenhang stehen: ein motorisches Zen-trum in der linken dritten Frontalwindung, zust�ndig u. a.f�r das (laute) Z�hlen und die lautsprachliche Produktionvon Zahlw�rtern sowie das Schreiben von Ziffern und Zah-len, und den Gyrus angularis und Teile des Parietalhirnsf�r die Steuerung des Lesens und Schreibens von Zahlen.Bei sehr großen L�sionen der linken Hemisph�re sollte dierechte Hemisph�re kompensatorisch gewisse Rechenfunk-tionen �bernehmen k�nnen.

    Frontale, temporale, parietale (Gyrus angularis, intrapa-rietaler Sulkus), temporo-parietale sowie parieto-okzipita-le L�sionen, vorwiegend der linken Hemisph�re, aber auchRegionen in der rechten Hemisph�re und subkortikaleStrukturen wurden nach dem historischen �berblick vonKahn u. Whitaker (1991) mit Rechenst�rungen in Verbin-dung gebracht. Grafman (1988) stellt zusammenfassendfest, dass bei einer Akalkulie typischerweise eine links-hemisph�rische L�sion vorliegt, meist unter Einbeziehungder Region um den Gyrus angularis. Bei Problemen mitdem Lesen und Schreiben von Zahlen sind links temporo-parietale L�sionen h�ufig. Rechenst�rungen im engerenSinne sind in den meisten F�llen mit links posterioren L�-sionen verbunden.

    Auch wenn neuere L�sionsstudien und funktionell bild-gebende Gruppenstudien bei gesunden Probanden undeinzelnen hirngesch�digten Patienten noch kein vollst�n-dig schl�ssiges Bild ergeben, haben sie doch eine erhebli-che Differenzierung und Kl�rung des St�rungsbildes be-wirkt. Nachfolgend werden die relevanten Hirnarealeangef�hrt, auf die sich die wichtigsten Repr�sentationenund Prozesse im Umgang mit Zahlen und beim Rechnenvermutlich st�tzen k�nnen. Eine Einzelfallstudie von Co-hen et al. (2000a) zeigt exemplarisch, wie die Kombinationeiner auf ein Verarbeitungsmodell bezogenen Erkl�rungund einer funktionell-anatomischen Erkl�rung in Ver-bindung mit dem Wissen �ber fMRT-Aktivierungsmustersowie Annahmen zur kortikalen Plastizit�t zu einer plausi-blen Begr�ndung des beim einzelnen Patienten gefunde-nen Aktivierungsmusters f�hren k�nnen.

    7.6.1 Wichtige kortikale Repr�sentationen

    Repr�sentation von Zahlw�rtern

    Da Zahlw�rter eine eigenst�ndige Wortklasse darstellenund komplexe Zahlw�rter nach spezifischen morpho-syn-taktischen Kombinationsregeln gebildet werden, solltenZahlw�rter in den klassischen (perisylvischen) Sprach-regionen im Versorgungsgebiet der A. cerebri media dersprachdominanten (linken) Hemisph�re auditiv undschriftsprachlich verarbeitet werden.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    7.6 Anatomie 91

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • Eine entscheidende Rolle f�r den Abruf von sprachlichgespeicherten Rechenfakten (besonders das kleine Einmal-eins) und sich auf Sprache st�tzende exakte Berechnungenscheint der Gyrus angularis links zu spielen (Cohen et al.,2000a; Delazer et al., 2003a). Am Abruf von hoch �berlern-ten Rechenfakten des kleinen Einmaleins sind weiterhinvermutlich kortiko-subkortikale Schleifen, die mit korti-kalen Spracharealen verkn�pft sind, beteiligt (Dehaene u.Cohen, 1997; Delazer et al., 2004).

    Repr�sentation von arabischen Zahlen

    Wie die Identifikation und Kategorisierung von visuellenObjekten generell und von geschriebenen Zahlw�rternspeziell, st�tzt sich die Identifikation von arabischen Zah-len auf Areale des okzipito-temporalen Kortex, insbeson-dere des Gyrus fusiformis (Cohen et al., 2000b), mit einervermutlich bilateralen Repr�sentation.

    Repr�sentation von numerischen Quantit�ten

    Der Kortex im Bereich des horizontalen Segments des in-traparietalen Sulkus (HIPS) bilateral scheint die relevanteStruktur f�r die nichtsprachliche quantitative Gr�ßenre-pr�sentation zu sein. Diese Aussage st�tzt sich vorwiegendauf sehr aktuelle funktionell bildgebende Studien (De-haene et al., 2003; Pinel et al., 2004; Simon et al., 2002). Eszeigten sich relativ st�rkere Aktivierungen bei gr�ßerer Be-anspruchung quantitativ-numerischer Verarbeitungskom-ponenten, z. B. beim numerischen Gr�ßenvergleich zweierZahlen mit kleinerer gegen�ber gr�ßerer Distanz, bei ap-proximativer gegen�ber exakter Addition, bei Subtraktiongegen�ber hoch �berlerntem kleinem Einmaleins, bei nichttrainierten gegen�ber massiv trainierten Rechenfakten so-

    wie beim Rechnen mit gr�ßeren gegen�ber kleineren Zah-len.

    7.6.2 Das Triple-Code-Modell

    In der anatomisch-funktionellen Formulierung des Triple-Code-Modells (Dehaene u. Cohen, 1995) wird eine (bidirek-tionale) Verbindung von links lateralisierten, an Sprachegebundenen Prozessen mit der linken intraparietalen Re-gion und dem Ziffern-Identifikationssystem im linken Gy-rus fusiformis angenommen (Abb. 7.1). Letzterer bildet mitdem homologen Areal rechts, verbunden �ber das Spleni-um, eine funktionale Einheit. In �hnlicher Weise wird einefunktionelle Verbindung zwischen den inferior parietalenGr�ßenrepr�sentationsarealen �ber einen weiter vorn ge-legenen Abschnitt des Corpus callosum angenommen (Co-hen u. Dehaene, 1996).

    Erst die Spezifizierung eines expliziten kognitiv-neuro-psychologischen Verarbeitungsmodells wie des Triple-Code Modells von Dehaene (1992), in Verbindung mit sei-ner funktionell-neuroanatomischen Einbettung (Dehaeneu. Cohen, 1995; Dehaene, 1997) hat ein vertieftes Verst�nd-nis von Leistungsdissoziationen bei Patienten mit Akalku-lie erm�glicht. Dies gilt insbesondere in Kombination mitBefunden aus Studien mit funktionell bildgebenden Ver-fahren an gesunden Probanden, die die Existenz mehrererfunktionaler Netzwerke der Zahlenverarbeitung und desRechnens nahe legten.

    Ein instruktives Beispiel stammt von Stanescu-Cosson etal. (2000): Hier sollten Additionsaufgaben mit variierenderProblemgr�ße (Summanden von 1 –5 bzw. von 5– 9) ent-weder approximativ oder exakt gel�st werden. Unter bei-den Bedingungen musste per Tastendruck angegeben wer-

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    92 7 Akalkulie

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

    Größenrepräsentation

    inferior parietaler Cortexdorsolateraler präfrontaler Cortex

    Strategienwahlund Planung perisylvische Gebiete

    verbaleVerarbeitung

    visuelleIdentifizierung(Wörter u. Ziffern)

    deklaratives Gedächtnisfür Rechenfakten

    Größenrepräsentation

    inferior parietaler Cortexdorsolateraler präfrontaler Cortex

    Strategienwahlund Planung

    visuelleIdentifizierung(nur Ziffern)

    inferior occipito-temporaler Cortex

    Basalganglienund Thalamus

    linke Hemisphäre rechte Hemisphäre

    Abb. 7.1 Funktionell-anatomisches Modell der Zahlenverarbeitung und des Rechnens (nach Dehaene, 1997).

  • den, welches von 2 Ergebnissen zutreffend war. In der ap-proximativen Bedingung waren beide Ergebnisse falsch,aber eines hatte eine geringere numerische Distanz zudem exakten Ergebnis. Unter der exakten Bedingung bilde-te eine der beiden pr�sentierten Ergebniszahlen das exaktrichtige Resultat. Bilaterale intraparietale, pr�zentrale, dor-solateral und superior pr�frontale Areale zeigten st�rkereAktivierungen beim approximativen Rechnen, w�hrendbilaterale Aktivierungen im Gyrus angularis und links infe-rior pr�frontal charakteristisch f�r die exakten Berechnun-gen waren. Bei exakten Berechnungen mit kleinen Sum-manden (also leichten Aufgaben) schien eine weitgehendeSt�tzung auf linkshemisph�rische Regionen, mit vermut-lich verbaler mentaler Kodierung vorzuliegen; approxima-tive Berechnungen generell und exakte Rechnungen beigr�ßeren Problemen f�hrten bilateral zu (inferior) parieta-len Aktivierungen, die eine Enkodierung in eine nichtver-bale, quantitative Gr�ßenrepr�sentation wahrscheinlichmachten.

    Die Annahme zweier benachbarter Regionen mit ver-baler (Gyrus angularis) vs. quantitativer Zahlenrepr�senta-tion (intraparietale Region) ist f�r das Verst�ndnis dop-pelter Dissoziationen bei verschiedenen Patienten mitAkalkulie sehr hilfreich geworden. Auch nach klassischenL�sionsstudien �hnliche Patienten mit parietalen L�sionenk�nnen ganz unterschiedliche St�rungsmuster zeigen – jenachdem, welche parietalen Areale von der Hirnl�sionbetroffen sind. Dieses Modell erkl�rt etwa auch, dass Pa-tienten mit Akalkulie nach linkshemisph�rischer parietalerL�sion weiterhin nonverbal die approximativen Gr�ßenre-lationen zwischen Zahlenstimuli, vorwiegend in nicht-sprachlicher Notation, verarbeiten k�nnen.

    Von Dehaene et al. (2003) ist noch ein weiteres posterio-res superior parietales Netzwerk mit Bedeutung f�r dieZahlenverarbeitung postuliert worden, welches, nicht nurf�r Zahlen, spezifisch die (mentale) Ausrichtung von Auf-merksamkeit regelt.

    7.6.3 Weitere beteiligte Hirnregionen

    Es ist wichtig festzuhalten, dass Hirnareale, auf die sichAufmerksamkeits-, Ged�chtnis- und Exekutivfunktionenst�tzen, in unterschiedlichem Ausmaß zu allen Rechen-anforderungen beitragen und je nach Lage einer nat�rli-chen Hirnsch�digung mit betroffen sein k�nnen. Auf dieBeteiligung visuo-spatialer und (sprachlicher) Arbeits-ged�chtnisfunktionen, gest�tzt auf parietale (im posterio-ren superioren Parietallappen) und (pr�-)frontale Regio-nen, sei ebenfalls hingewiesen (Dehaene et al., 2003).

    In einigen F�llen f�hren auch rechtshemisp�rische oderfrontale L�sionen zu Problemen beim Rechnen. Bei St�run-gen r�umlicher Aspekte des Rechnens und der Zahlenver-arbeitung sind sowohl rechts- wie linkshemisph�rische L�-sionen berichtet worden.

    Die funktionelle Anatomie von Zahlenverarbeitung undArithmetik ist komplex und umfasst mehrere Netzwerke.Q Zahlw�rter werden in perisylvischen Sprachregionen der

    linken Hemisph�re auditiv und schriftsprachlich verarbei-tet.

    Q F�r den Abruf von sprachlich gespeicherten Rechenfak-ten (kleines Einmaleins) und f�r exakte Berechnungenist der Gyrus angularis links entscheidend.

    Q Der Abruf hoch �berlernter Rechenfakten schließt mitkortikalen Spracharealen verbundene kortiko-subkortika-le Schleifen ein.

    Q Die Identifikation arabischer Zahlen erfolgt bilateral ok-zipito-temporal, im ventralen Pfad der visuellen Objekt-verarbeitung, insbesondere im Gyrus fusiformis.

    Q Zentral f�r die semantische Verarbeitung quantitativernumerischer Gr�ßeninformation ist bilateral das Arealum den horizontalen Abschnitt des intraparietalen Sulkus(HIPS).

    Q Posterior superior parietal wird ein drittes Netzwerk pos-tuliert, das f�r die mentale (r�umliche) Aufmerk-samkeitsausrichtung auf bestimmte Abschnitte desmentalen Zahlenstrahls verantwortlich ist (Kodierungquantitativer Gr�ßeninformation).

    7.7 Spontanverlaufund Prognose

    Der Spontanverlauf von Akalkulien in den ersten Monatennach einem Schlaganfall ist im Unterschied zum Spontan-verlauf von Aphasien kaum untersucht worden. Die um-fangreichste (retrospektive) Studie wurde in Mailand an 92rechtsh�ndigen Patienten mit unilateraler, linkshemisph�-rischer, vaskul�r bedingter L�sion durchgef�hrt (Basso etal., 2005).

    Patienten wurden nur dann eingeschlossen, wenn sie ineiner Gr�ßenvergleichsaufgabe (12-mal Auswahl der gr�ß-ten Zahl aus einem Tripel von Zahlen) h�chstens zweiFehler machten. Die Untersuchung auf Akalkulie selbst be-stand aus 6–7 schriftlichen Aufgaben zu den 4 Grund-rechenarten mit steigendem Schwierigkeitsgrad. Gewertetmit jeweils einem Punkt wurden korrekt bestimmte Zifferndes Endresultats; bei der Multiplikation die korrekten Zif-fern der Einzelmultiplikationen. Anhand einer großen Kon-trollgruppe ohne Hirnsch�digung (n = 302) wurde ein nachAlter und Bildung korrigierter Punktwert unter dem Trenn-wert 74 (maximal 101) als Hinweis auf eine Akalkulie er-mittelt. Die erste Untersuchung auf Akalkulie erfolgte imMittel 2 Monate nach dem Ereignis (Bereich 1 –5 Monate),die Verlaufsuntersuchung im Mittel 5 Monate sp�ter (Be-reich 3– 11 Monate). Es kam zu einer hoch signifikantenspontanen Leistungsverbesserung mit einem geringerenAusmaß an Verbesserung bei initial schlechterer Leistung.Diese substanzielle, aber interindividuell hoch variableVerbesserung (im Mittel 24 Punkte; Bereich -16 bis +66),allerdings selten �ber den Trennwert hinaus, erscheint den

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    7.7 Spontanverlauf und Prognose 93

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • Autoren nicht leicht zu interpretieren: Ihrer Einsch�tzungnach rechneten Italiener wenig spontan im Kopf und w�r-den eher einen Taschenrechner einsetzen. Wie diese par-tielle Verbesserung ohne intensivere Stimulation von Re-chenfunktionen und -prozeduren zu Stande kommt, sei esdurch Nutzung peril�sionaler und anderer Areale in der be-troffenen linken Hemisph�re oder �ber die Rekrutierunghomologer kontral�sionaler Areale, kann auf Grund derVerhaltensdaten nur spekuliert werden.

    7.8 Therapie

    Die Therapie von Akalkulien erscheint als ein besondersgeeigneter Trainingsbereich, da sich auf den Umgang mitZahlen bezogene Anforderungen wegen ihrer relativenBegrenztheit gut in systematische �bungseinheiten um-setzen lassen. Erst in den letzten Jahren findet man aberverst�rkt kontrollierte Studien zu spezifischen Behand-lungsmethoden. Eine fr�he Einzelfall-Therapiestudie miteinem erfolgreichen systematischen Training zum Trans-kodieren von Zahlen stammt von Deloche et al. (1989).Hier wurde aphasischen Patienten die Umformung einesZahlworts in eine Ziffernsequenz und umgekehrt vermit-telt, mit in der Aphasiebehandlung gebr�uchlichen Hilfe-stellungen und Auswahlhilfen und anschließender schritt-weiser Reduzierung dieser Hilfen.

    7.8.1 Unterschiedliche Therapieans�tze

    Prinzipiell werden – wie in anderen Bereichen neuropsy-chologischer Rehabilitation auch – Therapieans�tze, dieauf Restitution der gesch�digten Funktion abzielen, sol-chen Ans�tzen gegen�bergestellt, die eine Reorganisationunter kompensatorischer Nutzung anderer intakter kogni-tiver Funktionen anstreben.

    Restitution der gesch�digten Funktion

    Restitution wird �blicherweise durch massives �ben ange-strebt, durch das man den Wiedererwerb verloren gegan-genen Wissens, sowohl f�r das Transkodieren als auch f�rden Abruf von gespeichertem arithmetischem Faktenwis-sen, erwartet. Die �bungen sollen eine stabile Assoziationzwischen (Rechen-)Problem und richtiger Antwort neuetablieren. Da auch der Ersterwerb im Kindes- und Schul-alter sich auf einen lang andauernden und strukturiertenLernprozess gr�ndet, wird �hnliches f�r den Therapiefallnach Hirnsch�digung vermutet.

    Girelli und Seron (2001) geben einen ausf�hrlichen�berblick zu diesen Methoden. Sie nennen empirische Stu-dien bez�glich der erfolgreichen Rehabilitation von Trans-kodierungsleistungen, von arithmetischem Faktenwissen,von arithmetischen Prozeduren und von arithmetischemProbleml�sen in Textaufgaben – letzteres allerdings mitnur geringen und kurzfristigen Erfolgen. Die Autoren wei-sen darauf hin, dass in der Therapiephase weitgehend das-

    selbe oder sehr �hnliches Material wie zur Diagnostik ein-gesetzt wurde. Da aber viele Anforderungen des t�glichenLebens, wie der Umgang mit Geld (z. B. beim Herausgebenvon Wechselgeld), der Umgang mit Maßeinheiten und de-ren Umrechnen sowie der Umgang mit Br�chen und Pro-zentzahlen (z. B. beim Modifizieren von Angaben in Rezep-ten) ebenfalls gute arithmetische Kenntnisse erfordern,betonen Girelli und Seron die Notwendigkeit der Entwick-lung von st�rker alltagspraktisch ausgerichteten �bungen.�hnliche Forderungen lassen sich f�r eine st�rker indivi-dualisierte berufsbezogene Rehabilitation formulieren(Claros Salinas, 2003).

    Reorganisation/Kompensation

    Die Reorganisation arithmetischer Fertigkeiten anhand desEinsatzes von Strategie-Methoden und der Vermittlungvon arithmetischen Prinzipien ist bisher noch wenigeruntersucht wurden. Girelli et al. (2002) geben einen �ber-blick �ber die Literatur und stellen eine erfolgreiche Ein-zelfall-Therapiestudie zum Wiedererwerb von Multiplika-tions-Faktenwissen vor. Das Vermitteln von Strategien undvon Wissen �ber arithmetische Prinzipien (z. B. Kommuta-tivit�t der Multiplikation, Rechnen mit Klammerausdr�-cken) soll einen flexiblen Umgang mit neuen Rechenpro-blemen erm�glichen (z. B. „6 � 8“ = „(6 � 10) – (6 � 2)“).

    7.8.2 Ausblick

    Umfangreiche �bungsmaterialien in deutscher Sprache zurBehandlung verschiedener Teilfunktionen der Zahlenver-arbeitung und des Rechnens, unter Einschluss alltagsrele-vanter Aufgabenstellungen (wie dem Ablesen von Uhrzei-ten und dem Umgang mit Geld) wurden von H�ttemann(1998) vorgelegt.

    Eine systematische Vermittlung von Trainings- und The-rapieans�tzen bei Akalkulie fehlt noch weitgehend in derklinisch-neuropsychologischen und in der logop�dischenAusbildung.

    Der Spontanverlauf von Akalkulien ist nur grob bekannt;eine Verbesserung ist �ber 5 – 6 Monate nach dem Ereigniszu erwarten.Obwohl sich Zahlenverarbeitung und Rechnen sowie ande-re elementare numerische Kognitionen als wohl definierteBereiche darstellen, sind bisher nur relativ wenige syste-matische Einzelfall- und Gruppen-Therapiestudien durch-gef�hrt worden. Grob lassen sich Therapieans�tze mitmassivem �ben der gesch�digten Funktionen (Drill) undAns�tze mit dem Einsatz von Ersatz-Strategien und derVermittlung arithmetischer Prinzipien unterscheiden.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    94 7 Akalkulie

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG

  • Literatur

    Ardila A, Rosselli M. Acalculia and dyscalculia. Neuropsychol Rev.

    2002;12:179– 231.

    Basso A, Burgio F, Caporali A. Acalculia, aphasia and spatial disorders in

    left and right brain-damaged patients. Cortex. 2000;36:265– 280.

    Basso A, Caporali A, Faglioni P. Spontaneous recovery from aphasia. J Int

    Neuropsychol Soc. 2005;11:99– 107.

    Benson DF Denckla MB. Verbal paraphasia as a source of calculation

    disturbance. Arch Neurol. 1969;21:96– 102.

    Benton A. Gerstmann’s syndrome. Arch Neurol. 1992;49:445– 449.

    Berger H. �ber Rechenst�rungen bei Herderkrankungen des Großhirns.

    Archiv Psychiatrie Nervenkrankheiten. 1926;78:238– 263.

    Brand M, Kalbe E, Kessler J. Test zum kognitiven Sch�tzen (TKS).

    Weinheim: Beltz; 2002.

    Butterworth B. The development of arithmetic abilities. J Child Psycho-

    logy Psychiatry. 2005;46:3– 18.

    Caramazza A, McCloskey M. Dissociations of Calculation Processes. In:

    Deloche G, Seron X, eds. Mathematical disabilities. A Cognitive

    Neuropsychological Perspective. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum

    Associates; 1987:221– 256.

    Claros Salinas D. Umgang mit Zahlen. In: D von Cramon, N Mai, W

    Ziegler, Hrsg. Neuropsychologische Diagnostik. Weinheim: VCH;

    1993.

    Claros Salinas D. EC 301 R: Untersuchungsmaterial zu St�rungen des

    Rechnens und der Zahlenverarbeitung. Konstanz: Kliniken Schmie-

    der; 1994. (Deutsche Adaptation von: Deloche et al. The EC301

    Assessment Battery for Brain Damaged Adults. 1993.)

    Claros Salinas D, Willmes K. St�rungen der Zahlenverarbeitung. In:

    Sturm W, Hermann M, Wallesch C-W, Hrsg. Lehrbuch der klinischen

    Neuropsychologie. Lisse: Elsevier; 2000:521 – 538.

    Claros Salinas D. Therapie von Zahlenverarbeitung und Rechnen nach

    Hirnsch�digung. Aphasie verwandte Gebiete. 2003;17:43 –60.

    Cohen L, Dehaene S. Cerebral networks for number processing: Evidence

    from a case of posterior callosal lesion. NeuroCase. 1996;2:155– 174.

    Cohen L, Dehaene S, Chochon F, Leh�ricy S, Naccache L. Language and

    calculation within the parietal lobe: A combined cognitive, anatomi-

    cal and fMRI study. Neuropsychologia. 2000a;38:1426–1440.

    Cohen L, Dehaene S, Naccache L, et al. The visual word form area: spatial

    and temporal characterization of an initial stage of reading in normal

    subjects and posterior split-brain patients. Brain. 2000b;123:291 –

    307

    Dehaene S, Cohen L. Towards an anatomical and functional model of

    number processing. Mathematical Cognition. 1995;1:83 –120.

    Dehaene S. The number sense: How the mind creates mathematics. New

    York: Oxford University Press; 1997.

    Dehaene S, Cohen L. Cerebral pathways for calculation: Double dis-

    sociation between rote verbal and quantitative knowledge of arith-

    metic. Cortex. 1997;33:219 – 250.

    Dehaene S, Piazza M, Pinel P, Cohen L. Three parietal circuits for number

    processing. Cognitive Neuropsychol. 2003;20:487 – 506.

    Dehaene S, Molko N, Cohen L, Wilson AJ. Arithmetic and the brain. Curr

    Op Neurobiol. 2004;14:218 – 224.

    Delazer M, Girelli L, Semenza C, Denes F. Numerical skills and aphasia. J

    Int Neuropsychol Soc. 1999;5:1– 9.

    Delazer M, Benke T. Arithmetic facts without meaning. Cortex. 1997;

    33:697 – 710.

    Delazer M, Domahs F, Bartha L, Brenneis C, Lochy A, Trieb T, et al.

    Learning complex arithmetic – An fMRI study. Cog Brain Res. 2003a;

    18:76 – 88.

    Delazer M, Girelli L, Grana A, Domahs F. Number processing and

    calculation – Normative data from healthy adults. Clin Neuropsychol.

    2003b;17:331 –350.

    Delazer M, Domahs F, Lochy A, Karner E, Benke T, Poewe W. Number

    processing in basal ganglia dysfunction. Neuropsychologia. 2004;42:

    1050– 1062.

    Della Sala S, Gentileschi V, Gray C, Spinnler H. Intrusion errors in

    numerical transcoding by Alzheimer patients. Neuropsychologia.

    2000;38:768 –777.

    Ferro J.M, Botelho MAS. Alexia for arithmetical signs. A cause of

    disturbed calculation. Cortex. 1980;16:175– 180.

    Girelli L, Delazer M. Subtraction bugs in an acalculic patient. Cortex.

    1996;32:547 – 555.

    Girelli L, Delazer M. Numerical abilities in dementia. Aphasiology. 2001;

    15:681 – 694.

    Girelli L, Seron X. Rehabilitation of number processing and calculation

    skills. Aphasiology. 2001;15:695– 712.

    Grafman J. Acalculia. In: Boller F, Grafman J, eds. Handbook of neuro-

    psychology. Vol. 1. Amsterdam: Elsevier; 1988:414 – 430.

    Grafman J, Rickard T. Acalculia. In: Feinberg TE, Farah MJ, eds. Behavioral

    neurology and neuropsychology. New York: McGraw-Hill; 1997:219 –

    225.

    Hartje W. The effect of spatial disorders on arithmetic skills. In: Deloche

    G, Seron X, eds. Mathematical disabilities. A cognitive neuropsycho-

    logical perspective. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates;

    1987:121 – 135.

    H�caen H, Angelergues R, Houi llier S. Les vari�t�s cliniques des

    acalculies au cours des l�sions r�trorolandiques: Approche statisti-

    que du probleme. Revue Neurologique. 1961;105:85– 103.

    Henschen SE. �ber Sprach-, Musik- und Rechenmechanismen und ihre

    Lokalisation im Großhirn. Z Gesamte Neurol Psychiatr. 1919;52:273–

    298.

    H�ttemann J. St�rungen der Zahlenverarbeitung. Hofheim: NAT Verlag;

    1998.

    Ibrahimovic N, Bulheller S, H�cker HO. Mathematiktest: Grundkennt-

    nisse f�r Lehre und Beruf. Lisse: Swets Test Services; 2002.

    Kahn HJ, Whitaker HA. Acalculia: An historical review of localization.

    Brain Cogn. 1991;17:102– 115.

    Kalbe E, Brand M, Kessler J. Zahlenverarbeitungs- und Rechentest (ZRT).

    Weinheim: Beltz; 2002.

    Kessler J, Kalbe E. Written numeral transcoding in patients with

    Alzheimer’s disease. Cortex. 1996;32:755– 761.

    Lemer C, Dehaene S, Spelke E, Cohen L. Approximate quantities and exact

    number words: Dissociable systems. Neuropsychologia. 2003;41:

    1942– 1958.

    Lewandovsky M, Stadelmann E. �ber einen bemerkenswerten Fall von

    Hirnblutung und �ber Rechenst�rungen bei Herderkrankungen des

    Gehirns. Z Gesamte Neurol Psychiatr. 1908;2:249– 265.

    McCloskey M, Aliminosa D, Sokol, SM. Facts, rules, and procedures in

    normal calculation: Evidence from multiple single-patient studies of

    impaired arithmetic fact retrieval. Brain Cogn. 1991;17:154 –203.

    Noel MF. Numerical cognition. In: Rapp B, ed. The Handbook of Cognitive

    Neuropsychology. Philadelphia: Psychology Press; 2000:495– 518.

    Pesenti M, Seron X, van der Linden M. Selective impairment as evidence

    for mental organisation of arithmetic facts: BB, a case of preserved

    subtraction? Cortex. 1994;30:661 – 671.

    Pesenti M, Depoorter N, Seron X. Noncommutability of the N + 0

    arithmetical rule: A case study of dissociated impairment. Cortex.

    2000;36:445 –454.

    Pinel P, Piazza M, Le Bihan D, Dehaene S. Distributed and overlapping

    cerebral representations of number, size, and luminance during

    comparative judgements. Neuron. 2004;41:1 –20.

    Simon O, Mangin JF, Cohen L, Le Bihan D, Dehaene S. Topographical

    layout of hand, eye, calculation, and language-related areas in the

    human parietal lobe. Neuron. 2002;33:475– 487.

    Stanescu-Cosson R, Pinel P, van de Moortele P-F, Le Bihan D, Cohen L,

    Dehaene S. Understanding dissociations in dyscalculia: A brain

    imaging study of the impact of number size on the cerebral networks

    f�r exact and approximate calculation. Brain. 2000;123:2240– 2255.

    Varley RA, Klessinger NJC, Romanowski CAJ, Siegal M. Agrammatic but

    numerate. Proc Natl Acad Sci USA. PubMed 2005;102:3519 – 24.

    Warrington, EK. The fractionation of arithmetical skills: A single case

    study. Q J Exp Psychol. 1982;34A:31 – 51.

    Wynn, K. Psychological foundations of number: numerical competence

    in human infants. Trends Cogn Sci. 1998;2:296– 303.

    Thieme-VerlagFrau Biehl-Vatter

    Sommer-DruckFeuchtwangen

    Karnath/Hartje/ZieglerKognitive Neurologie (RRN)

    TN 136521WN 022439/01/01

    3.11.2005Umbruch

    Literatur 95

    Karnath/Hartje/Ziegler, Kognitive Neurologie (ISBN 3131365218),� 2005 Georg Thieme Verlag KG