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Christian HarteislHelmut Heid/Susanne Kraft Kompendium Weiterbildung

Kompendium Weiterbildung: Aspekte und Perspektiven betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung

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Page 1: Kompendium Weiterbildung: Aspekte und Perspektiven betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung

Christian HarteislHelmut Heid/Susanne Kraft Kompendium Weiterbildung

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Christian HarteislHelmut Heid/Susanne Kraft

Kompendium Weiterbildung Aspekte und Perspektiven betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung

Leske + Budrich, Opladen 2000

Page 3: Kompendium Weiterbildung: Aspekte und Perspektiven betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung

ISBN 978-3-8100-2578-4 ISBN 978-3-322-97460-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97460-0

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich

Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier.

© 2000 Leske + Budrich, Opladen

Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. lede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Leske + Budrich

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lnhalt

Einleitung: Kompendium Weiterbildung - Aspekte und Perspektiven betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung ................. .......... ............ .... 9

Kapitell: Betriebliche Weiterbildung im Kontext gesellschaftlicher Aufgabenfelder

Axel Bolder Zwischen Flexibilität und Anspruch auf Sinn: Überlegungen zu Strategien langfristiger Sicherung des Humankapitals ....... ...................................................... 13

Wolf gang Gallenberger, Angelika Gaufer, Peter Datz, Thomas Neubert Erfordert der demographische Wandel vermehrte berufliche Weiterbildung älterer Arbeitnehmer? .............................................................................................. 19

Wolf gang Hendrich Betriebliche Kompetenzentwicklung oder Lebenskompetenz? 33

Alexander Thomas Globalisierung und interkulturelIe Managementkompetenz ................................... 45

Rudolf Tippelt Der schwierige Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem-N otwendigkeiten und Möglichkeit zur Weiterbildung ............................................ 69

Kapitel2: Lehren und Lernen in der Aus- und Weiterbildung

Frank Achtenhagen, Martina NojJ Lemmöglichkeiten an kaufmännischen Arbeitsplätzen - Ansätze empirischer Forschung .... ............ ........... ... ..... .......... .................. ........ ............ .......................... ... 83

RolfDubs Selbstorganisation des Lemens ...................... ............... ........ ......... ....... ......... ...... ... 97

Hermann Ebner Vom Übermittlungs- zum Initiierungskonzept: Lehr-Lemprozesse in konstruktivistischer Perspektive .................................... ................ ....... .......... ......... 111

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6 lnhalt

Hans Gruber Erfahrung erwerben ................................................................................................. 121

Susanne Kraft Lemen im Betrieb: Motiviert, se1bstgesteuert, kooperativ? Kritische Anmerkungen zur Idealisierung betrieblicher Weiterbildung ................................. 131

Detlev Leutner Individuelle Unterschiede und Wissenserwerb bei multimedialem Lemen ............ 143

Doris Lewalter, Andreas Krapp, Klaus-Peter Wild Motivationsförderung in Lehr-Lem-Arrangements-eine interessentheoretische Perspektive .................................................................. 155

Manfred Prenzel, Barbara Dreehsel, Anke Kliewe, Klaudia Kramer, Nieola Röber Lemmotivation in der Aus- und Weiterbildung: Merkmale und Bedingungen 163

Gabi Reinmann-Rothmeier, Heinz Mandl Lemen mit Neuen Medien: Eine Chance für neue Konzepte und innovative Ziele ......................................................................................................................... 175

Kapitel3: Neue Konzepte betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung

Klaus Beek, Thomas Bienengräber, Kirsten Parehe-Kawik Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral - Befunde zur beruflichen Primärsozialisation und Implikationen für die Weiterbildung ............. 191

Christian Harteis Beschäftigte im Spannungsfeld ökonomischer und pädagogischer Prinzipien betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung . ......... ... .... ... ................ ... .... 209

Franz Lehner Organisational Memory Systeme und organisationales Lemen ......... ................. .... 219

Barbara Röj3er Die Kommerzialisierung von Gefühlen im Kontext betrieblicher Personalentwicklung - Thesen zur Genese der Konvergenzproduktion ... .... ....... ... 235

Kapitel4: Evaluation

Miehael Henninger Evaluation - Diagnose oder Therapie . ................ ... ....................................... ...... .... 249

Bettina Meier Evaluation - eine Herausforderung für die Lehre? ................................................. 261

Reinhard Pekrun Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung ........................................................ 269

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Inha/t 7

Kapitel5: Zur Legitimation der Weiterbildung

He/mut Heid Qualität der Argumente, mit denen das Erfordernis lebenslangen Lemens begründet wird . .................. ...................................................................................... 289

Die Autorinnen und Autoren .. .................. .......................... ................. ......... ........... 297

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Kompendium Weiterbildung - Aspekte und Perspektiven betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung

Betrachtet man die derzeitigen Entwicklungen und Verlautbarungen aus den Bildungs­abteilungen groBer Untemehmen, so gewinnt man den Eindruck, daB pädagogische Fragestellungen innerhalb betrieblicher Organisations- und Entwicklungsprozesse deutlich an Aktualität und Bedeutung gewinnen. Viel ist die Rede vom "Lemenden Untemehmen", von "Neuen Lemkulturen" und von der zunehmenden Notwendigkeit "lebenslangen Lemens" gerade auch im betrieblichen bzw. beruflichen Kontext. Be­triebliche Bildungsarbeit wird nicht mehr ausschlieBlich im Hinblick auf (betriebswirt­schaftliche) Kosten-Nutzen-Abwägungen thematisiert, sondem betriebliche Lempro­zes se werden - zumindest programmatisch - zunehmend auch unter (pädagogischen) Qualitätsgesichtspunkten diskutiert.

Im vorliegenden Kompendium werden aktuelle Aspekte und Fragen aus Theorie und Praxis betrieblicher Bildungsarbeit aufgegriffen und unter verschiedenen Perspektiven analysiert. Ziel dieser Aufsatzsammlung ist es, einerseits Kriterien und Argumente für die Aktualität und Qualität von Weiterbildung (kritisch) zu erörtem sowie andererseits Wei­terbildungskonzepte für die betriebliche Praxis zu entwickeln und vorzustellen, die neue­sten Erkenntnissen - z.B. aus der Lehr-Lem-Forschung - Rechnung tragen.

Die Idee zu diesem Vorhaben entstand durch ein seit 1997 in institutionalisierter Form existierendes Kooperationsprojekt namens ZIP (= Zusamrnenarbeit Industrie und Pädagogik), an dem der Lehrstuhl für Pädagogik der Universität Regensburg (Prof. Dr. Helmut Heid) und ortsansässige Industriebetriebe beteiligt sind. Ziel der Zusamrnenar­beit ist ein regelmäBiger Informationsaustausch über bildungsrelevante Fragen zwi­schen den am Kooperationsprojekt beteiligten Industrieuntemehmen und Erziehungs­wissenschaftlem der Universität. Formelle und informelIe betriebliche Bildungsarbeit ist der gemeinsame Gegenstand, den Erziehungswissenschaftler stärker unter For­schungs- und die Vertreter der beteiligten Betriebe eher unter Entwicklungsgesichts­punkten betrachten. Während die Erziehungswissenschaftler dadurch v.a. den Zugang zu aktuellen Problemen der betrieblichen Realität gewinnen, ermöglicht der Kontakt mit den Forschergruppen den Bildungsverantwortlichen aus den Betrieben eine fach­lich fundierte Unterstützung bei der Lösung betriebspädagogischer Probleme.

Zusammenarbeit heiBt nun keinesfalls, daB die Wissenschaft ihre Unabhängigkeit verliert. Wissenschaft solI weder Legitimationen irgendeiner Art liefem (etwa für be­stimmte Bildungskonzeptionen), noch wird mit diesem Projekt der Ehrgeiz verfolgt, die Betriebe und ihre Bildungsarbeit "zu missionieren". Vielmehr geht es darum, For­schungsergebnisse zur Verfügung und zur Diskussion zu stellen sowie einen kritischen Diskurs zwischen Erziehungswissenschaft und betrieblicher Praxis zu fördem.

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10 Einleitung

Die inhaltliche Breite und die Vielfait der Beiträge dieses Bandes dokumentieren die verschiedenen Anknüpfungs- und Berührungspunkte, die sich aus gemeinsamen Fragen universitärer Pädagogik und betrieblicher Weiterbildungspraxis ergeben. Dabei sind die Beiträge durchaus inhaltlich hetero gen und werfen viele kritische Fragen auf im Hinblick auf die Vereinbarkeit ökonomischer und pädagogischer Prinzipien.

Die in Kapitel 1 zusammengefaBten Beiträge erörtem solche Aspekte betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung, die auch gesellschaftliche Relevanz besitzen. Dabei spielt die Passung des Bildungs- und des Beschäftigungssystems ebenso eine Rolle wie Globalisierung und Weiterbildung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehme­rinnen. Es stellt sich ein vielfältiges Spannungsgeflecht verschiedener Interessen im Kontext betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung heraus.

Das zweite Kapitel umfaBt Artikel, die aktuelle Ergebnisse aus der pädagogisch­psychologischen Forschung zum Lehren und Lemen präsentieren, die in betrieblichen Bildungs- und Entwicklungskonzepten eine Rolle spielen. Lemen mit Unterstützung neuer Medien, möglichst in eigener Verantwortung der Beschäftigten, kennzeichnet eine Vielzahl betrieblicher Qualifizierungsstrategien. In diesem Kapitel werden die Bedingungen für den Erfolg solcher Strategien diskutiert.

In Kapitel 3 geht es urn grundlegende Konzepte betrieblicher Organisationsent­wicklung. Zum einen wird der Betrieb als Sozialisationsinstanz und als Inforrnations­system beschrieben, zum anderen geht es urn die Annäherung ökonomischer und päd­agogischer Zielsetzungen im Rahmen betrieblicher Personal- und Organisationsent­wicklung.

Kapitel 4 enthält Beiträge zu Fragen der Evaluation betrieblicher Bildungsarbeit. Es werden theoretische Modelle entwickelt, konkrete Evaluationskonzepte vorgestellt und der Stellenwert von Evaluation für die Weiterbildung beschrieben.

Im fünften Kapitel wird die Aktualität von Weiterbildung ganz grundsätzlich dis­kutiert und es werden Argumente zur Begründung eines Weiterbildungserfordemisses auf ihre Stichhaltigkeit überprüft. Thematisiert werden dabei auch die Zwecksetzun­gen, die mit eben jener Forderung verbunden sind sowie die daraus resultierenden Kon­sequenzen im Hinblick auf eine Reduktion grundlegender Bildung.

Die Autorinnen und Autoren der Beiträge dieses Readers stammen aus verschie­denen Disziplinen: Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. Darin kornrnt zum Ausdruck, daB die erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben betriebli­cher Personal- und Organisationsentwicklung ein interdisziplinäres Problem- und Handlungsfeld darstellt. Die in diesem Band zusammengeführten Ansätze sollen dazu wichtige Anregungen liefem.

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Kapitell: Betriebliche Weiterbildung im Kontext gesellschaftlicher Aufgabenfelder

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Zwischen Flexibilitätsgebot und Anspruch auf Sinn: Überlegungen zu Strategien langfristiger Sicherung des Humankapitals

Axel Bolder

Vor einigen Monaten hat die für den Bereich berufliche Weiterbildung zuständige Re­ferentin eines Arbeitgeberverbandes in der Süddeutschen Zeitung in ebenso seltener wie begrüBenswerter Offenheit kurz und knapp verlautbart, daB es nicht notwendig sei, ein Recht auf Weiterbildung zu installieren. Sie begründete dies - und da wird die Sa­che heikel- rnit der Empirie: Wo es solche Gesetze gebe, da nähmen sie "nur ein Pro­zent" der Arbeitnehmer in Anspruch; sie machten dann im "Bildungsurlaub womöglich Ikebana oder einen Kochkurs". Von der suggestiven MiBbrauchsunterstellung abgese­hen: Jeder, der sich einmal ernsthaft rnit der Materie befaBt hat, weiB, daB die tenden­ziell richtig zitierte Empirie sehr handfeste Ursachen hat: Unter permanenter Arbeits­platzabbau-Drohung und dem Menetekel längerfristig kaum reduzierbarer Massenar­beitslosigkeit wagen es die Wenigsten, ihr Recht einzufordem, weil sie Minuspunkte in der ungeschriebenen Personalakte befürchten. Die Funktionärin schob so die Weiter­bildungsabstinenz eines erheblichen Teils der Arbeitnehmer auf deren angebliches Desinteresse an betriebsnahen Qualifizierungen - und begründete dann daraus ein all­gemeines Desinteresse an der Regulierung des Weiterbildungsbereichs.

Tatsächlich handelt es sich bei Weiterbildungsabstinenz aber urn einen Bedin­gungszirkel, der bei den Betrieben anfángt: Die AusschlieBung weiter Belegschaftsteile aus dem System betrieblicher Weiterbildung - wenn denn das meist wildwüchsige Ge­schehen als System bezeichnet werden kann - bewirkt im Verein rnit der regelhaften Erfahrung eben dieser Belegschaftsteile, daB sich persönliche Investitionen von Zeit und Mühen nicht rechnen, deren SelbstausschluB, ihre Abstinenz von tatsächlich gege­benen Weiterbildungsangeboten eben.

Zu den in diesem Kontext üblichen Verlautbarungen zählt auch, die Betriebe wüB­ten selbst am besten, welche Qualifikationen sie bräuchten. Daraus wird dann die For­derung nach "paBgenauen" WeiterbildungsmaBnahmen abgeleitet und werden Über­schuBqualifikationen, die über den unmittelbaren Bedarf am aktuellen Arbeitsplatz im beschäftigenden Betrieb hinausweisen, systematisch ausgeschlossen. Auch hier stellen sich die Verhältnisse aber durchaus komplizierter dar. Zum einen dürften sich Über­schuBqualifikationen längerfristig auch für den Betrieb rentieren, weil sie Problemlö­sungskompetenz am Arbeitsplatz und, ganz allgemein, qualifikatorische Flexibilität fördem. Das muB gewiB nicht, kann aber durchaus auch scheinbar Abwegiges wie "Ikebana" sein: Die Funktionärin unterschätzt offensichtlich das Transferpotential von Qualifikationen ganz erheblich. Zum anderen kann angesichts der nunmehr schon seit Jahrzehnten anhaltenden technologischen Sprünge kein Berufsforscher und kein Be­trieb den längerfristigen Qualifikationsbedarf seriös prognostizieren; aufgrund dessen

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kann der betriebliche Qualifikationsbedarf, solI er denn paBgenau sein, immer nur sehr kurz-, bestenfalls mittelfristig bestimmt werden. Zum weiteren gibt es systematische Qualifizierungsstrategien nur in den wenigsten Betrieben (und dies nicht einmal immer in den gröBten, wie man meinen könnte). Realitätsangemessener dürfte es sein festzu­stellen, daB die hierfür Verantwortlichen in den Betrieben sich oft genug ziernlich al­leingelassen vorkommen, zumal es in jedem Untemehmen immer mit zwangsläufig recht diffus begründeten Weiterbildungserfordemissen konkurrierende Investitionsop­tionen gibt.

Jenseits von verbandsstrategischen Verlautbarungen stehen die Betriebe vor einem strukturellen Dilemma, das sie in der Regel - die Ausnahmen bestätigen diese nur -nicht alleine lösen können. Urn unter scharfer Konkurrenz auf den Märkten bestehen zu können, bedarf es permanent optimierter Qualifizierungsstrategien, die sich aller­dings notwendig am differentiellen einzelbetrieblichen Bedarf orientieren müssen. Unter Unsicherheit geraten Investitionen in betriebliche WeiterbildungsmaBnahmen aber zu letztlich in ihrer Rendite kaum abschätzbaren Kostenstellen und über kurz oder lang möglicherweise zu Konkurrenznachteilen. Gerade dies begründet einen erhebli­chen Regulierungsbedarf, der das unabweisbare, legitime betriebliche Einzelinteresse schützt. Urn es an einem immer noch unbestrittenen Beispiel zu verdeutlichen: Die Tatsache, daB die Basisausbildung im allgemeinbildenden Schulwesen, staatlich bereit­gestellt, aus den betrieblichen Kostenkalkulationen herausgehalten werden kann, er­spart ihnen zum einen erhebliche Kosten und verhilft ihnen zugleich - was insbesonde­re natürlich für den expandierenden Bereich der Klein- und Mittelbetriebe von erhebli­cher Bedeutung ist - zu gleichen Startchancen unter allgemein verbesserten qualifika­torischen Ausgangsbedingungen.

Statt dessen wird in der Regel versucht, den einzelbetrieblichen Egoismus so weit wie möglich durchzusetzen, indem unabweisbare ad-hoc-MaBnahmen so "paBgenau" und damit - aber auch nur - von Fall zu Fall möglichst kostengünstig eingekauft wer­den. Komplementär hierzu wird den Arbeitnehmem über die Institutionen auf der ge­samtgesellschaftlichen Makroebene mit der - seit mittlerweile auch schon vier Jahr­zehnten - permanenten Wiederholung der Forderung nach "lebenslangem Lemen" eine Bringschuld aufgeladen; es werden ihnen also die Kosten zugeschoben. Die Erfolgs­aussichten dieser Strategielinie erscheinen uns nach einem halben Dutzend Jahren der Erforschung des Phänomens "Weiterbildungsabstinenz,,1 selbst unter den derzeit für die Betriebe günstigen restriktiven Arbeitsmarktbedingungen zweifelhaft. Dies aus fol­gendem Grund: Das Erfordemis der Expansion und Meliorisation des Humankapitals, wie es das Postulat lebenslangen Lemens unterstellt, gesetzt, müssen neue Rekrutie­rungssegmente erschlossen werden; dafür stehen die in der Vergangenheit aufgelegten "Qualifizierungsoffensiven". Allen derartigen Versuchen blieb aber - und nach unse­ren Erkenntnissen wird das auch in Zukunft so bleiben - der Erfolg letztlich versagt.

Das regelhafte Scheitem derartiger Kampagnen hat eine im Grunde ziernlich ba­nale Ursache: Niemand wendet gem Kosten und Mühen auf, die sich nicht sonderlich

Das Projekt "Weiterbildungsabstinenz" des ISO wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von März 1993 bis Oktober 1997 gefördert. Über längere Dauer an der Arbeit beteiligt waren Wolf­gang Hendrich, Andrea Reimer und Axel Spindier. Die Projektberichte können direkt beim ISO­Versand bestellt werden; die AbschluBveröffentlichung wird noch in diesem Jahr unter dem Titel "Fremde Bildungswelten" erscheinen.

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rentieren. Banal auch insofem, als man ihr mit ein wenig Sprachkritik auf die Spur kommen muB. Karlheinz Geij3ler und Helmut Heid haben das für den Aspekt der "Le­benslänglichkeit" des lebenslangen Lemen und die "Qualifizierungsoffensive" schon vor mehr als einem Jahrzehnt demonstriert: Wer will schon lebenslänglich auf zusätzli­che Mühen mit ungewissem Ertrag festgelegt werden, und wer hat es schon gem, wenn gegen ihn beziehungsweise gegen seinen Qualifikationsstatus eine Offensive gefahren wird, die den Status quo labilisiert? Ein weiteres solches - entlarvendes - Kampagnen­wort aus dem Sprachschatz des Autoritären Charakters ist die uns allen so geläufige "MaBnahme": Wem solI denn da womit zu welchem Ende MaB genommen werden?

Die Forderung lebenslangen Lemens widerspricht - als Postulat an die Adresse an­derer - fundamental der von Alfred Schütz betonten Konstanzannahme: Die Menschen gehen zunächst einmal davon aus, daB sich an ihrer Lebenswelt nichts Gravierendes ändert. In unserem Kontext heiBt das: daB sie sich nicht immer wieder einen neuen Qualifikationsanzug anpassen lassen müssen. Interessanter wäre es da schon, das wei­sen die biographischen Erzählungen des Projekts "Weiterbildungsabstinenz" deutlich aus, wenn man im eigenen Arbeitsfeld, Erfahrung sukzessive akkumulierend, Neuland erschlieBen könnte. Kurzum: Was den Kampagnen abgeht, ist der Bezug auf die Per­spektive, auf das genuine Interesse der Objekte ihrer Aktionen, die Subjekte närnlich des Qualifizierungs- und des alltäglichen Arbeitsprozesses.

Unsere These ist, und wir haben in den umfangreichen Untersuchungen des Pro­jekts hinlänglich Belege dafür sammeln können (oder müssen), dies so distinkt zu for­mulieren, daB die Widerspenstigkeit der Subjekte, wo sie die Wahl haben, auch in Zu­kunft mit keiner MaBnahme zu zähmen sein wird - es sei denn, sie bezöge die in den individuellen, subjektiven Kosten-Nutzen-Saldierungen sich manifestierenden Interes­sen der einzelnen systematisch ein: von der Zielbestimmung her angefangen bis hin zur Ausgestaltung der Curricula.2 Denn für die poten ti ellen Rekrutierungssegmente gilt mehr noch als für jene Erwerbsnahensegmente, die Weiterbildungsaktivitäten gegen­über prinzipiell aufgeschlossener gegenüberstehen, in jedem einzelnen Fall der Sinn­vorbehalt: Der Sinn einer Teilnahme an beruflicher Weiterbildung, so haben unsere Untersuchungen die Basishypothese des Projekts voll und ganz bestätigt, muB in jedem einzelnen Fall neu nachzuvollziehen sein; anderenfalls ist grundsätzlich von ihrer Ab­lehnung auszugehen.

Dabei ist lebenslanges Lemen für die mei sten durchaus selbstverständlicher Bestand­teil ihrer Bildungs- und Erwerbsbiographie. Für die Träger der Jedermanns- oder betrieb­lichen Spezialqualifikationen, die im Laufe ihrer Biographie, bedingt durch technische Entwicklungen oder Arbeitsplatzmobilität, häufig Entwertungen ihrer auf den Arbeits­märkten handelbaren Qualifikationen ausgesetzt waren, verläuft berufliches Weiterlemen allerdings als Lemen am Arbeitsplatz, als sukzessive - und angesichts überall stattfinden­der technischer Innovationen auch meBbare - Akkumulation von Erfahrenswissen. Das heiBt nichts anderes, als daB es sich bei der Akkumulation von Erfahrungswissen urn eine domänenspezifische Variante des lebenslangen Lemens handelt.

Das Erfahrungswissen der im alltäglich-konkreten Vollzug tätigen Praktiker war denn auch eines der wichtigsten Themen in den bildungs- und erwerbsbiographischen

2 Die These bezieht sich auf die nicht erschlossenen potentiellen Rekrutierungsfelder, Segmente von Erwerbsarbeit.

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Interviews, das mehr oder weniger alle Argumentationsmuster der Erwerbstätigen be­ziehungsweise derjenigen, die schon längere Zeit gearbeitet hatten, durchzieht. Erfah­rungswissen gilt ihnen auch immer als strategisches Argument, das unter Bedingungen der Arbeitsmarktkonkurrenz gegen die Inhaber von Bildungstiteln ins Feld geführt wird. Das verbreitete Deutungsmuster sieht vor allem aus der alltäglich-betrieblichen Nahdistanz heraus oft jene Titelträger als Praxisfeme, die den betrieblichen Alltag nicht nur nicht im Griff zu haben, sondem ihn nachgerade zu stören scheinen. In jenen Erwebsnahensegmenten, die dem bürgerlichen Bildungsbetrieb eher fremd gegenüber­stehen, weigert man sich tendenziell, Bildungsgeschehen, das in den damit befaBten Wissenschaften allseits anerkannten Kriterien zufolge eindeutig als berufliche Weiter­bildung gilt, als solche anzuerkennen. Andererseits war naturgemäB vor allem bei den Älteren ein Sich-selbst-gewiB-Sein festzustellen, das man im Laufe eines sich wan­deInden Arbeitsprozesses immer wieder dazugelemt habe, denn, wie einer der Weiter­bildungswiderständler so denkwürdig zusammenfaBte, "was denken Sie, was man alles lemen kann im Leben!"

In jedern Einzelfall, in dem sich die Entscheidungsfrage überhaupt stellt, erfolgt letztlich systematisch, wenn auch nicht immer explizit, eine an den eigenen Relevanz­strukturen ansetzende Kosten-Nutzen-Saldierung. leh gehe so weit zu behaupten, daB aufgrund dessen gerade in den potentiellen Rekrutierungsfeldem mit den mittlerweile schon herkörnmlich-traditionellen Appellen an die Weiterbildungsbereitschaft so gut wie niemand dazu gebracht wird, seine V orbehalte beiseite zu räumen und sich seiner "Bürgerpflicht" permanenter Weiterbildung (wir erinnem uns kaum des von Ralf Dah­rendorfvor 35 Jahren geforderten Bürgerrechts auf Bildung)zu besinnen, sie schlieB­lich zu erfüllen. Es wird also kein "Ruck durch Deutschland" gehen, der die sich aus­schlieBenden Ausgeschlossenen zu der Erkenntnis kommen läBt, daB sie ihre subjekti­ven Saldierungen von Sinn und Unsinn zusätzlicher Anstrengungen (zumal auf eigene Kosten) aufzugeben hätten.

Der Sinnvorbehalt gilt andererseits für die Betriebe genauso - und genauso legitim; schlieBlich sind sie keine W ohltätigkeitsvereine. LäBt sich in gröBeren Betrieben noch arn ehesten eine vemünftige Zielbestimmung, Planung und Kosten-Nutzen-Kalkulation von Weiterbildungsveranstaltungen realisieren, so wird dies urn so unmöglicher, wird jede Investition risikoreicher, je kleiner sie sind. In jedem Fall wird versucht werden, Kosten und Renditerisiko zu extemalisieren und auf die Träger der Qualifikationen zu verlagem. Und die se Strategie wird urn so erfolgreicher sein, je stärker der Druck des mehr oder weniger permanenten arbeitsmarktlichen Ungleichgewichts auf den Konkur­renten urn Arbeitsplätze lastet. Sie wird andererseits urn so weniger erfolgreich sein, je geringer die personelle Substitutionsflexibilität eines Betriebes ist.3

Das Spiralen-Szenario geht weiter: Für Bildungsgewohnte ergibt sich aus der Marktsituation und dem Menetekel einer enormen Rationalisierungsreserve im tertiä­ren Sektor objektiv immerhin die Chance, ihre Arbeitskraft durch Weiterbildung für ih­ren potentiellen Käufer attraktiv zu halten und so - bei vielleicht gleichen Prei sen (Löhnen) - das Risiko des Arbeitsplatzverlusts zu verringem beziehungsweise die

3 Für die allgemeine Erhöhung (des Niveaus) der FlexibiJitätsreserven ist dann wieder die auf die Ma­kroebene der politischen Rahmenbedingungen abzie1ende Lobby, sind die Verbände zuständig: In jüngster Zeit wird auf der politischen Ebene die Erosion der mit Facharbeitszertifikaten verbundenen Ansprüche betrieben.

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Chance des Eintritts in ein Arbeitsverhältnis zu erhöhen. Für die dem Bildungsbetrieb fremd Gegenüberstehenden des Jedermannssegments, die zudem Selbstvermarktung nie gelemt haben, verringert sich aufgrund dessen die Chance des Arbeitsplatzerhalts; sie dürften zunehmend zu einer Flexibilitätsreserve für jene Beschäftiger werden, die ungesicherte, saisonale, Teilzeitarbeitsverhältnisse anbieten (können). Für sie wird be­rufliche Weiterbildung in aller Regel allenfalls im Einzelfall der Anlemung für einen konkreten Arbeitsplatz aktuell. Das wiederum schlieSt dann den Kreis unter gegebenen Bedingungen: Welchen Sinn sollten sie in Weiterbildungsprozessen sehen?

Zurück zum Ausgangspunkt: Wenn Weiterbildungsbereitschaft in erhöhtem MaSe erforderlich ist - und bezogen auf das gesamtgesellschaftliche Humankapital muS man, ohne die Richtung zu kennen, angesichts der anstehenden sektoralen Restrukturie­rungsprozesse und anhaltender technologischer Schübe davon ausgehen -, dann bedarf es zuallererst eines Umlemens auf seiten der Beschäftiger. Man wird sich schon ent­scheiden müssen, ob man sich der Verantwortung für die Makroebene stellen oder in der Hoffnung, letztlich die Zeche nicht bezahlen zu müssen, auf der AusschlieSlichkeit der Bearbeitung der Mikroebene, der eigenen betrieblichen Qualifizierungsbelange, bestehen will. Die Tendenz geht derzeit wohl in diese letztere Richtung. Was ge­samtgesellschaftlich in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv ist, dürfte aber rnittel- und langfristig auch für die einzelnen Beschäftiger, zumal des expandierenden Bereichs der Mittel- und Kleinbetriebe, für die die qualifikatorischen Substitutions- und Rüstzeitko­sten expandieren dürften, teurer werden als erforderlich.

Was also tun? Die Antwort ist so bizarr einfach, wie die Hoffnung, daS sie in ab­sehbarer Zeit umgesetzt werden könnte, illusorisch scheint: Es bedarf der institutionel­len Absicherung von Flexibilisierung in Form von individuellen und kollektiven Quali­fizierungsrechten auf der Makroebene - also der Regulierung. Regulierung und eben nicht Deregulierung verhindert relative Kostenvorteile nicht engagierter Marktkonkur­renten, und dies urn so mehr, je globalisierter auch die Rahmenbedingungen betriebli­chen Handeins politisch bearbeitet werden. Zurnindest auf EU-Ebene steht solchen Strategien auSer fehlendem politischen Gestaltungswillen rnittelfristig nichts mehr im Wege.

Wie eine solche institutionalisierte Flexibilisierung im einzelnen aussehen könnte, kann hier natürlich nicht aufgezeigt werden. Hier ist pädagogische und vor allem ar­beits-, bildungs- und tarifpolitische Phantasie gefragt, wird rnit der Übemahme und Anverwandlung von Beispielen, wie es sie - zum Beispiel in den Niederlanden und Dänemark - durchaus schon gibt, experimentiert werden müssen. Die Generalrichtung ist dabei vorgezeichnet: Es kann gesamtgesellschaftlich nicht geduldet werden, daS aufgrund weiterer Nutzung von Rationalisierungsreserven langfristig zehn bis zwanzig Prozent der Erwerbsbevölkerung ohne Arbeit bleiben;4 dies dürfte zu einem Sprengsatz für den Grundkonsens der Gesellschaft - mit allen gewiS nicht p'ositiven Konsequen-

4 Das Institut der deutschen Wirtschaft erreehnete jüngst einer dpa-Me1dung zufolge für den kurzen Zeitraum von März 1996 bis März 1998 einen Nettoabbau von 376.000 Stellen in der Bundesrepu­blik. Zuwäehse gab es demzufolge nur bei der "einzigen deutsehen lobmasehine", den "rnittelständi­sehen" Betrieben mit unter 500 Besehäftigten; und zwar in der GröBenordnung von nur 46.000 Ar­beitsplätzen, vor allem in Dienstleistungsbetrieben (Reehts- und Steuerberatern, Wirtsehaftsprüfern, Medienbranehen - allesamt auf permanente Qualifizierungsstrategien angewiesen - oder Gebäude­reinigern).

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zen - werden. Es muB also neue Erwerbsarbeit geschaffen und gegebene Arbeit um­verteilt werden; und zwar derart, daB die Arbeitseinkommen zu einer angemessenen Lebenshaltung hinreichen. Flexibilisierungserfordemis und Sinnvorbehalt erfordem ih­rerseits den systematischen Einbau von erwerbsarbeitsunschädlichen Qualifizierungs­und Experimentierphasen in den Erwerbslebenslauf.

Das muB keineswegs - und sollte im Segment der traditionell (Weiter-)Bildungs­abstinenten auch nicht - in der Form in die Erwachsenenwelt hinein versetzter Schul­phasen geschehen. Zu denken wäre eher an erwachsenenpädagogisch begleitete Ange­bote, die nicht (nur) am unmittelbaren Beschäftigerbedarf orientiert sein sollten, urn eben auch - in (en passant-)Qualifizierungsbiotopen quasi - erwerbslebenslauforien­tiertes Experimentieren zu ermöglichen. Anzusetzen ist jedenfalls immer auch an der individuellen Qualifizierungsgeschichte und am aktuellen Qualifikationsstatus, das heiBt am Erfahrungswissen der einzelnen. Vocational guiding, in den USA seit Jahr­zehnten diskutiert, wäre hier ein Ansatzpunkt, die enorm verbesserte Berufslaufbahn­beratung der Bundesanstalt für Arbeit ein anderer. Es geht im Einzelfall, auf der Mi­kroebene, schlieBlich immer urn ein Ausloten des Konvergenzspielraumes zwischen den Interessen der Beschäftiger und der (potentiellen) Belegschaftsrnitglieder.

Derlei muB - auf der Mikroebene - gewiB nicht unbedingt durch ein staatliches Weiterbildungssystem gewährleistet werden; Mischsysteme, die ineinandergreifen, dürften im Gegenteil eher in der Lage sein, das auf der Makroebene Institutionalisierte - das, dies sei wiederholt, auch die Beschäftiger von der Furcht urn konkurrente Ko­stenvorteile entlasten würde - umzusetzen. Auch hierfür gibt es Anfänge: wenn etwa mittelständische Betriebe in Abstimmung mit dem regionalen Arbeitsamt überbetrieb­liche Weiterbildungseinrichtungen errichten, die sie systematisch zur Weiterqualifizie­rung ihrer Belegschaft nutzen, oder wenn in GroBbetrieben Qualifizierungsinseln ge­schaffen werden, die zwar den unmittelbaren Bedarf sichem, aber darüber hinauswei­sen. Für die Erwerbspersonen zumal der hier zur Debatte stehenden Segmente muB je­doch bei der Institutionalisierung von Qualifizierungsprozessen vor allem anderen die allererste Sinn-Kategorie erfüllt sein: die Beschäftigungs- und Einkomrnenssicherung. Alles andere ist demgegenüber sekundär, wenn auch gewiB nicht vemachlässigbar.

Mir scheint ein solches Ineinandergreifen kurz- und langfristiger, auf der Mikro­ebene der Beschäftiger, der Mesoebene regionaler Angebotsstrukturen und auf der Makroebene der Institutionen ansetzender politischer Bearbeitung der Interessen beider Seiten auf lange Sicht eine erfolgreichere Strategie der Sicherung des Humankapitals (der Gesellschaft, der Beschäftiger, der einzelnen) zu sein - wenn auch die Skepsis, daB sie einmal ergriffen werden könnte, überwiegt.

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Erfordert der demographische Wandel vermehrte berufliche Weiterbildung älterer Arbeitnehmer?

Wolfgang Gallenberger, Angelika Gaufer, Peter Datz, Thomas Neubert

Zur Beantwortung der Titelfrage ist es notwendig, neben den prognostizierten demo­graphischen Veränderungen weitere Faktoren zu diskutieren, die den Weiterbildungs­bedarf determinieren. Wesentliche Aspekte sind hierbei die Praxis der Frühverrentung, die Frage nach der Entwicklung der Arbeitslosigkeit, Veränderungen von Berufs­struktur und Arbeitsorganisation sowie Qualifizierungsrisiken, die für ältere Arbeit­nehmer ein zentrales Beschäftigungsrisiko darstellen. Zusammenfassend wird der Nut­zen oder auch die Notwendigkeit beruflicher Weiterbildung (künftig) Älterer zu er­mitteln versucht: Berufliche Weiterbildung alleine stellt keine Garantie für eine künfti­ge Beschäftigung dar, sondem verringert günstigstenfalls für den Einzelnen das Risiko der Arbeitslosigkeit sowie volkswirtschaftlich betrachtet die Gefahr eines Mangels an qualifizierten Arbeitskräften.

1 Einleitung

Der prognostizierte demographische Wandel- eine Alterung der Bevölkerung - in der Bundesrepublik Deutschland rückt die (künftige) Bedeutung älterer Menschen in unse­rer Gesellschaft in den Mittelpunkt bildungspolitischer Diskussionen. Wesentlich dabei ist die Frage nach der Bedeutung der Berufstätigkeit Älterer. Weit verbreitet ist die Annahme, daB ältere Arbeitnehmer künftig wieder verstärkt in das Erwerbsleben inte­griert sein werden und deshalb generell die Notwendigkeit beruflicher Weiterbildung (künftig) älterer Beschäftigter bestünde (z.B. Barkholdt u.a. 1995). Dieser Beitrag will kritisch prüfen, ob sich diese Thesen mit der demographischen Entwickung begründen lassen und ob es ratsam ist, schon heute die Weiterbildungsteilnahme der mittleren Ge­neration quasi prophylaktisch zu fördem.

Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden nicht immer zwischen der männlichen und weiblichen Form unterschieden. Wir weisen allerdings darauf hin, daB in der Entwicklung der Männer- und Frauenerwerbstätigkeit durchaus Unterschie­de bestehen. Dies kann im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich diskutiert werden, da es hier primär um das Merkmal "Alter" geht.

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20 Wolf gang Gallenberger, Angelika Gaufer, Peter Datz, Thomas Neubert

2 Altersstruktur in Deutschland - demographische Bestandsaufnahme und Prognose

Zunächst solI thematisiert werden, welche Entwicklungen wahrscheinlich sind und welche Konsequenzen sich aus ihnen im Hinblick auf die Qualifizierung ergeben könnten.

2.1 Einfluftfaktoren

In den letzten Jahrzehnten lassen sich in Deutschland insbesondere zwei Megatrends ausmachen, die bei der Betrachtung des demographischen Wandels von besonderer Bedeutung sind und im folgenden näher beleuchtet werden: der Anstieg der Lebenser­wartung und die Entwicklung der Geburtenrate. BeeinfluBt wird demographischer Wandel aber auch von kaum prognostizierbaren Wanderungen.

Durch vielfáltige Fortschritte in Medizin und Gesundheitsfürsorge, HygienemaB­nahmen und gestiegenen W ohlstand ist die Lebenserwartung bei Männem und Frauen in Deutschland angestiegen. Bei Männem lag sie 1988 beispielsweise bei 72 Jahren, das sind gut 7,5 Jahre mehr als 1950. Frauen konnten in diesem Zeitraum ihre Lebens­erwartung sogar urn zehn auf 79 Jahre steigem (vgl. GeiBIer & Meyer 1996, S. 342). Die Lebenserwartung heute 60jähriger liegt laut Naegele (1994) bei den Männem so­gar bei 79 und bei den Frauen bei 83 Jahren. Betrachtet man die gesamte Altersstruktur der Bundesrepublik, so zeigt sich, daB die über 60jährigen bereits heute über 20% der Bevölkerung ausmachen.

Bis Mitte der 70er Jahre war die Bundesrepublik ein Land mit steigenden Bevölke­rungszahlen. Ein wichtiger Grund hierfür sind die bis 1964 ansteigenden Geburtenra­ten. Die Zahl der jährlichen Geburten stieg zwischen 1950 und 1964 von ca. 800.000 bis über 1.000.000 (vgl. Gei Bier & Meyer 1996, S. 337). Danach folgte ein jäher Rückgang der Geburten ("Pillenknick") auf ca. 600.000 (1975), der in der ehemaligen DDR zu diesem Zeitpunkt ebenfalls zu beobachten war. Hier sanken die Geburten im selben Zeitraum von 290.000 auf 180.000. Seither pendein die jährlichen Geburten auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik zwischen 770.000 und 800.000.

Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den wichtigsten Einwanderungsländem der Welt. Gei Bier & Meyer (1996) zeichnen diese Tradition nach anhand der Vertrie­benen aus dem ehemaligen Osten Deutschlands, der Flüchtlinge und Übersiedler aus der ehemaligen DDR zur Zeit des Kalten Krieges, der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften in den 60er und 70er Jahren und der Asylbewerber und Spätaussiedler in jüngerer Zeit. Ihrer Meinung nach lassen sich die im folgenden skizzierten Probleme "ohne ein klares Bekenntnis zur Bundesrepublik als Einwanderungsland ( ... ) kaum be­wältigen" (GeiBIer & Meyer 1996, S. 356). Schwarz (1995) untersucht die demogra­phische Entwicklung ebenfalls unter dem Aspekt der Wanderungen, kommt aber zu ei­nem anderen SchluB: "Es gibt inzwischen zahlreiche Untersuchungen, die ( ... ) bewei­sen, daB selbst durch massive Zuwanderung der AltersprozeB allenfalls gedämpft wer­den kann. Die Erklärung dafür ist sehr einfach: Man kann nicht nur Kinder und Ju­gendliche zuwandem lassen. AuBerdem: Auch Einwanderer werden mit der Zeit älter und lassen ihre Familienangehörigen nachkommen" (Schwarz 1995). Ein weiteres Ar-

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Erfordert der demographischer Wandel vermehrte berufliche Weiterbildung? 21

gument zur Untermauerung dieser These ist die Tatsache, daB sich Zuwanderer in ih­rem generativen Verhalten nach und nach dem Gastland anpassen (vgl. auch GeiBIer & Meyer, 1996).

2.2 Bisherige Entwicklung der Altersstruktur

Betrachtet man die Altersstruktur Deutschlands, so zeigt sich, daB die aus volkswirt­schaftlicher Sicht als ideal empfundene frühere Form einer Pyramide, wie man sie noch vor dem ersten Weltkrieg vorfand, sich heute eher zu der Form eines Tannen­baums entwickelt hat. In ihr lassen sich bestimmte Geburtenberge und -täler erkennen, die ihrerseits wieder Höhen und Tiefen nach sich ziehen, sobald sich die jeweilige Ko­horte in das Fortpflanzungsalter begibt (vgl. GeiBIer & Meyer 1996, S. 343). Die ge­burtenstarken Jahrgänge wachsen immer mehr ins höhere Erwachsenen- bzw. Renten­alter hinein. Ihnen folgen 30 Jahre der niedrigen Geburtenzahlen, die bald vollständig im Erwerbstätigenalter stehen werden. Selbst wenn eine Trendwende bei der Zahl der Geburten in Sicht wäre (wovon aufgrund zunehmender Frauenerwerbstätigkeit und aus anderen Gründen nicht die Rede sein kann), kann der Geburtenrückgang der letzten 30 Jahre nicht wettgemacht werden und zieht somit weitreichende Konsequenzen nach sich. Eine vergleichbare Entwicklung herrscht in nahezu allen westeuropäischen Län­dern sowie zeitlich versetzt in den USA vor (Gaullier u.a. 1990 S. 70f. ).

2.3 Prognose des Erwerbspersonenpotentials

Unter Berücksichtigung der Entwicklung von Lebenserwartung, Geburtenrate, Wande­rungen und aktueller Altersstruktur wird versucht die zukünftige Entwicklung der AI­tersstruktur zu errechnen. Auf dem Hintergrund der als gesichert zu erachtenden Pro­gnose einer Entwicklung hin zu einer älter werdenden Gesellschaft (vgl. u.a. Thon 1995; Steinmann 1993; Bäcker 1996; Behrend 1997), ist der Blick in den folgenden Ausführungen insbesondere auf die derzeitige und die zu erwartende Situation der "älteren Erwerbstätigen" (zur Problematik dieses Begriffs vgl. Gallenberger 1998) ge­richtet.

Abbildung 1 zeigt die bisherige Entwicklung und das Ergebnis einer Projektion (Thon 1995). Diese basiert auf Modellrechnungen des IAB, die weitgehend auf Daten des Statistischen Bundesamts zurückgreifen. Weil Thon eine Darstellung der langfri­stigen Entwicklung zwischen 1950 und 2030 anstrebt, muB er sich aufgrund der Da­tenlage auf die alten Bundesländer beschränken, wobei er darauf verweist, daB auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine ganz ähnliche Bevölkerungsentwicklung stattgefun­den hat. Die Befunde dürften demnach im Trend auch für ganz Deutschland geIten:

Demnächst bewegen sich die geburtenschwachen Jahrgänge ins Erwerbstätigenal­ter, während die geburtenstarken Jahrgänge zu älteren Personen im erwerbsfáhigen Alter werden. Thon (1995) folgert aus dieser Entwicklung und den sich verlängernden Erstausbildungszeiten eine allgemeine Alterung des Erwerbspersonenpotentials. Er prognostiziert, daB die über 50jährigen bereits im Jahr 2000 einen gröBeren Pool an potentiell Erwerbstätigen stellen werden als die unter 30jährigen. Ihr Anteil am Er-

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werbspersonenpotential wird seinen Berechnungen zufolge irn Jahr 2020 urn die 35% liegen (heute: ca. 25%). Diese Annahrne der Alterung des Erwerbspersonenpotentials wird in der Literatur irn allgerneinen bestätigt (u.a. Bäcker 1996; Naegele 1994; Bark­holdt u.a. 1995; Behrend 1997). Ein groBes Potential an älteren Arbeitnehrnern sagtje­doch nichts aus über deren tatsächliche Beschäftigung.

Abbildung 1,' Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials

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Mit Hilfe von Lastquoten, die Aussagen über die Belastungen einer Gesellschaft durch ihre nicht-produktiven Mitglieder treffen, begründet Thon (1995), warurn künftig rnehr Ältere erwerbstätig sein rnüssen. Für deren Berechnung wird die Zahl der bis 20jährigen zur Zahl der 20- bis 60jährigen in Beziehung gesetzt (Jugendlastquote); analog wird für die über 60jährigen verfahren (Altenlastquote ). Beide Belastungen zu­sarnrnen ergeben die sogenannte Gesarntlastquote, die ein vereinfachtes MaB für die von der Volkswirtschaft aufzubringende Leistung für den Erhalt der Gesellschaft dar­stellt. Diese Gesarntlastquote steigt in den nächsten 10 Jahren zunächst an und wird sich dann auf einern irn Vergleich zu heute wesentlich höherern Niveau einpendeln. Thon folgert aus dieser Entwicklung, daB es nötig sein wird, das vorhandene Erwerbs­personenpotential voll auszuschöpfen, urn die gröBere gesellschaftliche Last tragen zu können. Auf diese Weise läBt sich - das Eintreten der Prognosen vorausgesetzt - de­rnographisch begründen, warurn ältere erwerbsfahige Personen in Zukunft tatsächlich in höherern AusrnaB beschäftigt sein rnüssen als heutzutage.

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Erfordert der demographischer Wandel vermehrte berufliche Weiterbildung? 23

3 Situation älterer Arbeitnehmer heute und morgen

Bevor wir darauf eingehen welche Folgen dies für die Qualifizierung der Beschäftigten haben kann, sollen noch weitere Aspekte berücksichtigt werden, die einen künftig ver­mehrten Bedarf ältere Arbeitnehmer zu beschäftigen in Frage stellen können.

3.1 Die Entwicklung der Frühverrentungspraxis

Im intemationalen Vergleich lag 1988 die Erwerbstätigkeit deutscher Arbeitnehmer bei den 60-64jährigen mit 31,5% herausragend niedrig. Bei den Frauen lag sie sogar nur bei ca. zehn Prozent. 1970 lag die Erwerbsquote im selben Lebensabschnitt bei den Männem beispielsweise noch bei 71,6%. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter ist im Zuge dieser Entwicklung von gut 61 auf 59 Jahre gesunken (Rosenow & Naschold 1993, S. 146f.). Die Gründe, die für dieses Absinken verantwortlich gemacht werden, sind vielfältig:

Seitens der Arbeitnehmer bestand ein hohes Interesse, früher verrentet zu werden. Dies zog kaum finanzielle EinbuBen nach sich. Zudem empfinden viele ihre beruf­liche Tätigkeit gerade im Alter als Belastung. Die Frühverrentung entlastet von belastenden Arbeitsbedingungen, die nicht zuletzt von der Stigmatisierung älterer Arbeitnehmer "als betriebliche und arbeitsmarktpolitische Problemgruppe ( ... ) her­rühren" (Barkholdt u.a., 1995 S. 425; vgl. auch Naegele 1992). Seitens der Arbeitgeber wird die Entlassung Beschäftigter in den vorzeitigen Ru­hestand ebenfalls geme angenommen. Einerseits steigt die zu zahlende Vergütung mit zunehmender Betriebszugehörigkeit, andererseits sollen die mei sten älteren Arbeitnehmer betrieblichen Wandel aufgrund eines gegenüber Jüngeren niedrige­ren Aus- und Weiterbildungsniveaus, schlechter bewältigen können (vgl. Bark­holdt u.a. 1995, S. 427). Hinzu kommt, daB auf dem Arbeitsmarkt genügendjunge, hochqualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Seitens des Staates wurden die rechtlichen Grundlagen zur reibungslosen Frühver­rentung gewährleistet. Grund für diese Poli tik waren u.a. die hohen Arbeitslosen­zahlen im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter.

Das Frühausgliederungsgeschehen schien lange Zeit ein von Staat, Untemehmen und Beschäftigten konsenshaft getragenes und unterstütztes gesellschaftliches Regulati­onsprinzip (vgl. Rosenow & Naschold 1993) zu sein. Dieser Konsens zwischen Ar­beits- bzw. Beschäftigungspolitik und staatlichen MaBnahmen sowie Interessen der einzelnen Beschäftigten löst sich allerdings immer mehr auf. Verschiedene Gründe sprechen dafür, daB zukünftig nicht mehr in der gegenwärtigen Praxis verfahren wer­den wird:

Aufgrund der Haushaltslage wird die Finanzierung der Frühverrentung durch die Arbeitslosen- und Rentenversicherung zunehmend schwieriger. Erste MaBnahmen, dieser Problematik zu begegnen, wurden staatlicherseits bereits durch die Anhe­bung der Altersgrenzen ab 2001 auf einheitlich 65 Jahre (Rentenreformgesetz 1992) getroffen. Seitens der Betriebe ist allerdings nicht mit einer Förderung der

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Alterserwerbsarbeit zu rechnen (vgl. Naegele 1994). Deshalb ist zu befürchten, daB der Umfang der Arbeitslosigkeit zwischen Berufsaustritt und dem Erreichen des Rentenzugangs steigt (vgl. Barkholdt u.a. 1995).

- Es kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, daB neue Herausforderun­gen für die Betriebe weiterhin durch einen Personalaustausch ,jung gegen alt" be­stritten werden können, da das Angebot junger Arbeitskräfte aufgrund der demo­graphischen Entwicklung möglicherweise zu knapp werden könnte. Laut Bäcker ist damit zu rechnen, daB "Betriebe nach der Jahrtausendwende auf die produktive Leistungskraft der Älteren angewiesen sein werden" (Bäcker 1996, S. 23). Auch N aegele (1994) unterstreicht die These, daB die Anforderungen der Arbeitswelt von morgen - und erst recht die von übermorgen - von insgesamt älteren Beleg­schaften bewältigt werden müssen. "Allgemein gilt ( ... ) hier das Jahr 2010 als Wendepunkt" (Naegele 1994, S. 134).

Die beschriebenen Entwicklungen entsprechen der im letzten Abschnitt vorgestellten Prognose, daB künftig immer mehr ältere Menschen länger einer Beschäftigung nach­gehen werden. Ihren Ursprung hat die Entwicklung gegen das Frühverrentungsgesche­hen aber nicht allein im demographisch bedingten Altem des Erwerbspersonenpotenti­als. Die leeren Rentenkassen sind beispielsweise, wie Behrend (1997, S. 191) gezeigt hat, nicht nur auf den demographischen Wandel zurückzuführen. Inwieweit der Trend zur Abschaffung der Frühverrentung Realität wird, wird wesentlich von politischen Entscheidungen bestimmt. Diese werden beeinfluBt von der politischen Interpretation der jeweiligen allgemeinen Arbeitsmarktlage und den Rezepten, die zur Verminderung der allgemeinen Arbeitslosigkeit favorisiert werden.

3.2 Hohe Arbeitslosigkeit heute - Arbeitskräftemangel morgen?

Die prognostizierten demographischen Entwicklungen bedeuten "nicht, daB sich auto­matisch die Arbeitsmarktperspektiven für ältere Arbeitnehmer verbessem" (Bäcker 1996, S. 23). Die Chance älterer Arbeitnehmer, in Zukunft wieder bes ser in den Ar­beitsmarkt integriert zu sein, hängt sehr stark von der allgemeinen Arbeitslosigkeit in Deutschland ab. "Solange die schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt andauert, wird sich der Trend der Frühverrentung nicht umkehren lassen" (Bäcker 1996, S. 23). Die politi­sche Abwendung von der offiziellen Frühverrentung wird lediglich zur Folge haben, daB mehr Ausgegliederte als bisher zunächst arbeitslos werden und später deshalb ge­ringere Rentenansprüche haben. Bis dato sind die Arbeitslosenzahlen seit 1970, von wenigen Verzögerungen abgesehen, kontinuierlich gestiegen (s. Abb. 2). Beinahe ebenso kontinuierlich hat die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 60-64 Jahren abge­nommen (vgl. Rosenow & Naschold 1993). Es ist also anzunehmen, daB die zukünfti­ge Beschäftigung älterer Arbeitnehmer stark von der Nachfrage nach Arbeitskräften an sich abhängt.

Die zweifelhafte Aussagekraft von Arbeitsmarktprognosen läBt sich gut an einer Prognose von Klauder (1993) verdeutlichen: Nach einem optimistischen IAB-Szenario könne die Arbeitslosigkeit 2000 urn etwa ein Drittel niedriger ausfallen als 1993 (Klauder 1993). Zum Zeitpunkt dieser Aussage lag die Zahl der Arbeitslosen urn 600.000 niedriger als Mitte 1998. Geht es also urn eine Entscheidung über die Notwen-

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digkeit beruflicher Weiterbildung (künftig) älterer Arbeitnehmer, so ist zu bedenken, daB als Argumentationsbasis keine gesicherten Erkenntnisse, sondern lediglich Annah­men, die im Vergleich zu verschiedenen alternativen Annahmemodellen als sinnvoller und am wahrscheinlichsten zutreffend erachtet werden, herangezogen werden können. (Zur VerläBlichkeit von Bevölkerungsprojektionen vgl. auch Thon 1995).

Nach Naegele (1994) werden "nach den vorliegenden Arbeitsmarktprognosen ( ... ), zumindest bis 2005, globale Massenarbeitslosigkeit bzw. Lücken im Arbeitsplatzange­bot vorherrschend bleiben." Barkholdt u.a. (1995) gehen von einer demographisch be­dingten Lücke im Arbeitskräfteangebot nach 2010 aus, die hauptsächlich durch die "längere Beschäftigung künftiger Kohorten älterer Arbeitnehmer" (Barkholdt u.a. 1995, S. 428) geschlossen werden kann. "Neuere Berechnungen gehen allerdings unter Berücksichtigung der aktuellen Arbeitsmarktentwicklung von einem ,Abschmelzen' des Arbeitskräftepotentials nicht vor dem Jahr 2020 aus" (Behrend 1997, S. 50).

Die Annahme einer, wenn auch inzwischen nur noch langfristig zu erwartenden, demographisch bedingten Verknappung des Arbeitskräfteangebots und einer damit verbunden Erhöhung der Nachfrage am Arbeitsmarkt, ist weit verbreitet. Die Aktivie­rung der Ressource "ältere Arbeitnehmer" ist nur ei ne Möglichkeit dieses Problem zu bewältigen. Als Alternative käme neben gezielter Zuwanderung eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen in Betracht. Da diese Alternativen jedoch lediglich abmildernd wirken könnten (vgl. Bäcker 1996; Behrend 1997), ist ein Rückgriff auf die Älteren sehr wahrscheinlich. Urn diese zu ermöglichen, wäre eine heute schon ein­setzende, kontinuierliche berufliche Weiterbildung der künftigen Älteren sinnvoll, da die Zusammensetzung des Arbeitsmarktes - hier insbesondere der Arbeitskräfte - nicht nur eine Frage der Quantität, sondern gerade auch eine der angebotenen Qualifikatio­nen ist.

Abbildung 2: Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in der BRD

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4 Qualifikation älterer Arbeitnehmer

4.1 Qualifikationsstand und Weiterbildungsteilnahme älterer Arbeitnehmer

Die schulische und berufliche Ausgangsqualifikation der heutigen älteren Arbeitneh­mer ist zu einem groBen Teil dem unteren Qualifikationsniveau zuzuordnen. Ihre vor der westdeutschen Bildungsexpansion bzw. vor der massiven Nachqualifizierung in den ostdeutschen Ländem erworbene Schulbildung entspricht häufiger als in den nach­folgenden Jahrgängen dem Volks- bzw. HauptschulabschluB. Untersuchungen von Gallenberger (1998) ergaben, daB die insgesamt geringere berufliche Weiterbildungs­beteiligung älterer Erwerbspersonen (Hilzenbecher 1991) in erster Linie auf den hohen Anteil Un- und Angelemter in dieser Altersgruppe zurückzuführen sind. Dies wider­spricht der häufig anzutreffenden Auffassung, die im Vergleich zu jüngeren Altersko­horten geringere Beteiligung älterer Beschäftigter an beruflicher Weiterbildung sei "mit einer mit dem Alter generell sinkenden Motivation und Teilnahmebereitschaft der Betroffenen" (Barkholdt u.a. 1995) zu erklären. Verschiedene Untersuchungen wei sen auf weitere Ursachen hin, wie zum Beispiel auf fehlende Anreize durch die Betriebe bzw. mangelnde Anstrengungen der Untemehmen und der Arbeitsverwaltung, der Weiterbildungsabstinenz vieler älterer Arbeitnehmer entgegenzuwirken (vgl. Severing 1993; Bullinger u.a. 1993; Frerichs 1996). Die Betriebe haben auch Gründe, dies nicht zu tun: Aus ihrer Sicht bedeutet betriebliche Weiterbildung eine Investition in die Zu­kunft (Humankapitalinvestition). Aufgrund des bereits erläuterten Konsenses zum Frühausgliederungsgeschehen entfállt "die Notwendigkeit einer längerfristig angeleg­ten Betriebspolitik der Humankapitalerhaltung durch Qualifizierung" (Barkholdt u.a. 1995, S. 425), insbesondere hinsichtlich der Qua1ifizierung ä1terer Beschäftigter. Diese weisen näm1ich geringe "Restnutzungszeiten" als ihre jüngeren Kollegen auf, so daB ihre Weiterbildung nicht mehr rentabel erscheint (vgl. Naege1e 1992; Frerichs 1996). Das könnte sich zukünftig ändem.

Nach Friebel (1993) findet Weiterbildung nur statt, wenn individuelle Bereitschaft hierzu und Teilnahmegelegenheiten zeitlich aufeinandertreffen. Mit dem Nachrücken durchschnittlich qualifizierterer Jahrgänge wird es künftig unter den ä1teren Erwerb­spersonen mehr Menschen geben, die nicht aufgrund ihrer geringen Bildungserfahrun­gen und ihres Erwerbsstatus vom Weiterbildungsgeschehen ausgegrenzt sind. Auch die untemehmerischen Restnutzen-Kalküle dürften öfter zu Gunsten der Weiterbildung Älterer ausfallen, wenn die Beschäftigten länger als bisher im Betrieb bleiben (sollen oder müssen). Dadurch wird die Weiterbildungsteilnahme Älterer durchschnittlich steigen. Aber nicht, weil alle mehr lemen, sondem weil die relativ niedrige Zahl derer, die sich weiterqualifiziert in den künftigen Älteren-Kohorten gröBer sein wird. Ob da­mit Nachqualifizierung im benötigten Umfang quasi von selbst erreicht werden kann, hängt wesentlich von Art und Umfang der künftig benötigten Qualifikationen ab. Mit deren Vorhersehbarkeit setzt sich der nächste Abschnitt auseinander.

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4.2 Veränderungen von Berufsstruktur und Arbeitsorganisation

Exemplarisch für vermutete Veränderungen in der Berufs- und Tätigkeitsstruktur, wol­len wir hier auf den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgese11schaft einge­hen. Davon ausgehend so11 diskutiert werden, ob sich aus derartigen Vermutungen Fol­gerungen für die berufliche Qualifizierung ableiten lassen.

Betrachtet man Statistiken zur Berufsstruktur, so zeigt sich, daB in den letzten Jahr­zehnten eine Verschiebung von Berufen im produzierenden Gewerbe hin zu Berufen im Dienstleistungsbereich stattgefunden hat. Während 1965 nur 38% der Erwerbstätigen im tertiären Sektor beschäftigt waren, waren es 1990 schon 55,3% (vg!. Ruhland 1992).

Immer weniger Erwerbstätige werden für die Produktion von Waren benötigt, die Erwerbstätigenzahlen in den Dienstleistungsbereichen wie zum Beispiel Betreuung, Beratung, Lehre, Organisation, Forschung und Entwicklung dagegen steigen.

Prognosen lassen vermuten, daB sich der Trend noch verstärken wird. Nach Klau­der (1993) werden im Jahre 2010 nahezu drei Viertel der Beschäftigten Dienstlei­stungstätigkeiten ausüben. Ruhland (1992) begründet die vermutete Zunahme des ter­tiären Sektors: Ein zunehmend dichteres und differenzierteres Gesetzesnetz, neue Pro­duktionsverfahren und technologiebedingte Veränderungen (spezie11 computergestützte Techniken) sowie die Nachfrage nach zunehmend differenzierten Produkten erfordern mehr Mitarbeiter im Dienstleistungssektor, die überwachen, informieren, verwalten oder beraten (vg!. Ruhland 1992). Nach Lutz (1996) wird der Dienstleistungssektor in Zukunft aber auch am stärksten von Rationalisierungen betroffen sein, da hier der Ra­tionalisierungs-"Nachholbedarf' am gröBten ist. Deshalb ist es fraglich, ob der Trend wirklich anhält.

Gesetzt dem Fa11, die Beschäftigtenzahlen im Dienstleistungssektor würde steigen, stellt sich die Frage, inwieweit sich die Veränderungen auf den Faktor Qualifikation und damit auf den möglichen Bedarf an beruflicher Weiterbildung auswirken. Klauder (1993) betont die Schwierigkeit längerfristiger Vorhersagen hinsichtlich Qualifikati­onsanforderungen angesichts des grundlegenden Strukturwandels. Nach Lehner & Widmayer (1992) werden hochwertige Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor erst dann geschaffen, wenn Erwerbstätige hoch qualifiziert sind und die Fähigkeit zu stän­diger Weiterbildung besitzen (wobei eine hohe Qualifizierung keine hochwertigen Ar­beitsplätze garantiert). Andernfalls bestehe die Gefahr, daB im Dienstleistungsbereich, ähnlich wie in Entwicklungsländern und teilweise auch in den USA, nicht anspruchs­volle Arbeitsplätze entstehen, sondern einfache "Handlangertätigkeiten", für die keine oder kaum eine Ausbildung nötig ist und die die Erwerbstätigen kaum über dem Exi­stenzminimum leben lassen.

Hier stoBen wir auf das grundsätzliche Problem, daB sich aus vermuteten Verände­rungen genere11 keine Qualifikationserfordernisse ableiten lassen. Arbeitgeber verfügen bei der Realisierung ihrer Produkte und Dienstleistungen über einen hohen Gestaltungs­spielraum. Welche Form der Arbeitsorganisation gewählt wird, hängt von ihren Ent­scheidungen ab. Sie müssen auf Kostenfaktoren wie Absatz- und Arbeitsmarktbedingun­gen sowie auf technologische Entwicklungen reagieren. Durch diese Entscheidungen wird bestimmt, welche Qualifikationen letztendlich am Arbeitsmarkt eingekauft werden. Derartige Entscheidungen sind nicht vorhersehbar, weil viele Wege zum wirtschaftlichen Erfolg führen können und "weil die Entwicklung jenes Wissens und Könnens unvorher-

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sehbar ist, von denen die Möglichkeiten des Wollens und HandeIns der Subjekte gesell­schaftlicher Entwicklung bemessen werden" (Heid 1992). Andererseits orientieren sich unternehmerische Entscheidungen natürlich auch an den vorhandenen Qualiftkationen. Deshalb kann eine Bereitstellung von hochwertigen Qualifikationen (z.B. durch schon heute einsetzende Qualifizierungsbemühungen in der rnittleren Altersgruppe der Er­werbstätigen) zur Entstehung hochwertiger Arbeitsplätze (zum Beispiel im Dienstlei­stungsbereich) beitragen, deren tatsächliche Realisierung aber nicht garantieren.

4.3 Qualifizierungsrisiken

Will man aus diesen Überlegungen heraus der V olkswirtschaft künftig qualifizierte äl­tere Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, so müssen die sogenannten Qualifizierungsri­siken älterer Arbeitnehmer vermindert werden. Die Qualifizierungs- bzw. Qualifikati­onsrisiken älterer Arbeitnehmer zählen heute neben dem Gesundheitsrisiko zu den be­deutendsten Beschäftigungsrisiken älterer Menschen auf der individuellen Ebene.

Allgemein werden vier Einzelrisiken älterer Arbeitnehmer unterschieden:

Dequalifizierungsrisiko Dieses zentrale Qualifizierungsrisiko älterer Arbeitnehmer entsteht entweder aufgrund der Nachfrage nach neuen Qualifikationen, die von älteren Beschäftigten nicht oder noch nicht erbracht werden können (z.B. neuartiges Berufswissen, das von älteren Ar­beitnehmern bisher weder in der Erstausbildung noch in beruflicher Weiterbildung er­worben wurde), oder durch die Einführung neuer Technologien und neuer arbeitsorga­nisatorischer Konzepte, mit der Folge, daB der Bedarf einzelner Bestandteile oder gar des gesamten Qualifizierungsvermögen älterer Beschäftigter verschwindet (vgl. Bark­holdt u.a. 1995).

Betriebsspezifische Einengung der Qualifikation Eine betriebsspezifische Einengung der Qualifikation wird durch eine jahre- oder jahr­zehntelange Konzentration der Arbeitstätigkeit von Arbeitnehmern auf bestimmte Ver­fahren, Arbeitsbereiche oder gar Arbeitsvorgänge verursacht. Dabei verkümmert ein ursprünglich vorhandenes Qualifikationsvermögen, indem ganze Fähigkeitsbereiche nicht trainiert werden. Übertragungseffekte auf andere inner- und auBerbetriebliche Aufgaben bleiben aus, mit der Folge einer Einschränkung der beruflichen Mobilität. (Naegele 1992)

lntergenerative Qualifikationsniveauunterschiede Intergenerative Qualifikationsniveauunterschiede bzw. "Intergenerationelle Qualifika­tions- diskrepanzen (Kohorteneffekte, Generationeneffekte) ergeben sich stets dadurch, daB die jeweils nachrückenden Gruppen beruflich ausgebildeter in aller Regel zugleich auch immer über ein höheres formales (,moderneres') Ausgangsqualifikationsniveau verfügen" (Naegele 1994, S. 140). Verstärkt durch eine immer geringer werden de "Halbwertzeit" beruflicher Qualifikationen können diese Niveauunterschiede zum Bei­spiel dazu führen, "daB ältere Arbeitnehmer, wenn moderne Ausgangsqualifikationen verlangt werden, gegenüber jüngeren Beschäftigten schlechter gestellt sind" (Barkholdt u.a. 1995, S. 427).

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Erfordert der demographischer Wandel vermehrte berufliche Weiterbildung? 29

- Altersspezifischer Leistungswandel Hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer liegt eine alterns­typische Verschiebung kognitiver Leistungsmerkmale vor. So findet mit dem Alter ei­nerseits ein Abbau hinsichtlich der Geschwindigkeit von Informationsaufnabme und -verarbeitung sowie der geistigen Beweglichkeit und Umstellungsfáhigkeit statt. Ande­rerseits jedoch nehmen Erfahrungen und Urteilsvermögen zu und bleibt die Lernfähig­keit gleich (vgl. im Überblick Naegele 1992). Es bestehen auch Möglichkeiten der Kompensation der nachlassenden Fähigkeiten (Baltes & Baltes 1989). Dabei kommt es allerdings darauf an, wie sehr Kapazitätsreserven bzw. Humanressourcen im Betrieb im Laufe einer Arbeitsbiographie nutzbar gemacht wurden. In diesem Zusamrnenhang spielt u.a. die berufliche Weiterbildung in Form von kontinuierlichen arbeitsbezogenen Lernanforderungen und Lernangeboten eine bedeutende Rolle (vgl. Hacker 1992).

Die beschriebenen Qualifikationsrisiken treten konkret immer dann auf, wenn "Quali­fikationsanforderungen den auf seiten der betroffenen Älteren vorhandenen Qualifika­tionen nicht (mehr) entsprechen" (Naegele 1994, S. 138). Bemühungen, diese Risiken zu verringern, zählen "zum Kern der erforderlichen Antworten auf die absehbaren strukturellen und demographischen Veränderungen in der Arbeitswelt" (Naegele 1994, S. 137).

Diese individuellen Risiken als ein Problem der einzelnen Arbeitnehmer zu be­trachten kann gegenüber den Betroffenen zynisch sein. Ihre Nichtbeachtung kann aber auch die Betriebe, das gesamte Wirtschaftssystem und in ihren Auswirkungen die gan­ze Gesellschaft betreffen, denn was wäre, "wenn morgen und übermorgen ältere Be­schäftigte wirklich nachgefragt werden würden, und sie vor allem aus gesundheitlichen und qualifikatorischen Gründen, den beiden Kernrisiken älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gar nicht weiterarbeiten könnten?" (Naegele 1994, S. 137).

5 SchlufJfolgerungen

Der eingangs formulierten These, daB die für die Bundesrepublik Deutschland progno­stizierte demographische Entwicklung für die nächsten 30 Jahre schon jetzt den Wei­terbildungsbedarf erhöht, kann nur bedingt zugestimrnt werden. Die demographische Entwicklung alleine reicht nicht aus, urn die Notwendigkeit vermehrter berufliche Weiterbildung zu begründen. Berufliche Weiterbildung vermag auch die durch die demographische Entwicklung entstehenden Probleme nicht alleine zu lösen.

Aus den vorliegenden Prognosen ergibt sich ein demographisch begründbarer Be­deutungszuwachs älterer Menschen innerhalb des Erwerbslebens (vgl. 2.). Aus ihr fol­gerten Barkholdt u. a (1995) die aktuelle Notwendigkeit der Intensivierung beruflicher Weiterbildung der mittleren Erwerbsgeneration. Gaullier u.a. (1990) und Sheppard (1983) zogen schon früher für Frankreich bzw. die USA analoge Schlüsse. Eine Re­naissance des Frühverrentungsgeschehens oder eine insgesamt mangelnde Nachfrage nach Arbeitskräften könnte die prognostizierte Entwicklung jedoch unwahrscheinlich werden lassen (vgl. 3.).

Aus den differenzierten Betrachtungen zur Qualifikation älterer Arbeitnehmer (vgl. 4.) ergab sich, daB die Zahl beruflicher Weiterbildungsteilnehmer bei den künftigen

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Älteren möglicherweise ohnehin gröBer sein wird. Zudem ist heute nicht vorhersehbar, welche Qualifikationen den künftigen Anforderungen entsprechen. Allerdings könnten schon heute durchgeführte QualifizierungsmaBnahmen für (künftig) ältere Arbeitneh­mer einen strukturellen Wandel, der eine Nachfrage nach solchen Qualifikationen be­wirkt, wahrscheinlicher machen. Deshalb erscheint uns eine berufliche Weiterbildung künftig älterer Beschäftigter bereits heute sinnvoll.

Auch aufgrund der besonderen Qualifikationsrisiken befürworten wir die Weiter­bildung von Beschäftigten, die bislang an keiner nennenswerten beruflichen Weiterbil­dung teilgenommen haben. Eine späte Konfrontation mit der Weiterbildungsforderung dürfte Bildungsungewohnten sehr schwer fallen. Bestehenden selektiven Mechanismen der Weiterbildungsbeteiligung einerseits und Qualifizierungsrisiken älterer Arbeitneh­mer andererseits ist deshalb entgegenzuwirken. Qualifizierung kann aber keine Ga­rantie für eine spätere Beschäftigung, sondem lediglich eine Möglichkeit darstellen, das Risiko einer Nicht-Beschäftigung zu verringem. Sofem sich viele Konkurrenten ähnlich verhalten haben, sinken allerdings die Chancen mit dieser Qualifikation eine Beschäftigung zu erlangen oder zu erhalten (vgl. Heid 1988).

Es erscheint uns sinnvoll arbeitsmarkt-, renten- und betriebspolitische Entscheidun­gen mit in die Überlegungen einzubeziehen sowie auch MaBnahmen über die berufliche Weiterbildung hinaus einzuleiten. Naegele (1994) schreibt hierzu: "Aus diesen Szenarien ( ... ) ergibt sich ein vielfà1tiger beschäftigungs- und sozialpolitischer Handlungsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen LS. von Kompensation und Prävention. Angesprochen ist dabei ein MaBnahmenmix von Renten-, Altersgrenzen-, aktiver Arbeitsmarkt-, betrieblicher Beschäftigungs- Qualifizierungs-, Personalentwicklungs- und Humanisierungspolitik so­wie mit Blick auf die bereits Freigesetzten von Wiedereingliederungsbemühungen, Ar­beitsbeschaffung, nicht-berufsbezogener Beschäftigungsförderung bis hin zu psycho­sozialer Hilfestellung im FalIe ernsthafter Lebenskrisen" (Naegele 1994, S. 136).

Zur Gestaltung entsprechender MaBnahmen sei abschlieBend auf verschiedene Vorschläge bzw. Beispiele von Rosenow & Naschold (1993, 1994), Naegele (1994), Köchling (1995), Barkholdt u.a. (1995), Bäcker (1996) und Frerichs (1996) verwiesen, allerdings mit dem Hinweis auf die Kritik von Heid (1990, 1992) an einer einseitigen Ableitung von Anforderungen an das Qualifikationssystem und die zu qualifizierenden Menschen aus dem Beschäftigungssystem. Sheppard (1983) weist darauf hin, daB die Qualifikationsbedürfnisse älterer Erwerbspersonen berücksichtigt werden müssen, be­vor Qualifizierungsprogramme entwickelt werden. Darin sehen wir eine groBe Heraus­forderung für die betriebliche Personalentwicklung und die staatliche Arbeitsadmini­stration. Sie müssen Konzepte entwickeln, die den Erwartungen des Arbeitsmarkt und der Erwerbspersonen gerecht werden können (vgl. Bolder u.a. 1998). Ein Zustand, den Peters on schon 1971 beklagte, möge dann der Vergangenheit angehören: "Many older people feel that education has no reference to their lives, they only buy, with their time and dollars, what they feel they really need, and it's obvious, they don't feel they need education." (Peterson 1971, S. 265).

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Erfordert der demographischer Wandel vermehrte berufliche Weiterbildung? 31

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Betriebliche Kompetenzentwicklung oder Lebenskompetenz?

Wolfgang Hendrich

Seit einiger Zeit beginnt die Verwendung des Kompetenzbegriffs, den der Qualifikati­on zu verdrängen. Vor allem in der Literatur zur betrieblichen Weiterbildung wird re­klamiert, mit diesem Begriff nicht nur eine semantische Innovation zu bezeichnen, sondern eine neue Perspektive einzunehmen (Becker & Rother 1998, S. 14/15). Lassen sich definitorisch Qualifikationen und Kompetenzen analytisch noch dadurch unter­scheiden, daB Kompetenzen als "Kombination von Ressourcen (Kenntnisse, Fähigkei­ten, Haltungen usw.), die eingesetzt werden, urn ( ... ) ein spezifisches Ziel zu erreichen" und Qualifikationen als "Sets von Kompetenzen, die durch eine externe Autorität aner­kannt werden" (Kadishi 1998, S. 5) verstanden werden, so bleibt zum einen die Frage nach der Funktion der Inflationierung des Kompetenzbegriffs und dessen Konsequen­zen für individuelle Bildungs- und Qualifizierungsprozesse sowie Arbeitsmarktchan­cen. Zum anderen ist danach zu fragen, inwieweit die Interessen der Subjekte sich in diesem Kompetenzbegriff wiederfinden, oder womöglich mit ihm konfligieren und gänzlich andere Kompetenzen einfordern.

Qualifikationen wurden in der Berufs- und Qualifikationsforschung immer in ei­nem doppelten Sinn verstanden. Zum einen zur Kennzeichnung der Summe dessen, was für die Ausübung einer bestimmten Berufstätigkeit an "psychophysischen, intel­lektuellen und sozialen ,Fertigkeiten und Fähigkeiten' gefordert wird, d.h. als tätig­keitsgebundenes Merkmal" oder Arbeitsanforderung, zum anderen als "Summe der ,Fertigkeiten und Fähigkeiten, die eine Person tatsächlich besitzt oder durch Erziehung, Ausbildung oder Erfahrung erworben hat, d.h. als personenspezifische Eigenschaft" (Lutz 1969, S. 227). Berufsqualifikationen wurden und werden immer noch durch das bestehende Ausbildungssystem formal abgeprüft und nachgewiesen, enthalten aber stets auch eine Fülle von Elementen, die Produkt auBerbetrieblicher oder betrieblicher Sozialisationsprozesse sind (Dahrendorf 1956, Lempert 1998, Heinz 1995).

Kompetenzen scheinen das "neues Mantra der neunziger Jahre" (Evans 1998, S. 15). Selbst in England, wo die Verwendung des Kompetenzbegriffs eine schon längere Tradition im Zusammenhang mit beruflicher Bildung hat, wird sein inflationärer Ge­brauch in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion sehr kritisch aufgenommen:

" ... competence is a value-Iaden word. It is difficult to be ,against' competence. The concept is also so­cially constructed, taking on different meanings according to social location and it is used to support par­ticular ideological positions" (Evans ebd., S. 16)

Die Einführung des Kompetenzbegriffs in der deutschen Diskussion erfolgte aus zwei Richtungen. In der Perspektive der Berufspädagogik wird Kompetenz als berufliche

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34 Wolfgang Hendrich

Handlungskompetenz begriffen, die derjenige besitze, der "über die erforderlichen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten eines Berufs verfügt, Arbeitsaufgaben selb­ständig und flexibel lösen kann sowie fáhig und bereit ist, dispositiv in seinem Berufs­umfeld und innerhalb der Arbeitsorganisation mitzuwirken" (Bunk 1994, S. 10). Bleibt der Kompetenzbegriff hier noch auf das Berufskonzept bezogen und steht in einem in­haltlich sehr affinen Verhältnis zum Begriff der Qualifikation (Bader 1990, Friede 1994), so erfolgt seine Verwendung in der betrieblichen Weiterbildungsdiskussion bzw. genauer der betrieblichen Personalentwicklung in explizit organisationaler Per­spektive und in mehr oder weniger scharfer Abgrenzung gegenüber dem beruflichen Qualifikationskonzept. Vor dem Hintergrund eines angenommenen "Paradigmenwech­seIs in der betrieblichen Weiterbildungsorganisation von einer berufs- und funktions­bezogenen zu einer prozeBorientierten Weiterbildung" (Baethge & Schiersmann 1998, S. 5), gewinnt die Orientierung am Begriff der Kompetenzentwicklung eine zuneh­mende Bedeutung. Während in der traditionellen Personalentwicklung Kompetenzen primär in individualistischer Perspektive als Weiterbildung und Förderung von Indivi­duen verstanden worden seien, müsse Kompetenzentwicklung "an die Handlungs- und Erwartungsmuster der Untemehmen anschlieBen. Sie muB Sinnbezug zur Organisation herstellen" (Becker & Rother 1998, S. 14). Kompetenzentwicklung wird in engem Zu­sammenhang mit organisationalen Lemen verstanden als VeränderungsprozeB in und von Organisationen. SchlieBlich zeichne sich das Neue am Kompetenzbegriff dadurch aus, daB er "die Selbstorganisationsdisposition des konkreten Individuum auf den Be­griff (bringe)" (Erpenbeck & Heyse 1999, S. 23). In den Begründungsmustem für die behauptete zunehmende Relevanz von Kompetenzen in diesem Sinne finden sich die bekannten Hinweise auf ein verändertes Produktionsmodell unter dem Vorzeichen globalen Wettbewerbs, der gleichzeitig hohe Qualität, gröBere Kundennähe, schnellere Innovation und eine günstige Preisgestaltung erfordere (Baethge & Schiersmann 1998, S. 4). Im Zuge einer Dezentralisierung von Aufgaben und Verantwortung wüchsen entsprechend die Anforderungen an Selbständigkeit, Selbstorganisation und Koordina­tions- und Kommunikationsfähigkeit. Erweiterte Dispositionsspielräume und erhöhte Verantwortung in der Produktqualität erforderten eine gröBere Verantwortung für die Verausgabung der eigenen Arbeitskraft. Dies schlieBe auch eine Mobilisierung von Kompetenzressourcen der Beschäftigten ein durch Einbeziehung der "stillschweigend eingesetzten Kompetenzen, die den sichtbaren Leistungen zugrunde liegen" (Alaluf & Stroobants 1994, S. 55).

Suggeriert die se Argumentationslinie eine Aufwertung der Kompetenzen der Ein­zelnen, so bleiben sowohl die Selektionsfunktion einer Orientierung am Kompetenzbe­griff als auch neuere arbeitspolitische Entwicklungstendenzen, die ein differenziertes Bild der künftigen Arbeitsgesellschaft zeichnen, ausgeblendet. Tatsächlich deutet sich mit dem "Ruf nach Kompetenzen" (Alaluf & Stroobants 1994, S. 50) eine Verschär­fung der Erosion des Berufsmodells an mit noch nicht absehbaren Konsequenzen für das Tarifsystem und Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung. MaB­stab der Kompetenzdefinition ist ausschlieBlich die Perspektiven von Untemehmen, die ihre Vorstellungen von Kompetenzanforderungen auf diesem Wege arbeitspolitisch durchsetzen könnten, wie der folgende Auszug aus einem Interview mit Andrew Moo­re als Repräsentant der europäischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände (UNICE) zeigt:

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Betriebliche Kompetenzentwicklung oder Lebenskompetenz? 35

"Für uns handelt es sich in gewissem MaB urn ei ne politische Frage. ( ... ) Die Arbeitgeber betrachten den kompetenzorientierten Ansatz als sehr zweckmäBig, da eine auf den einzelnen und dessen Entwicklungs­fähigkeit ausgerichtete Betrachtung mit einem starken MaB an F1exibilität und individuellem Engagement einhergeht. ( ... ) Es ist wichtig, den einzelnen zur ständigen Weiterentwicklung anzuregen und flexiblere Arbeits- und Ausbildungsstrukturen insgesamt anzustreben, die die persönliche Lage des einzelnen be­rücksichtigen und ihm Möglichkeiten bieten, seine Defizite aufzuarbeiten". (Europäische Zeitschrift Be­rufsbildung 1/1994, S. 74).

Kompetenzen lassen sich demzufolge definieren als "Nutzung und Anpassung der in­dividuellen, in der Ausbildung und insbesondere in der schulischen Ausbildung erwor­benen Kenntnisse und Fertigkeiten durch die Untemehmen entsprechend ihren Bedürf­nissen", wie Alaluf und Stroobants kritisch anmerken (Alaluf & Stroobants 1994, S. 50). Für den einzelnen Arbeitnehmer bedeutet dies letztlich die permanente Anstren­gung, sich derartigen Kompetenzerwartungen anzupassen. Die zunehmende Orientie­rung an Kompetenzen könnte in der Konsequenz auf eine Neotaylorisierung der Ar­beitsorganisation hinauslaufen, wenn anstelle der Berufsqualifikationen eine individu­elle Kompetenzprüfung trete 1. Die mit einer beruflichen Qualifikation verbundenen Flexibilitätspotentiale, die auch von der Qualifikationsangebotsseite her auf mögliche Varianten der Arbeitsorganisation einwirken, liefen Gefahr, zu einer gesellschaftlichen Vergeudung von Humankapital zu verkommen. Der "homo competens, dessen Ver­halten von der Bereicherung seines Bestandes an Kompetenzen motiviert sein dürfte" (Alaluf & Stroobants 1994, S. 54) liefe bei Strafe seines Arbeitsplatzverlustes ständig hinter den jeweils für erforderlich gehaltenen Kompetenzen hinterher. Oder, wie Karl­heinz GeiBler es einmal vor knapp 10 Jahren formuliert hat:

"Die Subjekte sollen lernfähig, lernbereit und flexibel, aber gleichgültig gegenüber den Lerninhalten sein (und damit gegenüber dem, was und dem, wie produziert wird)" (GeiBIer 1991, S. 730).

Ein solcher Ansatz folgt dem verbreiteten Postulat einer "selbstgesteuerten und selbst­organisierten Lemkultur" sowie einer damit verbundenen Deregulierung des Arbeits­marktes und würde schlieBlich das politische Prinzip der öffentlichen Verantwortung für Bildung und Weiterbildung aushebeln und ganz im Sinne des Individualisierungs­postulats den Erwerb von Kompetenzen einschlieBlich ihrer Arbeitsmarktverwertung den Einzelnen überantworten. Die "immer weiter ausgreifenden Auflistungen von Kom­peten zen aller Arten und Sorten, bis hin zu ,Kompetenzfeldem' ", so vermerkten Dre­scher und Miller schon vor einigen Jahren, scheinen geradezu "krakenhaft das Ganze des menschlichen Lebens zu umfassen". (Drescher & Miller 1995, S. 202). Und entge­gen der sonst gem proklamierten Selbständigkeit sei auffällig, daB die Auflistungen von Kompetenzen "auf An- und Einpassung in die Gruppe, das Team urn jeden Preis ( ... ) groBen Wert legen." (Drescher & Miller ebd., S. 203). Auch Richard Sennett bi-

Eine derartige Tendenz läBt sich etwa im Bereich von Konzepten zur Neuordnung der beruflichen Erst­ausbildung ausmachen, wie zum Beispiel das sogenannte Satellitenmodell des DIHT mit diversen Wahlbausteinen innerhalb der Ausbildung zeigt, das in der Konsequenz zu einer Individualisierung von Qualifikationen durch Zertifizierung von Kompetenzen führen würde. DaB Qualifikationen auf der Basis beruflichen Erfahrungswissens, oder die von Frauen während der "Familienphase" erwOf­benen Kompetenzen durchaus einer gröBeren arbeitsmarktpolitischen Würdigung bedürften, scheint mir dage gen dringend geboten und nicht mit der grundsätzlichen Ablehnung individuelI zertifizierter Kompetenzen als arbeitspolitischen Ansatz zu konfligieren. So besteht in einigen europäischen Nach­barländern die Möglichkeit, die individu ell im Zuge langjähriger Berufserfahrung oder anderweitig erworbenen Kompetenzen prüfen und sich zertifizieren zu lassen, urn den eigenen Arbeitsmarktwert hierüber verbessern zu können.

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36 Wolfgang Hendrich

lanziert das Konzept der sozialen Kompetenzen als "Psycho-Gerede, mit dem sich das moderne Teamwork in Büros und Fabriken umgibt, (es) ist ein Arbeitsethos, das an der Oberfläche der Erfahrung bleibt. Teamwork ist die Gruppenerfahrung der erniedrigen­den Oberflächlichkeit" (Sennett 1998, S. 133).

Ein Blick auf neuere arbeitspolitische Entwicklungstendenzen bietet gegenüber den mit diesem Denkansatz verbundenen Selbstorganisationshoffnungen eher Grund zu einer skeptischeren Bewertung der künftigen Organisation von Arbeit und den indi­viduellen Entwicklungschancen. Angesichts anhaltenden Personalabbaus und zuneh­menden Wettbewerbsdrucks scheint wenig Raum für kompetenzförderliche Arbeitsor­ganisation. Schon wird eine "Rekonventionalisierung der Rationalisierung" und ein er­neutes Ansteigen der "Restriktivität der Arbeit" (Schumann 1987) oder eine "Rückkehr zum Taylorismus" (Springer 1999) befürchtet. Michael Schumann registriert gar eine "grundlegende Gegentendenz" im Sinne einer "Reetablierung konventioneller Tech­nik- und Organisationsgestaltung" (ebd.). Als Ursachen macht er zum einen das ver­schobene Kräfteverhältnis auf den Arbeitmärkten aus, wodurch die Arbeits-Angebots­seite viel Marktkraft verloren habe und zu weitreichenden Zugeständnissen gezwungen sei. Zum anderen würden Kapitalverwertungsstrategien der Unternehmen unter dem Druck der Weltwirtschaft revidiert und folgten einer Kurzfrist-Ökonomie mit einer "Politik der ausgepreBten Zitrone". Eine Studie der Angestelltenkammer Bremen, die auf einer umfangreichen schriftlichen Befragung im Bundesland Bremen beruht, be­klagt die Diskrepanz zwischen wohlklingender Managementrhetorik und der Alltags­wahrnehmung der Beschäftigten. Als dominante Rationalisierungserfahrung bei nahe­zu allen Beschäftigtengruppen wird der "Vormarsch psychischer Belastungen durch den Einsatz von EDV und neuen Techniken" konstatiert. Die allein durch Personallei­ter und Arbeitsgestalter ( ... ) am grünen Tisch entwickelten Rationalisierungskonzepte bewirkten "massive Bedrohungsgefühle" angesichts einer "fehlenden Transparenz über betriebliche Veränderungsvorhaben, mangeinder oder erst nachträglicher Information von Mitarbeitern (und) eine(r) autoritären Verfügung neuer Produktionskonzepte". (Angestelltenkammer Bremen 1993, S. 81). In der Tat scheint mir die "doppelte Wirk­lichkeit" von Unternehmen (Weltz 1988) ein wenig ausgeleuchteter Bereich betriebs­bezogener sozialwissenschaftlicher Forschung zu sein. Die Annahme, daB neue Pro­duktionskonzepte auch in der Subjektperspektive urnstandslos als Verbesserung der Arbeitssituation wahrgenommen würden, läBt sich bei genauerem Hinsehen nicht auf­rechterhalten. Insbesondere einige ältere sozialpsychologische Arbeiten haben auf die Bedeutung der "betrieblichen Lebenswelt" (Leithäuser 1986, S. 256), die Existenz ei­ner "verborgenen Situation" (Thomas 1964) oder eine Strategie des Ertrotzens von Ge­staltungsspielräumen entgegen "unternehmensamtlicher Planung" (Ortmann 1984, S. 70) hingewiesen. Die Beobachtung etwa, daB neue Technologien nicht nur Kompetenz­erfahungen mit sich bringen können, sondern auch psychische Belastungen wie "Angst und Ohnmachtsgefühle angesichts von Maschinen, die präziser und ,produktiver' zu sein scheinen als ihre Bediener" (Becker-Schmidt, 0.1., S. 7) folgt einer Subjektper­spektive, die auch in der aktuellen Debatte urn betriebliche Reorganisation nicht vor­kommt.

Angesichts wieder zunehmender Diskontinuitäten in der individuellen Berufsbio­graphie, der Erosion dauerhafter Beschäftigungsverhältnisse und verstärkter sozialer Differenzierungsprozesse stellt sich schlieBlich die Frage, we1che Kompetenzen in der

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Betriebliche Kompetenzentwicklung oder Lebenskompetenz? 37

Perspektive der Beschäftigten benötigt und gefordert werden, urn angesichts der Dau­erhaftigkeit und Zuspitzung der Arbeitsmarktkrise die eigenen Interessen zu wahren und prekärer verlaufende Berufsbiographien erfolgreich bewältigen zu können. Le­benslange Weiterbildung gilt als das probate und allenthalben propagierte Mittel, urn in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt bestehen zu können. Diese programma­tisch-normative Verpflichtung der Individuen auf permanentes Lemen kontrastiert je­doch mit einer empirisch bemerkenswerten Reserviertheit der Subjekte gegenüber ei­ner Beteiligung an beruflicher Weiterbildung und trifft offenbar nur sehr bedingt ihre "Kompetenzinteressen". Im Rahmen eines Forschungsprojektes, das der Frage nach den Gründen für eine Abstinenz gegenüber Weiterbildung nachging2, wurde abschlie­Bend in umsetzungsorientierter Absicht eine Zukunftswerkstatt durchgeführt, mit dem Ziel, Ansatzpunkte pädagogischer Intervention zu identifizieren, die eine in der Sub­jektperspektive wünschbare Gestaltung von Weiterbildung beinhalten sollten. Teil­nehmer der Zukunftswerkstatt waren Beschäftigte mit mittleren Qualifikationen und teils langjährigen Berufserfahrungen. Die Ergebnisse zeigten, daB es sehr stark le­bensweltliche Interessen waren, die als MaBstab für eine alternative andragogische Praxis reklamiert wurden. Verallgemeinert und abstrahiert von den Einzelergebnissen waren es vor allem zwei Dimensionen, in denen die alternativen Visionen einer sozia­len und pädagogischen Weiterbildungspraxis diskutiert wurden:

zum einen in der Dimension einer berufsbiographisch eher engen funktionalen Verwertungsperspektive hinsichtlich der individuellen Verbesserung von Arbeits­marktchancen; zum anderen in der Dimension einer eher identitätsrelevanten Perspektive, in der eine zentrale Funktion von Weiterbildung für die Herstellung biographischer Handlungs- und Gestaltungskompetenz gefordert wurde. Bemerkenswert erschien uns, wie sehr noch berufsbiographisch funktionale Argumente auch auf die le­bensweltliche Dimension Bezug nahmen und umgekehrt, biographische lebens­weltliche Relevanzen von arbeitsmarktbezogenen Rationalitätsüberlegungen relati­viert wurden.

Hier sollen kurz einige zentrale Ergebnisse der Zukunftswerkstatt vorgestellt werden.

1. Weiterbildung soU zu einem besseren Selbstwertgefühl und zur "Lebenszufriedenheit" beitragen

In verschiedenen Schattierungen wurde eine Dimension von Weiterbildung hervorge­hoben, die über die unmittelbar funktionale Zweckbestimmungen hinausweist und im inhaltlichen Spektrum zwischen Kompetenzerfahrung, Zufriedenheitsgefühl, sozialer Anerkennung und gesteigertem Sozialprestige durch Weiterbildung angesiedelt war.

2 Das Projekt "Weiterbildungsabstinenz" wurde am Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO) in Köln durchgeführt und von der DFG finanziell gefördert. Hierüber liegen rnittlerweile zahlreiche Veröffentlichungen vor, die insbesondere als ausführliche Projektberichte des ISO zu beziehen sind. Sowohl im Rahmen quantitativer Erhebungen als auch soziobiographischer Interviews wurden die Motive für eine verbreitete Weiterbildungsabstinenz erhoben. Den AbschluB des mehrjährigen Pro­jektes bildete die Durchführung einer Zukunftswerkstatt, über deren Ergebnisse hier berichtet wird.

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38 Wolf gang Hendrich

DaB ein "besseres Selbstwertgefühl" durch positive Lemerfahrungen erreicht werden kann, verweist indirekt auch auf den offenbar dürftigen Stellenwert der Berufsarbeit in dieser Hinsicht. Den extremen Pol dieses Spektrums bezeichnet die Einschätzung, durch berufliche Weiterbildung ein höheres Sozialprestige zu gewinnen, die typi­scherweise von einem Teilnehmer mit vergleichsweise eher schlechten Arbeitsbedin­gungen geäuBert wurde:

"Wenn ich mich weiterbilde, würde ich mich weiterbilden, urn mehr Geld eventuell zu verdienen. Rundum auch mehr Anerkennung zu haben. Man hält mir die Tür auf, wenn ich Doktor bin, und wenn ich aber nur HeIT Meier bin, dann ... , naja ... "

DaB Weiterbildung neue Kompetenzerfahrungen vermitteln kann, die durch die Erfah­rung "etwas zu begreifen, was man vorher also nicht so ganz verstanden hat und sich dann selbst erarbeitet hat" zu einem "besseren Selbstwertgefühl" beiträgt, wurde insbe­sondere von den weiblichen Teilnehmem betont, wobei der intergenerationale Konkur­renzgedanke zumindest partiell eine Rolle spielte:

A: "Ja, man gewin nt daraus, daB man sagt: ,Das kann ich doch noch! lch schaff' das, ich bin noch nicht zu alt dafür oder doch noch nicht zu eingleisig oder zu verblödet', auf gut deutsch gesagt: Das kann ich dann doch noch .. "

B: " . .ich kann noch mithalten auch mit meinen jüngeren Kollegen".

SchlieBlich wurde eine wichtige Funktion von Weiterbildung darin gesehen, zur Ver­besserung der "eigenen Zufriedenheit" mit der Arbeit beizutragen. Die tragende Vor­stellung in diesem Zusammenhang war, den einzelnen durch Weiterbildung zu befähi­gen, seine Arbeit kompetenter und souveräner ausführen zu können und dadurch "Le­benszufriedenheit" zu erreichen.

2. Weiterbildung muft mehr sein als berufliche Qualifizierung

DaB Weiterbildung nicht nur funktionsbezogen auf den Beruf ausgerichtet sein sol1te, sondem "im Grunde mehr auch auf Zusammenhänge eingehen" (müBte) war ein Ge­danke, der sich durch die gesamte Zukunftswerkstatt zog. Zwei Aspekte wurden in diesem Zusammenhang von den Teilnehmem entwickelt, die beide an die alte expansi­ve Bildungsratsforderung erinnem, die noch weitergehende Ziele von Weiterbildung anmahnte. Während ein Diskussionsaspekt eher der technischen Entwicklung verhaftet blieb und so etwas wie die Sicherung der Alltagstauglichkeit durch Weiterbildung re­klarnierte, was am Beispiel der zunehmenden Handhabungsanforderungen von techni­schen Geräten im Haushalt illustriert wurde, kaprizierte sich der zweite Gedanke expli­zit auf eine weiterreichende die Funktion von Weiterbildung, die den einzelnen dazu befähigen sol1, "über den Te11errand gucken" zu können:

" ... daB man 'n biBchen mehr die Hintergründe sieht, nicht nur einfach die paar Fakten, die man dann hat, also daB ... ganz engstirnig, sondern 'n biBchen mehr drüber hinausgucken kann, das Gesamte, das ganze Gesamte, aber jedenfalls doch 'n gröBeren Gesichtskreis entwickelt, daB man das ... Macht einfach mehr SpaB, wenn man Zusammenhänge erkennt".

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Betriebliche Kampetenzentwicklung ader Lebenskampetenz? 39

3. Weiterbildung sol! auch den Interessen Älterer Rechnung tragen

Die von den Teilnehmem entwickelten Anforderungen an ein "altersgerechtes Lemen" steIlten inhaltlich darauf ab, der Lebenssituation Älterer durch eine geeignete Organi­sation von Weiterbildung Rechnung zu tragen und zwar zum einen hinsichtlich ihrer didaktischen Gestaltung, zum anderen - eher die weiterbildungsextemen Umsetzungs­bedingungen betreffend - liefen sie darauf hinaus, auch Verwertungschancen in der Arbeitsmarktperspektive zu ermöglichen. Allein, ob Lemen mit Jüngeren oder nach Alter getrennte Lemgruppen sinnvoller seien, blieb kontrovers. Für beide Varianten schienen plausible Argumente zu sprechen. Gemeinsamer Bezugspunkt war allerdings die Leitlinie, "Rücksicht auf ältere Menschen" zu nehmen. In den ÄuBerungen der Teilnehmer reflektierten sich Erfahrungen des Ausgeschlossenseins oder von spezifi­scher Benachteiligung. Die Forderung nach "qualifizierten" Lehrem, "die dann auch wirklich von der menschlichen Seite her auch auf ältere Leute eingehen könnten und merken, daB das Lempensum nicht ganz so schnelI sein kann wie bei jüngeren Leu­ten", offenbaren aber auch ein markantes MiBtrauen in die Kompetenz des pädagogi­sc hen Personals beziehungsweise die institutionellen Rahmenbedingungen. Gleichzei­tig wurde eine Interdependenz zwischen Qualifikation des Lehrpersonals, dessen Rücksichtnahme auf altersbedingt differentes Lemverhalten, Lemfreude und Zufrie­denheit im Beruf formuliert:

"Das eine bedingt das andere, es sind so ... Zusammenhänge. Qualifizierte Lehrer bedingen Rücksichtnah­me auf Ä1tere, bedingen dadurch, daB man SpaB hat, und wenn man Sp aB hat, dann hat man also auch .. Ne, ich meine, das hängt alles zusammen".

4. Lemen sol! Spafi machen

DaB Lemen SpaB machen solI und dafür bestimmte Bedingungen zu realisieren sind, war eine zentrale Forderung im Verlauf der Zukunftswerkstatt, die aber zugleich in den Bereich der Utopie verwiesen wurde. DaB diese Dimension eine für die Teilnehmer sehr wichtige ist, gleichzeitig jedoch nicht realisierbar erscheint, wurde an folgender Diskussionspassage deutlich (die sich auf die Diskussion eines von den Teilnehmem zusammengestelIten Forderungskatalogs bezieht):

A: "Lemen soli SpaB machen, ich finde das schön."

B: "Wenn man es so durchgeht in der Spalte, paBt doch alles dazu, ne."

A: "Ach das wäre schön."

C: "Richtig, das ist richtig diese Traumspalte."

A: "Unterstreichen Sie doch mal die ,Traumspalte', weil ich das so schön finde. Weil die so unrealistisch ist."

Das Wissen urn die Dualität von "Traurn" und Realitätsprinzip spiegelte sich nicht zu­letzt bei der späteren Auswahl der Forderungen wider, die zuerst die einer politischen Regelung vermutlich eher zugänglichen Themenblöcke (in der Reihenfolge: Finanzie­rung, Arbeitsmarkt, Betrieb, fachübergreifende lnhalte und altersgerechtes Lemen)

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aufgriffen, während die Themen der "Traumspalte" zunächst keine Berücksichtigung fan den. In der Diskussion hatten die Teilnehmer dagegen sehr konkrete V orstellungen davon entwickelt, wie Weiterbildung SpaB machen könnte. Gefordert wurden insbe­sondere Dozenten, die adäquat auf den Lemstand der Teilnehmem eingehen, und "sehr kleine" Lemgruppen (mit maximal acht Personen). Auch wenn dies so explizit nicht formuliert wurde, verweisen diese Nennungen doch auf ein Bedingungsgefüge, das er­füllt sein oder doch seiner Realisierung nähergebracht werden müBte, wenn berufsbe­zogene Weiterbildung auf ein gröBeres Interesse stoBen solI, als dies bisher der Fall ist.

5. Weiterbildung muft vam Betrieb unterstützt werden

In diesem Kontext wurden vor allem Support-Strukturen angemahnt und die vorherr­schenden Selektionsmuster sowie die die Chancen der Partizipation an Weiterbildung verringemden Bedingungen kritisiert. Es sind sehr eindeutige und starke Begriffe, die in der Diskussion auftauchten, wenn von "Angst", den Arbeitsplatz zu verlieren, von "Macht" des Betriebes und von einer Blockade des beruflichen Weiterkomrnens die Rede ist. Die Weiterbildungsmarkt-Macht der Betriebe ist den Teilnehmem durchaus präsent und entspricht ihrer Lebenserfahrung. Sie fungiert als Selektionsschranke für betriebliche Verbleibs- und Aufstiegschancen und nicht zuletzt für eine Teilnahme an beruflicher Weiterbildung, soweit diese mit Betriebsinteressen kollidiert. So schlieBt denn auch die Forderung nach Freistellung für Weiterbildung während der Arbeitszeit genau an diese Problemkonstellation an. Solange Qualifizierung durch Weiterbildung als individuelle "Bringschuld" erfahren wird, die wiederum mit erheblichen persönli­chen Belastungen einhergeht, kann kaum ein in Handeln umgesetztes Interesse erwar­tet werden. Auch die Forderung, daB eine Beteiligung an Weiterbildung personalpoli­tisch nicht "bewertet" werden dürfe und die Reklamation einer aktiven Unterstützung durch Vorgesetzte verweisen auf eine betriebliche Realität, die jenseits der Schlagwör­ter des herrschenden Diskurses eine restriktive Weiterbildungspraxis mindestens ge­genüber den minderqualifizierten Beschäftigtensegmenten beziehungsweise eher unte­ren Statusgruppen als Regelfall erscheinen läBt.

6. Weiterbildung muft au! dem Arbeitsmarkt verwertbar sein

DaB berufliche Weiterbildung auf dem Arbeitsmarkt nicht nur irgendwie verwertbar sein muB, sondem sich vielmehr "auszahlen" sollte, war ein weiterer zentrale Gedanke im Rahmen der Zukunftswerkstatt. An kaum einer anderen Stelle wurden Kosten-Nut­zen-Abwägungen so deutlich betrieben wie hier. Es wird erwartet, daB sich Weiterbil­dungsanstrengungen tatsächlich "meBbar" amortisieren, sei es in "angenehmeren" Ar­beitsbedingungen oder in betrieblichem Aufstieg", der dann schlieBlich auch zu einer Verbesserung des Einkommens führen sollte. Eine Stelle in dem Beruf zu finden, für den man sich weitergebildet hat, also die Forderung einer Äquivalenz zwischen dem Aufwand einschlägiger Qualifizierung einerseits und dessen Refundierung im eigenen Berufsfeld andererseits, grenzt tatsächlich eher an Utopie, als die zuvor in der "Traum-

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Betriebliche Kompetenzentwicklung oder Lebenskompetenz? 41

spalte" zusamengetragenen Wünschen hinsichtlich einer besseren Qualität von Weiter­bildung. Dennoch wurde dieser Punkt von den Teilnehmem nicht von vomherein in den Bereich des Fabelhaften abgeschoben - ein Indiz möglicherweise für prospektive Kosten-Nutzen-Saldierungen, die sich des mit Weiterbildung verbundenen Aufwandes sehr wohl vergewissert haben und dementsprechend die Äquivalenz als unverzichtbare "Minimalrendite" einfordem.

7. Weiterbildung muft au! die persönliche Lebenssituation Rücksicht nehmen

Unter dem Rubrum der "persönlichen Seite" wurden eine Reihe von Aspekten ge­nannt, die schon bei der Diskussion der anderen Themen eine Rolle gespielt hatten. Mit der expliziten Zuordnung zu einer eigenen Forderungsrubrik durch die Teilnehmer wird ihre Relevanz für die persönliche Lebenssituation unterstrichen. Wiederholt wur­de die "Rücksicht auf die Lebenssituation" gefordert, gewissermaBen als Klammer über verschiedene Lebenssphären hinweg. DaB eine Teilnahme an Weiterbildungskur­sen mit erheblichen Belastungen nicht nur für die Teilnehmenden verbunden ist, son­dem gerade in Familienzusammenhängen ein erhebliches Problem darstellt, wurde ex­plizit angesprochen:

"Das ist eine ungeheure Anstrengung für die ganze Familie, die unheimlich Rücksicht nehmen muS, und da bleibt vieles auf der Strecke."

So taucht denn auch der Wunsch nach "Betreuungsmöglichkeiten für Kinder/Ältere" hier auf, und das scheint nur folgerichtig, da gerade im Falle familiärer Bindungen stets erhebliche Organisationsprobleme individuell zu bewältigen sind, - für Frauen allemal in besonderer Weise. Allein die Tatsache, daB die Teilnehmer auf dieser Rubrik mit auf den ersten Blick redundanten Nennungen bestanden, scheint uns hinreichend zu indi­zieren, daB die "persönliche Seite" als Synonym für eine ganze Reihe persönlicher Belastungen steht, die mit einer Weiterbildungsteilnahme verbunden sind und die in ih­rer Perspektive offensichtlich zu wenig oder keine Berücksichtigung finden. Die Re­duktion der Individuen auf ihre Arbeitskrafteigenschaft und Wirtschaftstauglichkeit und die Abstraktion vom persönlichen Lebenszusammenhang in der öffentlichen Dis­kussion des Postulats lebenslangen Lemen und betrieblicher Arbeitsorganisation stöBt bei den Angesprochenen auf Widerstand.

Fazit

Wenn Kompetenzen in der Perspektive betrieblicher Personalentwicklung als organi­sationale Anforderungen definiert werden, die zum wirtschaftlichen Erfolg des Unter­nehmens am Markt beitragen sollen, so bürdet dieser Ansatz den Individuen die Rolle des Hasen im Wettlauf zwischen Hasen und Igel auf, den er letztlich nicht gewinnen kann. Im Rahmen der Zukunftswerkstatt ging es darum, überhaupt einmal Raum für die Artikulation altemativer Vorstellungen von Weiterbildung aus der Sicht der Betrof-

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fenen zu geben. Als ein zentrales Ergebnis ist festzuhalten: es sind lebensweltliche, auf die Wahrung der persönlichen Integrität zielen de Kompetenzen, die in der Subjektper­spektive formuliert wurden. Die Erwartungen an eine biographisch sinnvolle Weiter­bildung richten sich in dieser Perspektive nicht vorrangig auf ei ne funktionale Anpas­sungsqualifizierung, sondem vielmehr darauf, Biographiekompetenzen oder "Lebens­kompetenzen" zu fördem, die den Subjekten einen souveränen Umgang mit ihrer Le­benszeit ermöglichen. Insoweit treffen sich diese Forderungen mit den etwa von Kut­scha formulierten Thesen zur Modemisierung der beruflichen Aus- und Weiterbildung, in denen er eine "ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung" und "Gestaltungskompe­tenz" als Ziele von Aus- und Weiterbildung fordert (Kutscha 1998, S. 7). Ronaid Bar­nett plädiert in kritischer Abgrenzung von einer Orientierung an operationalisierten Kompetenzen im gleichen Sinne für ein Konzept des "Life-world becoming" (Bamett 1994, S. 180) als Befähigung der Individuen für eine reflexive Aneignung von Wissen. Und Karen Evans formuliert mit Blick auf berufliche Erstausbildung ein Credo, was gleichermaBen für die Weiterbildung Gültigkeit hat:

"Only education which develops citizenship and competence in their maximal senses, and promotes fa­vourable conditions for their practice, wil! ensure empowered and participatory communities able both to support the successful pursuit of individual project and to play their part in the social and politici process­ses which wil! shape the socio-economie scenarios of the future. " (Evans 1998, S. 135)

DaB neue Formen der Organisation von Weiterbildung notwendig an der Schnittstelle zwischen den Interessen der Subjekte auf der einen und den Abnehmem von Arbeits­kraft, den Betrieben, auf der anderen Seite angesiedelt sein müssen, steht auBer Frage. Allerdings scheint es nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ergebnisse unserer Expe­rimentalphase dringend geboten, nicht nur die Subjekte als "Akteure" in einem demo­kratisch anzulegenden Beteiligungs- und EntscheidungsprozeB gleichberechtigt zu be­teiligen, sondem alternative Konzepte beruflicher Weiterbildung, die inhaltlich an die alte Idee von Mündigkeit und konzeptionell an die Vorstellung einer Integration politi­scher und beruflicher Bildung anknüpfen wieder offensiver zu vertreten.

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Globalisierung und interkulturelle Managementkompetenz

Alexander Thomas

1. Zustandsanalyse

Globalisierung und interkulturelle Managementkompetenz sind zentrale Themen des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Historisch gesehen sind viele der damit verbundenen Konsequenzen nicht neu. Schon immer hat es in der Mensch­heitsgeschichte Zeiten gegeben, in denen aus militär-politischen, wirtschafts-politi­schen oder religiösen Gründen eine Intensivierung transkontinentaler und interkultu­reller Prozesse stattfand, die zudem ein hohes MaB an interkultureller Management­kompetenz erforderten. Immer ging es urn die Erweiterung und Stabilisierung von Macht und EinfluB von einem Machtzentrum auf andere Machzentren, auf Länder, Kulturen und Kontinente.

So hat der Austausch von Gütern und Ideen über Landes- und Kulturgrenzen hin­weg schon eine lange Tradition, von den erst in jüngster Zeit erforschten und so be­nannten FernhandelsstraBen zu Land, z.B. SeidenstraBe (s. Abb. 1), WeihrauchstraBe, GewürzstraBe, Salzkarawanenwege, oder zur See, z.B. Nord-West-Passage, StraBe von Malakka, Transatlantikroute, BeringstraBe (s. Abb. 2). Sie erleichterten die Ausbrei­tung religiöser V orstellungen oft im Gefolge von Wirtschafts- und Handelsbeziehun­gen oder Eroberungszügen (s. Abb. 3), z.B. Ausbreitung des Hinduismus, Buddhismus (s. Abb. 4), des Christenturns und des Islam, bis zur weltumspannenden Verbreitung politisch-ideologischer Systeme, wie Kolonialisrnus (Abb. 5), Marxismus, Kapitalis­mus etc.

Internationaler und globaler Güter- und Ideenaustausch vollzog sich in früheren Zeiten aber über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte hinweg. Oft konnte erst die Ge­schichtsforschung die globalen Zusammenhänge, Ausbreitungsgebiete und Entwick­lungszentren erschlieBen. Den beteiligten und betroffenen Menschen in ihrer Zeit blie­ben diese Prozesse und Vernetzungen weitgehend verborgen.

Eine neue Dimension und Qualität erreichte die Internationalisierung und Globali­sierung erst im Zuge des letzten Jahrhunderts durch rasante Fortschritte in der Ver­kehrs- und Nachrichtentechnologie, aufbauend auf Erkenntnissen der modernen Wis­senschaften und ihrer Anwendung. Informationen sind nun ohne Zeitverzögerung welt­weit zu verbreiten und verfügbar zu machen. Personen können in kürzester Zeit an al­len Punkten der Erde zusammenkommen, und das noch zu so günstigen Kosten, daB globales Reisen und weltweite Informationsbeschaffung kein elitärer Luxus mehr ist, sondern für den Massenkonsum tauglich. Verkehrs- und Nachrichtentechnik verschaf­fen dem modernen Menschen eine ungeahnte Mobilität, die schon zu allen Zeiten ei­nen Wettbewerbsvorteil brachte: Wer sich schnell in den Besitz wichtiger Informatio­nen bringen konnte, wer schnell und kostengünstig über seine Dorf- und Stadtgrenzen

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Alexander Thomas

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Globalisierung und interkulturelle Managementkompetenz 51

hinaus kommunizieren konnte und sich ein eigenes Bild vom Leben "drauBen" machen konnte, hatte gewonnen. Er konnte sich Partner und Verbündete suchen, die richtigen Personen auswählen, kommende Entwicklungen zutreffend antizipieren, und er konnte in erheblichem MaBe Ressourcen materielIer und immaterielIer Art akkumulieren, mit weitreichenden Folgen für den eigenen Machterhalt und für die Machtexpansion. Er konnte Richtung und Verlauf wichtiger Ereignisse bestimmen und fand Gefolgschaft.

Das ist heute im Kern nicht anders als früher, nur vollziehen sich diese Prozesse schneller, geplanter, berechenbarer sowie quantitativ und qualitativ auf höherem Ni­veau. Allerdings trifft dies keineswegs für die Mehrheit der auf diesem Planeten leben­den Menschen zu. Viele kommen nach wie vor nicht über ihre nähere Umgebung, ihre Dorf- und Stadtgrenze hinaus. Ihnen fehlen dazu die finanziellen Mittel, ihnen ist der Nutzen einer gröBeren räumlichen Mobilität, z.B. aus beruflichen Gronden, nicht er­kennbar oder Sprach- und Interessenbarrieren verhindern eine Ausweitung des Le­bensbereichs.

Von zentraier Bedeutung ist aber, daB die Fach- und Führungskräfte, die gesell­schaftlichen Eliten, die das globale Geschehen bestimmenden Personen, Gruppen, Schichten etc. sich dieser Mobilitäts- und Informationsmittel in immer stärkerem MaBe bedienen, und dies mit wachsendem Erfolg. Was für sie technisch möglich und öko­nomisch sinnvoll erscheint, wird genutzt, weil damit Wettbewerbsvorteile und Macht­gewinn verbunden sind. Technischer Fortschritt und ökonomischer Nutzen setzen so­mit eine globale Mobilität in Gang und halten sie aufrecht, ohne daB die daran betei­ligten Menschen überhaupt nur die Frage stellen, ob sie auf die damit verbundenen gei­stigen sowie ethisch moralischen Anforderungen adäquat vorbereitet sind. Von einer Beantwortung dieser Frage ganz zu schweigen.

Wer heute als gut ausgebildete Fachkraft karrieremotiviert ist, tut gut daran, so früh wie möglich Auslandserfahrungen zu erwerben, sich in einer berufsbedingten Aus­landsentsendung zu bewähren und internationale Kontakte auf allen Ebenen zu pfle­gen. Die Frage nach den dazu erforderlichen interkulturellen Kompetenzen im Hin­blick auf Kommunikation, Kooperation, interkulturellem Verstehen, Vertrauensbil­dung, Verhandlungskompetenz, Konfliktregulation in der Begegnung mit fremdkultu­rellen Partnern wird dabei nicht gestellt. Der Grund ist vorrangig in der Tatsache zu suchen, daB die in diese globale Mobilität einbezogenen Personen fest davon überzeugt sind, daB so, wie sie die Welt wahrnehmen, bewerten und gestalten, wie sie ihre Part­ner wahrnehmen, beurteilen und mit ihnen umgehen, es richtig, sinnvoll und effektiv ist. Weil sie in ihrer bisherigen kulturspezifischen Sozialisationsgeschichte "richtiges", "angemessenes" und den Normen der Gesellschaft "angepaBtes" Verhalten gelernt und internalisiert haben, kommen sie zunächst überhaupt nicht auf den Gedanken, daB Menschen in anderen Kulturen vielleicht andere Wahrnehmungs-, Urteils- und Ver­haltenspräferenzen kennengelernt und mit ebenso viel Überzeugung verinnerlicht und in ihrem Verhalten verfestigt haben.

Die hier angesprochene weltweite Mobilität hat über das bisher Angesprochene hinaus auch auf makrosozialen, politischen und gesellschaftlichen Ebenen unabsehbare Veränderungen zur Folge. Es gibt ernstzunehmende Wissenschaftier, vor allem Poli­tologen, die schon jetzt nachzuweisen glauben, daB nationalstaatliche Politik, so inter­national und global sie sich auch gibt, nicht im entferntesten an die globale Mobilität internationaler GroBkonzerne, GroBverbände und GroBorganisationen herankommt.

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Der klassische Produktionsfaktor "Kapital" und die Organisationen, die ihn einsetzen und verwalten (Banken, Versicherungen, Investmentgesellschaften etc.), haben längst ei ne von keiner staatlichen Institution einholbare Mobilität und Flexibilität, verbunden mit weltweitem Macht- und EinfluBpotential gewonnen. Die GroBmächte des 21. Jahr­hunderts sind vermutlich nicht einzelne Staaten oder Staatenverbände, wie die USA, EU oder ASIAN, sondern Weltbank, Weltwährungsfond, OECD, GM, IBM, Daimler & Chrysler, Siemens etc.

Dazu schreibt Ernst-Otto Czempiel unter dem Titel "Innovationen statt Kanonen -Ist die Realpolitik alten Stils noch zeitgemäB?" (FAZ, Nr. 272, 20.11.1997, S. 12):

"Die ,Staaten' sind schon längst nicht mehr die einzigen Akteure von AuBenpolitik. Sie haben Konkurrenz von groBen gesellschaftlichen Gruppen bekommen. So hat Amerika inzwischen mehr Angst vor der russi­schen Mafia, die über den Atlantik gekommen ist, als seinerzeit vor der Sowjetunion. DaB Massenver­nichtungswaffen in die Hände von Terroristen gelangen können, gilt als sehr viel aktuellere Bedrohung als ein Angriff durch einen feindseligen Staat. Die Ausbreitung des religiösen Fanatismus, begünstigt durch Verarmung und Unterdrückung, macht sehr viel mehr zu schaffen als irgendeine Allianzbildung. Drogen und Umweltzerstörung bringen täglich zahllose Menschen urn. Auch diese Gewalt geht nicht von Staaten aus, sondern von gesellschaftlichen Akteuren, die, wie auch die internationale Kriminalität, längst in den Raum des zwischenstaatlichen Systems eingedrungen sind. Die ,G\obalisierung' der Weltwirtschaft mit ihren tief in die nationalen Ökonomien hineinreichenden Folgen wird nicht von den Staaten, sondern von transnationalen Firmen betrieben. Sie haben die ökonomischen Kompetenzen des Nationalstaats aufgebro­chen. Seine Wirtschaftsprozesse werden nicht mehr von der Hauptstadt, sondern von der internationalen Konkurrenz privater Unternehmen bestimmt. Sie ,entgrenzt' den Nationalstaat, wie es im neuerlichen Jar­gon heiBt. Die Konkurrenz ist hart und unerbittlich. Aber sie kämpft nicht mit Kanonen, kann also auch von ihnen nicht besiegt werden. In der Wirtschaftswelt geht es urn technische und kommunikative Kom­petenz, urn Innovationsfáhigkeit und Anpassungsbereitschaft. Das Objekt hier ist nicht der Gegner, son­dern der Kunde, die Walstatt nicht das Terrain, sondern der Markt."

Die Prozesse weltweiter Vernetzung und Mobilität sind nicht aufzuhalten, und in ihrem Entwicklungstempo auch nicht abzubremsen. Aus Sicht der Psychologie bleibt aller­dings zu fragen, ob und wie die daran beteiligten und davon betroffenen Menschen in ihrem Denken, Empfinden und Handeln den sich daraus ergebenden Anforderungen gerecht werden können.

Die psychologische Forschung "kritischer Lebensereignisse" hat gezeigt, daB Indi­viduen auf tiefgreifende Veränderungen, wie Tod, Scheidung, Berufswechsel, Ar­beitslosigkeit, Vergewaltigung usw., psychisch mit starker zeitlicher Verzögerung rea­gieren. Das BewuBtsein der Endgültigkeit der neuen Situation ist vorhanden, aber die Psyche, das Gefühls- und Seelenleben ist noch nicht zur Akzeptanz bereit und ist noch nicht zum produktiven Umgang mit der neuen Situation fähig. So ist es fraglich, ob der Mensch am Ende des 20. Jahrhunderts schon bereit und fähig ist, auf die Globalisie­rungsanforderungen produktiv, konstruktiv und zukunftsweisend zu reagieren.

2. Anforderungen

Eine produktive internationale (interkulturelle) Zusammenarbeit kann nicht dadurch er­reicht werden, daB Vertreter einer N ationlKultur den Mitgliedern einer anderen Kultur vorschreiben, was und wie sie zu denken und zu handeln haben - wie dies ja tatsäch­lich in der Vergangenheit mei st der Fall war. Produktiv werden kann die globale Zu­sammenarbeit nur durch gegenseitige Akzeptanz und Anpassungsbereitschaft. Aus die-

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ser Erkenntnis lassen sich schon jetzt Anforderungsmerkmale für den produktiv täti­gen, international agierenden Manager ableiten, wie sie in fast allen Handbüchern zum internationalen Management zu finden sind: fachliche Qualifikation, Führungsfáhig­keit, Managementfáhigkeiten, Unabhängigkeit, Zielstrebigkeit, Kommunikationsfáhig­keit, Flexibilität, Lern- und Anpassungsfähigkeit, Toleranz, psychische und physische Belastbarkeit, soziale Handlungskompetenz, Fremdsprachenkenntnisse usw.

Mit diesen "Qualifikationslisten für den erfolgreichen Auslandsmitarbeiter" nahezu identische Merkmalslisten finden sich für die "qualifizierte Führungskraft" eines mo­dernen Unternehmens, für den "erfolgreichen Geschäftsmann" oder das "Ideal des mo­dernen Menschen", wie aus jedem Werbetext einer Personalanzeige zu ersehen ist. Da­mit werden diese Qualifikationsmerkmale aber zu einer Ansammlung unspezifischer Etikettierungen ohne bereichs- und problemspezifischen Erkenntniswert und ohne praktischen Nutzen.

Eine Analyse der fachwissenschaftlichen Literatur zum Thema "Interkulturelle Kompetenz", z.B. aus der Psychologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Fremd­sprachenforschung und Pädagogik, ergibt, daB es keine einheitliche Definition von "interkulturelIer Kompetenz" gibt, wohl aber immer wieder mehr oder weniger um­fangreiche Listen mit Persönlichkeitseigenschaften und Fähigkeitsmerkmalen, die auf­gestellt werden, urn den interkulturell kompetenten Manager zu definieren. Im anglo­amerikanisch-psychologischen Forschungskontext gibt es zudem eine Fülle von Be­griffen, die unterschiedliche Aspekte von interkulturelIer Kompetenz thematisieren, z.B. cross-cultural effectiveness (Kealey 1989), cross-cultural adjustment (Benson 1978), cross-cultural competence (Ru ben 1989), cross-cultural communication effecti­veness (Ruben 1989), intercultural effectiveness (Cui & Van Den Berg 1991; Hammer, Gudykunst & Wiseman 1978; Hannigan 1990), intercultural competence (Dinges 1983), intercultural communication competence (Kim 1991; Spitzberg 1989; Wiseman, Hammer & Nishida 1989), cross-cultural communication competence, cross-cultural adaptation, cross-cultural success, cross-cultural failure, personal adjustment, personal success, personal failure.

Diese Begriffsvielfalt ist unter anderem auch damit zu erklären, daB die Forschung zu diesem Thema aus praktischen Notwendigkeiten heraus entstand, für die Auslands­entsendung geeignetes Personal zu finden. Die fachwissenschaftlichen Analysen zur interkulturellen Kompetenz beziehen sich fast ausschlieBlich auf Individuen. Es wird höchst selten die interkulturelle Kompetenz einer Gruppe oder einer Organisation the­matisiert. Die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung von Situation und Aufgabe in der Forschung zur interkulturellen Kompetenz wird zwar immer wieder er­hoben, aber ModelIe, die mögliche unterschiedliche Kompetenzen für verschiedene Aufgaben identifizieren können, sind höchst selten und fin den sich allenfalls im Zu­sammenhang mit Untersuchungen zum interkulturellen Lemen.

Eine zusammenfassende Analyse der Forschungen über psychologisch relevante Anforderungen im Zusammenhang mit dem internationalen Management und den zu ihrer Bewältigung erforderlichen interkulturellen Handlungskompetenz lassen vier Re­aktionstypen auf kulturbedingte kritische Interaktionssituationen erkennen:

1. Der Ignorant: Für den Ignoranten ist jeder, der nicht so denkt und handelt wie er, wie er es gewohnt ist und wie es aus seiner Sicht ,richtig' ist, entweder dumm (ihn muG man aufklären), unwillig (ihn muB man motivieren oder zwingen) oder unfá-

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hig (ihn kann man trainieren). Wer sich nach allen erdenklichen Bemühungen im­mer noch falsch verhält, dem ist nicht zu helfen. Er kommt als Partner nicht in Be­tracht. KultureIl bedingte Verhaltensunterschiede werden somit gar nicht erst wahrgenommen, ihnen wird keine Bedeutung zugemessen, sie werden einfach ne­giert.

2. Der Universalist: Er geht davon aus, daB Menschen auf der ganzen Welt im Grun­de gleich sind. KulturelIe Unterschiede haben - wenn überhaupt - nur unbedeuten­de Einflüsse auf das Managementverhalten. Mit Freundlichkeit, Toleranz und Durchsetzungsfähigkeit lassen sich alle Probleme mei stern. Im Zuge der Tendenz zur kulturellen Konvergenz werden die noch bestehenden Unterschiede im "global village" sowieso rasch verschwinden.

3. Der Macher: Ob kulturelle Einflüsse das Denken oder Verhalten bestimmen oder nicht, ist für ihn nicht so wichtig. Entscheidend ist, daB man weiB, was man will, daB man klare Ziele hat, sie überzeugend vermitteln kann und sie durchzusetzen versteht. Wer den eigenen Wettbewerbsvorteil erkennt und ihn zu nutzen versteht, gewinnt - unabhängig davon, in welcher Kultur er lebt und tätig wird.

4. Der Potenzierer: Er geht davon aus, daB jede Kultur eigene Arten des Denkens und Handeins ausbildet (kulturspezifisches Orientierungssystem), die von den Mit­gliedern der Kultur gelernt und als "richtig" anerkannt werden. Produktives inter­nationales Management muB diese unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen auch als handlungsrelevantes Potential erkennen und ernst nehmen. KulturelIe Un­terschiede können aufeinander abgestimmt und - miteinander verzahnt - synergeti­sche Effekte erzeugen und so einen Wettbewerbsvorteil im internationalen Mana­gement bieten.

Diese vier Reaktionstypen unterscheiden sich hinsichtlich der Dimensionen Einfach­heit - Komplexität, Aktionismus - Reflexivität sowie interkulturelIe Dominanz - in­terkulturelle Kompetenz. "Der Ignorant" und "der Macher" übersehen und negieren die Bedeutung kulturelIer Unterschiede zugunsten eines einfach strukturierten, machbar­keitsorientierten und machtdeterminierten Welt- und Menschenbildes. Erfolgreich sind internationale Manager dieses Typs dann, wenn sie als Monopolisten begehrter Res­sourcen (Kapital, Know-how, Waren, Dienstleistungen) konkurrenzlos und einseitig die Geschäftsbedingungen diktieren können. "Der Universalist" kann als Utopist so lange erfolgreich sein, wie seine Überzeugungen vom "global village" nicht ernsthaft auf die Probe gestellt werden oder solange sich seine Kulturerfahrungen im Millieu ei­ner weitgehend standardisierten internationalen Businesskultur (Hotel, Flugzeug, Kon­ferenzritual etc.) ausbilden und dort verbleiben.

Allein "der Potenzierer" ist in der Lage, interkulturelle Kompetenzen zu erwerben, die ihn in die Lage versetzen, eigene kulturelle Denk- und Verhaltensgewohnheiten mit fremdkulturellen Orientierungsmustern so zu verbinden, daB MiBverständnisse und Spannungen minimiert und Handlungspotentiale maximiert werden.

Ignoranz kultureller Unterschiede und Dominanz einer Kultur über die andere Kultur - oft gar nicht einmal bewuBt als Machtinstrument eingesetzt, häufig aber wohlmeinend naiv praktiziert - sind keine produktiven und kompetenten Formen in­ternationaler Zusammenarbeit und intemationalen Managements.

SchlieBlich lassen sich die konkreten Anforderungen an das interkulturelIe Mana­gement noch unter drei sehr heterogenen Blickwinkeln beleuchten und definieren:

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1. Die Grundmuster internationaler Unternehmenstätigkeit, wie sie von Heenan & Perlmutter bereits 1979 definiert wurden und noch immer Gültigkeit besitzen, stellen den organisatorischen Rahmen dar, in dem sich das interkulturelle Mana­gement vollzieht (s. Abbildung 6).

Abbildung 6: Die Grundmuster internationaler Unternehmenstätigkeit (nach Heenan & Perlmutter, 1979, S. 17ff.)

Komplexität der Organisation

Entscheidungs­kompetenz

Koordination der Unternehmens­tätigkeit

Entlohnungs-niveau

Kommunika-tionsstruktur

polyzentrisch regiozentrisch

komplexe Struktur des unabhängig agierende hohe Abhängigkeit Stammhauses; einfa- Auslandsgeselischaf- zwischen den Aus­che Struktur der Aus- ten mit unterschiedlich landsgeselischaften landsgeselischaften komplexer Struktur einer Region; sonst

beim Stammhaus bei den Auslands-geselischaften

geringe Komplexität

bei den Regional­zentren oder arbeits­teilig bei den Aus-landsgeselischaften

geozentrisch

hohe Komplexität des Gesamtunternehmens; starke Interdepen­denzen zwischen den einzelnen Auslands­gesellschaften arbeitsteilig beim Stammhaus und Aus-landsgeselischaften

Übertragung stamm­landspezifischer Ver­fahren auf Auslands-

Übernahme gastland- Anwendung regional- Einsatz weltweit ein­spezifischer Verfahren spezifischer Verfahren heitlicher Verfahren

geselischaften hoch im Stammhaus; gering in den Aus­landsgeselischaften

abhängig vom Erfolg der Auslandsgeseli­schaft

abhängig vom Erfolg abhängig vom lokalen der Auslandsgeseli- und weltweiten Er-schaften in der Region folgsbeitrag der Aus-

landsgeselischaften einseitiger und inten- geringer Informations- geringer Informations- weltweiter und intensi-siver InformationsfluB austausch zwischen austausch zwischen ver Informations-vom Stammhaus zur Stammhaus und Aus- Stammhaus und Aus- austausch Auslandsgeselischaft landsgeselischaften landsgeselischaften;

sowie zwischen den dichter Informations-Auslandsgeselischaf- austausch in der ten Region

Selbstverständnis Teil des Stammhauses Teil des Gastlandes Teil der Region Teil eines globalen Unternehmens mit lokalen Interessen Besetzung oh ne An­sehen der Nationalität

der Auslands­geselischaft Nationalität der Inhaber von Schlüssel-positionen

Stammland der Muttergeselischaft

Entsendungsquote durchschnittlich

Entsendungs­richtung

Entsendungen vom Stammhaus in die Auslandsgeseli­schaften

Gastland

nuli

entfällt

Länder der Region

auf regionaler Ebene hoch, sonst gering vielfältige Entsen­dungsrichtungen innerhalb der Region

sehr hoch

vielfältige Entsen­dungsrichtungen oh ne regionale Einschrän­kungen

2. Versteht man unter Management die Leitung und Führung von Betrieben, Organi­sationen und sozialen Systemen und untersucht die Managementliteratur im Hin­blick auf zentrale Problemfelder, mit denen sich ein Manager zu befassen hat, dann ergibt sich etwa folgende Liste von zentralen Tätigkeitsfeldern, die sicher nicht vollständig ist (s. Abbildung 7). Die betriebswirtschaftliche und organisationspsy­chologische Forschung sowie die interdisziplinär betriebene Managementfor­schung hat viele dieser Tätigkeitsfelder anforderungstheoretisch untersucht. Auf

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diese Erkenntnisse kann die interkulturelle Managementforschung autbauen, muG dabei aber die kulturell bedingten Modifikationen erst noch herausarbeiten.

Abbildung 7: Zentrale Tätigkeitsfelder des Managements, die für das interkulturelle Management von Bedeutung sind

Kommunikation und Interaktion Interkulturelles Handlungstraining

Wertorientierung Interaktion in Problemlösesituationen

Gruppenverhalten Austausch von Emotionen und Empfindungen

Entscheidungsverhalten Austausch von Kritik

Verhandlungsverhalten Festlegung von Prioritäten

Konfliktverhalten Umgang mit Raum/Zeit

Arbeitsmotivation/-zufriedenheit Bewertungskriterien

Arbeits- und Organisationsstruktur Partizipationsgrad

Auslandstätigkeits-management (Entry und Reentry) Mitarbeiterführung

3. Anforderungskriterien für internationale Fach- und Führungskräfte, wie sie in Ab­bildung 7 zusammengestellt sind, vervollständigen das Bild. Sie ergeben sich auf­grund der unter interkulturellen Managementbedingungen erschwerten Optimie­rung der grundlegenden Managementtätigkeiten auf dem Hintergrund der ethno­zentrischen, polyzentrischen, regiozentrischen und geozentrischen Grundmuster internationaler Unternehmenstätigkeiten.

Abbildung 8: Anforderungskatalog für international tätige Fach- und Führungskräfte (Kammei & Teichelmann 1994, S. 74)

Fähigkeit und Bereitschaft, wenig strukturierte und teilweise widersprüchliche Situationen zu verarbeiten.

Ungewohnte, komplexe und intransparente Probleme unternehmenszielgerecht lösen zu kön­nen (Entscheidungsfähigkeit).

Bereitschaft, sich auf wenig formalisierte Geschäfts- und Arbeitsbeziehungen einzulassen (Empathiefähigkeit).

Fähigkeit, kulturübergreifend verhandeln zu können und Tendenzen auf Ländermärkten und differenzierte Umweltbedingungen zu erkennen.

Hohe Frustrationstoleranz, um MiBverständnisse und Fehlschläge selbstkritisch verarbeiten zu können.

Hohe Konflikt-, Kommunikations-, Überzeugungs- und Teamfähigkeit.

Risiko- und Lernbereitschaft, Pioniergeist und Improvisationstalent.

Uneingeschränkte Mobilität, gute ausbaufähige Fremdsprachenkenntnisse und die Bereitschaft, weitere Sprachen zu lernen.

Langjährige Berufserfahrung.

(Möglichst praxisbezogene) Kenntnisse der jeweiligen landesspezifischen Geschäfts­bedingungen und -usaneen (Verhandlungssicherheit).

Initiative, multikulturelle Führungs-/Durchsetzungsfähigkeit, Überzeugungskraft.

Fähigkeit zum ganzheitlichen, unternehmerischen und globalen Management-Denken (ver­netztes unternehmerisches Denken, Zielorientierung, realitätsnahe Erfassung komplexer Syste­me, Analyse-, und Synthesevermögen, visionäres Denken, Begeisterungsfähigkeit).

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Persönliche Ausstrahlung, "Präsenz" und Eignung als Vorbild, .. Coach" und .. Trainer".

Flexibles Denken (Offenheit für Neuerungen, Revision traditioneller Denk- und Verhaltens­weisen, laufende kritische Überprüfung von Problemen und Lösungen in neuen Zusammen­hängen).

Fachliche Kompetenz (Hochschulstudium, Zusatzqualifikationen, praktische Erfahrungen in möglichst vielen betrieblichen Funktionen, Traineeprogramm, grundlegende EDV-Kenntnisse, Auslandserfahrung, Absolvierung betrieblicher Weiterbildungs-/Entwicklungsprogramme, inter­nationales Training).

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Loyalität; Identifikation mit dem Unternehmen, den Unternehmenszielen und den gemeinsamen Werten ("Corporate Identity").

Fähigkeit, in einem Netzwerk von Beziehungen zu kommunizieren, sich der Hilfe aller Ressour­cen innerhalb eines solchen Netzwerkes zu bedienen und das Beziehungsnetzwerk zu ilflegen sowie zweckmäBig auszubauen.

Interesse und Begeisterung für die jeweilige Kultur (z.B. Lebensweise, Freizeitaktivitäten, Lite­ratur, Musik).

Beurteilungsfähigkeit, ob und inwieweit vorhandenes Management-Know-how auf andere Kon­texte/Kulturkreise übertragen werden kann.

Früherer Erfolg in Führungspositionen im Ausland.

Anpassungsfähigkeit gegenüber der geographischen und sozio-kulturellen Umwelt.

Flexibilität und Anpassungsbereitschaft der Familie.

Physische Konstitution, d.h. gesundheitliche Eignung für die klimatischen Bedingungen des Gastlandes.

3. Forschungskonzepte zur interkulturellen Kompetenz

Einer der wenigen, der sich schon seit vielen Jahren im Zusammenhang mit Forschun­gen zur interkulturellen Kommunikation und zum interkulturellen Lemen auch mit in­terkultureller Kompetenz beschäftigt, ist Gerhard Winter (1983, 1997), der drei unter­schiedliche Konzepte der psychologischen Forschung im Umgang mit "interkultureller Kompetenz" unterscheidet:

1. Das handlungs- und attributionspsychologische Konzept geht davon aus, daB inter­kulturelle Kompetenz im Zusammenhang mit Begriffen, wie "Zielsetzung", "Wis­sen", "Regulations- und Selbstkontrolle", "Rationalität der Planung", "strategische Durchführung und Wirksamkeitsbestimmung" steht. Beschrieben, analysiert und reflektiert werden dabei Vorgänge der Informationsaufnahme (Wahmehmung, Ko­gnition), der Informationsverarbeitung (Orientierung, Urteilsbildung, Erklärung, Attribution) und Handlungsausführung (Performanz und deren Evaluation). Das Modell ist vollständig auf die Effizienz und Kompetenz des Handeinden ausgerich­tet und erhält somit eine gewisse organisationspraktische und betriebswirtschaftli­che Relevanz. Die Attributionstheorie dient dabei zur Beschreibung der subjekti­ven Erklärungen fremdkulturellen Handeins. Die Gründe für das wahrgenommene Verhalten der fremdkulturellen Interaktionspartner erschlieBen sich aus bestimm­ten kulturspezifischen Hintergrundvariablen und dem, was davon im Laufe der in­di vi duellen Sozialisation der Persönlichkeit des Handeinden verankert ist (Brislin & Cushner 19962 ; Thomas, 1996).

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2. Das ökopsychologisch-lerntheoretische Konzept geht davon aus, daB vom Han­deInden eine Anpassung an die jeweilige physische und soziale Umwelt, an geI­tende Normen und Regeln gefordert wird. Ein Idealzustand ist dann erreicht, wenn ein Gleichgewicht zwischen den "Ordnungskräften des jeweiligen Millieus und den bes onderen Bedürfnissen, Einstellungen, Fähigkeiten usw. der handeinden Ak­teure hergestellt ist. Unter ungünstigen Umständen kommt es zu Konflikten, MiB­verständnissen und Störungen. Zur Anpassung und kompetenten Mitwirkung an dem Geschehen benötigen die Handeinden Kenntnisse über relevante Verhaltens­vorschriften, Fähigkeiten des Beobachtens und aktiven Zuhörens, Techniken zur Dekodierung der erhaltenen Botschaften, kommunikative Fähigkeiten der Selbst­darstellung und Selbstbehauptung, Kompetenzen zur Affektkontrolle und zur kriti­schen Selbstreflexion. Erworben werden die se Qualifikationen nach den üblichen Lemprinzipien, wie operantes Konditionieren, Beobachtungslemen, Vorbildlemen etc., sowie im Verlauf interkultureller Trainings über Rollenspieie, Video-feed­back, Übungen, Simulationen usw. Interkulturelle Kompetenz wird in diesem Konzept durch eine Kombination relevanter, situationsbezogener Fähigkeiten defi­niert, die auf Offenheit, Flexibilität und Anpassungsbereitschaft der Handeinden in neuartigen interkulturellen Überschneidungssituationen aufbaut.

3. Beim phänomenologisch-sozialpsychologischen Konzept tritt die Beziehung zw i­schen den Akteuren, dem ProzeB der Interaktion und die kommunikativen Vorgän­ge bei der Konstituierung bzw. Rekonstruktion von Bedeutungen in den V order­grund. Kommunikation ist ein Austausch bedeutungshaltiger Zeichen und Symbole im Medium einer oder mehrerer Sprachen vor dem Hintergrund eines zumeist par­tiell gemeinsamen, sich überlappenden Bezugssystems (Lebens- und Weltverständ­nis, Alltagsregeln und Kultumormen, Erfahrungsschemata und Wissensorganisati­on, Rollenspiel und Verhaltenskodex, Attributionsmuster und Affektregulation, Kommunikationsstil und Ausdrucksmerkmale). Interkulturelle Kommunikation ist nach diesem Konzept nichts anderes als allgemeine Kommunikation unter er­schwerten äuBeren und inneren Bedingungen. Sind die minimalen V oraussetzun­gen für eine spontane, unmittelbare Verständigung der Interaktionspartner wegen zu groGer Fremdheit nicht mehr gegeben, die Bereitschaft und der Wille zur Be­gegnung mit der fremden Lebenswelt jedoch vorhanden, so bleibt als Ausweg nur die Neukonstruktion einer gemeinsamen Sinn- und Bedeutungssphäre. Dies kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen, nämlich durch gemeinsame neue Erfahrungen mit demselben Gegenstand, derselben Tätigkeit oder dem Umgang mit demselben Kommunikationsproblem oder aber durch Rekurs auf weitgehend kulturinvariante (, universelle') menschliche Wissensbestände, auf fundamentale Anschauungs- und Lebensformen bzw. auf gleichartige existentielle Dilemmata.

Zum Erreichen interkultureller Kompetenz sind nach Winter vier unterschiedliche Formen interkulturellen Lemens effektiv:

1. Lemen durch Intemalisierung von Grundüberzeugungen anerkannter Personen! Lehrer, entdeckendes Lemen im ausländerfreundlichen Millieu bzw. implizite Lemvorgänge im Zusammenhang mit Versuchen, kritische Interaktionssituationen zu bewältigen.

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2. Pädagogisch organisierte und geleitete Erziehungs- und Bildungsprogramme mit Schwerpunkten auf länderkundliche, sozialgeographische oder historisch-ethnolo­gische Wissensvermittlung.

3. Explorierendes, aktives Erfahrungslemen in einem fremden Land oder im direkten Umgang mit Angehörigen eines fremden Landes bzw. aus der fremden Kultur, wo­bei neben der kognitiven Ebene stärker, als das in den beiden anderen Formen in­terkulturellen Lemens möglich war, die emotionale Ebene mitangesprochen wird.

4. Aneignung interkultureller Handlungskompetenz durch Teilnahme an professionelI organisierten TrainingsmaBnahmen.

In einer Zusammenfassung der bisherigen Forschungen zur interkulturellen Kompetenz plädiert Hinz-Rommel (1994) dafür, bei Verwendung und Analyse des Begriffs "Inter­kulturelIe Kompetenz" nicht nur die individuelle Ebene (Fähigkeiten und Fertigkeiten) zu behandeln, sondem darüberhinaus die institutionelle Ebene miteinzubeziehen. Es geht demnach nicht nur urn die individuellen Fähigkeiten und Charakterzüge von Per­sonen, die es ermöglichen, andere zu verstehen und sich ihnen verständlich zu machen, sondem interkulturelle Handlungskompetenz muB in einem weiten Rahmen verstanden werden, der die subjektive Wahmehmung von und das Verhältnis der einzelnen Perso­nen zu den Institutionen sowie die Funktion und Arbeitsweise von Organisationen in einer fremden Kultur miteinschlieBt.

Eine mehr pragmatisch orientierte und als Grundlage für systematische interkultu­relle Orientierungs- und Handlungstrainings geeignete Definition von "InterkulturelIer Kompetenz" findet sich bei Thomas & Hagemann (1996) und Thomas, Kammhuber & Layes (1997, S. 67-68). Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kultu­relle Bedingungen, EinfluBfaktoren im Wahmehmen, Urteilen, Empfinden und Han­deIn bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu würdigenlrespektieren und produktiv einzusetzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten sowie einer Entwicklung synergetischer Formen des Zu­sammenlebens und der Weltorientierung. Über interkulturelle Kompetenz verfügt der­jenige, der viele Kontakte mit fremdkulturellen Personen unterhält, mit dem fremd­kulturelle Personen geme Kontakt halten, der seine Aufgaben im fremdkulturellen Um­feld effizient erfüllt und der weder den Umgang mit den Personen noch seine Aufga­benerledigung unter fremdkulturellen Bedingungen als streBbelastet empfindet. Dabei zeigt sich interkulturelle Kompetenz auf allen drei psychologischen Ebenen: Wissen, Fühlen und Handeln:

1. Wissen: Kenntnisse über eigene und fremde Kulturstandards. Kenntnisse über kultur­spezifische Arten der Kontaktaufnahme, der Kommunikation, der Aufgabener­ledigung, der Problembewältigung sowie die Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel.

2. Fühlen: Interesse, Neugier und Freude am Umgang mit fremden Menschen. Die Fä­higkeit, sowohl MiBerfolg als auch Unklarheiten emotional zu ertragen und selbst in konfliktträchtigen, kritischen Situationen gelassen und respektvoll mit dem fremd­kulturellen Partner umzugehen.

3. Handeln: Die Fähigkeit, mit fremdkulturellen Partnem auf der Basis einer grundle­genden gegenseitigen Wertschätzung flexibel umzugehen, mit der Intention, für beide Seiten eine optimale Zielerreichung sowie ein hohes MaB interpersonalen Wohlbe­findens herzustellen.

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Zum SchluB dieses Abschnitts solI an einem Beispiel aus dem deutsch-chinesischen Geschäftsalltag die Problematik interkulturellen ManagementverhaItens und die Be­deutung interkultureller Managementkompetenz illustriert werden.

Das deutsch-chinesische Bankett

Die kulturell kritische Interaktionssituation

Nach drei Wochen anstrengender Verhandlungen fühlt sich Herr K., Chef der deut­schen Verhandlungsdelegation eines multinationalen Konzems, verpflichtet, für seine chinesischen Partner ein Bankett zu veranstalten. Er bereitet dazu alles genau vor, stellt mit der Hotelleitung das Menü zusammen und legt durch Tischkärtchen die Sitzord­nung fest. Er selbst hat groBes Interesse, neben einem chinesischen Ingenieur zu sitzen, der ihm durch sein detailliertes Fachwissen besonders aufgefallen war und mit dem er ins Gespräch kommen möchte. Eine halbe Stunde vor Beginn des Banketts erscheint der chinesische Dolmetscher, überprüft die Sitzordnung und verändert sie nach seinen eigenen V orstellungen. Herr K. ist über dieses V orgehen sehr befremdet und fühIt sich brüskiert. Als er den Dolmetscher wegen seines ihm eigenmächtig erscheinenden Han­deIns zur Rede stellt, erhält er lediglich zur Antwort: "Das ist bei uns so üblich".

Problemanalyse

Zur Erklärung der Situation aus chinesischer Sicht sind zwei Ebenen zu unterscheiden, nämlich die Bedeutung von Sitzordnungen bei öffentlichen Anlässen und die Behand­lung des ausländischen Gastes (in diesem FalIe Herrn K.) in der Rolle des Gastgebers durch die chinesischen Gäste, vertreten durch den Dolmetscher.

1. Die Bedeutung von Sitzordnungen: Nach chinesischer Kulturtradition werden Sitz­und Tischordnungen nicht nach individuellen Vorlieben festgelegt, sondem nach der den Gästen gebührenden Rangordnung. Die bestehende Rangordnung inner­halb einer Gruppe, zwischen Gruppen und zwischen einzelnen Gruppenvertretem bedarf der Bestätigung im Sinne einer Vergewisserung und der äuBeren Doku­mentation dadurch, daB sie bei öffentlichen und halböffentlichen Anlässen durch entsprechende Sitz- und Tischordnungen für alle sichtbar in Erscheinungn treten. Eine MiBachtung dieses, für die Schaffung und Festigung der sozialen Harmonie bedeutsamen Ordnungsprinzips führt zu einem Gesichtsverlust aller an diesem öf­fentlichen Ereignis beteiligten Personen. Zunächst verliert der Gastgeber sein Ge­sicht dadurch, daB er die soziale Rangordnung seiner Gäste miBachtet. Die unter­halb ihres Ranges plazierten Gäste verlieren ihr Gesicht, da sie nicht gebührend ge­ehrt werden. Die über dem ihnen zustehenden Rang plazierten Gäste verlieren ihr Gesicht dadurch, daB sie sich ungebührlich stark in den V ordergrund stellen und ihnen nicht zustehende Plätze einnehmen. Da der Dolmetscher Herrn K. diesen Gesichtsverlust ersparen will, ändert er die Sitzordnung, selbst auf die Gefahr hin, von Herrn K. zurechtgewiesen und getadelt zu werden.

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2. Die angemessene Behandlung des ausländischen Gastgebers durch die chinesi­schen Gäste: Diesem Aspekt wird durch den Eingriff des Dolmetschers Rechnung getragen, denn er hat nicht nur den Auftrag, dem Gastgeber einen Gesichtsverlust zu ersparen, vielmehr folgt er auch dem für Chinesen wichtigen Gebot der "Gast­freundschaft". Das Verhältnis zwischen Gästen und Gastgebern so11 möglichst harmonisch und störungsfrei sein. Deshalb sind die Gäste angehalten, "... dem Gastgeber Erleichterung zu verschaffen". In der Bankettsituation sind die Chinesen die Gäste, insbesondere vertreten durch den Dolmetscher, der dafür zu sorgen hat, daB dem Gastgeber nach Möglichkeit keine Fehler unterlaufen, darnit die sozialen Beziehungen zwischen Gästen und Gastgeber sich sozialverträglich und harmo­nisch entwickeln können. Der deutsche Manager, der zum SchluB sein es Chinaaufenthalts seine chinesischen Gäste zu einem Bankett einladen will, organisiert die Interaktionssituation nach den ihm vorschwebenden Zielen und seinen Erfahrungen und Gewohnheiten mit ähnlichen gese11schaftlichen Veranstaltungen. Für Herrn K. ist das Bankett ei ne günstige Gelegenheit, sich einmal ausführlich mit dem von ihm geschätzten chine­sischen Ingenieur unterhalten zu können, urn ihm auf diese Weise seine Wertschät­zung zu vermitteln und eventuell zu prüfen, ob er auf Dauer als vertrauensvoller Mitarbeiter gewonnen werden kann. Er ist zudem daran interessiert, die Zeit der Dauer des Banketts rnit interessanten und nützlichen Gesprächen zu füllen. Der deutsche Manager stellt seine persönlichen individuellen Interessen in den Vordergrund und organisiert das Bankett allein aus seiner Sicht. Dafür würde kei­ner der chinesischen Gäste Verständnis aufbringen, selbst dann, wenn der eine oder andere der chinesischen Gäste die Absicht von Herrn K., ausgerechnet mit dem relativ unbedeutenden chinesischen Ingenieur zu sprechen, verstünde.

4. Problemlösungen

Forscher, aber auch erfahrene Praktiker im Umgang mit der Bewältigung interkulturelIer Anforderungen und der Förderung interkulturelIer Kompetenz, sind sich einig, daB inter­kulturelle Managementkompetenz sich in der Regel nicht von alleine ergibt, auch nicht einfach nur durch "learning by doing", sondern nur durch Lemen, Ausbildung und Trai­ning. Das Material dazu liefert einerseits die internationale Erfahrungspraxis und anderer­seits die wissenschaftliche Analyse interkulturellen Mangements (Diagnose), darauf auf­bauende interkulturelle Trainingsprogramme (Intervention) und die Überprüfung der er­reichten Kompetenzgrade in der Managementpraxis (Evaluation). Analyse- und Trai­ningsgegenstand können dabei einerseits die konkreten berufsbedingten Begegnungen und Kooperationen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen sein und andererseits die Zusammenarbeit in plurinational/plurikulturell zusammengesetzten Arbeitsgruppen.

Auf dem Hintergrund der bisherigen Darlegungen stellt sich die Frage: Welche Möglichkeiten gibt es, Personal mit Fach- und Führungsaufgaben so zu

qualifizieren, daB es die kulturbedingten Kommunikations- und Kooperationsprobleme bewältigen kann? Diese Frage kann zunächst einmal durch vier relativ einfache Fest­stellungen beantwortet werden:

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1. Interkulturelle Orientierungstrainings, die auf die jeweilige Zielgruppe (z.B. Mana­ger) und die jeweilige Zielregion (z.B. China) zugeschnitten sind, fördem die Sensi­bilisierung für eigenkulturelle und fremdkulturelle Determinanten des Verhaltens. Sie erreichen bei den Trainingsteilnehmem womöglich eine Einstellung gegenüber fremdkulturellen Verhaltensmerkmalen, die von Toleranz und Wertschätzung getra­gen ist, und setzen die Teilnehmer in die Lage, das im Training Gelemte in Ver­handlungs- und Kooperationssituationen mit chinesischen Partnem umzusetzen. Den fremden Partner und sich selbst als Resultat untersehiedlieher kultureller Umwelten verstehen und behandeln lemen, wäre das Ziel solcher Trainings.

2. Beratungs- und SupervisionsmaBnahmen (coaching) vor Ort ermöglichen eine ver­tiefte und an den alltäglichen Lebenserfahrungen im Gastland orientierte Einsicht in die Bedingungen und Hintergründe (Orientierungssysteme) des fremd erscheinenden Verhaltens der fremdkulturellen Partner. Gerade im Kontrast der eigenkulturellen Verhaltensgewohnheiten zu den Beobachtungen und Erfahrungen mit den fremd­kulturellen chinesischen Verhaltens- und Denkgewohnheiten läBt sich die Umsetzung des Gelemten in verhaltenswirksame Interaktionen, z.B. mit Chinesen, auch unter StreBbedingungen entwickeln. Interkulturelles Handlungswissen erwerben und inter­kulturelle Interaktionsformen verfeinem, wäre hier das Beratungsziel.

3. Urn Trainingsprogramme der geschilderten Art überhaupt entwickeln zu können, sind differenzierte Untersuchungen über die dem Verhalten von fremdkulturellen Partnem und Deutschen tatsächlich zugrunde liegenden zentralen Kulturstandards als hervorstechende Merkmale der jeweiligen kulturspezifischen Orientierungssysteme erforderlich. Systematische Analysen von als kritisch erlebten Interaktionssituationen zwischen Deutschen und Ausländem sind dazu hervorragend geeignet.

4. Die Evaluation, d.h. die Überprüfung der tatsächlichen Handlungswirksarnkeit ein­zelner TrainingsmaBnahmen verhindert sehlieBlich Illusionen über deren Effektivität und gibt Hinweise auf die Interdependenzen zwisehen Trainingsinput, Verhaltens­output und daraus resultierender Erfahrungsgenerierung.

5. In Anbetracht des Bedarfs und des in Sonntagsreden von Wirtschaftspolitikem und Fachleuten, auch aus der Wirtschaft, immer wieder besehworenen Bedeutung inter­kulturellen Trainings ist das Interesse an der Entwicklung geeigneter TrainingsmaB­nahmen und die Bereitschaft zur Investition in entsprechende Grundlagen- und Be­gleitforschungen in Deutschland (besonders im Vergleich zu den USA) völlig unter­entwickelt. Dabei gibt es durehaus erfolgversprechende Ansätze für Forschung und Training, die in den USA bereits vielfach erprobt sind, aber wegen der kulturspezifi­sehen Orientierungen nicht so ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen werden können. Sie bedürfen aufgrund der deutsehen Kulturtraditionen der kritischen Überprüfung und kulturäquivalenten Anpassung (Landis & Bhagat 1996).

4.1 Trainingsziele

Im folgenden sollen die Möglichkeiten zur Qualifizierung interkulturellen HandeIns durch Trainings noch etwas detaillierter dargestellt werden.

Es gibt umfangreiche Kataloge, in denen die Ziele interkulturellen Trainings fest­gehalten sind (Landis & Brislin 1983). Untersehieden werden dabei allgemeine Train-

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ings, die sich auf die Entwicklung und Entfaltung von Persönlichkeitsmerkmalen so­wie personaler und sozialer Fertigkeiten beziehen, die die Bewältigung von Akkultu­rationsbelastungen erleichtem und die Anpassung an eine fremde Kultur beschleunigen sollen, und spezifische Trainings, die der Entwicklung von Fertigkeiten dienen, die sich aus den jeweils konkreten arbeits-, berufs-, lem- und lebensumfeldspezifischen Bedingungen ergeben.

So kann ein interkulturelles Training darauf abzielen, zunächst einmal nur für fremdkulturell bestimmtes Denken und Verhalten zu sensibilisieren, eine gewisse Be­reitschaft zum Umgang mit fremdkulturell geprägten Partnem zu fördem und zur Ak­zeptanz und Toleranz fremder Lebens- und Arbeitsweisen anzuregen (Brislin 1986).

Ein kulturspezifisches Orientierungstraining für eine bestimrnte Gruppe von aus­reisenden Personen, Z.B. deutscher Manager, Sprachdozenten, Studenten, in eine be­stimmte Kultur könnte demgegenüber auch die Schulung sehr spezifischer Fertigkeiten anstreben und z.B. chinatypische Konfliktlösung am Arbeitsplatz, eine auf die Ge­wohnheiten amerikanischer Studenten zugeschnittene Fremdsprachendidaktik, in japa­nischen Studentengruppen übliches geschlechtsspezifisches Rollenverhalten usw. be­inhalten (Thomas 1988, 1993; Thomas & Sandner 1989).

Während einerseits zu allgemein und zu weit gesteckte interkulturelle Trainings­ziele dem Bedürfnis der ausreisenden Personen nach konkreten, handfesten Verhal­tensregeln zu wenig entspricht, ist ein zu spezifisches, auf bestimmte Verhaltensele­mente zugeschnittenes Training zu wenig geeignet, die Lemenden zur flexiblen An­passung an schnell wechselnde Anforderungsbedingungen zu qualifizieren.

4.2 Phasen interkulturellen Trainings

Generelliassen sich drei Phasen interkulturellen Trainings unterscheiden:

1. Orientierungstraining: Ein Orientierungstraining wird meist zu Beginn eines Aus­landseinsatzes oder eines Auslandsstudiums im Heimatland durchgeführt und dient der Vorbereitung auf die fremde Kultur, auf die ungewohnten Arbeits- und Le­bensverhältnisse und reicht von der Vermittlung landeskundlicher Kenntnisse bis hin zum Kulturkontrasttraining, bei dem fremdkulturelle und eigenkulturelle Denk­und Verhaltensgewohnheiten einander kontrastiert und vergleichend analysiert werden.

2. Verlaufstraining: Dieses Training findet während des Auslandseinsatzes im Gast­land statt und dient der Aufarbeitung kritischer Interaktionssituationen und Pro­bleme im Umgang mit den Gastlandbewohnem, den Lebens- und Arbeitsverhält­nissen. Interkulturelles Verlaufstraining kann in Form der Supervision oder in ver­schiedenen Arten des Coaching stattfinden.

3. Reintegrationstraining: Wenn zu erwarten ist, daB nach einem längeren Aufenthalt im Ausland die Rückkehr in das Heimatland und die Anpassung an die hiesigen Ar­beits- und Lebensbedingungen zum Problem werden können, wird ein Reintegration­straining in das Heimatland, kurz vor der Ausreise oder im Heimatland kurz nach der Einreise zur Erleichterung der Wiedereingliederung in das Berufs- und Arbeitsleben und zur Eingewöhnung in die eigentlich vertrauten, aber inzwischen fremd geworde­nen, heimischen Lebensverhältnisse eine nützliche Anpassungshilfe sein.

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5. Entwicklung interkultureller Managementkompetenz au! der Basis kultureller Wertschätzung

In einer interkulturellen Begegnungs- und Kooperationssituation kompetent handeln zu können, setzt erfolgreiches interkulturelles Lernen voraus: "Interkulturelles Ler­nen findet statt, wenn eine Pers on bestrebt ist, im Umgang mit Menschen einer ande­ren Kultur deren spezifisches Orientierungssystem der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handeins zu verstehen, in das eigenkulturelle Orientierungssystem zu integrieren und auf ihr Denken und Handeln im fremdkulturellen Handlungsfeld an­zuwenden. Interkulturelles Lernen bedingt neben dem Verstehen fremdkultureller Orientierungssysteme eine RefIexion des eigenkulturellen Orientierungssystems. Interkulturelles Lernen ist dann erfolgreich, wenn eine handlungswirksame Synthese zwischen kulturdivergenten Orientierungssystemen (Kulturstandards) erreicht ist, die erfolgreiches Handeln in der eigenen und in der fremden Kultur erlaubt .... Interkul­turelles Lernen provoziert das Gewahrwerden sowohl fremdkultureller Merkmale (fremde Kulturstandards) als auch das BewuBtwerden eigenkultureller Merkmale (eigene Kulturstandards), die immer schon als implizite EinfIuBfaktoren handlungs­wirksam waren. Erfolgreiches interkulturelles Lernen setzt voraus, daB die Verände­rungen im Wahrnehmen, Denken, Empfinden und Handeln so beschaffen sind, daB sie den jeweiligen Anforderungen kultureller Überschneidungssituationen und den Erwartungen der in verschiedenen Kulturen sozialisierten Interaktionspartnern ent­sprechen" (Thomas 1993, S. 382).

Selbst wenn dieser interkulturelle LernprozeB erfolgreich abgeschlossen ist, was in der Regel nicht ohne formelles Training und/oder informelle Beratung und Unter­stützung möglich sein wird, bedarf es zur Entwicklung einer interkulturellen Hand­lungskompetenz noch einer verinnerlichten grundlegenden Haltung gegenüber allem Fremdkulturellen. Nicht die Exotik, die von Fremdem ausgeht, ist hier entscheidend, auch nicht die allgemeine Toleranz gegenüber Fremden, die jeder moderne und welt­aufgeschlossene Staatsbürger an den Tag legen sollte, ist hier gemeint, sondern eine Haltung der "kulturellen Wertschätzung". Der Haltung kultureller Wertschätzung liegt die Überzeugung zugrunde, daB Menschen zu allen Zei ten und in allen Regio­nen der Welt Kulturleistungen hervorgebracht haben. Aus der Vielfait abweichender Spielarten innerhalb einer Kultur konnten sich nur die Kulturmuster durchsetzen, die sich für die Mehrzahl der dieser Kultur angehörenden Personen als sinnvoll, nütz­lich, produktiv, konsensfähig sowie lebenserhaltend und lebensbereichernd bewähr­ten. Wenn ein Werte- und Normenkanon, wenn spezifische Denkweisen, Urteilsre­geIn, Handlungsformen und soziale Umgangsweisen in einer spezifischen Kultur ei­nem Beobachter aus einer anderen Kultur auch noch so ungewohnt, unerwartet, ab­seitig, falsch, unsinnig, unlogisch, unproduktiv usw. erscheinen, und wenn all das, was er in einer fremden Kultur beobachtet, nur Widerstand in ihm provoziert, dann muB er sich doch realistischerweise fragen, we1che GesetzmäBigkeit, we1che Ratio­nalität und welche sozialhistorischen Grundlagen diesen kulturspezifischen Aus­prägungen zugrunde liegen. In einer so stark international und global vemetzten postmodemen Gesellschaft gibt es keine rationale Begründung dafür, daB nur die ei­gene Kultur und ihr Entwicklungsstand zum Orientierungs- und BewertungsmaBstab für richtiges Handeln geIten kann. Ein friedliches und zukunftsorientiertes Zusam-

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menleben ist nur möglich, wenn alle darum bemüht sind, die Vielfait und den Reich­turn der kulturellen Entwicklungen auf dies er Welt als Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen Zukunft zu würdigen und der fremden Kultur ein hohes MaG an Wert­schätzung und nicht Abwertung entgegenzubringen. Auch wenn das, was sich im Dialog zwischen den Vertretern unterschiedlicher Kulturen, z.B. in plurinational zu­sammengesetzten Arbeitsgruppen oder in einer Vorgesetzten-Mitarbeiter-Zusam­menarbeit in bi- und plurikulturellen Joint Ventures als konsensfähige Regelung her­ausstellt, weitgehend den kulturspezifischen Regeln einem der beteiligten Partner folgt, so ist doch der ProzeB hin zur konsensfähigen Regelentwicklung von kultu­reller Wertschätzung bestimmt und nicht von einseitiger kultureller Dominanz mit Überlegenheitsattitüden. Nur so kann die Motivation zur Zusammenarbeit gestärkt werden. Die Grundhaltung der kulturellen Wertschätzung fördert darüberhinaus die Bereitschaft, nicht einfach nur fremde Kulturen zu akzeptieren, sondern sich mit fremden Kulturen im Vergleich zur eigenen Kultur auseinanderzusetzen, sie genauer kennenzulernen sowie die Vor- und Nachteile mit Blick auf eine spezifische Ziel­richtung und unter Berücksichtigung gegebener Kontextbedingungen zu analysieren. Dies schafft die Voraussetzungen zur Entwicklung eines Klimas interkultureller Kreativität und Innovation, und zwar auf der Ebene des einzelnen Individuurns bei seinen Versuchen, mit fremdkulturell geprägten Partnern zurechtzukommen, auf der Ebene von Arbeitsgruppen, die plurikulturell zusammengesetzt sind oder sich mit interkulturellen Problemstellungen befassen müssen, und auf der Ebene von gröGe­ren sozialen Gebilden, wie Wirtschaftsorganisationen, die in einem internationalen und damit auch immer interkulturellen Wettbewerb stehen.

6. Konsequenzenfür das Personalmanagement

Eine Kompetenz zur interkulturellen Zusammenarbeit läBt sich auf den verschieden­sten Ebenen des Personalmanagements nur allmählich und mit unterschiedlichen Me­thoden erreichen. Die Unternehmensziele, die Unternehmensstrategien und die Unter­nehmenskultur muG den Anforderungen der Internationalisierung und Globalisierung des jeweiligen Unternehmens unter Berücksichtigung der unternehmenshistorischen Entwicklung, der gegebenen Unternehmensstruktur, den nationalen und internationalen branchenspezifischen Bedingungen und Entwicklungstrends angepaBt werden. Die Personalplanung, Personaldiagnostik, Personalentwicklung, Personalauswahl und der Personaleinsatz sind von diesen Entwicklungen ebenso betroffen wie Personalvorbe­reitung und Personaleinsatz bei Auslandsentsendungen, das Personalmanagement im Zusammenhang mit dem Einsatz ausländischer Mitarbeiter im Unternehmen, und zwar auf allen Hierarchiestufen, sowie die Berücksichtigung kulturspezifischer Komponen­ten bei Produktentwicklung, Produktion und Vertrieb.

Aufgrund intensiverer Forschungen über die Personalanforderungen im Rahmen von Auslandsentsendungen (Kühlmann 1995; Bergemann & Sourisseaux 1996; Tho­mas 1996) lassen sich für diesen Bereich der Personalarbeit die zukunftsorientierten Schritte relativ deutlich anhand des Spiralmodells internationaler Personalarbeit (s. Abbildung 9) darstellen.

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Abbildung 9: Spiralmodell interkulturelIer Personalentwicklung

Das in der Abbildung 9 skizzierte Spiralkonzept interkultureller Personalentwicklung faBt die einzelnen Bestandteile notwendiger MaBnahmen zur Vorbereitung und Quali­fizierung der Mitarbeiter für den Auslandseinsatz bzw. zur Bewältigung der mit fort­schreitender Intemationalisierung und Globalisierung der Geschäftstätigkeiten sich stellenden Anforderungen zusammen. Jeder ins Ausland entsandte Mitarbeiter ist zum Zeitpunkt seiner Rückkehr ein "Experte" für auslandsbezogene Geschäftsaktivitäten generelI und für die Gastlandkultur im besonderen. Dieses Expertenwissen - einge­speist in einen Informationspool und aufbereitet zur Weitergabe - ist eine hochwertige Quelle zur Entwicklung und Aktualisierung der unterschiedlichen Informations- und

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Globalisierung und interkulturelle Managementkompetenz 67

Qualifizierungsprogramme. Jeder erstmalig oder wiederholt ausreisende Mitarbeiter kann sich dieses Informationssystems bedienen und selbst aktiv weiterentwickeln. Wenn sich auch nach wiederholten Auslandseinsätzen eine Art generalisiertes Kultur­wissen aufbaut, das den Mitarbeiter befáhigt, sich schnell und produktiv in eine neue Kultur einzuleben und einzuarbeiten, bedarf es zum vertieften Verständnis der Zu­sammenhänge zwischen kulturellem Werte-, Normen- und Orientierungssystem einer­seits und dem beobachteten Verhalten der Partner andererseits der Unterstützung durch Expertenwissen. An zunächst Fremdartiges kann sich ein erfahrener Expatriate relativ schnell gewöhnen, er wird erlebter Fremdartigkeit mit einem hohen MaB an Toleranz begegnen, wird sich flexibel darauf einstellen können, wird Widersprüchliches zu er­tragen wissen etc. Ein Wissen urn Zusammenhänge, Begründungen und ein Verständ­nis für die dem fremd erscheinenden Verhalten, Denken und Empfinden zugrundelie­gende "Rationalität" ist daraus allein nicht zu gewinnen. Flexibilität im Umgang mit Fremdheit und die Fähigkeit, Fremdes als Ressourcenpotential für die eigene Lebens­bewältigung und die Erledigung der Arbeitsaufgaben zu nutzen - also produktiv mit der fremden Kultur umzugehen - bedarf des interkulturellen Verstehens.

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Der schwierige Übergang vom Bildungs­in das Beschäftigungssystem - N otwendigkeit und Möglichkeit zur Weiterbildung

Rudolf Tippelt

Der Übergang von Schule in Beruf, von beruflicher Ausbildung in Beschäftigung ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Dabei ist festzuhalten, daB der Übergang von einer dualen Ausbildung in die Erwerbstätigkeit gegenüber den schulischen Ausbil­dungsformen günstiger verläuft. Obwohl sich die Anbindung der Ausbildung an die Betriebe und die damit verbundene Praxisorientierung als ein besonderer Vorteil er­weist, geschieht die Einmündung in das Beschäftigungssystem aus der dualen Ausbil­dung seit langem nicht mehr friktionslos. Die zweite Schwelle dieses Übergangs, also das Ende der beruflichen Ausbildung und die Einmündung in das Beschäftigungssy­stem erweisen sich sowohl im dualen beruflichen Bildungswesen als auch bei der Aus­bildung für die akademischen Berufe an Universitäten und Hochschulen als eine be­sonders problematische Phase. Veränderungen auf beiden Seiten des Übergangs, also im Bildungssystem wie im Beschäftigungssystem, aber auch die institutionellen Ver­änderungen innerhalb des Berufsausbildungssystems selbst, wirken sich auf das Aus­bildungsverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus. Deutlichen EinfluB auf die Verlaufsmuster des Übergangs haben der Ausbau der weiterführenden Schulen und der gleichzeitige Abbau von Arbeitsplätzen für gering oder nicht beruflich Qualifi­zierte. Nicht nur eine höhere Quote von Hochschulabsolventen ist das Resultat dieser Entwicklung, sondem auch im Kembereich des dualen Systems haben sich institutio­nelle Veränderungen ergeben. So wurde die klassische duale Ausbildung ergänzt durch berufsvorbereitende BildungsmaBnahmen, ausbildungsbegleitende Hilfen und Berufs­ausbildungen in überbetrieblichen Einrichtungen.

Immer deutlicher wird, daB die Konzepte der Aufstiegsfortbildung, der Anpas­sungsfortbildung und der Umschulung angesichts der sozialen und ökonomischen Her­ausforderungen sich nur noch in einem Konzept des lebenslangen Lemens realisieren können. Die Notwendigkeit zur Weiterbildung nach einer Erstausbildung und die un­bestrittene Bedeutung lebenslangen Lemens sind aber nach wie vor Schlagworte und die Umsetzung praktikabler Konzepte steht noch am Anfang. Die OECD hat unter dem Titel "Recurrent Education: A Strategy for lifelong Leaming" (1973) bereits vor über 25 Jahren ein zukunftsweisendes Konzept vorgelegt, das Ausbildung und Weiterbil­dung nicht mehr als isolierte Einheiten definiert, sondem unter Betonung des offenen Lemens ein integratives Gesamtbildungskonzept für Jugendliche und Erwachsene an­strebt. Dabei geht es der OECD darum, die Phasen von Aneignung und Anwendung von Wissen und Fähigkeiten, die Phase der Arbeit und des Lemens systematisch und wechselseitig miteinander zu verbinden; die strukturierten Lemerfahrungen aus dem Bildungs- und Arbeitsbereich sollen mit informellen Lemerfahrungen aus allen ande-

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ren Lebensbereichen in Verbindung gebracht werden und schlieBlich - dies ist im Kontext der vorliegenden Diskussion besonders relevant - sollen unterschiedliche nachschulische Teilsysteme der Bildung, insbesondere der beruflichen Aus- und Wei­terbildung mit der traditionellen Erwachsenenbildung und dem Hochschulbereich ab­gestimmt werden. In einem aktuellen revidierten Konzept von "recurrent education" wird der Gedanke eines zusammenhängenden Netzwerks von informellen und formel­len Lemmöglichkeiten betont und es werden unter den Begriffen "lemende Region", "mittlere Systematisierung" und "Netzwerke" Ansätze regionaler innovativer Weiter­bildung diskutiert, die auch für die Gruppe der im Übergang vom Bildungs- in das Be­schäftigungssystem befindlichen jungen Menschen Verbesserungen implizieren (vgl. Dobischat & Husemann 1997).

Die folgende Argumentation versucht drei Leitfragen zu beantworten:

Welche Übergangsprobleme vom Ausbildungs- in das Beschäftigungssystem, insbe­sondere im Bereich der beruflichen Bildung müssen derzeit konstatiert werden?

Wie reagieren junge Menschen auf die gegenwärtigen Probleme und wie weit signali­sieren sie Offenheit für eine der beruflichen Ausbildung folgende Weiterbildung?

Welche Möglichkeiten auf seiten des Weiterbildungssystems gibt es, urn die Chancen junger Menschen beim schwierigen Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssy­stem zu verbessem?

1. Übergang van Ausbildung in Beschäftigung

Der Berufsbildungsbericht 1997 weist darauf hin, daB sich im Jahre 1991 noch 98 100 Personen in Deutschland unmittelbar nach der Ausbildung arbeitslos meldeten, im Jahr 1995 dies aber bereits 165 900 Personen waren. Auch wenn die Arbeitslosenzugänge erfolgreicher Absolventen des dualen Systems nach Ausbildungsende nur grob ge­schätzt werden können, dürften derzeit etwa ein Viertel der erfolgreichen Prüfungsteil­nehmer der beruflichen Bildung unmittelbar nach AbschluB der Ausbildung arbeitslos werden. In den Jahren 1991/92 waren dies nur 13%. Experten gehen davon aus, daB die Probleme an der zweiten Schwelle in den nächsten Jahren noch zunehmen werden, weil die steigende Zahl der Lehrstellenbewerber und die gleichzeitig schwierig auf­recht zu erhaltenden Ausbildungsleistungen der Betriebe, die zum Teil erheblich über den eigenen Bedarf hinausgehen, für die ausgebildeten Fachkräfte nach AbschluB der Ausbildung aller Voraussicht nach mit groBen Schwierigkeiten verbunden sein werden. Den in den letzten Jahren entwickelten tariflichen, staatlichen und betrieblichen Über­gangshilfen und insbesondere auch der Weiterbildung nach AbschluB der beruflichen Erstausbildung kommt für die erfolgreiche berufliche Integration daher eine wichtige Rolle zu.

Betrachtet man das Übemahmeangebot der Betriebe genauer, zeigt sich "daB knapp die Hälfte aller Betriebe (47%) alle Ausgebildeten übemahmen, wobei es inner­halb der einzelnen Branchen groBe Unterschiede gab. Während im Baugewerbe bei­spielsweise drei Viertel aller Betriebe alle Ausgebildeten übemehmen, waren es bei den Bildungsstätten und Verlagen gerade einmal 16,5%" (vgl. Berufsbildungsbericht

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Der schwierige Übergang vam Bildungs- in das Beschäftigungssystem 71

1997, S. 107). Dabei ist entlastend zu vermerken, daB von den 40% der Auszubilden­den, die nach erfolgreichem AbschluB nicht übemommen werden, knapp die Hälfte ei­gene Pläne haben, den beruflichen Weg individuell fortzusetzen. Knapp die Hälfte der nicht übemommenen Ausgebildeten allerdings sind damit konfrontiert, daB ihr Ausbil­dungsbetrieb derzeit keinen Bedarf an entsprechendem Fachpersonal hat oder daB sie nicht den betrieblichen Anforderungen entsprechen. Die Ausgebildeten in Kleinbetrie­ben sind mit Übergangs- und Übemahmeproblemen sehr viel krasser konfrontiert als die Ausgebildeten in GroBbetrieben. Erschwerend ist zu vermerken, daB der Anteil be­fristeter Übemahmen bzw. von Übemahmeangeboten als An- und Ungelemte zu La­sten unbefristeter Übemahmen als Fachkraft in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Geht man davon aus, daB eine AnschluBbeschäftigung im erlemten Beruf und darüber hinaus im eigenen Ausbildungsbetrieb ein naheliegender und von vielen ge­wünschter Weg ist, ist zu konstatieren, daB dieser Übergang in der derzeitigen Arbeits­marktsituation längst nicht mehr selbstverständlich ist.

Bereits die Darstellung dieser groben Übergangstrends signalisiert, daB die Ausge­bildeten heute mit einem deutlichen Weiterbildungsdruck konfrontiert sind. Jene Aus­gebildeten, die im Ausbildungsuntemehmen bleiben können, können sich auf die chan­censtabilisierenden Angebote betrieblicher Weiterbildung und teilweise auch auf die Aufstiegsfortbildung stützen, jene, die individuell eigene berufliche Pläne entwickeln, müssen sich auf das breite Feld weiterführender Bildungs- und auBerbetrieblicher Wei­terbildungsangebote beziehen und jene Gruppe, die aufgrund betrieblicher Entschei­dungen nicht in ihrem Beruf oder ihrem Ausbildungsuntemehmen bleiben können, müssen durch Fortbildung oder Umschulung neue berufliche Optionen und eine Neu­orientierung am Arbeitsmarkt erreichen.

2. Übergang aus der Perspektive von lugendlichen undjungen Erwachsenen

Urn die se Entwicklungen auch aus der Sicht von Jugendlichen darstellen zu können, sind Längsschnittuntersuchungen zum Übergang Schule/Beruf durchgeführt worden (vgl. Raab 1997, S. 3f.). Es ist auch für die Weiterbildung bedeutungsvoll, die objekti­ven Strukturen des Übergangs mit den subjektiv-biographischen Verarbeitungsmustem zu verknüpfen, denn die Rekonstruktion der Übergangsverläufe sowie die Beschrei­bung der sozialisatorischen Effekte liefem wichtige Hinweise für die weitere Ausge­staltung von notwendigen Unterstützungsleistungen, insbesondere auch Weiterbil­dungsleistungen beim Übergang von Schule zu Beruf (DH 1988).

Zu den sehr stabilen Befunden der empirischen Jugendforschung gehört, daB die berufliche Integration von der überwiegenden Mehrheit der Jugendlichen als eine Vor­aussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und für einen gewissen sozialen Status be­griffen wird. Arbeitsplatzsicherheit hat bei über 75% der Jugendlichen höchste Priorität Cvgl. Sinus 1983, Raab 1997, S. 9).

Weil für die meisten Jugendlichen jenseits der Berufsarbeit kaum eine denkbare altemative Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe besteht, kann beim Übergang von Ausbildung in Beruf mit einer hohen Weiterbildungsmotivation gerechnet werden. Diese Hypothese kann gestützt werden durch die Ergebnisse des Berichtssystems Wei-

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terbildung, aus denen hervorgeht, daB die höchste Bildungsmotivation die Altersgrup­pe der 19- bis 34jährigen hat, weil diese ihren Arbeitsplatz sichem und im Bereich des Berufes durch Aufstiegsfortbildung stabile Grundlagen für gesellschaftliche Partizipa­ti on legen will (vg!. Kuwan 1996, S. 28).

Nahezu alle Jugendlichen wünschen heute ei ne anerkannte Berufsausbildung und ein freiwilliger Verzicht auf eine qualifizierte Berufsausbildung ist auch unter Berück­sichtigung der Merkmale Geschlecht, Nationalität und soziale Herkunft äuBerst selten. Eine Herausforderung für Weiterbildungsangebote ist die groBe individuelle Orientie­rungs- und Hilflosigkeit von Jugendlichen aus benachteiligten Milieus bei der ersten und zweiten Schwelle. Der Gefahr eines sozialstaatlich alimentierten Lebens als unge­lemte Sozialhilfeempfànger/-innen, insbesondere der jungen Frauen aus ausländischen Arbeiterfarnilien, könnten besondere WeiterbildungsmaBnahmen entgegenwirken, die berufliche Integration auch für sozial stark benachteiligte jugendliche Modemisie­rungsverlierer anstreben. GenerelI ist es so, daB die Normalbiographie des direkten Be­rufsanstiegs nach dem Muster SchulabschluB, berufliche Erstausbildung, Arbeit im er­lemten Beruf heute immer seltener vorkommt. Häufiger als früher vollzieht sich der Berufseinstieg nicht bruchlos, sondem über das Ausüben ungelemter Arbeit oder sozi­alstaatlich gelenkte ArbeitsbeschaffungsmaBnahmen bis hin zu einer vorübergehend durch Sozialhilfe gestützten Existenz. Die Verlängerung des Übergangs durch gezielte UnterstützungsmaBnahmen, Tätigkeiten in fachfremden Beschäftigungen, aber auch die gezielte weiterführende Bildung in allgemeinbildenden und beruflichen Schulen oder an Hochschulen sprengen die herkömmliche Normalbiographie und weisen darauf hin, daB junge Menschen auf der Suche nach dem letztlich angestrebten Beruf Umwe­ge auch bewuBt in Kauf nehmen (müssen).

Die Weiterbildung beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf hat zu be­rücksichtigen, daB viele junge Erwachsene sich noch von der Herkunftsfarnilie ablö­sen, einen starken Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit verspüren, durch die Auf­nahme fes ter Partnerbeziehungen gebunden sind und daB auch das Interesse an Poli tik und an einer privaten Zukunftsplanung gegenüber der ersten Schwelle stark angestie­gen ist. Urn auch diese Entwicklungen des Erwachsenwerdens in den ProzeB der be­ruflichen Integration einzubinden, sind heute berufsvorbereitende BildungsmaBnahmen sowie ausbildungs- und berufsbegleitende Hilfen der Arbeitsverwaltung wie auch der berufsbezogenen Jugendhilfe zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Übergangssy­sterns Ausbildungl Arbeit geworden. Insbesondere, wenn so1che MaBnahmen auch mit Weiterbildung verbunden sind, ist es falsch, die se als Warteschleifen und Parkplätze zu diskreditieren.

Jugendstudien weisen immer wieder darauf hin, daB der Zusammenhang von so­zialer Herkunft und sozialer Zukunft nach wie vor groBe Bedeutung hat und daB es ein milieubedingtes Bildungsverhalten gibt (vg!. Tippelt & van Cleve 1995, S. 150). Si­cher haben die örtlichen Bildungs- und Weiterbildungsangebote und insbesondere der regionale Arbeitsmarkt äuBerst groBen EinfluB auf die Chancenstruktur in Regionen. Aber der Zusammenhang von schulischen und beruflichen Karrieren mit dem sozialen Herkunftsmilieu ist heute wirksamer als es die These von der "individualisierten Ju­gendbiographie" ausdrückt (vg!. Fuchs 1984). Dennoch gibt es Modemisierungsge­winner, also Aufsteiger aus einfachen, aber geordneten sozialen Verhältnissen, die über Schulbildung und dann anschlieBende Weiterbildung gegenüber dem Milieu ihrer

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Der schwierige Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem 73

Herkunft aufsteigen können. Die Lockerung des Zusarnmenhangs von sozialer Her­kunft, Bildungsabschlüssen und beruflicher Positionierung kann durch berufliche Wei­terbildung erheblich forciert werden, allerdings nur dann, wenn junge Erwachsene be­reits weiterführende Schulabschlüsse erreichen. Zu den sehr stabilen Ergebnissen der Weiterbildungsforschung gehört, daB die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung in den verschiedensten Formen bei jenen am höchsten ist, die über relativ hohe Schulab­schlüsse verfügen und die höhere berufliche Positionen anstreben (vgl. Tippelt 1993).

Bringt man das von Jugendlichen erreichte Qualifikationsniveau und die bei der beruflichen Einmündung erreichten Positionen in einen systematischen Zusammen­hang, so ergeben sich mehrere Gruppen, die unterschiedliche Weiterbildungsaspiratio­nen haben (vgl. Szydlik 1997):

Eine erste im Osten wie im Westen sehr kleine Gruppe (ca. 2 bis 3%) verfügen weder über eine Berufs- und Hochschulausbildung noch wird an ihrem Arbeitsplatz eine solche Ausbildung vorausgesetzt. Diese Gruppe ist, wenn man die bildungsspezifischen Ar­beitslosenquoten heranzieht, allerdings von Arbeitslosigkeit stark bedroht und daher sind alle Formen der integrativen beruflichen Weiterbildung für diese Gruppe relevant.

Eine zweite Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, daB ihre in der Ausbildung er­reichte Qualifikation und die Qualifikationsanforderungen ihres Arbeitsplatzes über­einstirnmen. Es geht urn qualifizierte Personen, die eine Berufsausbildung oder einen HochschulabschluB erreicht haben, und die auf einem Arbeitsplatz tätig sind, der auch tatsächlich eine solche Ausbildung erfordert. Auch in strukturellen Krisenzeiten ist dies die weitaus gröBte Gruppe und in sozio-ökonomischen Panelstudien erweist sie sich im Osten wie im Westen mit über 50% der Befragten als die zentrale Gruppe (vgl. Szydlik 1997, S. 16). Formen der beruflichen Anpassungsweiterbildung sind für diese Gruppe allerdings bereits in den frühen Phasen beruflicher Tätigkeit notwendig. Diese Gruppe der beruflich Integrierten kann sich dabei auf die vielfältigen Formen betrieblicher Weiterbildung, die jedoch häufig auch fremd veranlaBt sind, stützen.

Eine dritte Gruppe arbeitet auf einem Arbeitsplatz, der dem Qualifikationsniveau entspricht, also beispielsweise Facharbeiter nehmen einen Arbeitsplatz für Facharbeiter ein, Hochschulabgänger nehmen einen Arbeitsplatz, der in der Regel einen Hoch­schulabschluB erfordert, ein - allerdings differieren die in der Ausbildung vermittelten Kenntnisse und die ausgeübte Tätigkeit. Die berufliche Weiterbildung hat bei dieser Gruppe wesentlich auf die Vermittlung adäquater Fachkenntnisse und berufsrelevanter Fertigkeiten zu achten, die für die Tätigkeit notwendigen allgemeinen Kompetenzen, beispielsweise Sozial-, Methoden- und Mitwirkungskompetenzen werden von den be­ruflich Tätigen aus ihrer Ausbildung in die aktuelle Tätigkeit eingebracht.

Eine vierte Gruppe arbeitet in dem erlemten Berufsbereich, ist aber für den einge­nornmenen Arbeitsplatz überqualifiziert. Einen groBen Teil ihrer fachlichen Qualifika­tionen können sie am Arbeitsplatz anwenden, allerdings würde eine adäquate Beschäf­tigung auf dem erreichten Qualifikationsniveau einen beruflichen Aufstieg vorausset­zen (z.B. Facharbeiter arbeiten auf Angelemtenniveau, Ingenieure arbeiten auf Fachar­beitemiveau, Magister auf fachadäquatem Sacharbeitemiveau). Die berufliche Weiter­bildung kann durch adäquate Formen der Aufstiegsfortbildung hier zu Korrekturen zumindest beitragen.

Eine fünfte Gruppe ist auf Arbeitsplätzen beschäftigt, die nicht ihrem Ausbildungs­niveau, aber auch nicht ihrer fachlichen Orientierung entsprechen. Auch diese prinzipi-

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ell überqualifizierte Arbeitnehmergruppe ist auf berufliche Weiterbildung angewiesen, wenn sie beispielsweise durch eine spezialisierende berufliche Weiterbildung für die prinzipiell hoch und gut qualifizierten Arbeitnehmergruppen Nischen beim Übergang in das Beschäftigungssystem schlieBen will. Es muB davon ausgegangen werden, daB diese Gruppe sowohl in West- wie in Ostdeutschland die zweitgröBte Gruppe hinsicht­lich der Ausbildungsadäquanz darstellt, d.h. Über- und teilweise Fehlqualifizierungen sind ernstzunehmende Entwicklungen. Grundsätzlich ist es zutreffend, daB ein po si ti­ver Zusammenhang von Qualifikationsniveau und angemessener Beschäftigung be­steht, allerdings zeigt die relativ groBe Gruppe der Überqualifizierten (über 20%) in Deutschland, daB erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten am Arbeitsplatz nicht immer angewandt werden können (vgl. Plicht, Schober & Schreyer 1994, S. 177ff.; Büchel 1996, S. 280f.).

Die sechste Gruppe der Arbeitnehmer ist unterqualifiziert für ihre augenblicklich eingenommenen Tätigkeiten, d.h. sie sind auf Arbeitsplätzen tätig, die prinzipiell ein höheres Ausbildungsniveau als das eigene erfordern. Aufgrund der Bildungsexpansion hat sich der Aspekt der Unterqualifizierung auf jenen Personenkreis verschoben, der eine Berufsausbildung absolviert hat, aber mittlerweile seit mehreren Jahren einen Ar­beitsplatz einnimmt, der heute einen UniversitätsabschluB erforderlich machen würde. Diese Gruppe der Unterqualifizierten wird als äuBerst klein eingeschätzt (vgl. Szydlik 1997, S. 16). Vor allem betriebsinterne Weiterbildung und auch das externe Nachholen von Qualifikationsabschlüssen können dazu beitragen, daB die nach der zweiten Schwelle eingetretene Unterqualifizierung nicht zu einer Verdrängung dieses Perso­nenkreises aus seinen Beschäftigungen führt.

Ein kurzer Blick auf den Übergang von Hochschulabgängern, insbesondere von Magistern, zeigt, daB sich der Status von Magistern nur sehr langsam auf ein angemes­senes Beschäftigungsniveau beim Übergang von Ausbildung in den Beruf zubewegt (vgl. BMBF 1995). Relativ viele Magister, besonders in sprachwissenschaftlichen Hauptfächern, beginnen ihr Berufsleben in qualifikationsniveauinadäquaten Tätigkeits­bereichen. Andererseits läBt sich sagen, daB immerhin zwei Drittel der Magister nach vier bis fünf Jahren eine fach- und qualifikationsniveauadäquate Beschäftigung gefun­den haben. Die Arbeitslosenquote liegt dann nur bei 8% nach dem Examen. Allerdings muB im Durchgang zu fach- und qualifikationsniveauadäquaten Beschäftigungen ein anfangs sehr niedriges Einkommensniveau, bedingt durch freiberufliche Tätigkeit, Voluntariate, unterqualifizierte Jobs, Teilzeitarbeit etc. in Kauf genommen werden. Das Hauptproblem von Hochschulabgängern, insbesondere Magistern, bei der zweiten Schwelle ist es, daB sie häufig mit der Forderung konfrontiert sind, berufliche Erfah­rung nachzuweisen, bevor sie eine Anstellung erhalten. Aber gerade für diese Gruppe hat Weiterbildung, insbesondere der Erwerb von Zusatzqualifikationen wie Sprachen oder besondere EDV-Kenntnisse groBe Bedeutung für den erfolgreichen Übergang in das Beschäftigungssystem. Viele Magister fühlen sich unmittelbar nach der Berufsein­mündung geistig und fachlich unterfordert, konkret sagt ein Drittel, daB insbesondere die erste Stelle den eigenen Fähigkeiten in keiner Weise entsprochen hat. Dennoch ist nach mehreren Jahren des Übergangs eine weitverbreitete Überqualifizierung in bezug auf aktuelle Tätigkeiten nicht zu konstatieren, denn lediglich 12% der untersuchten Magister im Magisterabsolventenreport des BMBF (1995) äuBern sich in dieser Hin­sicht kritisch über ihre aktuelle Tätigkeit. Typisch für die Einmündung von Magistern

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in das Beschäftigungssystem ist daher eine anfángliche Überqualifizierung und eine spätere qualifikationsniveauadäquate Tätigkeit in einem anderen als dem erlernten Fachbereich. Viele Magister äuBern sich positiv über das fachübergreifende Denken, über breites Grundlagenwissen, über Kooperationsfáhigkeit, Kommunikationsfáhig­keit, Allgemeinbildung, Organisationsfáhigkeit, Fähigkeit zu konzentrierten und diszi­plinierten Arbeiten und Fremdsprachenkenntnissen, die sie aus ihrer Ausbildung für ih­re Tätigkeit mitbringen. Dagegen wird spezielles fachliches Wissen nur am Ende einer Forderungsskala von Magisterabsolventen erwähnt. Dies kann als Hinweis darauf in­terpretiert werden, daB spezifische Fachqualifikationen beruflichen Weiterbildungs­maBnahmen vorbehalten sind. Auch die arbeitsmarktlich als schwierig einzuschätzende Gruppe der Magisterkandidaten, deren frühere Karriereforderungen häufig frustriert werden, darf allerdings nicht vorschnell als primär arbeitslos stigmatisiert werden. Ein Vergleich mit anders qualifizierten Arbeitsnehmergruppen zeigt, daB in unserem der­zeitigen System diejenigen mit der geringsten beruflichen und schulischen Ausbildung auch die gröBten Risiken beim Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem haben (vgl. Tessaring 1997).

Der Blick in die amtlichen Statistiken über den Bestand an Teilnehmern in MaB­nahmen zur beruflichen Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung (ANBA 1997) be­stätigt, daB im Westen überproportional Personen ohne abgeschlossene Berufsausbil­dung und mit HauptschulabschluB auf staatliche FördermaBnahmen angewiesen sind. Im Osten werden Personen mit betrieblicher Ausbildung und mit mittleren Bildungsab­schlüssen besonders stark von Fortbildungs- und UmschulungsmaBnahmen erreicht. Dies kann als eine Folge des technischen und arbeitstrukturellen Wandels in Ost­deutschland interpretiert werden, ein Wandel, der alle Alters- und Bildungsgruppen er­faBt hat. Weit über 90% der Teilnehmer/-innen dieser MaBnahmen waren in Ost- und Westdeutschland vorher arbeitslos, wobei im Osten die Dauer der Arbeitslosigkeit vor Eintritt meist länger war (über die Hälfte der fn Fortbildung oder Umschulung befind­lichen Personen im Osten war vor Eintritt in die MaBnahmen mehr als 6 Monate ar­beitslos).

Für Deutschland insgesamt ist festzuhalten, daB in Folge der Bildungsexpansion - die zur schulischen und ausbildungsbezogenen Integration von Jugendlichen und jungen Er­wachsenen beiträgt - es nicht die jüngsten Altersgruppen sondern vor allem die Alters­gruppen zwischen 25 und 40 Jahren sind, die berufliche Fortbildung und Urnschulung in Anspruch nehmen. Die meist längeren und kostenintensiveren Umschulungen werden aber tendenziell stärker von den Jüngeren dieser Altersgruppe absolviert.

3. Berufliche Integration und Möglichkeiten des Weiterbildungssystems

In der beruflichen Erstausbildung gilt heute im allgemeinen der berechtigte Grundsatz "Ausbildung steht vor Übernahme" und noch gilt im Hochschulwesen "Studium steht vor Beschäftigungsgarantie". Allerdings muB auch für diejenigen ein Weg gesucht werden, die nach AbschluB der Ausbildung oder ihres Studiums nicht unmittelbar in das Beschäftigungssystem einmünden bzw. von ihrem Ausbildungsbetrieb übernom­men werden können.

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In der beruflichen Erstausbildung hat die Tatsache, daB struktur- und rezessionsbe­dingter Personalabbau in den vergangenen Jahren dazu führte, daB nicht mehr genü­gend Arbeitsplätze für die unbefristete Übemahme von allen Ausgebildeten zur Verfü­gung stehen, dazu geführt, daB kreative Übernahmekonzepte diskutiert und realisiert wurden. Es gibt beispielweise Ausgebildeten-Pools für Absolventinnen und Absol­venten (Bayer AG), die unterschiedlich befristete Arbeitseinsätze garantieren und die eine Tätigkeit im erlernten Beruf möglich machen. In vielen Branchen werden befri­stete Arbeitsverträge, die eine 24monatige oder 12monatige Übernahme garantieren, tarifvertraglich vereinbart. In mehreren Branchen existieren auch kürzere Übernahme­verpflichtungen. Die Übernahme in Teilzeitarbeitsverhältnisse auch mit zum Teil schrittweisem Einstieg in Vollbeschäftigung und die Verpflichtung auf konkrete Ver­mittlung durch Arbeitgeberverbände, wenn keine vollständige Übernahme der Auszu­bilden den gelingt, sind Wege, die Übernahme junger Menschen ins Erwerbsleben zu­mindest zu erleichtern. Ohne Zweifel ist es notwendig, weitere Konzepte und Modelle zur Erleichterung des Übergangs zu diskutieren, in denen insbesondere Weiterbildung eine gröBere Rolle spielt. Dabei ist es nicht sinnvoll, Weiterbildung als alleinige Kor­rekturinstanz für Arbeitsmarktentwicklungen zu betrachten. Vereinbarungen, in denen Teilzeitarbeit in Kombination mit Weiterqualifizierung angeboten werden (Volkswa­gen, Siemens, Opel) erscheinen erfolgsversprechender. Grundsätzlich spielt Weiterbil­dung zur Bewältigung des Übergangs heute noch eine relativ geringe Rolle, so daB da­von ausgegangen werden kann, daB die Möglichkeiten noch nicht in vollem Umfang genutzt werden. Selbst in Gruppen, von denen erwartet würde, daB sie in hohem MaBe Aus- und Weiterbildung unmittelbar an ihre Berufsausbildung anschlieBen, beispiels­wei se arbeitslose Fachkräfte in den neuen Ländern, werden ,nur' ca. ein Sechstel un­mittelbar nach AbschluB der Berufsausbildung von weiteren Aus- und Weiterbil­dungsmaBnahmen erreicht (Berufsbildungsbericht 1997, S. 112).

Vor dem Hintergrund berufsbiographischer Forschungen ist es plausibel, davon auszugehen, daB im beruflichen Bereich von einer starken Dynamik und einer hohen Flexibilität des einzelnen ausgegangen werden muB. Die Vorstellung von nahtlosen Übergängen oder auch von lebenslanger Zugehörigkeit zu Berufsgruppen, zu Arbeits­plätzen oder Betrieben kann nicht mehr unbefragt geiten. Technischer und arbeitsorga­nisatorischer Wandel auf der einen Seite, hohe soziale, berufliche und regionale Mobi­lität auf der anderen Seite sind Faktoren, die zunehmend ein lebenslanges bzw. lebens­begleitendes Lemen erforderlich rnachen (vgl. Sauter 1997). In der heutigen Situation ist es notwendig, Ausbildung und Weiterbildung stärker aufeinander zu beziehen und diese miteinander zu verknüpfen. Das Instrument beispielsweise der Zusatzqualifika­tionen, die sowohl während als auch direkt nach der Erstausbildung erworben werden können, verdeutlicht Möglichkeiten eines solchen Bezugs. In den neuen Konzepten der lebensbegleitenden Weiterbildung kommt der Erstausbildung vor allem eine Sockel­funktion für die qualifizierte Berufseinmündung zu. Dies hätte allerdings zur Voraus­setzung, daB sich Bildungszeiten nicht mehr in erster Linie auf die Erstausbildung und einen möglichst raschen AusbildungsabschluB konzentrieren, sondern daB sie weiter­bildungsorientiert und damit grundsätzlich auf die gesamte aktive Berufs- und Arbeits­biographie zu beziehen sind. Eine wichtige Voraussetzung für die Flexibilisierung le­bensbegleitender und lebenslanger Qualifizierung ist es, das Weiterbildungsangebot weitgehend zu modularisieren. Überschaubare und zertifizierte Weiterbildungsmodule

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Der schwierige Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem 77

können sowohl denjenigen, die in das Beschäftigungssystem eingemündet sind als auch denjenigen, die Phasen der Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen müssen, neue Chan­cen der beruflichen Integration aber auch des Aufstiegs sichem.

Ein Problem geringer Teilnahme an Weiterbildung auch im sensiblen ProzeB des Übergangs vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem liegt in der nach wie vor unzu­reichenden Transparenz hinsichtlich der Angebote, der Finanzierungsmöglichkeiten, der Kosten von MaBnahmen, der Qualitätskriterien und der Zugangsformen etc. von Weiterbildung (vgl. Eckert, Schiersmann & Tippelt 1997). Daher gilt es die Weiterbil­dungsberatung und die Weiterbildungsinformation erheblich zu verbessem und zu ver­dichten.

Die Analysen zu den Teilnahmequoten in der beruflichen Weiterbildung zeigen ei­nerseits eine deutliche Expansion, andererseits auch eine hochgradige Selektion von Teilnehmem. So nehmen an Weiterbildung auch im Kontext von Übergangsprozessen vor allen Dingen Hochqualifizierte teil, während Personengruppen rnit bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Risiken kaum partizipieren (vgl. Kuwan 1996, S. 28f.). Die Partizipation an der Weiterbildung, auch im Kontext der beruflichen Integration, ist auch sehr unterschiedlich zwischen den Stammbelegschaften von Betrieben und den gering qualifizierten Randbelegschaften. Jenen Gruppen, denen der Übergang in das Beschäftigungssystem gelingt, und die übemommen werden, haben künftig auch die Möglichkeit, an Prozessen betrieblicher Personalentwicklung und an der betrieblich organisierten Weiterbildung teilzunehmen. Die anderen Gruppen sind auf die vom Ar­beitsamt und vom Staat geförderten IntegrationsmaBnahmen verwiesen (vgl. Tippelt 1993).

Als zunehmendes Problem hat sich in der Vergangenheit die fehlende Akzeptanz von Qualitätsstandards und Qualitätskontrollen erwiesen. Während in diesem Zusam­menhang die Gewerkschaften eine höhere staatliche Verantwortung und Regulierung z.B. über das Berufsbildungsgesetz fordem, verweisen die Arbeitgeber auf das Markt­prinzip als einen notwendigen Regulationsmechanismus. Ein privatwirtschaft1ich orga­nisiertes Zertifizierungssystem gemäB den intemationalen ISO-Normen wurde parallel zum Berufsbildungsgesetz formuliert und solI eine gewisse Standardisierung, Regu1ie­rung und Zertifizierung von MaBnahmen und Trägem garantieren.

Angesichts vielfáltiger Interessen und Egoismen von Weiterbildungsträgem kommt der Entwicklung regional abgestimmter Konzepte besondere Bedeutung zu. Unabhängig von der Diskussion urn Markt und öffentlicher Verantwortung in der Weiterbildung ist es Konsens, daB die Weiterbildungsangebote im Kontext der Berufs­und Arbeitsförderung deutlicher identifiziert werden und mit dem erkennbarem Bedarf und den regionalen Entwicklungspolitiken in Zusammenhang gebracht werden müs­sen, daB zur Vermeidung überflüssiger Doppe1ungen auch gemeinsame Angebote und eine arbeitsteilige Plimung von Weiterbildung im Bereich der beruflichen Weiterqua1i­fizierung insbesondere auch im Kontext beruflicher Integration geleistet werden muB, daB Initiativprojekte auch auf die europäischen überregiona1en Fördermittel angewie­sen sind und entsprechende regionale Antragsstellungen koordiniert und iniitiert wer­den sollten, daB insbesondere auch durch die Verstärkung von regionalen Support­strukturen in der Weiterbildung die Beratung potentieller und tatsäch1icher Teilnehmerl -innen verstärkt werden kann (vgl. Tippelt, Eckert & Barz 1996). Wir wissen, daB sich der Übergang von Ausbildung in Beschäftigung regiona1 nach Betriebs- und Bran-

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chenstruktur, ökonomischen und arbeitsmarktbezogenen Entwicklungen erheblich un­terscheidet. Der regionalen Gestaltung von Weiterbildung und regionalen Innovationen beispielsweise durch "Netzwerke" als Ansatz regionaler Qualifizierungspolitik, durch Kooperation regionaler Akteure oder durch lokale Qualifizierungszentren muB daher ein hohe Bedeutung zuerkannt werden (vgl. Dobischat & Husemann 1997), wenn die Möglichkeiten der Weiterbildung zur Verbesserung des Übergangs vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem künftig mehr genutzt werden sollen.

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Kapitel2: Lehren und Lemen in der Aus- und Weiterbildung

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Lemmöglichkeiten an kaufmännischen Arbeitsplätzen -Ansätze empirischer Forschung

Frank Achtenhagen und Martina Noft

1 Zusammenfassung

Für die betriebliche Aus- und Weiterbildung gewinnt die Frage nach den Lemmög­lichkeiten am Arbeitsplatz eine zunehmende Bedeutung. Dabei wird nachdrücklich ge­fordert, daB die Anstrengungen in der Berufsbildung auf selbstgesteuertes Lemen hin auszurichten seien. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt "Förderungsmöglichkeiten selbstgesteuerten Lemens am Arbeitsplatz - Untersuchun­gen zur Ausbildung von Bank- bzw. Sparkassenkaufleuten" (Ac35/14-1) geht von der Hypothese aus, daB betriebliche Arbeitssituationen am Arbeitsplatz nicht per se selbst­gesteuertes Lemen fördem. So sind Ausbildungsverantwortliche in Untemehmen da­von überzeugt, daB vorhandene Möglichkeiten einer Entwicklung selbstgesteuerten Lemens an kaufmännischen Arbeitsplätzen nur ansatzweise ausgeschöpft werden. Aus diesen Gründen prüfen wir, inwieweit im Rahmen der Arbeits- und Lemsituationen an kaufmännischen Arbeitsplätzen spezifische Lem- und Entwicklungschancen für die Auszubildenden gegeben sind und unterstützt werden können. Im Rahmen dieses Bei­trages werden Instrumente vorgestellt, mit deren Hilfe sowohl subjektive Theorien von Ausbildem und Auszubildenden als auch tatsächlich durchgeführte Arbeitsaufgaben an Arbeitsplätzen eines Kreditinstituts erfaBt werden sollen.

2 Stand der Forschung

In ihrer Denkschrift hat die Senatskommission für Berufsbildungsforschung der Deut­schen Forschungsgemeinschaft die Erforschung von Lemprozessen an Arbeitsplätzen gefordert. Der Einsatz der neuen Informations- und Kommunikationstechniken habe zwar dazu geführt, daB berufliches Lemen, das früher überwiegend im Vollzug beruf­lich organisierter Arbeit erfolgte, verstärkt durch organisierte Lehr-Lemprozesse in der Schule und schulähnlichen Einrichtungen vermittelt werde; dennoch sei das Lemen im Zuge der beruflichen Arbeit nicht zu ersetzen, und die motivierenden, orientierenden und korrigierenden Funktionen des Lemens in der beruflichen Arbeit sollten "in der Forschung an zentraier Stelle" berücksichtigt werden (Deutsche Forschungsgemein­schaft 1990, S. 79f.). Femer wird die Notwendigkeit der Entwicklung von Persönlich­keitsmerkmalen wie Selbstbestimmung, Mündigkeit und Autonomie betont. Diese be­rufsrelevanten Fähigkeiten und Orientierungen gelte es dabei relativ selbständig zu er­werben, da anders subjektive Voraussetzungen relativ autonomen Arbeitens kaum aus­gebildet werden könnten (Deutsche Forschungsgemeinschaft 1990, S. 62ff.).

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84 Frank Achtenhagen und Martina Noft

Vor dem Hintergrund veränderter Anforderungen in vielen kaufmännischen Berei­chen (vgl. Baethge & Oberbeck 1986; Buttler 1992) und der Überzeugung, Kosten der Aus- und Weiterbildung senken zu können (von Bardeleben, Beicht & Feher 1994), wird jetzt durchgängig betont, daB die Anstrengungen in der Berufsbildung, sei es un­ter dem Etikett der Schlüsselqualifikationen oder dem des handlungsorientierten Unter­richts (vgl. die Zusarnmenstellung bei Dörig 1994, 1996), auf selbstgesteuertes Lemen hin auszurichten seien. So fordem neue Ausbildungsordnungen für die Betriebe sowie die sich darauf beziehenden neuen Rahmenlehrpläne sowohl den Erwerb wichtiger Ar­beitstechniken als auch die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lemen (z.B. Ministerium für Bildung und Kultur 1993; Senator für Bildung und Wissenschaft 1993), das zu­gleich auch als eine entscheidende Voraussetzung für ein erfolgreiches lebenslanges Lemen geIten kann (vgl. Achtenhagen & Lempert 1999).

Der Begriff des "selbstgesteuerten Lemens" ist allerdings weder präzise wissen­schaftlich definiert, noch wird er in der Alltagssprache einheitlich gebraucht (vgl. Wei­nert 1982, S. 99; Kraft 1997). Weitgehende Einigkeit bestehtjedoch darin, daB Selbst­steuerung nicht mit einem Fehlen von Fremdsteuerung gleichgesetzt werden darf (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1997). Selbstgesteuertes Lemen kann durchaus auch innerhalb von Institutionen stattfinden (Weinert 1982). Hofer & Niegemann (1990, S. 261) "betrachten Lemen in dem AusmaB als selbstgesteuert, in dem der Lemer Hand­lungsspielräume zur Verfügung hat und diese nutzt". Die Effizienz selbstgesteuerten Lemens sei - zumindest in der Anfangsphase - eine Funktion von mindestens fünf Komponenten der Lemsituation: die zur freien Wahl gestellten Lemvariablen (Dimen­sionen, für die eine Entscheidung freigestellt ist); die darin enthaltenen Optionen; die ProzeBelemente des Lemens, für die die Optionen Relevanz besitzen; die Fähigkeiten des Lemers, damit effektiv umzugehen, sowie Hilfen, die er in Anspruch nehmen kann (Hofer & Niegemann 1990, S. 268). Ob und in welchem MaBe selbstgesteuertes Ler­nen tatsächlich stattfindet, wird also durch eine komplexe Interaktion zwischen Ler­nenden und Lemumwelt bestimmt (Beitinger & Mandl 1992). Dabei ist die hohe Be­deutung der subjektiven Bewertung der Lemsituation durch den Lemenden für das selbstgesteuerte Lemen hervorzuheben (vgl. z.B. DeCharms 1968; Deci & Ryan 1993). Es kommt entscheidend darauf an, in welchem MaBe die Lemenden sich sub­jektiv als Verursacher der eigenen Aktivitäten und deren Ergebnissen wahmehmen. Empirische Befunde unterstreichen, daB die subjektive Einschätzung des jeweiligen AusmaBes an Selbststeuerung für die Qualität der Lemmotivation und damit auch für die Lemeffektivität bei zukünftigen Handlungen von groBer Bedeutung ist, wobei es als unwahrscheinlich angesehen wird, daB sich ein Lemender permanent über den Grad der Selbststeuerung täuschen kann (Weinert 1982, S. 102f.). Die Fähigkeit, selbstgesteuert zu lemen, setzt femer voraus, daB Lemende über gut organisierte Wis­sensbestände verfügen. Motiviertes selbstgesteuertes Lemen impliziert zudem, daB Lemende über das notwendige Interesse und die Bereitschaft zur Zielerreichung verfü­gen (vgl. Nenniger, Straka, Spevacek & Wosnitza 1995; Straka, Nenniger, Spevacek & Wosnitza 1996). Im Zusammenhang mit der Bedeutung des selbstgesteuerten Lemens wird auch betont, daB zu dessen Förderung betriebliche Arbeitsplätze besonders geeig­net seien (Dohmen 1996).

Wir sehen die Möglichkeiten für die Entwicklung eines selbstgesteuerten Lemens am Arbeitsplatz im wesentlichen in Abhängigkeit von den "objektiven" Arbeitsbedin-

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Lernmöglichkeiten an kaufmännischen Arbeitsplätzen 85

gungen sowie den subjektiven Wahrnehmungen des jeweiligen Auszubildenden und Ausbilders·. Entspreehend konzentrieren wir uns in diesem Beitrag auf

a. Forschungen zum Lemen am Arbeitsplatz sowie b. Forschungen zu subjektiven Theorien und Wahrnehmungen von Ausbildern und

Auszubildenden.

ad (a): Forsehungen zum Lemen am Arbeitsplatz

In den letzten Jahren beschäftigten sich verschiedene Untersuchungen und theoretische Ansätze mit der Frage, we1chen Restriktionen betriebliche Arbeitssituationen im Hin­blick auf das Lemen, Denken und Handeln von Arbeitnehmern und Auszubildenden unterlägen (z.B. Oesterreich & Volpert 1987; Volpert 1989; Ulich 1992; Hacker & SkellI993). Die Ergebnisse der Göttinger Dissertation von Keek (1995, S. 380ff.; vgl. auch Keck, Weymar & Diepold 1997; Keek 1999), der über eine empirische Studie ei­ne Beschreibung und Analyse von Arbeitssituationen an kaufmännischen Arbeits­plätzen im Hinblick auf ihre Lernrelevanz für angehende Industriekaufleute vornahm, unterstreichen die groBe Bedeutung der Handlungen der Ausbilder für die Lernmög­lichkeiten am kaufmännischen Arbeitsplatz; denn über die Zuweisung von Arbeitsauf­gaben durch die Ausbilder werden die inhaltlichen Erfahrungsmöglichkeiten, das for­male Anforderungsniveau sowie die Chancen einer fachbezogenen, sozial-kommunika­tiven Auseinandersetzung der Auszubildenden mit Mitarbeitern des Unternehmens bzw. Externen determiniert. Als zentrales Ergebnis dieser Studie (S. 225f.) ist zudem festzuhalten, daB in dem untersuchten Betrieb die Auszubildenden nur zu etwa einem Drittel der Ausbildungszeit mit anspruchsvollen kaufmännischen Sachbearbeitertätig­keiten beschäftigt waren und sich im Schnitt in der betrieblichen Ausbildung eher un­terfordert fühlten, was eine Förderung des selbstgesteuerten Lernens nicht unterstützt. Die Studie macht deutlich, daB in der Praxis der betrieblichen Ausbildung das Lern­potential der kaufmännischen Arbeitsplätze in der Industriekaufleuteausbildung nicht ausgeschöpft wird (Keek 1995, S. 225ff. und S. 394) und die Lernmöglichkeiten am Arbeitsplatz für den einzelnen Auszubildenden mit erheblichen Unsicherheiten behaf­tet sind (S. 382).

Im Rahmen unseres Projekts versuchen wir, Kecks Ergebnisse anhand der Ausbil­dung von Bankkaufleuten zu überprüfen. Dabei wird allerdings stärker als bei Keek das Problem einer Förderung von selbstgesteuertem Lemen am Arbeitsplatz in den Mittelpunkt gerückt. Für ein so1ches Vorgehen spricht auch, daB Ausbildungsverant­wortliche in dem untersuchten Kreditinstitut selbst davon überzeugt sind, der arbeits­platzbezogene Teil der betrieblichen Ausbildung werde mit seinen Möglichkeiten noch nicht optimal genutzt. Das gilt auch für andere Kreditinstitute. So begegnen z.B. diver­se Sparkassen und Genossenschaftsbanken der Notwendigkeit, selbstgesteuertes Ler­nen zu fördern (vgl. die Ergebnisse des Bundesinstituts für Berufsbildung, Stiller 1992, S. 266ff., 298ff.), mit unterschiedlichen Ansätzen (innerbetrieblicher Unterricht: Ei­gelshoven & Reinartz 1993; Perczynski 1992; Präsenzstudien: Deutsche Sparkas-

Der hier angesprochene Ausbildertyp ist im wesentlichen Sachbearbeiter und übernimmt mit zumeist geringen zeitlichen Anteilen die Ausbildung von kaufmännischen Auszubildenden.

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senzeitung 1992; Ausbildung am Arbeitsplatz: Brater & Maurus 1992). Diverse Spar­kassen versuchen femer durch den Einsatz von Femstudienangeboten der Deutschen Sparkassenakademie (vgl. Koch & Walter 1994), die Fähigkeit, selbstgesteuert zu ler­nen, bei ihren Auszubildenden zu verbessem und somit die Effizienz ihrer Ausbildung zu erhöhen. Es ist jedoch festzuhalten, daB die für notwendig erachteten zusätzlichen AusbildungsmaBnahmen auBerhalb reaier Arbeitssituationen stattfinden. Da bisher keine empirischen Untersuchungen vorliegen, bleibt fraglich, ob die angestrebten Ziele über die jeweiligen MaBnahmen auch tatsächlich erreicht werden.

Als Zwischenfazit ist festzustellen, daB die Notwendigkeit der zu vermittelnden Fähigkeit, selbstgesteuert bzw. selbständig zu lemen, im Rahmen der Ausbildung von Bankkaufleuten bzw. Sparkassenkaufleuten2 nicht in Frage gestellt wird. Jedoch gibt es derzeit noch keinen überzeugenden, empirisch abgesicherten Ansatz zur Umsetzung dieser Forderung. Die Möglichkeit, selbstgesteuertes Lemen an kaufmännischen Ar­beitsplätzen zu fördem, wird in den Ausbildungskonzepten kaum berücksichtigt. So ist uns nur ei ne empirische Untersuchung bekannt (Brater, Hemkes & Bauer 1990), die sich explizit mit dem Mikrobereich der Ausbildung an kaufmännischen Arbeitsplätzen bzw. den Lemprozessen und Lemmöglichkeiten am Lemort "Arbeitsplatz" im Ban­kenbereich auseinandersetzt.

Nun ist dies kein spezifisches Problem der Bankausbildung. Auch für die Berufs­bildungsforschung in anderen Wirtschaftszweigen stand lange Zeit mehr die Frage nach der Funktionalität des Lemorts "Betrieb" im Mittelpunkt, und das Problem der spezifischen Lemprozesse und Lemmöglichkeiten im Rahmen der betrieblichen Be­rufsausbildung wurde weitgehend ausgeklammert (vgl. Deutsche Forschungsgemein­schaft 1990, S. 60ff.). In vielen uns bekannten Untersuchungen (zur Ausbildung von Bankkaufleuten: Brater, Hemkes & Bauer 1990; zur Ausbildung von Industriekauf­leuten: z.B. Mayer, Schumm, Flaake, Gerberding & Reuling 1981; Bunk 1981; Grieger 1985; Kloas & Neumann 1991; Meier 1991; zur Ausbildung in kaufmännischen und gewerblich-technischen Berufen: z.B. Damm-Rüger, Degen & Grünewald 1988; zur Ausbildung im gewerblich-technischen Bereich: z.B. Franke & Kleinschmitt 1987) -sieht man einmal von der Arbeit von Keck (1995) ab - wird den konkreten Lempro­zessen der Auszubildenden in den jeweiligen Fachabteilungen bzw. am Arbeitsplatz kaum oder keine Aufmerksamkeit ge schenkt. Fragen nach den Möglichkeiten und Be­dingungen einer Persönlichkeitsentwicklung durch die betriebliche Ausbildung im kaufmännischen Bereich bleiben in den Untersuchungen zumeist unberücksichtigt (vgl. hierzu auch Zielke & Popp 1997). Hinzu kommt, daB Besonderheiten betriebli­cher Lemumwelten und vor allem die wechselseitigen Interaktions- und Wahmeh­mungsmuster von Auszubildenden und betrieblichen Ausbildem so gut wie nicht ein­bezogen werden. Auch werden die komplexen Rahmenbedingungen betrieblich­kaufmännischer Berufsbildung nicht hinreichend berücksichtigt. Zudem fehlt den bis­herig en empirischen Untersuchungen zur Qualität der betrieblichen Ausbildung zu­meist eine theoretisch fundierte Modellierung von Lemsituationen an betrieblichen Ar­beitsplätzen, die insbesondere inhaltlich-curricularen, didaktisch-methodischen und lemtheoretischen Fragen hinreichend Rechnung trägt.

2 Mit Ausbildungsbeginn 1. August 1997 gibt es nur noch eine Ausbildung zumlzur Bankkaufmann/­kauffrau. Unsere Klientele wird sich zum Untersuchungsbeginn im 2. Ausbildungsjahr für Sparkas­senkaufleute befinden. Wir sprechen im folgenden nur noch von Bankkaufleuten.

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Eine Reihe bisher durchgeführter Modellversuche im kaufmännischen Bereich (vgl. Dehnbostel, Holz & Novak 1992; z.B. zur Qualifizierung von haupt- und neben­amtlichen Ausbildern: Herz, Bauer & Vossen 1992; zur Ausbildung am Arbeitsplatz: Brater & Büchele 1991; zum Lernpotential von kaufmännischen Arbeitssituationen: Modellversuch WOK! 1991) könnte zwar prinzipiell ein kreatives Potential für Ge­staltungsalternativen in der Ausbildung am Arbeitsplatz bilden; die Erfolgswirksamkeit und Übertragbarkeit dieser Ansätze bleiben jedoch aufgrund ihrer kaum nachvollzieh­baren empirischen Ergebnisse fraglich.

Vor dem Hintergrund der dargestellten Forschungslage halten wir den Stand der Berufsbildungsforschung im Bereich der betrieblichen Ausbildung gegenwärtig in mehrfacher Hinsicht für defizitär. Ausgehend von den Ergebniskonstellationen bei Keck (1995) werden daher in unserem Projekt in einem ersten Zugriff auf der Mikro­ebene vorhandene Möglichkeiten selbstgesteuerten Lernens am kaufmännischen Ar­beitsplatz im Bankenbereich identifiziert und evaluiert.

Vorliegende empirische Ergebnisse zu den Lernchancen und der Qualität der Lernprozesse von Auszubildenden an kaufmännischen Arbeitsplätzen deuten darauf hin, daB diese wesentlich durch die Wahrnehmungsmuster der Auszubildenden und Ausbilder beeinfluBt werden. Daher wird in unserer explorativen Feldstudie über die empirische Erfassung und Rekonstruktion subjektiver Wahrnehmungsmuster von Aus­bildern und Auszubildenden eines Kreditinstituts versucht, Möglichkeiten der Förde­rung selbstgesteuerten Lernens am kaufmännischen Arbeitsplatz aus der Sicht der un­miuelbar Beteiligten präziser zu erfassen.

ad (b): Forsehungen zu subjektiven Theorien und Wahmehmungen von Ausbildem und Auszubildenden

Die vorliegenden empirischen Ergebnisse zu Wahrnehmungsmustern von Ausbildern hinsichtlich der Auszubildenden und der betrieblichen Umwelt (vgl. Leu & OUo 1981; Arnold 1983; Pätzold & Drees 1989; Keck 1995) deuten darauf hin, daB die Lern­chancen und die Qualität der Lernprozesse von Auszubildenden im wesentlichen von

den zeitlich-organisatorischen Rahmenbedingungen (vor allem Arbeitsanfall und Zeitdruck) der Ausbilder,

- dem Grad der Reflektiertheit des Ausbilderhandelns und - den subjektiven Wahrnehmungsmustern der Ausbilder hinsichtlich der Persönlich-

keitseigenschaften von Auszubildenden

abhängen dürften (vgl. Keck 1995, S. 179). Im Rahmen ihres Ausbilderhandelns scheinen sich Ausbilder bei der Gestaltung der

Ausbildung am Arbeitsplatz aufgrund der gegebenen betrieblichen Rahmenbedingungen und einer nicht hinreichenden pädagogischen Qualifikation eher an Kriterien einer "er­folgreichen Sachbearbeitung" und an betrieblichen Verhaltensstandards als an zielbezo­genen, pädagogisch-konzeptionellen Kriterien zu orientieren (vgl. Keek 1995, S. 178f. und S. 380ff.). Selbst wenn der Auszubildende unzufrieden mit seiner Ausbildung in ei­ner bestimmten Abteilung ist, kann der Ausbilder dennoch seine Ausbildungsbemühun­gen als erfolgreich einschätzen, weil eine explizite Orientierung an Ausbildungszielen

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88 Frank Achtenhagen und Martina Naft

bzw. am betrieblichen Ausbildungsplan fehlt, Rückmeldungen von Auszubildenden eher vorsichtig erfolgen und so eine kritische Evaluation eigener Ausbildungsbemühungen kaum stattfindet. Auch wenn die Ausbilder spezielIe Vorstellungen über die Ziele ihrer Ausbildertätigkeit entwickelt haben, scheitert deren Realisierung oftmals an zeitlichen Rahmenbedingungen (Keek 1995, S. 382). Die Auswertungen der Ergebnisse von Keck (1995, S. 266f.) zeigen femer, daB die Ausbildertätigkeiten nicht auf die Erreichung mit­tel- und längerfristiger Ausbildungsziele hin abgestellt sind.

Trotz der hohen Bedeutung des dispositionellen Merkmals "Selbständigkeit" (vgl. im handwerklichen Bereich: Jungkunz & Bodinet 1989) liegt unseres Wissens bisher nur eine Studie vor, über welche subjektiven Theorien Ausbilder bezüglich der Selb­ständigkeit ihrer Auszubildenden verfügen (vgl. Hascher 1996). Es werden vor allem drei Hauptaspekte deutlich: Zum einen stellen die Ausbilder den Erwerb von Fach­kompetenzen in den Mittelpunkt der Ausbildung. Der Besitz dieser Kompetenzen ist nach ihrem Urteil auch entscheidend für die Selbständigkeit, die primär als eine Ar­beitsdurchführung ohne Fremdkontrolle beschrieben wird. Zweitens sind die Selbst­kompetenzen der Auszubildenden in den Augen der Ausbilder sehr wichtige Bedin­gungen für das selbständige Handeln. Auf die Entwicklung dieser Kompetenzen schei­nen sie jedoch im Ausbildungsalltag eher weniger Wert zu legen und diese auch kaum zu fördern. Drittens zeigt sich, daB die Ausbilder nur begrenzte Möglichkeiten sehen, die Auszubildenden selbständiger arbeiten zu lassen; in den Bereichen der Planung und KontrolIe der Arbeit wird dieses nahezu kaum in Erwägung gezogen. Unselbständiges Handeln ist nach Meinung der Ausbilder vor allem durch fehlendes Wissen und eine mangelnde Motivation der Auszubildenden begründet.

Die gegenwärtige Forschungslage stellt sich immer noch weitgehend defizitär dar. Vorliegende Untersuchungen beziehen sich zumeist auf das hauptamtlich tätige Ausbil­dungspersonal im gewerblich-teehnischen Bereich. Interaktionen zwischen betrieblichen Ausbildern und Auszubildenden sowie die bildungspolitischen und betrieblichen Rah­menbedingungen bleiben zumeist ausgeblendet. Erhebungen von subjektiven Theorien zum selbstgesteuerten Lemen bzw. dessen Förderungsmöglichkeiten im Rahmen von Lernprozessen am kaufmännischen Arbeitsplatz liegen unseres Wissens bisher nicht vor. Wir erheben daher - unter Rückgriff auf die bisher durchgeführten Studien zu subjekti­ven Theorien von Lehrern und Schülern (vgl. zusammenfassend Hofer 1986) sowie von Ausbildern - die subjektiven Theorien von Ausbildern und Auszubildenden, urn Anhalts­punkte für die Erklärung von deren Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern zu finden.

3 Eigene Vorarbeiten und erste Ergebnisse

Im Rahmen unserer Studie wird das Ziel verfolgt, Hypothesen zum Vorhandensein von Möglichkeiten der Förderung selbstgesteuerten Lernens im Rahmen der Ausbildung an kaufmännischen Arbeitsplätzen von angehenden Bankkaufleuten zu generieren und zu­gleich in einem ers ten Zugriff zu überprüfen.

Für das Projekt setzen wir daher folgende Ziele:

Mit Hilfe von standardisierten Interviews und durch Netzwerkdarstellungen sollen die subjektiven Wahrnehmungsmuster der Auszubildenden und der Ausbilder be-

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züglich selbstgesteuerten Lemens an den jeweiligen kaufmännischen Arbeitsplätzen erhoben und rekonstruiert werden. Durch den Einsatz eines von den Auszubildenden auszufüllenden Lem- und Ar­beitstagebuches sowie von standardisierten Interviews mit den Auszubildenden und Ausbildem soll eine differenzierte Erfassung und Beurteilung der Arbeitsaufgaben, mit denen sich die Auszubildenden während ihrer Arbeitstätigkeit auseinandersetzen, unter dem Gesichtspunkt der Förderung des selbstgesteuerten Lemens erfolgen. Die weehselseitigen individuellen Wahmehmungsmuster von Auszubildenden und Ausbildem dürften die Möglichkeiten des selbstgesteuerten Lemens an den kaufmän­nischen Arbeitsplätzen nicht unwesentlich beeinflussen. Daher wollen wir die sub­jektiven Theorien von Auszubildenden und Ausbildem im Hinblick auf die Möglich­keiten der Förderung selbstgesteuerten Lemens mittels standardisierter Fragebögen und Interviews erheben, um die Relevanz dieser Theorien für die Lemprozesse an den betrieblichen Arbeitsplätzen herauszuarbeiten.

Unsere explorative Feldstudie soll - ausgehend von einem interaktionistischen Lemver­ständnis, wonach Lemen in einem umfassenden Sinne als "persönliche Entwicklung in Interaktion mit gegenständlichen Umwelten und mit sozialen Milieus" (Lempert 1979, S. 88) bezeichnet wird - auf das "Lemhandeln" (Achtenhagen, Tramm, PreiB, Seemann­Weymar, John & Schunck 1992, S. 82f.; Tramm 1992, S. 101) von Auszubildenden aus­gerichtet sein. Dabei werden wir unsere empirischen Untersuchungen und Überlegungen insbesondere auf die Analyse des Zusammenhangs von (lemendem) Subjekt und Mikro­bzw. Mesosystem "Arbeitsplatz" konzentrieren (vgl. KeIl 1989): "Auf der Mikroebene werden die Fragen nach der Persönlichkeitsförderlichkeit von Arbeitssituationen aufge­griffen und ein handlungsorientiertes Lemverständnis entwickelt, das insbesondere dem Verhältnis von Arbeiten und Lemen, Denken und Handeln in komplexen betrieblichen Arbeitsumwelten hinreichend Rechnung trägt" (vgl. Keek 1995, S. 83).

In den uns bekannten Untersuchungen ist deutlich geworden, daB der (alleinige) Rückgriff auf standardisierte Erhebungsinstrumente kaum die Möglichkeit einer hin­reichenden Erfassung von betrieblichen Lemsituationen bietet; vielmehr ist ein mehr­perspektivischer Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand durch den Einsatz von un­terschiedlichen Verfahren der Arbeitsanalyse erforderlich. Die Untersuchung erfolgt insofem mehrdimensional, als wir versuchen, im Sinne einer "bedingungsbezogenen Arbeitsanalyse" eine möglichst "objektive" Beschreibung der den Auszubildenden übertragenen Arbeitsaufgaben vorzunehmen und diese im Sinne einer "personenbezo­genen Arbeitsanalyse" auf die subjektive Einschätzung und Wahmehmung von Ar­beitsaufgaben durch den Auszubildenden zu beziehen (vgl. zu diesem Ansatz einer "dualen Arbeitssituationsanalyse" Karg & Staehle 1982).

An der Untersuchung nehmen Auszubildende verschiedener Ausbildungsjahrgänge eines Kreditinstituts teil. Mit Ausbildungsaufgaben sind ca. 100 Ausbilder betraut, von denen etwa 65 die Ausbildereignungsprüfung abgelegt haben.

Das Projekt bezieht sich auf die Ausbildung an kaufmännischen Arbeitsplätzen in bestimmten Fachabteilungen (verschiedene Geschäftsstellen, Wertpapierabteilung, Auslandsabteilung sowie die Kreditabteilungen (Firmenkunden und Privatkunden)), wie sie durch die geitende Ausbildungsordnung für die Ausbildung von Bankkaufleu­ten/Sparkassenkaufleuten (Verordnung 1979 und 1998) vorgeschrieben wird.

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90 Frank Achtenhagen und Martina Noj3

Die Untersuchung gliedert sich in drei Phasen: Voruntersuchung (1. August 1997-31. Dezember 1997); Hauptuntersuchung (1. Januar 1998-31. Dezember 1998) und Aus­wertung (1. JanuarI999-31. Dezember 1999). In der ersten Phase, der Voruntersuchung, haben wir unsere Hypothesen zu Möglichkeiten der Förderung selbstgesteuerten Lemens an kaufmännischen Arbeitsplätzen präzisiert, unsere Erhebungsinstrumente weiterent­wiekelt und an die Ausbildung des untersuchten Kreditinstituts angepaBt. Auf dieser Grundlage werden in der zweiten Phase, der Hauptuntersuchung, die Instrumente einge­setzt. Die Hauptuntersuchung ist sowohl zeitraum- als auch als zeitpunktbezogen ange­legt. Innerhalb der Hauptuntersuchung wird der Versuch untemommen, die entsprechend präzisierten Hypothesen zur betrieblichen Ausbildung und zum Vorhandensein von Möglichkeiten selbstgesteuerten Lemens in einem ersten Zugriff zu überprüfen und damit Hinweise für eine gezielte Weiterentwicklung der betrieblichen Aus- und Weiterbil­dungspraxis im kaufmännischen Bereich zu erhalten.

Die subjektiven Theorien und Wahmehmungen wurden mit Hilfe von COMASO­TO (Concept Mapping Software TooI) erhoben. Dabei wurden 5 Ausbilder der Fach­abteilungen, in denen auch das Lem- und Arbeitstagebuch eingesetzt worden ist, sowie 16 Auszubildende des 3. Ausbildungsjahrs aufgefordert, Netze zu eher fördemden bzw. hinderlichen Bedingungen selbstgesteuerten Lemens bei der Ausbildung am Ar­beitsplatz direkt auf dem Computerbildschirm zu legen (vgl. Weber 1994; Weber & Schumann 1998).

Abbildung 1: Zusammenfassung von Ausbilderaussagen zu förderlichen Bedingungen für das selbstgesteuerte Lemen von Auszubildenden am Arbeitsplatz (N = 5; Summe der Propositionen (fördem, unterstützen o. ä.) = 36)

"elten ElanGsse Ausblldernetze 5,56 % (2)

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Lernmöglichkeiten an kaufmännischen Arbeitsplätzen 91

Abbildung 1 faBt die Propositionen (d.h. Konzept-Relation-Konzept-Verbindungen in der Forrn: z.B. Ausbilder am Arbeitsplatz fördert Motivation des Auszubildenden = Ausbilder/-verhalten ~ Persönlichkeitsmerkmale des Auszubildenden) für fünf Aus­bilder zusammen. Bemerkenswert ist, welch prozentual hohen Anteil an förderlichen MaBnahmen für die Auszubildenden die Ausbilder sich selbst bzw. der Lemumgebung am Arbeitsplatz zuschreiben. Demgegenüber schätzen die 16 Auszubildenden den för­derlichen EinfluB der Ausbilder bzw. der Lemumgebung am Arbeitsplatz auf ihre ei­genen Persönlichkeitsmerkmale als sehr viel geringer ein (Abbildung 2).

Abbildung 2: Zusammenfassung von Aussagen von Auszubildenden zu förderlichen Bedingungen für das selbstgesteuerte Lemen am Arbeitsplatz (n = 16; Summe der Propositionen (fördem, unterstützen o. ä.) = 104)

Leuumlebllll am ArbeiIJplalz

7.69 % (8)

A uszubildendeooetze

Das Lemen am Arbeitsplatz haben wir - in Anlehnung an Keck (1995, S. 186ff.) - mit Hilfe eines Lem- und Arbeitstagebuches erfaBt, das von 13 Auszubildenden des 3. Ausbildungsjahrs in den acht Fachabteilungen kontinuierlich geführt worden ist (vgl. Abbildung 3). Wie dieses die einzelnen Spaltenüberschriften zeigen, wird damit eine Abschätzung der qualitativ unterschiedlichen Arbeitsaufgaben möglich - was wieder­urn Rückschlüsse auf die Ausbildungsqualität erlaubt und dem Betrieb Hinweise auf mögliche und notwendige Interventionen gestattet. Insgesamt liegen uns 21 Lem- und Arbeitstagebücher über ca. 2500 Stunden der untersuchten Auszubildenden vor, was bei einer 38,5 Stunden-Woche etwa 65 Wochen reiner Lem- und Arbeitstätigkeiten entspricht.

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92 Frank Achtenhagen und Martina Noft

Abbildung 3: Lem- und Arbeitstagebuch (nach Keek 1995) Code: Abteilung: Datum:

objektive Beschreibung individuelier Umgang subjektive Einschätzung

Nr. Arbeits- Arbeits- Arbeits- notwendige Arbeits- Probleme bei Sachhilfe aufgabe schritte objekte Arbeits- mittel der Aufgaben- t: bei der

unterlagen durchführung Q)

Problem-t: 0

"" I!! lösung t: Q)

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0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Das Ziel der Erhebung rnit den Lem- und Arbeitstagebüchem ist eine möglichst lücken­lose Erfassung der von den Auszubildenden bearbeiteten Aufgaben unter Berücksichti­gung einer möglichst objektiven Beschreibung der Tätigkeiten, der Art der individuellen Bewä1tigung der Arbeitstätigkeiten durch die Auszubildenden sowie einer subjektiven Einschätzung der einzelnen Arbeitstätigkeiten durch die Auszubildenden bezüglich lem­relevanter Faktoren (Interesse, Neuartigkeit, Schwierigkeitsgrad und Lernmöglichkeiten).

Die Auswertung der Lern- und Arbeitstagebücher erfolgt durch die Klassifizierung der Arbeitstätigkeiten nach

dem formalen Anforderungsniveau: Dazu haben wir ein von Keek vorgeschlage­nes Klassifizierungssystem weiterentwickelt und modifiziert. Dieses berücksichtigt insbesondere die Komplexität, Vollständigkeit, Problemhaltigkeit sowie die Hand­lungsspielräume der Aufgaben (vgl. Keck 1995, Keek, Weymar & Diepold 1997); den mit der Bearbeitung verbundenen sozial-kommunikativen Anforderungen (z.B. Art der Kommunikation, Kommunikationsrnittel); den inhaltlichen Eifahrungsmöglichkeiten, die mit der Ausführung der jeweiligen Arbeitstätigkeiten verbunden sind (z.B. Lernziele des Ausbildungsrahmenplanes).

Ein weiterer Schritt bei der Auswertung der Lern- und Arbeitstagebücher ist die Ana­lyse der Arbeits- und Lerntätigkeiten unter didaktisch-methodischen Überlegungen, der Möglichkeiten eines Systematisierungs- und Reflexionsniveaus der Arbeitserfahrungen sowie der Zusammenhänge zwischen lernrelevanten Faktoren: dem formalen Anforde­rungsniveau, dem empfundenen Interesse, der Neuartigkeit, dem Schwierigkeitsgrad sowie den Lemmöglichkeiten.

Erste Ergebnisse deuten an (vgl. dazu auch die Ergebnisse von Keek 1995), daB

die Auszubildenden als schwierig und neuartig empfundene Arbeitsaufgaben als besonders lemrelevant erachten; das von den Auszubildenden empfundene Interesse an den Arbeitsaufgaben sowie der Schwierigkeitsgrad rnit steigendem Anforderungsgehalt zunimmt;

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Lernmöglichkeiten an kaufmännischen Arbeitsplätzen 93

die eher einfachen Arbeitsaufgaben den Auszubildenden hinsichtlich des Neuartig­keitsgrades überwiegend bereits bekannt sind, während anspruchsvollere Aufgaben eher seltener durchgeführt werden, die Lemchancen gemäB dem formalen Anforderungsniveau der bearbeiteten Auf­gaben, die sozial-kommunikativen Anforderungen bei der Bearbeitung der Arbeits­tätigkeiten sowie die mit der Bearbeitung verbundenen inhaltlichen Erfahrungs­möglichkeiten zwischen den und innerhalb der einzelnen Abteilungen zum Teil er­heblich variieren; bei der Zuteilung der Arbeitsaufgaben durch den Ausbilder zumeist keine gezielte Reihenfolge der Arbeitstätigkeiten bezüglich des Anforderungsniveaus oder der Neuartigkeit zu erkennen ist. Die Aufgaben scheinen primär nach dem aktuellen Arbeitsanfall in den Fachabteilungen ausgewählt zu werden. Ausbildungsgesprä­che werden zumeist nur sporadisch durchgeführt.

Neben dem Einsatz der Lem- und Arbeitstagebücher wurden weitere Erhebungen durchgeführt: bezüglich der EinfluBfaktoren auf das Ausbilderverhalten, zu der Wahr­nehmung der Ausbildungssituation durch die Ausbilder sowie zu den subjektiv wahr­genommenen Lembedingungen durch die Auszubildenden und Ausbilder. Erhebungs­verfahren waren dabei standardisierte Fragebögen und Interviews. An diesen Erhebun­gen haben die Ausbilder der 8 Fachabteilungen, in denen das Lem- und Arbeitstage­buch eingesetzt worden ist, sowie die Auszubildenden im 2. und 3. Ausbildungsjahr teilgenommen.

Die Ergebnisse der Befragung der Ausbilder zu den EinfluBfaktoren auf ihr Aus­bilderverhalten zeigen, daB bei der Übertragung von Arbeitsaufgaben vor allem die subjektiven Einschätzungen der Ausbilder bezüglich

der eigenen Arbeitssituation (z.B. dem wahrgenommenen Arbeitsanfall in der Ab­teilung oder Zeitdruck), der Persönlichkeit der Auszubildenden (z.B. Interesse, Initiative des Auszubilden­den), der wahrgenommenen Wichtigkeit der Inhalte in der alltäglichen Praxis sowie des erforderlichen Erklärungs- und Kontrollaufwands der jeweiligen Arbeitsaufga­ben

eine entscheidende Rolle spielen. Curriculare Vorgaben für die Ausbilder, wie z.B. die Lemziele des Ausbildungsrahmenplans bzw. des auf diesen bezugnehmenden Lem­zielkatalogs oder Antwortenkatalogs des Sparkassenverlages (Botterer, Freudenham­mer, Hartung, Huber, Ochs, Türk & WeiB 1997; Reiss, Hartung, Huber & Türk 1998), werden dagegen in der Regel vemachlässigt bzw. nicht beachtet. Die Ergebnisse ma­chen deutlich, daB die Erkenntnisse aus der Studie von Keck (1995) auch für die Un­tersuchung des Lempotentia1s am Arbeitsplatz für Bankkaufleute im wesentlichen zu­treffen.

Zieht man erste SchluBfolgerungen, so wird deutlich, daB die Ausbildung am Ar­beitsplatz kein "Selbstläufer" ist. Die Lemchancen sind zum Teil mit erheblichen Un­sicherheiten behaftet und hängen wesentlich ab von

den subjektiven Wahmehmungen und Vorstellungen der Ausbilder bezüglich der Ausbildung am Arbeitsplatz,

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94 Frank Achtenhagen und Martina Noft

von den Lemeinstellungen, Verhaltensweisen und dem Ausbildungsstand der Aus­zubildenden sowie von den jeweiligen Umgebungsbedingungen (z.B. Arbeitsanfall, Tagesgeschäft).

Daher kann nicht von dem betrieblichen Lempotential gesprochen werden. Innerhalb der und zwischen den Abteilungen gibt es je nach Auszubildendem oder Ausbilder zum Teil erhebliche Unterschiede. Vor dem Hintergrund der Merkmale des selbstge­steuerten Lemens ist zudem wichtig, daB das Lempotential des Lemorts Arbeitsplatz von den Auszubildenden in einem teilweise erheblichen MaBe nicht wahrgenommen wird. Sornit kann die SchluBfolgerung gezogen werden, daB die Lemmöglichkeiten am Arbeitsplatz insbesondere im Hinblick auf eine Förderung selbstgesteuerten Lemens nicht vollständig genutzt werden. Gleichzeitig ist bei unserer Untersuchung deutlich geworden, daB sich das Lempotential des Lemorts Arbeitsplatz weiterentwickeln läBt. Neben weiteren Analysen des vorliegenden Datenmaterials wollen wir daher unter Rückgriff auf unsere Ergebnisse Materialien und Serninare zur Unterstützung selbstge­steuerten Lemens am Arbeitsplatz für die Ausbilder und die Auszubildenden entwik­keln. - rnit dem Ziel, eine verbesserte Ausnutzung der Möglichkeiten selbstgesteuerten Lemens am Arbeitsplatz zu erreichen.

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Selbstorganisation des Lemens

RolfDubs

1 Ausgangslage

Leider sprechen im Alltag Leute aus der Managementlehre und der Pädagogik sowie Mitglieder von Untemehmensleitungen und ihre betrieblichen Ausbildnerinnen und Ausbildner viel zu wenig miteinander. Deshalb verstehen sie ihre gegenseitigen Anlie­gen oft nicht richtig, und es kommt zu vielen Missverständnissen, vor allem bei neuen Entwicklungen, die stark durch Schlagworte charakterisiert sind. Ein so1ches Schlag­wort, das in der Managementlehre und in der Pädagogik gegenwärtig überall zur De­batte steht, ist die Selbstorganisation des Lemens (Senge 1990), die heute häufig in den Zusammenhang mit dem Wissensmanagement (Probst & Büchel 1994; von Krogh & Roos 1996) gebracht wird. Und bereits erscheinen Zeitungsartikel (z.B. in der Schwei­zerischen Handelszeitung), we1che meinen, diese neuen Erscheinungen würden sich nicht durchsetzen, weil sie im grossen Weiterbildungsangebot nicht mehr nachgefragt werden. Tatsächlich ist zu vermuten, dass die Nachfrage nach Weiterbildung im selbstorganisierten Lemen und im Wissensmanagement bereits wieder rückläufig ist. Die Ursache dafür dürfte aber weniger in der Thematik an sich, sondem beim Unver­ständnis liegen, das bei diesen Begriffen verbreitet ist. Ziel dieses Beitrages ist es des­halb, klare begriffliche Voraussetzungen zu schaffen sowie die Verbindung zwischen Managementlehre und Pädagogik herzustellen.

2 Eine Übersicht als Grundlegung

Heute gilt es als selbstverständlich, dass eine Ausbildung am Ende der Grundausbildung (Berufsabschluss, Hochschulabschluss) nicht abgeschlossen ist, sondem der rasche Wan­del in der Gesellschaft und in der Wirtschaft ein lebenslanges Lemen notwendig macht. Ebensa unbestritten ist die Tatsache, daB lebenslanges Lemen nicht mehr nur in Lehrver­anstaltungen und Kursen stattfinden kann, sondem alle Menschen auch selbständig (selbstgesteuert ader selbstreguliert) lemen können müssen. Selbstreguliert lemen können ist aber nicht nur eine Frage der persönlichen Arbeits- und Lemdisziplin, sondem es be­darf auch einer Anleitung, wie man selbstreguliert lemt. Deshalb wird sich das lebenslan­ge Lemen nur verwirklichen lassen, wenn alle Schülerinnen und Schüler bereits in der Grundbildung lemen und erfahren, was selbstreguliertes Lemen ist. Daher kommt erstens auf die Grundbildung eine neue, herausfordemde Aufgabe zu.

Von dieser Entwicklung erwarten Untemehmungen für sich Entlastungen. Sie hof­fen, dass es in der Grundbildung gelingt, die jungen Leute zum lebenslangen Lemen zu

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motivieren und zu befähigen. Dann kann die betriebliche Aus- und Weiterbildung um­gestaltet werden, indem die Anzahl von Schulungs- und Ausbildungsveranstaltungen vermindert und mehr auf den Weg des selbständigen Lemens verwiesen wird. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Entweder überläBt man die Mitarbeitenden sich selbst und gibt ihnen bloB vor, was sie in der Freizeit für ihre Tätigkeit zu lemen haben, oder die Untemehmungen schaffen Selbstlemzentren, in denen das Lemmaterial bereitgestellt wird, das selbständig durchzuarbeiten ist. DaB sich dabei mit Medien vielfältige Mög­lichkeiten eröffnen, gilt heute bereits als selbstverständlich (vergleiche den Beitrag Reinmann-Rothmeier und Mandl in diesem Buch). Von dieser Umorientierung der be­trieblichen Ausbildung erhoffen sich die Untemehmungen auch maBgebliche Einspar­möglichkeiten, weshalb sich viele Geschäftsleitungen für diese zweite Entwicklungsli­nie des selbstgesteuerten Lemens interessieren. Für sie ist sie auch wenig problemge­laden, weil sie keiner paradigmatischen Veränderungen bedarf.

Eine dritte Entwicklungslinie ist indessen mit einem Paradigmawechsel verbunden, indem das selbstregulierte Lemen nicht mehr nur als ein Problem der Gestaltung des Leh­rens und Lemens gesehen wird, sondem das Lemen im Rahmen der ganzen Organisation als dauerhafter, selbstregulierter ProzeB in allen Arbeitsgruppen der Untemehmung ver­standen wird. Mit diesem ProzeB solI laufend neues Wissen konstruiert werden, das für alle Mitarbeitenden abrutbar ist (Wissensmanagement), und der Untemehmung gegen­über der Konkurrenz einen nachhaltigen Innovationsvorsprung bringt. Diese Selbstorga­nisation des Lemens (organisationales Lemen) läBt sich aber nur verwirklichen, wenn auch ein betriebswirtschaftlicher Paradigmawechsel mit einer gröBeren Autonomie für alle Arbeitsgruppen vollzogen wird, der in Untemehmungen maBgebliche Veränderun­gen gegenüber der herkörnrnlichen Untemehmensführung und -organisation voraussetzt.

3 Das selbstregulierte Lemen in der Grundbildung (erste Entwicklungslinie)

3.1 Eine Definitian und ein Madell zum selbstregulierten Lemen

Viele populäre Diskussionen leiden unter ungenauen Vorstellungen über die Merkmale des selbstregulierten Lemens. Oft wird es mit "autonomem Lemen" gleichgesetzt und als Gegensatz zu fremdbestimmtem Lemen verstanden. Gemeint ist damit die Abwe­senheit von Einflüssen einer Lehrperson, d.h. die Lemenden entscheiden selbst, was und auf welchem Weg sie etwas lemen wollen (Weinert machte schon 1982 auf diese Umschreibung aufmerksam). Diese Auffassung wird einerseits mit motivationalen Gründen gerechtfertigt, und andererseits wird behauptet, selbstreguliertes Lemen lasse sich nur bei groBer Autonomie der Lemenden entwickeln; Einwirkungen der Lehrkäfte störten die Gestaltung und Entwicklung eigenständiger Lem- und Denkprozesse. Die Radikalkonstruktivisten lehnen die se umfassende Autonomie beim Lemen ab (ver­gleiche beispielsweise Grennon Brooks & Brooks 1993). Bei ihnen ziehen sich die Lehrkräfte nicht vollständig zurück, sondem sie steuem das Lemen (gehen bis zu ei­nem gewissen Grad von einer Fremdbestimmung aus), indem sie mit der Vorgabe von Lemaufgaben und Problemen (komplexe Lehr-Lem-Arrangements) die Leminhalte vorgeben und die Lemenden mittels Scaffolding unterstützen (Lemberatung betreiben).

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Selbstorganisation des Lemens 99

Hier wird die Auffassung des "autonomen Lemens" abgelehnt. Schülerinnen und Schüler sind - abgesehen von gut Motivierten, Zielgerichteten und Selbständigen -nicht in der Lage, laufend und allein zu entscheiden, was und wie sie lemen wollen. Lemen, das nicht nur SpaB machen, sondem auf die künftige Lebens- und Arbeitswelt vorbereiten will, muB zu einem guten Teil fremdbestimmt bleiben. Ebenso fragwürdig sind die Ansprüche der Radikalkonstruktivisten. Zwar ist es möglich, radikalkonstruk­tivistische Unterrichtsmodelle zu verwirklichen (vergleiche beispielsweise Dubs 1995). Es zeichnet sich aber immer deutlicher ab, daB der Zeitaufwand dafür hoch ist (was bei den knappen Unterrichtsstunden in der Berufs- und betrieblichen Bildung ein groBer Nachteil ist), keine gut strukturierte Wissensbasis für weiteres Lemen aufgebaut wird, und schwächere Lemende bei der autonomen Wissenskonstruktion selbst mit einer guten Lemberatung Mühe bekunden.

Wir vertreten eine Mittelposition: Lebenslanges Lemen setzt Selbstbestimmung voraus. Sie ist aber über gezielte Fremdbestimmung vorzubereiten. Deshalb ist das Entwickeln des selbstregulierten Lemens ein langer ProzeB, der aus der Fremdbe­stimmtheit und damit des Belehrens die Selbstbestimmung des Lemens und damit das selbstregulierte Lemen vorbereitet. In diesem Sinn solI das selbstregulierte Lemen die Lemenden befáhigen, Lemaufgaben selbständig in Angriff zu nehmen und systema­tisch einer Lösung zuzuführen. Sie gehen aber nicht zufällig sondem strategisch vor, indem sie (1) die gestellte Lemaufgabe oder das Problem im gröBeren Zusammenhang analysieren und sich selber anspruchsvolle Lemziele setzen, (2) für den Lem- undloder ProblernlöseprozeB die geeigneten Lem- oder Denkstrategien auswählen und sie not­falls adaptieren oder gar eine neue Strategie erfinden, (3) ihren Lemfortschritt in Richtung des Zieles verfolgen und beurteilen sowie (4) über ihr eigenes Lemen nach­denken (u.a. Borkowski 1992, Butler 1998, Zimmerman 1998). Deshalb ist das selbst­regulierte Lemen ein selbstgesteuerter ProzeB, mit welchem die Lemenden ein Reper­toire von Fähigkeiten zum eigenständigen Lemen und Denken aufbauen. Dieser Pro­zeB darf aber nicht zu eng nur als Lemvorgang gesehen werden, sondem er ist in einen gröBeren Zusammenhang einzuordnen. Selbstreguliertes Lemen setzt voraus, daB ein produktives Lemklima geschaffen wird, in welchem die Lemenden in zielstrebiger Weise aktiv werden können, in welchem Lemmaterial in wirksamer Art eingesetzt wird und die Lemenden die Gelegenheit erhalten, ihre Lemfortschritte positiv zu erle­ben und Selbstvertrauen zu gewinnen (Schunk 1994).

Abbildung 1 zeigt ein Modell des selbstregulierten Lemens, das nicht die Gesamt­zusammenhänge der Persönlichkeits-, motivationalen und Verhaltenskomponenten der Selbstregulierung darstellt (vergleiche dazu Butler 1998, S. 163), sondem die Grundla­gen für die unterrichtliche Verwirklichung des selbstregulierten Lemens geben will.

Das Modell läBt sich wie folgt erklären: Den Lemenden wird ein Problem (in der Form eines komplexen Lehr-Lem-Arrangements) vorgelegt, das so gestaltet ist, daB sie sich für die Problemstellung interessieren (Motivation) sowie ihr Vorwissen aktivieren können und erkennen, wo sie Probleme und Wissens1ücken haben, wobei ihnen ihr Wissen über ihr eigenes Wissen dienlich sein solI. Nach dieser Analyse der Lemauf­gabe oder des Problems sind sie in der Lage, ihr Lemziel zu formulieren, urn mit dem LemprozeB zu beginnen. Dabei suchen sie nach geeigneten Arbeitstechniken, Lem­und Denkstrategien, die sie unverändert oder adaptiert anwenden können. Häufig wer­den sie aber gezwungen sein, neue Techniken und Strategien selbst zu entwickeln.

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Wesentlich in diesern LemprozeB ist, daB sie ihre Lemfortschritte und ihre neuen Er­kenntnisse irn Hinblick auf die Lemziele fortwährend überwachen und evaluieren so­wie über die Ergebnisse (das eigene Lemen) nachdenken, urn die Arbeitstechniken und Strategien laufend zu verbessem, urn letztlich rnit der Konstruktion und dern Anwen­den des neuen Wissens das selbst gesetzte Lemziel zu erreichen.

Abbildung 1,' Selbstreguliertes Lemen (Unterrichtsrnodell)

Problemstellung (komplexes Lehr-Lern-Arrangement)

Verfügbare Motivation sowie Wissen Arbeitstechniken über das eigene Lernen Lernstrategien Denkstrategien

Sach- (fachbereichsbe-

~ zogen es ) Vorwissen

/ Konstruktion und Anwenden von neuem Wissen

, Analysieren der gestellten Lernaufgabe oder des Pro-blems und sich ein anspruchs-voiles Lemziel setzen , Auswahl und allenfalls Adaption der gewählten Ar-beitstechnik und/oder der Lern- und Denkstrategien oder Erfinden einer neuen Denk-strategie und diese anwenden , Überwachen und Evaluation Nachdenken über das

ihres Lernfortschrittes ~ eigene Lemen und Ver-besserungen ableiten

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Selbstorganisation des Lernens 101

Aufgrund der bisherigen Forschung sowie der Erfahrungen mit den eigenen Schulver­suchen sind bei der unterrichtlichen Umsetzung dieses Modells die folgenden Ge­sichtspunkte zu beachten. Selbstreguliertes Lemen läBt sich nur mit sorgfältig vorbe­reiteten Lehr-Lem-Arrangements einleiten, welche deutlich erkennbare Probleme be­inhalten, die so auszugestalten sind, daB die Lemenden neben den Problemen auch ihre Wissenslücken erkennen. Deshalb sind viele und oft detaillierte Informationen zu ge­ben. Andemfalls werden weder die Probleme erkannt, noch sind die Lemenden in der Lage, sich Lemziele zu setzen (Butler 1998). Vor allem in unseren Versuchen war immer wieder zu beobachten, wie die Lemgruppen schon nach kurzer Zeit ohne klare Zielvorstellungen (Lemziele) in oberflächliche Diskussionen über mögliche Lösungen abglitten und weder ihr V orwissen einsetzten noch versuchten, neues Wissen zu kon­struieren. Die Fähigkeit, sich selber Ziele zu setzen und später Lem- und Denkstrate­gien auszuwählen und anzuwenden, hängt stark von individuellen Eigenarten der Ler­nenden ab. Besonders bedeutsam sind die intrinsische Motivation, die Selbsteinschät­zung der eigenen Möglichkeiten sowie das Bestreben, nicht nur Ziele zu erreichen, sondem vor allem die eigenen Lemprozesse zu beobachten (Zimmerman 1998). Wahr­scheinlich am bedeutsamsten sind das Beobachten und Evaluieren des eigenen Lem­fortschrittes. Unsere Schuiversuche zeigten, daB die Lemenden oft Mühe haben, ihre Lemprozesse im Hinblick auf die selbstgesetzten Lemziele zu beurteilen. Sie wünsch­ten sich immer wieder vom Lehrer vorgegebene Standards, die ihnen helfen sollten, ei­ne klare Erfolgsaussage zu machen. Zu vermuten ist aber, daB vereinzelte prozeB­orientierte Evaluationen metakognitiv nicht besonders wirksam sind. Deshalb sind vie­Ie Übungsmöglichkeiten vorzusehen. Sehr häufig führen Selbstevaluationen in Grup­pen zu Attribuierungen (Weiner 1997) der Kausalität von Erfolgen und MiBerfolgen. Solche Attribuierungen können sich aber sehr negativ auswirken, weil falsche Attri­buierungen zu falschen Lemeinstellungen führen können. SchlieBlich sind die Gesamt­zusammenhänge der vier Ph asen der Selbstregulierung zu beachten. Die Analyse der gestellten Lemaufgabe oder des vorgelegten Problems bereitet den Lemer vor und be­einfluBt die Bestimmung des Lemziels sowie die Auswahl, Adaption und Neukon­struktion der Strategien. Schlechte Lemziele beeinflussen die Qualität der Überwa­chung und Evaluation des Lemprozesses. Das Nachdenken über das eigene Lemen be­einfluBt schlieBlich die Weiterentwicklung des Lemens und es ist zu erwarten, daB das häufige Nachdenken über das eigene Lemen Rückwirkungen auf die verfügbaren Ar­beitstechniken, Lem- und Denkstrategien hat, so daB sich die Fähigkeit zum selbstre­gulierten Lemen laufend verbessert.

3.2 Die Unterrichtsgestaltung

Die Fähigkeit, selbstreguliert Lemen zu können, ist - wie oben umschrieben - als Pro­zeB zu verstehen, der aus der Fremdbestimmung in die Selbstbestimmung führen muB. Anfänglich bedürfen die Schülerinnen und Schüler also einer Anleitung durch die Lehrkräfte, urn Arbeitstechniken sowie Lem- und Denkstrategien zu entwickeln und anzuwenden sowie darüber zu reflektieren. Je bes ser ihre Voraussetzungen werden, umso eher kann ihnen mehr Selbstbestimmung gegeben werden und umso stärker muB sich die Lehrkraft auf die Lemberatung zurückziehen. Deshalb vertreten wir die Auf-

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fassung, das selbstregulierte Lemen sei stufenweise einzuführen, wie es in Abbildung 2 gezeigt wird.

Abbildung 2: Stufenweise Einführung des selbstregulierten Lemens

1. Stufe: Im disziplinenorientierten (fachbezogenen) Unterricht werden die im Lehrplan vorgesehenen Lemziele im Klassenunterricht erarbeitet, wobei der Unterricht durch die Lehrkraft so gesteuert wird, daB Lem- und Denkstrategien sichtbar werden und die Merkmale des selbstgesteuerten Lemens für die Schülerinnen erkennbar sind.

Dieser Unterricht wird erleichtert, wenn einige allgemeingültige Lem­strategien im voraus in einem eigenständigen Lemabschnitt (Lemen ler­nen) erarbeitet werden. Metzger (1998) gibt dazu eine gute Grundlage. Eine solche allgemeine Einführung ersetzt aber die Erarbeitung fach­spezifischer Denkstrategien nicht.

2. Stufe: Sobald für einen bestimmten Lembereich die wesentlichen Grundlagen erarbeitet sind, kann das AusmaB der Eigenfähigkeit der Lemenden vergröBert werden, wobei anfänglich mehr Interventionen der Lehrkraft nötig sind, die aber allmählich zurückzunehmen sind (Fading).

3. Stufe: Aufgrund dieser Voraussetzungen kann schlieBlich zu einer umfassen­den Schülerselbsttätigkeit übergegangen werden, bei welchem die Lem­beratung mit dem Scaffolding der Lehrkraft vorherrschend ist.

3.3 Folgerungen

Diese Hinführung zum selbstregulierten Lemen wird zur gröBten Herausforderung für die Pädagogik in den nächsten Jahren, weil sie die grundlegende Voraussetzung für das le­benslange Lemen ist. Betriebliche Ausbildungskonzeptionen mit dem organisationalen Lemen erfordem - wie später zu zeigen ist - Lemende, die selbstreguliert Lemen kön­nen. Wollte man diese Aufgabe der betrieblichen Ausbildung übertragen, so würde man die Untemehmungen nicht nur überfordem, sondem man käme wahrscheinlich auch zu spät. Das selbstregulierte Lemen bedingt andere Lemeinstellungen und -erfahrungen, die mit dem traditionellen Unterricht allein nicht zu erreichen sind: Die Lemenden müssen ihre Eigenarten, Stärken und Schwächen beim selbstregulierten Lemen kennen und be­urteilen können (Metakognition); sie müssen fähig sein im Team zu lemen, urn Probleme in ihren Arbeitsgruppen in der Untemehmung gemeinsam zu lösen und sie müssen bereit sein, sich allein mit neuen Erkenntnissen auseinandersetzen zu können.

Zu wamen ist vor einer Fehlentwicklung: Viele Lehrkräfte sehen das selbstregulierte Lemen nur unter dem Gesichtspunkt der Aktivität der Lemenden (Schülerzentrierung) und damit als Problem des Unterrichtsverfahrens. Deshalb glauben sie, ein verstärkter

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Einsatz von Gruppenarbeiten, der Leittextmethode oder des Projektunterrichts garantiere bereits die Förderung des selbstregulierten Lemens. Deshalb kann nicht genug betont werden, daB nicht das AusmaB der Schüleraktivität und damit das Unterrichtsverfahren das Entscheidende sind, sondem die kognitive Substanz der vorgelegten Lemprobleme und der zu vollziehenden Lemprozesse. Analysiert man beispielsweise Arbeitsblätter für die Leittextmethode oder Arbeitsanweisungen zu Gruppenarbeiten und Projekten, so sieht man sich in eine Zeit des schlechtesten Behaviorismus zurückversetzt, weil die Schülerinnen und Schüler zwar aktiv werden können; aber kognitiv substanzielle Lei­stungen, die das selbstregulierte Lemen gemäB Abbildung 1 fördem, werden überhaupt nicht abverlangt. Es werden nur vorgeschriebene Lemaktivitäten vollzogen.

4 Das selbstregulierte Lemen in Untemehmungen (zweite Entwicklungslinie)

Je besser in der Grundbildung die Voraussetzungen zum selbstregulierten Lemen ge­schaffen werden, desto eher lassen sich betriebliche Ausbildungskonzeptionen umorien­tieren. Oer Anteil der herkörnmlichen Lehr- und Kursveranstaltungen kann reduziert und durch Lemformen des individuellen, selbstregulierten Lemens ersetzt werden. Leider fehlen bislang systematische Untersuchungen zur Wirksamkeit des selbstgesteuerten Ler­nens in Untemehmungen mit Ausnahme von Studien zur Effektivität des individuellen, computergestützten Unterrichtes (vergleiche beispielsweise Eberle 1996) noch weitge­hend. Oeshalb ist vorderhand auf Praxisberichte Bezug zu nehmen. So berichten schwei­zerische GroBbanken positiv über die Lemerfolge ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in "Lemecken" und in "Lemzentren", in denen anhand von Lemmaterialien und compu­tergestützten Unterrichtsprogrammen neue Lembereiche individuelI zu erarbeiten sind. Oder eine schweizerische Untemehmung, die im Bereich der Aufzüge tätig ist, hat ein Weiterbildungsprogramm für Monteure entwickelt, das weltweit über den für die Unter­haltsarbeiten ohnehin benötigten Personalcomputer abgerufen werden kann, wobei sich bald zeigte, daB das Programm allein nicht genügte, sondem die Monteure ihre Lemer­kenntnisse noch an Modellen anwenden wollten, so daB zusätzlich regionale Mo­dellräume einzurichten waren. Allen diesen Ansätzen liegen aber folgende erste Erfah­rungen zugrunde: Erstens sind solche Systeme des selbstregulierten Lemens längerfristig nur wirksam, wenn für die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein individueller Ausbildungsplan entwickelt wird, dessen Umsetzung und die erreichten Lemerfolge sy­stematisch überwacht werden. Zweitens wünschen die mei sten Lemenden neben dem "Selbststudium" eine Interaktion mit einer Lemgruppe, wobei sich immer deutlicher ab­zeichnet, daB ein interaktives Computersystem nicht ausreicht, sondem persönliche Kon­takte gewünscht werden. Orittens zögem viele Untemehmungen mit der Fortentwicklung solcher Systeme, weil sie rasch kostspielig werden.

Oiese zweite Entwicklungslinie ist unter dem Gesichtspunkt der Neugestaltung von Ausbildungskonzeptionen zu sehen. Sie läBt sich ohne wesentliche Veränderungen in den Vorstellungen über die Gestaltung und Führung von Untemehmungen verwirk­lichen. Die im Folgenden darzustellende dritte Entwicklungslinie orientiert sich indes­sen an einem Paradigmawechsel der Untemehmungsführung und mag zum Teil noch etwas utopisch klingen.

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5 Das organisationale Lemen (dritte Entwicklungslinie)

5.1 Ein Modell zum organisationalen Lernen

Abbildung 3 zeigt ein Modell zum organisationalen Lemen (in freier Anlehnung an Müller-Stevens & Pautzke 1991), das von autonomen oder teilautonomen Arbeitsgruppen in einer Untemehmung ausgeht und wie folgt zu verstehen ist: Eine Arbeitsgruppe er­kennt in ihrem Aufgabenbereich ein Problem, das sie selbst lösen will. Zu diesem Zweck bereiten sich alle Mitglieder der Arbeitsgruppe auf eine Teamsitzung vor, deren Zweck es ist, aus dem individuellen Wissen gemeinsam neues Wissen zur Problernlösung zu kon­struieren. Deshalb ist die Arbeitsgruppe, zu der auch auBenstehende Experten zugezogen werden können, zunächst eine Lemgruppe. Mit dem neu konstruierten Wissen wird eine Problernlösung entwickelt und überlegt, wie sie verwirklicht werden kann. Diese Planung führt zur Auslösung von Aktionen, welche die Problernlösung herbeiführen. Dieser Lem­prozeB bringt nicht nur alle Gruppenmitglieder weiter, sondem der Wissensbestand der ganzen Untemehmung vergröBert sich, sofem dieses neue Wissen allen Mitarbeitenden zur Verfügung steht. Deshalb muB die Untemehmung sicherstellen, daB dieses neu kon­struierte Wissen in strukturierter Form über ein betriebliches Informationssystem jederzeit abrufbar ist, was ein systematisches Wissensmanagement erfordert. Von diesem Wis­sensmanagement kann sich eine Untemehmung einen strategischen V orteil erhoffen, denn angesichts des raschen technologischen und wirtschaftlichen Wandels werden eige­ne, selbstkonstruierte Wissensbestände immer bedeutsamer.

Abbildung 3: Organisatorisches Lemen (in freier Anlehnung an Müller-StevenslPautzke)

Individuelles Wissen Konstruktion von neuem und Können von Unter-

'" Wissen und Können, das

nehmungsangehörigen I

für die Lösung des Pro- Lem-Einbringen blems nötig ist in der prozesse

Individuelles Wissen von I in Gruppe Arbeits- und Lerngruppe

Experten und Spezialisten v (konzeptionelle Schulung)

... 1"- I" /

Individu a- Untemehmerisches Konkreti-

lisierung I-- Problem - sierung ~ ~

'( '-Lösung des Problems mit A Planung der Anpassungen Führung dem neuen Wissen und Aktionen in der Untemehmung, die und Können unter den neuen - Entscheid, MaB- nötig werden: Strategie, Vollzug Voraussetzungen nahmen Organisation, Arbeitsab-

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Individuen Arbeits- und Lemgruppe

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Selbstorganisation des Lernens 105

5.2 Ein Paradigmawechsel in der Unternehmensführung

Viele Untemehmungen versuchen heute, das organisationale Lemen einzuführen. Sei­ne Verwirklichung gelingt aber mei stens nicht in umfassender Wei se, sondem nur in einzelnen Arbeitsgruppen, in denen das Arbeitsklima gut, der Wille zur Innovation groB und die Identifikation mit der Untemehmung hoch ist. Dort wo diese Vorausset­zungen nicht vorhanden sind und vor allem dort, wo die Organisation nicht auf Ar­beitsgruppen mit groBen Kompetenzen ausgerichtet ist, scheitert das Vorhaben des or­ganisationalen Lemens meistens, weil sich traditionelle Management- und Organisati­onsstrukturen und organisationales Lemen gegenseitig weitgehend ausschlieBen. Des­halb drängt sich in der Untemehmungsführungslehre ein Paradigmawechsel auf, der das organisationale Lemen ermöglicht. Die Befürworter eines so1chen Paradigma­wechsels rechnen, daB damit eine Flexibilisierung des Geschehens in den Untemeh­mungen möglich wird, die den technologischen und wirtschaftlichen Ansprüchen so­wie den Anforderungen an den Umgang mit den Menschen in einer Untemehmung, im Hinblick auf die dringend benötigte Innovationskraft der Wirtschaft, gerechter wird.

Dieses neue Paradigma läBt sich wie folgt vorstellen: Herkömmliche Organisa­tions-, Arbeits- und Berufsstrukturen werden der künftig geforderten Dynamik nicht mehr gerecht. An die Stelle von tiefen Organisationen mit vielen Hierarchiestufen, komplizierten Entscheidungswegen mit starren Dienstwegen, wettbewerbsorientiertem Einzelkämpfertum mit strukturierten Karrieren sowie berufsorientierten Arbeitsprozes­sen mit einer starken Arbeitsteilung und fachlich funktionaler Segregation müssen Ordnungssysteme treten, die dauerhaft darauf ausgerichtet sind, die Lem- und Verän­derungsfáhigkeit für die Mitarbeitenden aller Stufen zu stärken. Deshalb müssen Orga­nisationen mit flachen Hierarchien und vor allem mit Arbeitsgruppen, die eine hohe Entscheidungskompetenz haben, vorgesehen werden. Auf berufsorientierte Arbeitspro­zesse mit festgefügten Karrieren ist zugunsten flexibler Einsatzmöglichkeiten von Mit­arbeitenden ohne Rücksicht auf Karrieren, dafür mit karriereunabhängigen, leistungs­orientierten Entlöhnungssystemen, zu verzichten. Idealerweise sollten virtuelle Organi­sationen mit Netzwerksystemen entstehen, die durch interdependente inner- undloder interorganisationale Beziehungen zwischen Personen, Gruppen, Organisationen oder Gruppen von Organisationen gekennzeichnet sind, die untereinander kooperieren, ihre relative Autonomie dabei aber nicht aufgeben (Sydow et al. 1995). In so1chen Netz­werkbeziehungen hat kein individueller oder kollektiver Akteur die vollständige Kon­trolle über die Netzwerkbeteiligten. Alle sind in irgendeiner Form aufeinander ange­wiesen, ohne vollständig voneinander abhängig zu sein. Netzwerkstrukturen sind sozi­al organisiert und manifestieren sich in Interaktionsbeziehungen. Über ihren Aufbau, ihre Aufrechterhaltung, ihren Ausbau oder ihren Abbruch entscheiden die beteiligten Akteure selbst (Hanft 1997). So1che Beziehungen funktionieren jedoch nur, wenn un­ter den Beteiligten ein unbeschränktes Vertrauen herrscht. Entscheidungen und Ver­antwortungen dezentralisiert werden sowie das Verhältnis von planenden und aus­führenden Fähigkeiten überdacht wird und funktionsübergreifende Kooperationen si­chergestellt sind.

Erfolgreich können so1che Netzwerkstrukturen oder Netzwerksysteme nur sein, wenn die Konstruktion von neuem Wissen und der Austausch dieses Wissens in der Untemehmung zielstrebig erfolgen: Je rascher bei neu erkannten oder bei bestehenden

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Problemen autonom neues Wissen ge schaffen und ausgetauscht wird, desto mehr wird dieses Wissen zu einer Kemkompetenz einer Untemehmung, so daB die Organisation der Wissenskonstruktion und des Wissensmanagementes zu einer immer wichtigeren Führungsaufgabe wird. DaB dabei dem organisationalen Lemen eine zentrale Aufgabe zukommt, bedarf keiner weiteren Begründung.

5.3 Utopie oder Realität?

Die Entwicklung und Gestaltung der Untemehmungsführung in die eben besprochene Richtung und die Einführung des organisationalen Lemens erfordem maBgebliche Verhaltensänderungen bei den Führungskräften und allen Mitarbeiterinnen und Mitar­beitem in den Untemehmungen: Starre Organisationsformen mit hierarchischen Ent­scheidungsstrukturen verlieren an Bedeutung, leistungsfähige, flexibel einsetzbare Mit­arbeitende entwickeln sich zu Entscheidungsträgem im Untemehmen und erfolgreich wird, wer sachkompetent kommuniziert. Ob solch umfassende Einstellungs- und als Folge davon Verhaltensänderungen in Zukunft machbar sind, wird hier eher bezwei­felt. Möglich wäre es, wenn alle Menschen im Interesse einer flexiblen Untemeh­mungsentwicklung auf Macht- und Führungsansprüche sowie auf erworbene Rechte verzichten würden und in ihrem Denken einen ethisch vertretbaren Fortschritt sowie das Streben nach Innovationen in den Vordergrund steIlten. Zudem müBten sie sich in einem umfassenden Sinn zum organisationalen Lemen bekennen. Dies setzt seinerseits dreierlei voraus: Erstens ist die Fähigkeit zum selbstregulierten Lemen unabdingbar, denn das organisationale Lemen setzt voraus, daB man sich für die Phase der Wissens­konstruktion individuell gut vorbereitet. Organisationales Lemen ohne individuelle Vorbereitung führt nur zu einer Diskussion vorgefaBter Meinungen. Diese individuelle V orbereitung sowie die Wissenskonstruktion sind zeitaufwendig. Daher läBt sich orga­nisationales Lemen zweitens nur verwirklichen, wenn die Mitarbeitenden bereit sind, viel Zeit für ihre Untemehmung einzusetzen. Und diese erfordert drittens eine hohe Identifikation mit der eigenen Untemehmung, die heute vor allem bei anspruchsloseren Tätigkeiten nicht immer gegeben ist.

Alle die se Ansprüche sind hoch und idealistisch. Deshalb bezweifeln wir sehr, daB sich ein solches neues Paradigma umfassend verwirklichen läBt. Umgekehrt wäre aber eine vorschnelle Absage angesichts der steigenden Anforderungen an die Flexibilität der Untemehmungen und ihrer Mitarbeitenden ebenso falsch. Zu suchen ist nach ei­nem realisierbaren Mittelweg, der idealerweise so entwickelt werden könnte, wie es in Abbildung 4 dargestellt ist (in freier Anlehnung an Erfahrungen in verschiedenen Un­temehmungen).

Diese Darstellung verweist auf einen wichtigen Aspekt, der immer wieder überse­hen wird: Das organisationale Lemen ist nicht nur eine neue Arbeits- oder Lemtech­nik. Als neues Paradigma erfordert es die gleichzeitige Anpassung sowohl der Organi­sations- und Arbeitsstrukturen als auch des Lemkonzeptes (anstelle von vielen kurs­mäBigen Lehrveranstaltungen und gesteuerter Ausbildung am Arbeitsplatz, mehr selbstregulierte Ausbildung in der Arbeitsgruppe).

Zu wamen ist vor Einseitigkeiten: Es gibt Ausbildungsberater, die meinen, tradi­tionelle Lehr- und Ausbildungsveranstaltungen würden mangels Lemwirksarnkeit hin-

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Selbstorganisation des Lemens J07

fällig und könnten durch organisationales Lemen, das mit einem Coaching ergänzt wird, ersetzt werden. Diese Auffassung ist aus zwei Gründen falsch. Erstens ist seit langem bekannt, daB jede - noch so moderne - Einseitigkeit in der Ausbildung die Lemwirksamkeit reduziert. Anzustreben ist eine Vielgestaltigkeit der Ausbildung. Zweitens kann eine traditionelle Einführung in neue Lembereiche für viele Mitarbei­tende als Grundlage ebenso wirksam und erst noch kostengünstiger sein als das organi­sationale Lemen.

Abbildung 4: Die Einführung des organisationalen Lemens

1. Schritt: Die Untemehmensleitung entscheidet sich in welchem Untemehmens­bereich sie das Paradigma des organisationalen Lemens einführen will und nimmt die organisatorischen Anpassungen vor: Anpassung des Ar­beitsprozesses an eine Gruppenstruktur mit einer genau umschriebenen Autonomie, Neudefinition der Verantwortlichkeiten, Ausrichtung der Untemehmensplanung auf die Gruppenstruktur.

2. Schritt: Einführung aller Mitarbeitenden in die Neuorganisation der Arbeitspro­zes se und in das organisationale Lemen.

3. Schritt: Vertiefte Einführung in das organisationale Lemen aller jener Arbeits­gruppen, die damit beginnen müssen oder wollen. (Es scheint, daB die Arbeitsgruppen dort, wo es möglich ist, daB sie selbst wählen können, ob und ab wann sie sich dem neuen Paradigma unterstellen wollen, er­folgreicher sind.)

5.4 Das organisationale Lemen als Lemverfahren

Selbstverständlich kann das organisationale Lemen nicht nur im eben umschriebenen weiten Sinn, sondem auch als Lemverfahren in bestehenden Arbeitsgruppen in Unter­nehmungen mit traditionellen Organisations- und Arbeitsformen gesehen werden. Das in Abbildung 3 wiedergegebene Modell eignet sich auch dafür. Nicht selten hört man aber den Einwand, das organisationale Lemen sei gar nichts Neues; in Teams oder in Projektgruppen hätte man schon immer so gearbeitet. In Einzelfällen mag dies durch­aus zutreffen. Häufiger aber nicht. Richtig angewandt als Lemverfahren ist das organi­sationale Lemen nur, wenn sich die Gruppenmitglieder individuell vorbereiten (wozu sie fähig sein müssen, selbstreguliert lemen zu können) und in der Lemphase der Teamarbeit nicht nur Meiungen und Lösungen kontrovers diskutiert werden, sondem tatsächlich neues Wissen konstruiert wird.

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108 Rolf Dubs

6 Schluj3folgerungen

Angesichts der zunehmenden Wichtigkeit des lebenslangen Lemens werden das selbst­regulierte und das organisationale Lemen zu bedeutenden Aufgaben in der schulischen Grundbildung, in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung sowie in der Untemeh­mensführung.

1. Selbstreguliertes Lemen läBt sich aber nicht beiläufig entwickeln, sondem alle Schülerinnen und Schüler sind in ihrer Grundbildung systematisch in diese Fähig­keit einzuführen.

2. Die Fähigkeit selbstreguliert Lemen zu können, ist eine Grundvoraussetzung für den Erfolg von neuen Organisationsforrnen in der betrieblichen Weiterbildung (Lemzentren, mediengestütztes Lemen, organisationales Lemen). Da die systema­tische, angeleitete Förderung dieser Fähigkeit in der Grundbildung noch weitge­hend dem Zufall überlassen bleibt, muB das Erlemen des selbstregulierten Lemens vorläufig zu einem Gegenstand der betrieblichen Aus- und Weiterbildung werden.

3. Organisationales Lemen kann in Untemehmungen als Lemverfahren eingesetzt werden. In Wirklichkeit beruht es aber auf einem neuen Paradigma der Untemeh­mensführung. Ob sich dieses Paradigma in seinem umfassenden Verständnis ver­wirklichen läBt, wird hier aufgrund menschlicher Wesens- und Eigenarten eher be­zweifeit. Seine zielgerichtete Verwirklichung in besonders geeigneten Untemeh­mensbereichen wird hingegen als realistisch beurteilt.

4. Selbstgesteuertes und organisationales Lemen sind nicht eine Altemative zu her­kömmlichen Forrnen des Lehrens und Lemens sowie der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, sondem sie stellen eine weitere, neue Form im Bildungswesen dar, die situationsgerecht neben bewährten, herkömmlichen Forrnen der Grund- und Weiterbildung auch fortan Bestand haben werden.

5. Falsch wäre es, die gesamte betriebliche Aus- und Weiterbildung auf das organisa­tionale Lemen, allenfalls verbunden mit einem Coaching, ausrichten zu wollen. Wenn die organisatorischen V oraussetzungen dazu nicht geschaffen und die Ar­beitsabläufe nicht darauf ausgerichtet werden, kommt es zu einem Widerspruch zwischen dem Paradigma der Untemehmensführung und dem Paradigma des Ler­nens, wodurch sich die erwarteten strategischen Erfolgspositionen nicht aufbauen lassen. Deshalb müssen die MaBnahmen der Untemehmensentwicklung und des organisationalen Lemens aufeinander abgestimmt werden, was einmal mehr deut­lich macht, daB die betriebliche Aus- und Weiterbildung nicht nur eine Aufgabe der Ausbildungsspezialisten, sondem zunächst eine Führungsaufgabe der Unter­nehmensleitung ist (Dubs 1994).

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Selbstorganisation des Lernens 109

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Vom Übermittlungs- zum Initiierungskonzept: Lehr-Lernprozesse in konstruktivistischer Perspektive

Hermann G. Ebner

1 Aufstieg und Fall didaktischer Konzepte

Problematische , Karrieren' von theoretischen Konstrukten und Konzepten innerhalb der verschiedenen Unterrichtslehren und -praktiken haben Tradition. Die Herausbildung von Glaubensgemeinden der einen oder der anderen Richtung, ist nur eines der Symptome solch zweife1hafter Karrieren. Ein anderes ist die inhalt1ich weitgehende Auflösung des betreffenden Konzepts. Insbesondere das letztere Phänomen führt zu Verständigungs­schwierigkeiten zwischen und teilweise auch innerhalb der Arbeitsebenen Theorieent­wicklung, Praxisanleitung und Praxis. Wer in den letzten drei bis vier Jahrzehnten die di­daktische Diskussion verfolgt hat, weiB urn die wechse1nden konzeptuellen Zentrierun­gen in den Arbeitsfeldern der Didaktik und urn die typischen Verläufe dieser Neuorientie­rungen sowie urn die darnit verbundenen Begleiterscheinungen.

Es gab und gibt keinen Grund anzunehrnen, dass dem konstruktivistischen Ansatz ein glücklicheres Schicksal beschieden ist als dem handlungstheoretischen1: Letzterer ist inzwischen beinahe zum Symbol , entkernter , didaktischer Konzepte avanciert. Trotz - vielleicht auch wegen - des weitgehenden Verlusts der Theoriesubstanz ist ,Handlungsorientierung' einerseits zum Allgemeingut der Didaktik geworden (z.B. findet sich der Terminus in zahlreichen Lehrplänen) und andererseits hat sich die Ge­meinde der Gegner gehalten und publiziert weiter gegen das an, was sie gerade für eine handlungsorientierte Didaktik hält.

Eine solche Karriere könnte nun auch dem konstruktivistischen Konzept bevorste­hen2 • Allerdings sind hier die Chancen einer stärker an rationalen Argumenten orien­tierten Diskussion vielleicht etwas besser, denn nicht zuletzt bieten die - vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum - zahlreichen mit dem konstruktivistischen Ansatz arbeitenden Forschungsinitiativen und deren Ergebnisse die Möglichkeit zur Überprü­fung dieses Ansatzes. Ein wesentlicher Anteil an der fundierteren Auseinandersetzung innerhalb des deutschsprachigen Bereichs kann den lnitiativen im Rahmen des DFG­Schwerpunktprogramms ,Lehr-Lernprozesse in der kaufmännischen Erstausbildung'

Eine "Ausdünnung" des Begriffs ,Konstruktivismus' beklagt Ernst von Glasersfeld bereits in einem 1985 erschienen Beitrag.

2 Ein Beispiel für den Glauben, dass die Auseinandersetzung mit der "pädagogischen Variante des Konstruktivismus" in der Arena für Weltanschauungen ausgetragen werden müsse, Hefert Heribert Seifert in der Nummer 236 des Jahres 1998 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Allerdings schei­nen auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftier bei diesem Thema in Gefahr zu geraten, die Ebene rationaler Argumentation zu verlas sen, wie BeispieJe in den USA zeigen (GrosslLevitt 1998).

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J12 Hermann Ebner

zukommen: Einige der in diesem Schwerpunkt versammelten Projekte arbeiten explizit auf der Basis des konstruktivistischen Ansatzes3•

Die Tätigkeits- bzw. handlungstheoretische Konzeptualisierung von Lernprozessen (Ebner 1992) und die Grundannahmen des Konstruktivismus werden hier als komple­mentär aufgefaB{ Präziser jedoch, als dies in der Regel in konstruktivistischen Ansät­zen der Fall ist, wird in handlungstheoretisch orientierten Beiträgen herausgearbeitet, daB sich der individuelle KonstruktionsprozeB in der Tätigkeit als der Vermittlungsin­stanz zwischen Subjekt und Umwelt vollzieht (Leontjew 1977, 1982) und, daB die Ent­stehung der menschlichen Gegenstandswelt und des menschlichen BewuBtseins im Handeln zwei Seiten eines einheitlichen Vorgangs sind (Rubinstein 1983, 1984). Be­sondere Bedeutung kommt deshalb der Qualität der Lernhandlungen zu (Lompscher 1979, Lompscher & Lindner 1991).

Bei der folgenden Gegenüberstellung des dem traditionellen Unterricht unterlegten Konzepts und der konstruktivistischen Basisannahmen muB aufgrund der für den Bei­trag zur Verfügung stehenden Anzahl von Seiten auf den Aspekt der Verknüpfung konstruktivistischer und handlungstheoretischer Annahmen verzichtet werden.

2 Grundzüge des traditionellen Unterrichtskonzepts

Im traditionellen Unterrichtskonzept (vgl. Abbildung 1) solI das zu übermittelnde externe Wissen (Lehrplanvorgaben) in der Weise aufbereitet werden, dass es von dem oder der durchschnittlichen Lernenden der Adressatengruppe aufgenommen werden kann. Die Aufgabe der lehrenden Person besteht darin, die an der Fachsystematik orientierten In­haltslisten des Lehrplans nach didaktischen Prinzipien5 weiter zu ordnen. Dabei geht es im wesentlichen urn inhaltliche Hierarchisierungs- und Sequenzierungsentscheidungen, urn Reduktion in bezug auf Umfang und Schwierigkeit und urn Gewichtungsentschei­dungen. Das Produkt dieses didaktischen Transformations- oder auch Kontruktionspro­zesses sind die im Rahmen einer Unterrichtseinheit darzubietenden Lehrinhalte.

Am Übergang von der Lehr-Seite zur Lern-Seite haben die Instruktionstechniken ih­ren Platz. Instruktionstechniken wird primär die Funktion eines Transportrnittels zuge­schrieben. Darüber hinaus dienen sie der Übermittlungssicherung: Durch sie sollen die in der didaktischen Transformation festgelegten Eigenschaften des zu übermittelnden Wis­sens abgebildet und gesichert werden. Zum Beispiel werden jene für besonders wichtig erachteten Wissenselemente durch entsprechende Bearbeitungen (Tafelanschrieb, Ar-

3 Der Stand der an den ersten beiden Bearbeitungsphasen beteiligten Projekte ist in den Beiheften Nr. 13 (herausgeg. von BecklHeid 1996) und Nr. 14 (herausgeg. von Beck/Dubs 1998) der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik dokumentiert.

4 Beide Theoriestränge bilden die Basis für den Mannheimer Teil des im Rahmen des DFG-Schwer­punktprogramms "Lehr-Lern-Prozesse in der kaufmännischen Ausbildung" geförderten (Nr. Eb 204/1-1) und in Kooperation mit E. Stern (MPI-Berlin) realisierten Forschungsvorhabens, wobei die an den beiden Standorten (Mannheim und Berlin) bearbeiteten Fragestellungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten versehen sind.

S Seit über effektives Lehren nachgedacht wird, gibt es so1che allgemeinen Empfehlungen. Eine umfang­reiche und die wohl nachhaltigste Liste didaktischer Prinzipien stammt von Comenius (1627-1630/ 1966), der seine Prinzipien drei Hauptkategorien zuordnet: (I) Grundsätze zu sicherem Lehren und Ler­nen, (2) Grundsätze zu leichtem Lehren und Lemen und (3) Grundsätze zu dauerhaftem Lehren und Lemen.

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Lehr-Lernprozesse in konstruktivistischer Perspektive 113

beitsblatt mit Merksätzen, graphische Darstellung) gegenüber anderen abgesetzt, als de­klaratives Basiswissen definierte Wissenselemente werden häufiger als andere repetiert und ebenso wird für bedeutsam gehaltenes Ausführungswissen in Anwendungsübungen gefestigt. Durch den Einsatz von Instruktionstechniken werden Lehrinhalte präsentiert und zu Leminhalten deklariert. Die auf der Lem-Seite im AneignungsprozeB zu verar­beitende Information wird mit der präsentierten weitgehend gleichgesetzt.

Abbldung 1: Traditionelles Unterrichtskonzept: Überrnittlungsstrategie

Obennlttlung durch

InstruktIon

Instruktionstechniken (Unterrichtsmethoden, Medien) dienen dam Zweck, die gröntmögliche Obereinstimmung von präsentierten und rezipierten Inhalten zu erreichen.

Diesem Konzept entsprechend, ist die Effektivität von Unterricht an dem Grad der Übereinstimmung zwischen präsentiertem Lehrinhalt und dem als Produkt der Instruk­tion bei der lemen den Pers on heraus gebildeten Wissen zu messen. Das - zwar als nie erreichbar eingeschätzte aber letztlich angestrebte - Ziel ist die Einszueins-Abbildung des Lehrinhalts in den Köpfen des Lemenden6

Zusammenfassend: Kemstück des traditionellen Unterrichtskonzepts - so die hier vertretene These - ist die V orstellung, erfolgreicher Unterricht komme darin zum Aus­druck, dass

die dargebotenen Lehrinhalte, die rezipierten Leminhalte und das dem vorhandenen Wissen neu hinzugefügte Wissen quantitativ und qualitativ weitestgehend übereinstimmen.

Aus diesem Grund wird der Aufbereitung der Lehrinhalte sehr viel Aufmerksarnkeit gewidmet, sie sollen möglichst ohne Schwierigkeiten aufgenommen werden können. Zugleich ist man insbesondere bemüht, jene LehrmaBnahmen einzusetzen (z.B . klar strukturierte Lehrmaterialien), die eine möglichst verzerrungsfreie Übermittlung des Stoffs von der Lehr-Seite zur Lem-Seite erwarten lassen.

6 Eine der treffendsten Formulierungen dieses Verständnisses findet sich bei Quo Willmann in seinem erstmals 1882 erschienen Lehrbuch zur Didaktik. Den Unterschied zwischen der universitären Lehre und dem schulischen Unterricht kennzeichnet er folgenderrna8en: "Der Lehrende macht einen Inhalt des Wis sens oder Könnens zugänglich; der Unterrichtende arbeitet denselben in die Köpfe der Schü­ler hinein" (Willmann 1909, 416).

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114 Hermann Ebner

Trotz dieser Anstrengungen lehrt uns die Unterrichtspraxis, daB die Übermittlungs­strategie ein verlustreiches Geschäft ist. Und auch von seiten der Unterrichtsforschung wird angezeigt, daB die Zweifel hinsichtlich des Erfolgs des traditionellen Unterrichts­konzepts durchaus begründet sind. Zwei der Probleme werden nachfolgend skizziert.

(a) Die meisten Lernenden verfügen über keine elaborierten Lernstrategien

Im traditionellen Unterrichtskonzept wird die didaktische Konstruktion prinzipiell auf die Lehr-Seite bezogen. Das heiBt, die V orbereitung gilt vor allem der Dosierung, Se­quenzierung und Hierarchisierung des Lehrstoffs, verbunden mit Überlegungen zu den erforderlichen ,Transportmitteln' (Methoden und Medien). Die Vorbereitung der Lern­Seite ist hierbei nicht vorgesehen. Vorbereitung, die die se Seite mit einbezieht, wäre vor allem Anleitung zur Auseinandersetzung mit der Sache, dem Inhalt.

In der bildungspolitischen und pädagogischen Diskussion wird den sog. Schlüssel­qualifikationen eine groBe Bedeutung beigemessen und zwar generell für das Zurecht­finden in der durch rasche Veränderungen gekennzeichneten Gesellschaft sowie spezi­ell für die individuelle berufliche Entwicklung. Mit ,Schlüsselqualifikationen' - was im einzelnen auch immer von den jeweiligen Protagonisten (Politik, Wirtschaft, Kul­tusverwaltung, Lehrbuchautoren) mit diesem Begriff verbunden werden mag - sind in der Regel so1che Qualifikationen gemeint, die das Individuum in die Lage versetzen, sich auf neue Bedingungen einzustellen, sich neue Sachverhalte zu erschliefJen.

Wird von den vier von Mertens (1974) vorgeschlagenen Qualifikationstypen aus­gegangen, dann wäre u.a. die Verfügung über elaborierte Lernstrategien dem Typ ,Ho­rizontalqualifikation' zuzuordnen. Lernstrategien sind entscheidend im Hinblick auf die Gewinnung, das Verstehen und das Verarbeiten von Informationen. Untersuchun­gen (z.B. Pflugradt 1985) zeigen nun, daB - zum Beispiel im Zusarnmenhang mit der Erarbeitung von Texten - die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler keine elaborier­ten Lernstrategien einsetzen. Die Befunde einer vor kurzem von uns (Ebner & Aprea 1999) durchgeführten Untersuchung weisen in die gleiche Richtung.

Soweit das traditionelle Unterrichtskonzept die Unterrichtspraxis maBgeblich prägt, werden bereits vorhandene Lernstrategien eher zufällig als gezielt elaboriert. Die Konzentration auf die Zurichtung des Lehrinhalts und auf die Überprüfung des Über­mittlungsergebnisses läBt wenig Raum für die Beschäftigung mit der Qualität der An­eignungsprozesse.

(b) Das Phänomen des ,trägen' Wissens

,Träges Wissen' ist eine andere Bezeichnung für ein Phänomen, das die Lehr­Lernforschung schon lange beschäftigt und das zumeist mit dem Etikett ,Transferpro­blem' versehen wird. Mit ,Trägheit des Wissens' wird jener miBliche Umstand be­schrieben, daB vorhandenes Wissen bei einem entsprechenden Anwendungsfall nicht aktiviert werden kann. Das Ziel jeglichen Unterrichts, nämlich die Lemenden in die Lage zu versetzen, das im unterrichtlichen Kontext erworbene Wissen auBerhalb - z.B. in beruflichen Kontexten - adäquat einzusetzen, ist in diesen Fällen nicht erreicht.

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Lehr-Lernprozesse in konstruktivistischer Perspektive 115

Wie läBt sich nun erklären, daB vorhandenes Wissen nicht angemessen zur An­wendung gebracht werden kann. Alexander Renkl (1994) teilt die bisher diskutierten Erklärungen in drei Gruppen ein:

Zum einen werden Defizite ,oberhalb' des objektbezogenen Wissens vermutet. Damit ist gemeint, daB u.a. fehlendes allgemeines Strategiewissen den Transfer er­schwere. Auf der gleichen Erklärungsebene angesiedelt sind auch die Hinweise auf motivationale Defizite (z.B. mangeindes Interesse). Eine zweite Gruppe bilden jene Erklärungen, nach denen die Defizite in dem be­treffenden Wissen selbst liegen. Ein so1ches Defizit ist z.B. dann gegeben, wenn ein Handlungsablauf zwar operativ nachvollzogen werden kann, aber die Bedeu­tung der einzelnen Operationen (noch) nicht verstanden wird. Unter diesen Vor­aussetzungen ist zu erwarten, daB nur unter gleichen Kontextbedingungen eine ,mechanische' Wiederholung des Handlungsablaufs gelingt. In der dritten Gruppe finden sich Positionen, nach denen überhaupt in Zweifel ge­zogen wird, daB ohne Berührungspunkte zur Anwendungssituation anwendbares Wissen erworben werden kann. Die Vertreter dieses als ,situierte Kognition' be­zeichneten Ansatzes schlagen deshalb vor, "daB an komplexen, authentischen oder zumindest realitätsnahen Problemstellungen gelernt wird" (RenkI1994, S. 24).

Trotz der verschieden akzentuierten Erklärungen des Transferproblems ist zu vermu­ten, daB im Rahmen des traditionellen Unterrichtskonzepts eher träges als flexibel an­wendbares Wissen hervorgebracht wird: Die Übermittlungsstrategie ist nicht darauf orientiert, Wissen ,oberhalb' des objektbezogenen Wissens bereitzustellen und der fachsystematische Aufbau des präsentierten Wissens hat die Ablösung von Kontextbe­dingungen zur Voraussetzung.

Unterricht im Rahmen des traditionellen Konzepts hat die Form eines ,geschlosse­nen Angebotes': Erfolgreiche Lernende sind jene, die in der Lage sind, sich das Darge­botene unter den gegebenen Bedingungen in der präsentierten Form anzueignen, im Gedächtnis zu speichern und in möglichst kongruenter Form wieder zu aktivieren. Die Übermittlungsstrategie ist - in Begriffen der Ökonomie ausgedrückt - eine absatzori­entierte Strategie ohne Kundenorientierung.

3 Grundzüge eines konstruktivistischen Unterrichtskonzepts

Das traditionelle Unterrichtskonzept ist auf ein Menschenbild orientiert, in dem der oder die Lernende als passiv rezipierende Person erscheint. Wissen gilt es demzufolge auf­nahmebereit - d.h. selektiert in Bezug auf die inhaltlichen Aspekte, portioniert in Bezug auf die Menge, dosiert in Bezug auf den Schwierigkeitsgrad und organisiert in Bezug auf zu verbindende Elemente - zu präsentieren. In der Perspektive des konstruktivistischen Unterrichtskonzepts setzen sich Menschen aktiv mit ihrer Umwelt auseinander.

Darüber hinaus lassen sich die innerhalb der konstruktivistischen kognitionswis­senschaftlichen Ansätze vertretenen Auffassungen7 folgendermaBen kennzeichnen:

7 Bei aller Verschiedenheit der gegenwärtig innerhalb des konstruktivistischen Lagers vertretenen Richtungen, lassen sich dennoch im Bereich Lehr-Lernforschung viele Übereinstimmungen in den

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116 Hermann Ebner

a. Aus konstruktivistischer Perspektive wird der Wissensaufbau als individuelier KonstruktionsprozeB verstanden. Wissen gilt als individuelI generiertes Produkt und nicht als Resultat neutraler Übernahme dargebotener Information.

b. Die individuelle Konstruktion von Wissen basiert auf der aktiven Verarbeitung von Wahrnehmungen. Bei dieser Verarbeitung spielt das bereits vorhandene Wissen die zentrale Rolle: Zum einen wird es benötigt, urn die neue Information interpre­tieren zu können, zum andern wird es dabei selbst verändert. Das frühere Wissen ist in dem neu hervorgebrachten aufgehoben.

c. Individuelle Konstruktionen führen keineswegs zu subjektivistisch entkoppelten internen Repräsentationen der äuBeren Welt, da u.a. in der Auseinandersetzung mit der Umwelt die kulturell hervorgebrachten Bedeutungen internalisiert bzw. in so­zialen Aushandlungsprozessen jene gemeinsam geteilten Bedeutungen erzeugt werden, durch die Verständigung gesichert wird.

d. Konstruktions- und Verständigungsprozesse sind kontextbezogen - auBerhalb des jeweiligen Kontextes verlieren die hervorgebrachten Ergebnisse an Bedeutung.

In der Konsequenz dieser Annahmen liegt es, dass ein anderes Verständnis von Unter­richt entwickelt wird: Im Mittelpunkt steht nun der ProzeB der Wissensaneignung. Eine darauf orientierte Konzeptualisierung von Unterricht wird hier als Initiierungsstrategie bezeichnet (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Konstruktivistisches Unterrichtskonzept: Initiierungsstrategie

~'''''''''~.-'''''- ----'' ---'''''''''''''''' / : individuelle '-',

l : Reproduktion des \ \ prasentierten } "" •• ~~emen Wissen~ •••••• /

Lerntätigkeit: Auseinandersetzung mil der gegebenen

Lernumgebung

zentralen Linien feststellen (Bednar/CunninghamlDuffylPerry 1992; Mayer 1998). Zu den Gemein­samkeiten gehört darüber hinaus die Einbeziehung der Werke Deweys und Piagets.

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Lehr-Lemprozesse in konstruktivistischer Perspektive 117

Wissen wird in der Auseinandersetzung mit der Lernumgebung angeeignet. Diese Ler­numgebung umfaBt alle prinzipiell der Erfahrung zugänglichen Phänornene. Hierzu gehören die präsentierten Fachinhalte und ebenso jenes externe Wissen, dessen Er­schlieBung und Nutzung im Rahrnen des Lehr-Lernprozesses möglich ist. Dieses letz­tere Wissen liegt nicht unmittelbar vor, vielmehr sind es die ErschlieBungsrnedien (z.B. Bibliothek, Internet, Experten), durch deren Verfügbarkeit die Lernumgebung be­stimmt wird. Weitere die Lernurngebung konstituierende Faktoren sind die lehrende Person und die Lerngruppe - sie gestalten Lernumgebungen nicht zuletzt durch die praktizierten Kommunikationsformen. Darüber hinaus lassen sich noch zahlreiche weitere rnaterielle und immaterielle Phänomene benennen, durch die Lernurngebungen determiniert werden. Hierzu zählen die sächliche Ausstattung der Schule ebenso wie die diese Organisation konstituierenden expliziten und impliziten Regeln.

In der Lerntätigkeit wird die jeweilige Lernumgebung individuell rekonstruiert: Die unabhängig vom Subjekt existierende Lernumgebung wird - vermittelt u.a. durch das individuell vorhandene und aktivierte Wissen sowie die rnotivationalen Bedingun­gen (Prenzel, Kristen, Dengier, Ettle & Beer 1996) - eine subjektive Lemsituation. Die Resultate individueller Rekonstruktionen innerhalb der betreffenden Gruppe weisen verschieden groBe Schnittmengen auf, wobei die auBerhalb der ähnlichen Rekonstruk­tionsergebnisse liegen den Bereiche der kommunikativen Bearbeitung in unterschiedli­chem MaBe zugänglich sind. Letztlich ist es die individuell rekonstruierte Lernurnge­bung, die individuelle Realität, innerhalb derer sich der LernprozeB vollzieht.

Die individuelle Reproduktion des präsentierten externen Wissens läBt sich als Teil und zugleich als Produkt der individuellen Rekonstruktion der Lernurngebung auffassen. Die den konstruktivistischen Ansatz in zentraler Weise bestimmende These, wonach Ler­nende ihr Wissen konstruieren, indem sie Erfahrungen auf der Basis ihres Vorwissens verarbeiten und Wissen also nicht von au Ben übemommen wird (Duffy & Jonassen 1992; Duffy, Lowyck, Jonassen & Welsh 1993), bedeutet, dass der ProzeB und das Ergebnis der Intemalisierung des dargebotenen Wissens sowohl von dern objektbezogenen (V or-) Wissen als auch vom Strategiewissen des oder der Lernenden abhängen. In welcher Form und Qualität das neue Wissen intern repräsentiert wird, ist damit keineswegs unabhängig von der Lernurngebung. Vielrnehr stellen die Bedingungen der Urnwelt Determinanten des Rekonstruktionsprozesses in dem Sinne dar, als durch sie die Möglichkeiten der Aus­einandersetzung8 auf der Objektseite definiert werden.

Wissensaneignung als einen ProzeB individuelier Konstruktion zu beschreiben, be­deutet in dieser Konzeptualisierung nicht, Wissen über die subjektunabhängige Ob­jektwelt9 in beliebigen Aussagen aufgehen zu lassen. Vielmehr werden damit die fol­gen den Überlegungen verbunden:

8 Gibson (1982) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff "Angebote". Seine ,Theorie der An­gebote' und die Tätigkeitstheorie sind m.E. in Bezug auf die Annahmen betreffend der Mensch­Umwelt-Wechselwirkung - trotz einiger Differenzen - in vielen Punkten kompatibel. Dennoch be­vorzuge ich den Begriff ,Möglichkeiten', da u.a. ,Angebot' semantisch mit einer Willenserklärung verbunden ist und Umweltphänomene nicht generelI hierunter subsumiert werden können.

9 Die eventuellen theoretischen und konzeptionellen Konsequenzen erkenntnistheoretischer Implika­tionen einer konstruktivistischen Wissenstheorie (v. Glasersfeld 1985) werden innerhalb der Lehr­Lernforschung bisher weitgehend ausgespart - häufig begnügt man sich mit dem Hinweis, dass in dem betreffenden Beitrag ein ,moderater' Konstruktivismus vertreten werde. Eine Auseinanderset-

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118 Hermann Ebner

a. Wenn externes Wissen im AneignungsprozeB individuell reproduziert wird, dann liegt es nahe, diese Reproduktion selbst zum Gegenstand des Lehr-Lernprozesses zu machen und zwar unter zwei Aspekten: Zum einen durch die auf den AneignungsprozeB orientierte Verknüpfung von Inter­nalisierung und Externalisierung von Wissen 10. Externalisierung bedeutet dabei so­wohl (Selbst-) Vergegenwärtigung als auch - in kollektiven Lernsituationen - Veröf­fentlichung der Prozej3- und der Produktseite des Wissenserwerbs. Eine solche Ver­knüpfung ist beispielsweise Gegenstand des oben erwähnten Forschungsprojekts. Dabei gehen wir von der These aus, dass die - im Vergleich zur Inforrnationsdarbie­tung - modal differente Produktion einer externen Repräsentation eine Intensivierung der Auseinandersetzung rnit dem präsentierten Wissen bedeutet (Ebner & Aprea 1999). Während im Externalisierungsprozess die Intensität der Auseinandersetzung erhöht wird, verbindet sich rnit dessen Produkt bzw. dessen Veröffentlichung die Chance zur diskursiven Elaboration des Wissens. Zum zweiten eröffnet die Auseinandersetzung der Lernenden rnit ihrem Aneig­nungsprozeB die Möglichkeit, das vorhandene Wissen und den individuellen Einsatz von Lernstrategien zu erweitern bzw. zu elaborieren.

b. Wenn die Lernumgebung individuell rekonstruiert wird, dann ist es im Hinblick auf die Gestaltung entwicklungsförderlicher Lernumgebungen notwendig, die von der Lehrperson intendierte und möglicherweise als hierzu kongruent wahrgenommene Lernumgebung rnit den individuellen Rekonstruktionen der Lernenden zu konfrontie­ren. Dies sind insbesondere jene Stellen in Lehr-Lernsituationen, in denen Verständi­gung über - z.B. perspektivisch differente - Bedeutungen herbeigeführt werden kann bzw. muB (Brown, Ash, Rutherford, Nakagawa, Gordon & Campione 1993). In Be­zug auf den Solipsismus-Vorwurf - zuweilen gegen die pädagogisch-psychologi­schen Konstruktivismuskonzepte geäuBert - scheint daher die Annahme plausibel, dass rnit der Realisierung konstruktivistisch orientierter Unterrichtskonzepte solipsi­stische Subjekt-Umwelt-Beziehungen eher aufgelöst als verstärkt werden.

c. Mit Blick auf die von der Lehrseite definierten Sollleistungen und die Gestaltung von Lernumgebungen ist die konstruktivistische These von der individuellen Reprodukti­on des dargebotenen Wissens nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil dadurch in­haltlich enge Festsetzungen des , guten , Wissens und die - an einem imaginären Durchschnittslernenden orientierte - Norrnierung der Aneignungsweisen in Frage ge­stellt werden.

Im Zusammenhang mit diesen Annahmen ist eine Reihe von Konzepten zur Gestaltung von Lernumgebungen ll entwickelt worden. Diesen ist gemeinsam - so Gerstenmaier/ Mandl (1994), daB sie Ausdruck des Bemühens sind, eine aktive Auseinandersetzung mit Problemen zu initiieren und die Anwendungsqualität des in unterrichtlichen Lehr­Lernprozessen erworbenen Wissens zu erhöhen.

zung mit diesem Thema stehtjedoch an - insbesondere im Hinblick auf die Verträglichkeit konstruk­tivistischer und tätigkeitstheoretischer Basisannahmen.

10 Mit dem Hinweis "auf Aneignung orientiert" soll die Differenz zu den alternierenden Ph asen der Wissensinternalisierung (Lernsituation) und Wissensexternalisierung (Prüfungssituation) im traditio­nellen Unterrichtskonzept markiert werden.

II Dazu gehören u.a. die cognitive flexibility theory (SpirolFeltovichlJacobsenlCoulson 1995) und das Konzept des cognitive apprenticeship (Collins/Brown/Newman 1989).

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Lehr-Lernprozesse in konstruktivistischer Perspektive 119

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Erfahrung erwerben

Hans Gruber

Wird jemand gebeten, die hervorragende Leistung einer anderen Person in einer komplexen beruflichen Tätigkeit zu erklären, fälIt wahrscheinlich der Satz, daB diese Person einfach "groBe Erfahrung" besitze. Damit gehen - zumeist unausgesprochen - wenigstens drei Aussagen einher, deren wissenschaftliche Fundierung und prakti­sche Relevanz das Gerüst dieses Kapitels bilden: (1) Erfahrung hängt offenbar eng mit der Fähigkeit zum kompetenten Handeln zusammen, ist dabei aber nicht mit Wissen gleichzusetzen und muB von diesem abgegrenzt werden. (Womöglich ist der Zusammenhang zwischen Erfahrung und Handeln sogar enger als der zwischen Wis­sen und Handeln.) Eine Pädagogik, die die Förderung von Kompetenzerwerb the­matisiert - etwa in Weiterbildungskonzepten -, solIte daher Erfahrung analysieren und berücksichtigen. (2) DaB Erfahrung relevant und daher anstrebenswert ist, gilt offenbar domänenunspezifisch in vielen verschiedenen Bereichen; von Erfahrung profitieren Handwerker, SportIer, Lehrpersonen oder Führungskräfte, sie spielt eine zentrale RolIe in beratenden, therapeutischen, seelsorgerischen Berufen u.v.a.m. Da­her solIte untersucht werden, welche Komponenten von Erfahrung über die Bereiche hinweg generalisierend identifizierbar sind. (3) Offenbar gibt es Wege, Erfahrung zu erwerben, die von den üblichen, oft formalisierten Lehr-Lem-Situationen abwei­chen. Es ist zu analysieren, in welcher Form Lemen ermöglicht werden solIte, urn Erfahrungserwerb zu unterstützen, ohne dabei andere Lemziele (z.B. Wissenser­werb) aus den Augen zu verlieren. Da Erfahrung offenbar etwas sehr Geheimnis­voIles, Persönliches, Individuelles ist, ist die Frage zu klären, ob Erfahrung über­haupt weitergegeben bzw. gelehrt werden kann.

In diesem Kapitel wird entsprechend dieser unterstelIten Facetten von Erfahrung die Bedeutung des Erwerbs von Erfahrung im alIgemeinen sowie in der Weiterbildung im besonderen dargestelIt. Zunächst wird aufgezeigt, inwiefem Erfahrung einen Ge­genpol bzw. eine Ergänzung zu Wissen, formalen Planungsaktivitäten usw. darstelIt; es wird eine Erweiterung der Forschungsschwerpunkte der Expertiseforschung in bezug auf die Analyse expertenhaften HandeIns vorgeschlagen. In einem zweiten Abschnitt werden Komponenten von Erfahrung expliziert, Möglichkeiten zu ihrem Zusammen­wirken werden anhand des ModelIs der "Wissensenkapsulierung" erörtert. Daraus werden im dritten Abschnitt Wege abgeleitet, wie der oft implizite Erwerb von Erfah­rung instruktional unterstützt werden kann; insbesondere ist das falIbasierte Lemen an­zuführen. Das ModelI des "dynamischen Gedächtnisses" wird als dessen theoretische Fundierung umrissen, daraus resultierende Chancen und Probleme der Weitergabe von Berufserfahrung werden präsentiert. Im abschlie8enden Abschnitt wird resümierend

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122 Hans Gruber

ein Erfahrungsmodell vorgeschlagen, in dem deutlich wird, wie Erfahrung erworben werden und wie demzufolge Handlungskompetenz durch Erfahrung entstehen kann.

Das Verhältnis van Erfahrung und Wissen

Die wissenschaftliche Untersuchung der (hohen) Kompetenz von Menschen in kom­plexen, z.B. beruflichen Domänen wird seit einigen Jahrzehnten mit besonderem Nachdruck von der Expertiseforschung vorangetrieben, in der die Leistung von Ex­perten analysiert und - häufig in Kontrast zu der geringeren Leistung von Anfängem bzw. "Novizen" - beschrieben wird. Die wichtigsten Befunde dieser Forschungsrich­tung (zum Überblick: Ericsson 1996; Gruber & Ziegier 1996) wurden aus einer infor­mationsverarbeitungstheoretischen Perspektive gewonnen, in der menschliches Ver­halten als Aufnahme, Verarbeitung, Speicherung und Weitergabe von Information in­terpretiert wird (Law 1997). Daher ist es nicht verwunderlich, daB als zentrales Merk­mal von Experten vor allem deren im Vergleich zu Anfängem unterschiedliches Wis­sen gesehen wird: Experten besitzen umfangreicheres Wissen, sie haben ihr Wissen besser organisiert, können es schneller und fehleifreier abrufen und in Problemsitua­tionen rational geplant zur Anwendung bringen. Diese Vorteile werden vor allem auf die langwährende Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsbereich, in dem die Person Experte ist, zurückgeführt. Ericsson und Crutcher (1990) konnten in einer Überblicks­arbeit keine komplexe Domäne finden, in der jemand Expertenstatus ohne wenigstens 10 Jahre lang währende intensive Beschäftigung erlangt hätte.

Die pädagogischen Konsequenzen scheinen denkbar einfach zu sein: Durch lang andauemde Aufnahme systematisch präsentierter Wissenseinheiten kann Expertise er­worben werden! Dieser SchluB ist jedoch aus mehreren Gründen nicht zwingend. Vor allem ist einzuwenden, daB die lange Auseinandersetzung eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Expertise- bzw. Kompetenzerwerb ist: Nicht jede Person wird durch lange Beschäftigung zum Experten ! Als zweites Argument ist anzuführen, daB umfangreiches Wissen noch nicht expertenhaftes Handeln garantiert: In einer Rei­he von Studien konnte gezeigt werden, daB in schulischer, universitärer und beruflicher Ausbildung häufig "träges Wissen" erworben wird, das in realen Problemlöse- und Ar­beitssituationen nicht angewendet werden kann (Mandl, Gruber & Renkl 1994). Wis­sen allein genügt also offenbar nicht zur Erklärung hoher Kompetenz; das "Können" von Experten (Hacker 1992) ist mit weiteren Merkmalen verbunden, die Wissen in "richtige" Zusammenhänge stellen und seine Anwendungsbedingungen klären. Damit ist die Beobachtung konform, daB die Handlungsplanung von Experten oft opportuni­stisch unter Verzicht auf explizite rationale Planungsprozesse vonstatten geht.

Mit dem Gesagten soli selbstverständlich keineswegs geleugnet werden, daj3 Ex­perten über formales Wissen verfügen (können) und daj3 sie rational planen (können); vielmehr geht es darum, daB sie in vielen Situationen weniger systematisch, aber nicht minder erfolgreich vorgehen. Dies zieht weitreichende Konsequenzen für die Be­schreibung der Kompetenz von Experten sowie für pädagogische Möglichkeiten der Förderung des Kompetenzerwerbs bzw. -ausbaus nach sich: Die Konfrontation mit sy­stematischen Wissenseinheiten und Planungsschritten genügt nicht, sie muB urn andere Lemformen ergänzt werden, da unterschiedliche Kompetenzaspekte betroffen sind:

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Eifahrung erwerben 123

"Während die Anwendung von Faktenwissen intellektuelle, bewuBte und verbalisier­bare menschliche Aktivitäten wie Denken und Planen meint, wird mit dem Könnens­begriff eine situationsverwobene, flüssige, in groBen Teilen nicht bewuBtseinsfáhige oder -pflichtige Handlungsweise beschrieben." (Dahmer 1994, S. 7)

Wenn eine Divergenz zwischen dem Vorhandensein von Wissen oder rationalen Plänen und der tatsächlichen beruflichen Leistung zu vermelden ist, ist im Alltags­sprachgebrauch oft von "Erfahrung" als Gegenpol zu Wissen und Planung die Rede, wodurch Erfahrung mystischen Charakter erhält, der sich der wissenschaftlichen Ana­lyse scheinbar entzieht. Da eine solche Konzeption natürlich unfruchtbar ist, ist nach theoretischen Annahmen und pädagogischen Umsetzungsmöglichkeiten zu suchen, beide Kompetenzmerkmale - abstraktes Wissen und Planen auf der einen Seite, Erfah­rung auf der anderen - gemeinsam zu erfassen und ihren Erwerb zu fördem. In bezug auf die betriebliche Handlungskompetenz heiBt dies beispielsweise, daB das wechsel­seitige Abhängigkeitsverhältnis von Erfahrungs- und Planungswissen zu untersuchen ist und daB in der Weiterbildung - die oft auf abstraktes Wissen abzielt - vermehrt Ge­legenheiten zum Erwerb von Erfahrung einzuräumen sind. Gerade die wechselseitigen Abhängigkeiten formalen, systematischen Wissens und individueller, episodischer Er­fahrung sind zu analysieren, zur Untersuchung der Informationsverarbeitungsprozesse von Experten muG die Analyse offenbar geeigneter Lemerfahrungen hinzukommen, die es erlauben, daB Erfahrungswissen entstehen und in Handeln umgesetzt werden kann.

Damit steht fe st, daB Erfahrung stets mit der (vom Individuum erlebten) Qualität erlebter Episoden zusammenhängt und nicht ausschlieGlich quantitativ über die Dauer der Auseinandersetzung mit einem Gegenstandsbereich und über die Anzahl erlebter Episoden zu identifizieren ist (vgl. Sonnentag & Schmidt-BraBe 1998). Der "richtige Erfahrungsbegriff' (Gruber, 1999) kommt ohne einen engen Bezug zu den individuel­len Informationsverarbeitungsprozessen von Experten nicht aus, mit Hilfe derer die kognitiven Komponenten kompetenten Handeins dargestellt werden. Zugleich liefert der Erfahrungsbegriff aber auch Argumente dafür, weswegen Menschen den langen Weg des Kompetenzerwerbs überhaupt einschlagen, in dem die subjektiv zugeschrie­bene Bedeutsamk:eit von Leminhalten eine zentrale Rolle spielt.

Kampanenten van Erfahrung

Erfahrung in Zusammenhang mit beruflicher Kompetenz ist also durch drei Kompo­nenten gekennzeichnet, die von Weiterbildung anzusprechen sind. (1) Da kompetentes berufliches Handeln den Umgang mit groBen Wissensmengen erfordert, sind kognitive Informationsverarbeitungsprozesse bedeutsam, etwa der Erwerb und die Organisation neuen Wissens. (2) Weiterbildung kann nur dann zu Transfer auf berufliches Handeln führen, wenn die subjektive Relevanz der Lemsituation gewährleistet ist. (3) Erfahrung erwerben für berufliche Kompetenz heiBt Lemen in komplexen, anwendungsrelevan­ten Situationen. Das gelungene Zusammenspiel dieser Komponenten schlägt sich im Erwerb von Erfahrung nieder, die dann zur Grundlage kompetenten Handeins wird. Es ist eine pädagogisch-psychologische Aufgabe, Bedingungen zu identifizieren und her­zustellen, unter denen dies möglich wird. Mit den genannten Komponenten werden Bedingungen angesprochen, die auf die Anwendung von Wissen zielen; hierfür sind

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124 Hans Gruber

neben kognitiven Voraussetzungen insbesondere auch Aspekte beruflicher Kompetenz wie Sozialkompetenz und Personalkompetenz zu bedenken (Schélten 1997).

DaB berufliche Erfahrung über das domänenspezifische Fachwissen nicht hinrei­chend beschrieben werden kann, wurde auch in arbeitspsychologischen Studien deut­Hch, in denen sich zeigte, daB Fachwissen allein nicht ausreicht, urn der Komplexität industrieller Fertigung zu genügen. Vielmehr bedürfen auf Fachwissen basierende Ar­beitsprogramme der situations- und kontextspezifischen Optimierung am Arbeitsplatz durch Arbeitstätige mit hohem Erfahrungswissen, das eine Wissensform darstellt, die "durch praktische sinnliche Erfahrung und ganzheitliche Arbeitshandlungen erworben und eingesetzt wird" (Rose 1991, S. 21). Zentral ist das durch aktives Handeln und dessen Konsequenzen individuell entwickelte, erlebte Wissen. Solches Erfahrungswis­sen wird durch Nachvollziehen und durch Kommunikation von Arbeitskräften unter­einander erworben, weniger durch formale Lehr-Lem-MaBnahmen.

Eine Konzeption von Berufskompetenz, die mehr umfa8t als nur Fachwissen, ge­winnt auch aufgrund der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und rasch aufeinander­folgender technischer Veränderungen von Arbeitsplätzen an Bedeutung, die die Not­wendigkeit zum lebenslangen Weiter- und Umlemen verdeutlicht und klarmachen, daB das o.a. Kriterium langjähriger Beschäftigung mit einer Domäne oft nicht mehr erfüll­bar ist, so daB der Versuch notwendig ist, andere erfahrungsförderliche Komponenten in der Weiterbildung in Gang zu setzen. Trotz solcher Veränderungen werden Wissen und Qualifikation selbstverständlich nicht obsolet, sondem bleiben nach wie vor zen­trale Grundlagen kompetenten Handeins (Weinert 1998).

Bislang wurde Erfahrung oft einfach als Dauer der Berufstätigkeit operationali­siert. Je nach Operationalisierung und nach Auswahl der abhängigen Variablen, also der Ma8e professioneller Leistung, lassen sich unterschiedliche Folgerungen über die Rolle von Erfahrung in bezug auf Leistung ziehen. Zwar ist unabhängig vom verwen­deten MaB der Zusammenhang zwischen Arbeitserfahrung und Berufsleistung fast immer positiv, wie die Metaanalyse von Quifiones, Ford & Teachout (1995) zeigte -aber die Stärke des Zusammenhangs hängt von den jeweils bei den ErfahrungsmaBen unterschiedenen Dimensionen ab. Quifiones et al. (1995) identifizierten eine Reihe unterschiedlicher MaBe für Erfahrung: die Anzahl der Berufsjahre, die Anzahl der be­wältigten Aufgaben einer bestimmten Art, die Inhalte von Erfahrung, die Bedeutungs­zuschreibungen zu bestimmten Situationen und damit der aus ihnen gezogene indivi­duelle Lemgewinn. Diese Ma8e lassen sich in den beiden Dimensionen "Modus des Ma8es" (Ausprägungen: Gesamtmenge; Zeitraurn; Typ) und "Spezifitätsgrad" (Aus­prägungen: Berufsorganisation; Berufsrichtung; Arbeitsaufgabe) klassifizieren. Eine differenzierte Analyse des Erfahrungs-Typs wurde bislang kaum je geleistet; die Arbeit von Quifiones et al. (1995) deutet aber darauf hin, daB neben der - unbestrittenen -Quantität von Wissen, die Experten auszeichnet, auch dessen Transferier- bzw. An­wendbarkeit (angedeutet über die Dimension "Spezifitätsgrad") sowie vor allem die subjektive Relevanz des Wissens, erfaBt über die dem Wissen zugeschriebene Bedeu­tung, bedeutsam ist und bereits in der Gestaltung von Aus- und Weiterbildungssitua­tionen bedacht werden muB, damit Erfahrung erworben werden kann. Während der da­bei angestoBenen Lemprozesse wird das Wissen elaboriert und - im erfolgreichen Fall - anwendbar gemacht. Ein Modell, wie solches Erfahrungswissen entsteht, ist das der Wissensenkapsulierung.

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Erfahrung erwerben 125

Erfahrungswissen: Erfahrung durch Wissensenkapsulierung. Berufserfahrung führt zu qualitativen Wissensveränderungen. So wurde beispielsweise in der Enkapsu­lierungstheorie (Boshuizen & Schmidt 1992) der Kompetenzentwicklung in der Medi­zin gezeigt, wie sich aus deklarativem, biomedizinischen Wissen eine Form prozedu­ralisierten Wissens entwickelt, die auf der ärztlichen Erfahrung aus Begegnungen mit Patienten-Fällen basiert. Dabei werden anwendungsnahe Wissensstrukturen (illness scripts) herausgebildet, die das rasche Fällen zutreffender Diagnosen erlauben, ohne daB aufwendig umfangreiches deklaratives Wissens aktiviert werden mÜGte. Solche er­fahrungsbasierten illness scripts entstehen wie folgt: Zunächst wird (deklaratives) bio­medizinisches Wissen über Krankheiten erworben, das danach durch die Begegnung mit realen Fällen in illness scripts umgewandelt wird und später als episodische Erin­nerung an tatsächliche Patienten bei der Diagnose neuer Fälle genutzt werden kann. In diesem ProzeB wird sozusagen Wissen ("know that") in Können ("know how") umge­wandelt; dabei schlieGen die beiden Formen der Kompetenz einander aber keineswegs aus, denn das deklarative Wissen bleibt im Gedächtnis aufbewahrt, verschwindet also mit Entstehen erfahrensbasierter illness scripts keineswegs vollständig, sondern wird lediglich in der ärztlichen Tätigkeit in der Regel nicht mehr explizit eingesetzt. Die Rolle der verschiedenen Kompetenzkomponenten ändert sich also: Mit zunehmender Erfahrung von Ärzten sinkt die Bedeutung der expliziten Verwendung deklarativen biomedizinischen Wissens beim Erstellen einer Diagnose. Dabei wird das erlernte Fachwissen jedoch weder vergessen noch ignariert, sondem in das fallbezogene klini­sche Erfahrungswissen integriert; es liegt - daher der Name des ModelIs - in "enkap­sulierter" Form vor. Bei Bedarf - etwa bei sehr ungewöhnlichen Patienten - ist Ärzten die explizite Verwendung deklarativen Wissens durchaus möglich. Auch wenn Wissen in der "üblichen" Tätigkeit aufgrund der Erfahrung weniger zentral zu sein scheint, be­sitzt es doch aus zwei Gründen groGe Wichtigkeit: Erstens ist das V orhandensein um­fangreichen deklarativen Wissens notwendige Voraussetzung für den Erwerb erfah­rensbasierter illness scripts, zweitens muB es zur Verfügung stehen, wenn die illness scripts nicht greifen.

In einer Reihe von Studien wurde empirische Evidenz zugunsten des ModelIs der Erfahrung durch Wissensenkapsulierung ersichtlich. So wurde etwa gezeigt, daB zu­sätzliche Kontextinformation über den Patienten - die nicht zum üblichen deklarativen Wissen gehört, sondem durch Erfahrung erworben wird - die Diagnoseleistung von Experten positiv beeinfluBte, die Leistung von Novizen (Studierende der Medizin) hin­gegen nicht veränderte. Die sinkende Bedeutung deklarativen medizinischen Wissens im Vergleich zu klinischem, fallbasierten Wissen mit zunehmender Kompetenz wurde z.B. in der Beschreibung typischer Patienten für bestimmte klinische Bilder durch Ex­perten und Novizen deutlich: Je kompetenter die Ärzte waren, umso höher war der Anteil von Patientenmerkmalen bei der Beschreibung der Krankheit, und umso gerin­ger der Anteil deklarativen biomedizinischen Wissens.

Der genannte ProzeB des Erwerbs von Erfahrungswissen ist langwierig und nicht trivial. Lemende geraten var allem in derjenigen Phase in Schwierigkeiten, in der sie sich weniger auf biomedizinisches Wissen zu verlassen beginnen, ohne aber bereits gut funktionierende illness scripts aufgebaut zu haben; gerade Personen mittIeren Experti­segrades springen zwischen beiden Vorgehensweisen hin und her und haben daher oft temporäre LeistungseinbuBen zu verzeichnen (Lesgold 1984).

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Die beschriebenen Prozesse der qualitativen Wissensveränderung - Enkapsulie­rung deklarativen Wissens, Aufbau von illness scripts - legen es nahe, klinisch-erfah­rungsbedingte Momente bereits in der Aus- und Weiterbildung sowie bei Prüfungen gegenüber dem Fachwissen stärker zu berücksichtigen. In einigen Aus- und Weiterbil­dungsmodellen - etwa der AIP-Phase - wird bereits groBes Gewicht auf erfahrungs­fördemde Phasen gelegt, die auch für andere Berufsfelder als die Medizin richtungs­weisend sein können. DaB das "Lemen aus Fällen" eine beachtenswerte Lemform ist, konnte sowohl in kognitionspsychologischen Arbeiten als auch in pädagogischen In­struktionsansätzen gezeigt werden.

Erfahrung lernen: Lernen aus Fällen

Der Erwerb von Erfahrungswissen erfolgt also oft auBerhalb formeller Ausbildungs­einrichtungen während der Berufstätigkeit; in der Nutzung entsprechender Möglich­keiten liegt eine groBe Chance gerade von Weiterbildung. Für deren angemessene Ge­staltung sind jedoch eine theoretische Analyse von Prozessen des Erwerbs von Erfah­rung sowie die Entwicklung von Modellen zu deren instruktionaler Umsetzung not­wendig. Mit der Theorie des dynamischen Gedächtnisses (Kolodner 1983) und dem In­struktionsmodell fallbasierten Lemens (Kolodner 1997) sind diese Voraussetzungen vorhanden.

Im Modell des dynamischen Gedächtnisses wird erklärt, wie Lemepisoden als Er­fahrungen im Gedächtnis repräsentiert und weiterverarbeitet werden. Wissen, dessen Anwendbarkeit durch Erfahrung gelemt wurde, bezeichnet Kolodner (1983) als episo­disch definiert. Experten zeichnen sich gegenüber Novizen durch überlegene episodi­sche Definitionen aus, die durch wiederholte Erfahrung mit der Anwendung von Wis­sen fortgesetzt verfeinert werden. Beim Lemen aus Fällen wird Wissen über Objekte, Situationen, Ereignisse und Handlungen in Form von Schemata abgebildet, die inso­fem dynamisch sind, als sie situationsspezifisch und damit erfahrungsabhängig adap­tiert und unter MaBgabe von Zielsetzungen, Intentionen und Plänen der Lemenden konstruiert werden. Im episodischen Erfahrungswissen werden sowohl allgemeine Epi­soden repräsentiert, die durch eine Anzahl erfahrener Einzelepisoden vom Lemenden generalisiert wurden, als auch erfahrene Abweichungen jeweiliger Einzelepisoden von den generellen Episoden. Durch diese flexible Repräsentationsform kann sowohl de­klaratives als auch prozedurales Wissen gespeichert werden; damit ist die Theorie des dynamischen Gedächtnisses zum Modell der Wissensenkapsulierung kompatibel.

Die fortschreitende Verfeinerung von Expertise wird insbesondere über die refle­xive Anwendung von Wissen erreicht; damit wird ersichtlich, daB der Erwerb von Er­fahrung an die subjektive Relevanz der Lemepisoden geknüpft ist, da nur dann auf­wendige, reflexive Verarbeitung erfolgt. Intentionen und Motivationszustände der Ler­nenden müssen deswegen bei der Planung von Weiterbildung eine groBe Rolle spielen.

Der Erfahrungs-LemprozeB selbst wird nach Kolodner (1983) insbesondere durch zwei Ereignisklassen ausgelöst: Durch Generalisierungen über Episoden hinweg sowie durch die Analyse von Fehlem. Daher ist es verständlich, daB fallbasiertes Lehren und Lemen zur präferierten instruktionalen Methode wird. Auf dem Hintergrund der Erfah­rung mit früheren Fällen können Experten in der Auseinandersetzung mit neuen Problem-

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fàllen komplexe Verarbeitungsprozesse in Gang setzen, bei denen die aktuelle Belastung des kognitiven Apparates reduziert wird, so daB Kapazitäten zur schnellen Ausführung von Handlungen frei werden. Für die Gestaltung von Weiterbildung heiSt dies natürlich, daB sich die Lehre nicht auf das Vermitteln reproduzierbaren Faktenwissens beschränken kann, sondern daB Handlungskompetenz in komplexen Episoden eine zentrale Rolle zu spielen hat. Eine wichtige Frage ist, inwiefern es gelingen kann, die Relevanz von Episo­den und die Möglichkeiten zum Erwerb von Erfahrung zu vermitteln. In bezug auf die Weitergabe von Erfahrung liegen bislang allerdings nur wenige Studien vor.

Weitergabe von Erfahrung. Weitergabe von Erfahrung heiSt, daS erfahrene Men­schen weniger Erfahrenen sowohl notwendiges Wissen vermitteln als auch das Lemen in Episoden ermöglichen und die Relevanz dieser Episoden aufzeigen können. Da sich Weiterbildung oft nur auf die erste dieser Komponenten beschränkt, wurden Möglich­keiten zur Weitergabe von Erfahrung noch kaum eruiert. Dies ist insbesondere der Fall, da erfahrene Menschen oft ältere Menschen sind, deren Rolle im modernen Arbeits­pro zeS auf ein Zulaufen auf das Ausscheiden aus dem Beruf beschränkt ist. Dabei sind Varianten des Lernens aus Fällen, bei dem Erfahrene und weniger Erfahrene gemein­sam beteiligt sind, gerade in der beruflichen Weiterbildung möglich, vor allem in Lern­formen, die dem Apprenticeship-Modell folgen und die besonders einleuchtend beim learning on the job realisierbar sind. In solchen Lernformen ist die berufliche Relevanz der Erfahrung unmittelbar erkennbar, die Episoden weisen nur geringe Transferdistanz zu späteren Anwendungssituationen auf und versprechen daher hohen Lernerfolg.

Das Erfahrungswissen insbesondere älterer Menschen kann also von erheblicher Bedeutung sein. Inwiefern Betriebe sowie zur Erfahrungsweitergabe prädestinierte äl­tere Menschen bereit sind, sich an Pro grammen zur Weitergabe von Erfahrungswissen zu beteiligen, wurde allerdings noch kaum untersucht. Dies war daher Gegenstand zweier Interviewstudien (Otto 1997; Weese 1995) mit älteren Erwachsenen aus ver­schiedenen Berufsbereichen (kaufmännische Führungskräfte; Ärzte). Es wurde erfragt, ob und wie Erfahrungswissen zur Geltung kommen kann, ob es von formal in der Aus­bildung gelehrtem Fachwissen unterscheidbar ist und welche Voraussetzungen für die Nutzung von Erfahrungswissen erfüllt sein müssen.

In der Selbsteinschätzung von Führungskräften aus dem kaufmännischen Bereich zeigte sich, daB Erfahrung immer im Umgang mit persönlich bedeutsamen Episoden er­worben wurde und zur Ergänzung fachlichen Wissens notwendig war. Möglichkeiten zur Weitergabe von Erfahrungswissen wurden im kaufmännischen Bereich kaum realisiert, obwohl sie von den Interviewten als bedeutsam angesehen wurden. Sie äuSerten, daB es das zentrale Ziel der Weitergabe von Erfahrung sein müsse aufzuzeigen, wie mit kriti­schen, subjektiv relevanten, beruflichen Lebensereignissen reflexiv umgegangen werden könne. Das gemeinsame Bearbeiten komplexer beruflicher Probleme durch Erfahrene und weniger Erfahrene wurde als groBes Desiderat beruflicher Weiterbildung gesehen.

Die Befragung von Ärzten ergab gleichfalls, daS Erfahrung als wichtige Ergän­zung formaier Ausbildung eingeschätzt wurde, die sich insbesondere in der Sicherheit ärztlicher Eingriffe auswirke. Die Interviewten äuBerten, daB Erfahrung vor allem auf dem reflexiven Studium einer groBen Anzahl an Fällen und Episoden beruhe, an denen das Fachwissen exemplifiziert werde. Die befragten Ärzte waren allerdings der An­sicht, daB durch die Organisation des Berufslebens bereits in ausreichendem MaBe für die Weitergabe von Erfahrungswissen gesorgt werde; sie hatten wenig Interesse, dies

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nach der Pensionierung fortzuführen, sondem plädierten vielmehr für eine klare Tren­nung zwischen Beruf und Ruhestand.

Es zeigte sich also, daB eine bedeutsame Rolle von Erfahrung in verschiedenen Be­rufen betont wurde, daB aber Fragen der Weitergabe von Erfahrungswissen in den ver­schiedenen Disziplinen konträr diskutiert wurden. Dies kann sowohl an bereits eta­blierten Strukturen des Erfahrungslemens während der - oft impliziten - Weiterbil­dung im Verlauf der Berufstätigkeit in den einzelnen Fächem liegen als auch an einer mehr oder minder ausgeprägten "Berufsmüdigkeit". Zur Klärung dieser Fragen sind systematische Studien zu Möglichkeiten der Weitergabe von Erfahrung in verschiede­nen Berufen notwendig.

Handlungskompetenz durch Erfahrung: ein Erfahrungsmodell

In diesem Kapitel wurden Möglichkeiten zum Erwerb von Erfahrung durch berufliche Weiterbildung aus kognitionspsychologischer und pädagogischer Perspektive analy­siert. Die zentrale Rolle, die Erfahrung für berufliche Kompetenz spielt, scheint auBer Frage zu stehen. Insbesondere gilt dies, da Erfahrung nicht rnit Wissen gleichzusetzen ist, sondem beides sich ergänzende Komponenten von Expertise sind. Aus den disku­tierten Modellen zum Erwerb von Erfahrung und zur Speicherung und Anwendung er­fahrener Lemepisoden in beruflichen Handlungen resultiert eine Reihe von Merkma­len, die Erfahrung als Grundlage kompetenten beruflichen HandeIns auszeichnen und die im folgenden Modell von "Erfahrung als Informationsverarbeitung in Situationen" integriert sind.

Erfahrung als Grundlage beruflicher Kompetenz entsteht in der langen, intensiven Auseinandersetzung rnit einem Gegenstandsbereich durch das Erleben von Episoden, die vom Individuum als relevant erachtet werden. Dies muB bei der Gestaltung von Weiterbildungsgelegenheiten im Auge behalten werden, ist - neben dem Aufbau gut organisierter Wissensstrukturen - die Möglichkeit zur Förderung des Erwerbs von Er­fahrung intendiert, urn das Zustandekommen und den Ausbau von beruflicher Kom­petenz zu erklären und zu fördem. Für eine Konzeption von Erfahrung als "Informati­onsverarbeitung in Situationen" ist es notwendig, daB die zentralen individuellen In­formationsverarbeitungsstrukturen und -pro zes se, die menschlicher Kompetenz zu­grundeliegen, ebenso untersucht werden wie situative Komponenten, die vom Indivi­duum als relevant erachtet werden und es zur Konstruktion entsprechenden Wissens anregen. In der Zusammenschau dieser beiden Perspektiven kann Erfahrung in sechs Merkmalen beschrieben werden.

1. Erfahrung ist Grundlage beruflicher Kompetenz; sie hängt mit überdurchschnittlich erfolgreicher Leistung in einer komplexen Domäne zusammen.

2. Erfahrung ist ein Merkmal von Individuen; sie hängt vor allem rnit deren beson­ders gutem Gedächtnis für domänenspezifische Information zusarnmen, das so­wohl bei der kurzfristigen Speicherung als auch beim langfristigen Erinnem und Abrufen zu beobachten ist.

3. Erfahrung hängt rnit dem Besitz urnfangreichen domänenspezifischen Wissens zu­sammen.

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4. Erfahrung hängt vor allem mit Wissen zusammen, das durch episodische, selbst erlebte Ereignisse entsteht und das von den Individuen aufgrund dieser Erlebens­prozesse konstruiert wird.

5. Erfahrung entsteht in episodischen Erlebnissen nur dann, wenn die se vom Indivi­duum als relevant eingeschätzt werden; damit hängt Erfahrung - dies gilt insbe­sondere für Wege zu deren Weitergabe - nicht nur von kognitiven, sondem auch von emotionalen, motivationalen und sozialen Merkmalen ab.

6. Erfahrung kann dann gelehrt werden, wenn es ennöglicht wird, Episoden zu erle­ben, und wenn die individuelle Relevanz des Lemgegenstands vennittelt wird.

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Lemen im Betrieb: selbstgesteuert, kooperativ, motiviert? Kritische Anmerkungen zur Idealisierung betrieblicher Weiterbildung

Susanne Kraft

Der Beitrag diskutiert, inwieweit und in we1chen Forrnen Motivation, Selbststeuerung und Kooperation beim Lemen im betrieblichen Kontext errnöglicht und erwünscht wird. Problematisiert wird, daB in den aktuell sehr euphorisch geführten Diskussionen urn "neue Lemforrnen", "Lemkultur" ... in den Untemehmen zum einen relevante und wichtige Fragen nach den Inhalten, Zielen und Zwecken betrieblichen Lemens (syste­matisch?) ausgeklammert und zum anderen die Rahmenbedingungen des Lemens im Betrieb (Hierarchie, Konkurrenz, Leistungsdenken, Bedrohung des Arbeitsplatzes ... ) zu wenig berücksichtigt werden.

1. "Neues" Lemen im Betrieb?

Wie ein roter Faden durchzieht die These von der wachsenden Bedeutung des Lemens die aktuellen Verlautbarungen aus den Bildungsabteilungen der Untemehmen und die Veröffentlichungen der fachwissenschaftlichen Literatur. Viel ist die Rede von neuen Lernkulturen und neuen Lemforrnen, veränderten Arbeitsstrukturen mit flacheren Hierar­chien, von Selbstbestimmung und Selbstorganisation des Lemens und Arbeitens, sub­jektiven Freiheitsspielräumen und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten, von Ver­antwortung und von lebenslangem Lemen als gemeinsamer Vision im Untemehmen.

Ob nun tatsächlich "das Schicksal eines Untemehmens vom Lemen (abhängt)" (Posth 1991, S. 16) und "Lemen die Voraussetzung für das Überleben eines jeden Un­temehmens am Markt" (Reinmann-Rothmeier & Mand11998, S. 196) geworden ist, ist empirisch noch weitgehend ungeklärt. Sicher ist jedoch, daB "dem Lemen" in den neu­en Untemehmensphilosophien und -konzeptionen eine immer bedeutendere Rolle zu­gewiesen wird. Meyer-Dohm spricht von einer "neuen Einstellung der Betriebe zum Lemen" (Meyer-Dohm 1991b, S. 196), Lemen wird zum "Kern" (Dehnbostel u.a. 1998, S. 7), zum "Instrument" (DrexeI1998, S. 51) und der "lemfáhige Mitarbeiter zur Basis" der Lemenden Organisation (Schusser 1994, S. 12).

Besondere Bedeutung gewinnen insbesondere auch neue Forrnen, Methoden und Ziele des Lemens - "Lemen wird anders" (Dehnbostel 1998): Die reine Stoffverrnitt­lung, das lineare Fakten-Lemen und das vorstrukturierte, geplante und organisierte Lemen solI erweitert bzw. ersetzt werden durch Forrnen des aktionsorientierten, ver­netzten, problemorientierten, ganzheitlichen Lemens (Decker 1985, S. 154) und insbe­sondere durch selbstgesteuerte und kooperative Forrnen des Lemens - von einigen Au-

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132 Susanne Kraft

toren werden diese bereits als "Schlüsselqualifikationen" bezeichnet (Reinmann­Rothmeier & Mandl 1993 und 1998).

Da es "in allen Lem- und Handlungssituationen nicht ohne guten Willen geht" (Hardt u.a. 1998), bedeutet die Entwicklung einer "Lemkultur" im Untemehmen aber auch, "daB auf allen Ebenen der Organisation, von den Mitarbeitem über die Füh­rungskräfte bis zur Untemehmensleitung, eine positive Einstellung zum Lemen gene­reIl sowie eine überdauemde Bereitschaft zum individuellen und gemeinsamen Lemen bestehen muB" (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1998, S. 211).

Ergänzend zum veränderten "Stellenwert des Lemens" im Untemehmen und den "neuen Formen und Methoden" werden nun auch motivationale Aspekte des Lemens als relevant erkannt: Ohne die (generelIe) Bereitschaft und die positive (!) Einstellung aller Beteiligten zum Lemen - so die These - kann die gemeinsame Vision der Ent­wicklung einer Neuen Lemkultur im Untemehmen nicht realisiert werden.

Neu ist somit nicht nur der postulierte erhöhte Stellenwert von Lemen in den Un­temehmen, sondem neue Lemformen und -methoden beinhalten und zielen auf eine vermehrte Selbststeuerung, Kooperation und Motivation im Lem- und ArbeitsprozeB.

DaB "die Neue Lemkultur tatsächlich gewollt wird" (Amold 1995, S. 21), steht si­cherlich auBer Frage. Freilich klingen auch die "emanzipatorischen" Vokabeln wie "selbstgesteuert", "kooperativ" ... in den neuen Untemehmenskonzepten und -philoso­phien gut. Jedoch: Zweifel und Skepsis sind - aus wissenschaftlicher Sicht - gerade dann immer angebracht, wenn allzu euphorisch und unkritisch "Neues" propagiert wird.

Zu fragen ist weniger, ob die Untemehmen tatsächlich eine Neue Lemkultur ent­wickeln, sondem vielmehr:

a. Mit welchen Begründungen wird "dem Lemen" und neuen Lemformen in den Untemehmen zukünftig eine so bedeutende Rolle zugewiesen und warum wird die Forderung nach mehr Selbststeuerung, Kooperation und Motivation in betriebli­chen Lem- und Arbeitsprozessen explizit zum Programm gemacht?

b. Wie werden Selbststeuerung, Kooperation und Motivation jeweils innerhalb der betrieblichen Lem- und Arbeitsprozesse inhaltlich konkretisiert?

Entlang dieser Fragen werden in den folgenden Ausführungen zunächst kritisch die Argumente gesichtet, mit denen "dem Lemen" und "neuen Lemformen" in den Unter­nehmen eine bedeutende Rolle zugeschrieben und mit denen mehr "Selbststeuerung, Kooperation und Motivation" in den Untemehmen gefordert werden. Im AnschluB daran wird diskutiert, in welchen Formen und innerhalb welcher Grenzen Selbststeue­rung, Kooperation und Motivation in betrieblichen Lem- und Arbeitsprozessen tat­sächlich erwünscht und ermöglicht wird.

Vermutet wird, daB unter den vorfindbaren betrieblichen Rahmenbedingungen Selbststeuerung, Kooperation und Motivation immer nur eingeschränkt, selektiv und betriebsspezifisch gefördert und zugelassen wird.

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Lemen im Betrieb: selbstgesteuert, kooperativ, motiviert? 133

2. Kritische Anmerkungen zu den Begründungen

2.1 Lemen gewinnt an Bedeutung - aber warum?

Weitgehend unstrittig - des wegen aber nicht unproblematisch - erscheinen die Argu­mente, mit denen die zunehmende Bedeutung des Lemens im Betrieb begründet wird: Fast immer wird auf rasche "gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen" verwiesen, "woraus sich ein erhöhter Lembedarf ergibt" und die "das Lemen zu einem permanenten ProzeB machen" (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1993).

Die vielzitierte These vom "schnellen Wandel" ist nun einerseits sicherlich richtig, gleichzeitig ist sie jedoch ebenso abstrakt, wie die daraus abgeleitete Forderung nach einem erhöhten Lembedarf: Mehr Wandel = mehr Lemen erscheint zwar als logische SchluBfolgerung, wobei in dieser abstrakten Formulierung offen bleibt, was konkret "sich wandelt" und wie dieser Wandel "lemend" bewältigt werden kann.

Wenig aussagekräftig und höchst unpräzise ist es zudem, "dem Lemen" ganz all­gemein eine gröBere Bedeutung zuzuschreiben: Lemen gibt es nicht "an sich", sondem Lemen ist immer an Inhalte, Ziele und Zwecke gebunden. Aus betrieblicher Sicht ist es ja durchaus auch nicht beliebig, was die Mitarbeiter lemen (sollen) und zu welchem Zweck. "Lemen" in den Untemehmen gewinnt nicht "an sich" oder zur Bewältigung abstrakter, sich wandeinder technischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ent­wicklungen an Bedeutung, sondem immer nur im Hinblick auf konkrete Veränderun­gen und Zielsetzungen in den Untemehmen. Technische Neuheiten in den Untemeh­men "fordem" nicht "an sich" mehr oder ein anderes Lemen, sondem haben konkrete Veränderungen der Leminhalte und der zu vermittelnden Qualifikationen zur Folge. Wenn Roboter z.B. Teile der Produktion in einem Untemehmen übemehmen, dann verändert sich ganz konkret das Aufgabengebiet des Facharbeiters, der jetzt beispiels­weise nicht mehr schweiBen, sondem den Roboter (selbständig) bedienen können muB. Hier wandein sich konkret die Inhalte und Aufgaben seiner Arbeitstätigkeit, zu deren Bewältigung der Mitarbeiter nicht "an sich" oder "Beliebiges" lemen, sondem gezielt und konkret neues Wissen oder neue Qualifikationen erwerben muB.

Somit mag Lemen in den Untemehmen zwar an Bedeutung gewinnen - jedoch nicht abstrakt und inhaltsleer, sondem immer betriebsspezifisch zur Bewältigung kon­kreter und zur Anpassung an jeweils spezifische betriebliche Veränderungsprozesse. So plausibel also zunächst die Rede vom "gestiegenen Lembedarf' und der zuneh­menden "Bedeutung des Lemens" in den Untemehmen auch erscheint, sie erweist sich bei genauerer Betrachtung in dieser allgemeinen Form als wenig aussagekräftig.

Nicht nur die fehlenden Begründungen in den Ableitungen sind jedoch problema­tisch, sondem insbesondere auch, daB in der euphorischen Begeisterung und Diskussi­on über eine "Neue Lemkultur" in den Untemehmen und darüber, daB zukünftig mehr und anders gelemt werden solI, einige für das Lemen doch grundlegende Fragen aus­geklammert werden, nämlich die Fragen nach den lnhalten und den Zielen des Ler­nens, nach dem was und wofür gelemt werden solI. Unhinterfragt und selbstverständ­lich gilt auch, daB die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich kontinuierlich "lemend" an technologische und wirtschaftliche "Veränderungen" "anpassen sollen" bzw. "müs­sen". Diese Formulierungen zeigen bereits deutlich, daB Lemen im Betrieb für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weniger ei ne Frage des "Wollens", sondem vielmehr

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des "Sollens" bzw. gar des "Müssens" ist: Die ständige "lemende" Anpassung der ei­genen Qualifikationen und Fähigkeiten an "neue betriebliche und technische Erforder­nis se" ist für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eine Notwendigkeit und eine Anfor­derung, deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung unter gegebenen betrieblichen Rahmen­bedingungen durchaus mit weitreichenden Konsequenzen (z.B. Erhalt oder Verlust des Arbeitsplatzes) verbunden sein kann.

Die Bereitschaft zur Weiterbildung und zum Weiterlernen wird seitens der Betriebe systematisch eingefordert - die Leminhalte wie auch die Lemziele sind gemäB den technischen und wirtschaftlichen "Entwicklungen" und "Anforderungen" des Betriebes den Lemenden immer vorgegeben. Dies muB nun nicht unbedingt problematisch sein -es gilt jedoch diese Aspekte als Rahmenbedingungen betrieblichen Lemens zu berück­sichtigen, bevor allzu schnell die "neue betriebliche Lemkultur" gefeiert wird. Kritisch hinterfragt werden muB auch die Forderung nach einer "generelI positiven Einstellung zum Lemen" (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1998): Fraglich ist, ob es überhaupt "zum Lemen generelI" eine positive Einstellung geben kann, ohne daB die Inhalte und Ziele des Lemens benannt und konkretisiert werden. Eine "positive Einstellung" zum Lemen kann sich beispielsweise aufgrund eines Interesses am jeweiligen Lemgegen­stand oder durch das Ziel, das Lemende mit dem Lemen verfolgen, entwickeln. Unab­hängig davon ist jedoch gerade die Tatsache bedenkenswert, daB diese "positive Ein­stellung zum Lemen" inhaltsunspezifisch eingefordert wird: Wer dies fordert, erwartet von den Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen die (abstrakte) Bereitschaft und die positive Einstellung gemäB den betrieblichen Anforderungen alles "Notwendige" zu lemen -und zwar ohne die Inhalte und Ziele des Lemens zu kennen oder gar kritisch zu reflek­tieren und zu überprüfen. Die Problematik liegt somit zum einen in der inhaltsunabhän­gigen Forderung nach einer positiven Einstellung zum Lemen, zum anderen werden hier die Rahmenbedingungen betrieblichen Lemens systematisch ignoriert, wie bei­spielsweise die (meist unausweichliche) Notwendigkeit zur Weiterbildung, die vorge­gebenen Inhalte, Zwecksetzung sowie Konkurrenzbedingungen, unter denen Lemen wie Arbeiten im Betrieb stattfindet.

Bevor also allzu sehr die neue betriebliche Lemkultur und die Bedeutung des Ler­nens gefeiert wird, erscheint es doch dringend erforderlich Zielsetzungen, Aufgaben und Funktionen betrieblichen Lemens und betrieblicher Weiterbildung stärker zu be­rücksichtigen und in eine systematische Analyse mit einzubeziehen.

2.2 Warum mehr Selbststeuerung, Kooperation und Motivation im Lernprozej3?

Analysiert man die Begründungen, mit denen neue Lemformen1 in den Untemehmen gefordert werden, so finden sich ökonomische und pädagogische Argumente: Urn dem "qualitativ und quantitativ gestiegenen Lembedarf gerecht zu werden," fehlt es an "Zeit, Personal, Geld und Motivation". Deshalb wird aus "betrieblicher, psychologi­scher und didaktischer Sicht" die Einführung selbstgesteuerter und kooperativer Lemformen erforderlich, urn das "Wissen der Mitarbeiter zu mobilisieren und für das

Nicht immer wird in den Ausführungen präzise unterschieden, ob es sich bei mehr Selbststeuerung, Kooperation und Motivation im LernprozeB vorwiegend urn Methoden oder urn Ziele betrieblichen Lernens handelt.

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Lemen im Betrieb: selbstgesteuert, kooperativ, motiviert? 135

Untemehmen nutzbar zu machen" (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1993, S. 235). Tra­ditionelle Lehr- und Lemformen geraten angesichts des enormen Lembedarfs "an ihre Grenzen" (ebd.), selbstgesteuerte und kooperative Lem- und Arbeitsformen geIten als flexibler und effektiver. Zudem solI die "richtige", d.h. intrinsische Motivation zum Lemen gefördert werden (Lewalter u.a. 1999, in diesem Band), gilt diese doch als gute Bedingung für den Erfolg von Lemprozessen.

Im Vordergrund stehen hier freilich eindeutig betriebliche Interessen: Durch die neuen Lemformen und Lemziele sollen die Kosten für die Weiterbildung gesenkt, der gestiegene Bedarf betrieblichen Lemens gedeckt, die Effektivität betrieblichen Lemens erhöht sowie mehr Flexibilität und Eigenverantwortung der Lemenden hergestellt werden. Die Zielrichtung der Einführung neuer Lemformen ist hier deutlich: Weiterbil­dung gilt als Kostenfaktor im Untemehmen, der reduziert werden solI. Zudem solI das Lemen im Betrieb effektiver werden.

Aber auch aus pädagogisch-psychologischer Sicht werden die neuen Lemformen im Betrieb fast ausschlieBlich positiv bewertet:

Zum einen werden - teilweise sehr euphorisch - die V orzüge selbstgesteuerter und kooperativer Lemformen darin gesehen, daB dadurch "neue Handlungsspielräume", "Autonomiechancen" und "neue Freiheitsgrade für eigene Entscheidungen" entstehen und gewährt werden (Amold 1991) und sich soziale, kommunikative und kooperative Fähigkeiten entwickeln können (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1998). Vom "mündi­gen Mitarbeiter" durch mehr Selbstorganisation (Schäffner 1991) ist dabei ebenso die Rede wie von einer zunehmenden Humanisierung der Arbeitswelt (Brodbeck 1991).

Zum anderen wird aus pädagogischer Sicht auch betont, daB diese Lemformen neueren lemtheoretischen Erkenntnissen entsprechen, wie beispielsweise dem kon­struktivistischen Modell des Lemens, bei dem davon ausgegangen wird, daB Lemen ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver und sozialer ProzeB ist (u.a. Reinmann­Rothmeier & Mandl 1998), weswegen diese Aspekte bei der Gestaltung von Lehr­Lem-Prozessen stärker berücksichtigt werden sollten.2

Die dominierenden betrieblichen und ökonomischen Zielsetzungen werden zwar durchaus erkannt (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mand11998; DehnbosteI1998), jedoch bei der Analyse und den Ausführungen zu den neuen Lemformen - erstaunlicherweise - wenig berücksichtigt. Eine Rolle spielt hier sicherlich, daB Selbststeuerung, Koope­ration und Motivation aus pädagogischer Sicht "traditionelI" sehr positiv bewertet wer­den und als pädagogische Ideale geIten. Eine inhaltliche Präzisierung von Selbststeue­rung, Kooperation und Motivation findet dabei meist nicht statt, sondem diese geIten an sich bereits als pädagogisch anstrebens- und wünschenswert. Problematisch ist dies v.a. deshalb, weil es Selbststeuerung, Kooperation und Motivation (des Lemens und des Arbeitens) in der Praxis jedoch keineswegs abstrakt und inhaltsunabhängig gibt, sondem immer nur kontextbezogen und inhaltsspezifisch:

a. Nicht Selbststeuerung des Lemens "an sich" ist positiv zu bewerten, sondem zu fra­gen ist, worüber Lemende beim Lemen im Betrieb denn eigentlich selbst entscheiden können und wie weit die Selbststeuerung beim Lemen reicht (bezieht sich diese bei-

2 Allerdings ist jedoch nicht ganz unproblematisch, aus diesem theoretischen (!) Modell Forderungen nach selbstgesteuerten und kooperativen Lernformen für die konkrete (!) Gestaltung pädagogischer Praxis abzuleiten, da hier verschiedene Ebenen (Theorie versus Praxis) auseinandergehalten werden mtissen (kritisch und ausführlich dazu Kraft 1999).

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spielsweise v.a. auf die Lemorganisation, auf die Methoden oder gar auf die Auswahl der Leminhalte?). Zu fragen ist auch, welche Konsequenzen diese Selbststeuerung für die Lemenden nach sich zieht: So kann mehr Selbststeuerung im LemprozeB zwar durchaus zu mehr Entscheidungs- und Handlungsspielräumen führen, diese stärkere Eigenverantwortung des Einzelnen für seinen LemprozeB impliziert aber auch die Verantwortung für mögliches Scheitem und für MiBerfolg (vgl. 3.1).

b. Die positive Konnotation von Kooperation und kooperativer Lemformen im Betrieb ignoriert, daB Lemen (und Arbeiten) gerade im betrieblichen Kontext immer (auch) unter Konkurrenzbedingungen und innerhalb betrieblicher Hierarchien stattfindet, welche die gemeinsamen Lem- (und Arbeits-) Prozesse doch erheblich beeinflussen und "soziale Aspekte" in den Hintergrund treten und das "Hineinwachsen in eine Gemeinschaft" (Reinmann-Rothmeier & Mand11998) eher fraglich erscheinen lassen (vgl. 3.2).

c. DaB eine hohe - insbesondere intrinsische - Lemmotivation sich positiv auf den Ler­nerfolg auswirkt, ist mittlerweile eine pädagogische Binsenweisheit. Stutzig macht aber die Tatsache, daB die "richtige" (sprich: intrinsische) Lemmotivation bei den Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Untemehmen erst systematisch und gezielt extrinsisch gefördert werden muB. Dies macht mehr als deutlich, daB die Motivation aus der Sache und von den Lemenden aus wohl gerade nicht gegeben ist (vgl. 3.3).

Mehr Selbststeuerung, Kooperation und Motivation sind nicht an sich pädagogische Qualitätsmerkmale von Lem- und Arbeitsprozessen, sondem entscheidend für die Qualität ist deren inhaltliche Präzisierung und Umsetzung im jeweiligen (pädagogi­schen) Bezugs- und Handlungsfeld. Die jeweiligen Kontext- und Realisierungsbedin­gungen werden immer durch die dort geItenden Ziel- und Zwecksetzungen beeinfluBt.

Insbesondere die Ausblendung der Rahmenbedingungen, Strukturen und Zielset­zungen betrieblichen Lemens und Arbeitens führt zu einer unkritischen Idealisierung der betrieblichen Weiterbildung und Lemkultur.

In den folgenden Ausführungen solI anhand einiger Fragen, die sich auf die Reali­sierungsbedingungen von Selbststeuerung, Kooperation und Motivation im betriebli­chen Kontext beziehen, einige Problembereiche aufgezeigt werden.

3. Selbststeuerung, Kooperation und Motivation im betrieblichen Lern- und Arbeitsprozej3

3.1 Selbstgesteuertes Lemen im Betrieb

Wenn von "selbstgesteuertem Lemen,,3 die Rede ist, dann werden dessen Merkmale meist in Abgrenzung zum "fremdgesteuertem Lemen" festgemacht4 Selbstgesteuertes Lemen zeichnet sich dadurch aus, daB der Lemende sein Lemen eigenständig und ei-

3 MüBig ist es sicherlich, eine einheitliche Definition selbstgesteuerten Lernens zu formulieren. Selbst­gesteuertes Lernen existiert in unterschiedlichen Facetten und die Selbststeuerung beim Lernen kann sich auf durchaus Unterschiedliches beziehen (Kraft 1999).

4 Die Begriffe werden meist nicht neutral verwendet, sondern "selbst" gilt im Vergleich zu "fremd" unabhängig dessen, was ge1ernt oder getan werden soli, bereits als "besser".

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genverantwortlich plant, organisiert, steuert und kontrolliert (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl 1993; 1998). Andere Autoren betonen Aspekte wie "Gestaltungsräume im LemprozeB, Freiwilligkeit der Teilnahme, AusmaB der Eigeninitiative und Lemen im Team" (Kuwan 1996) als Abgrenzungsmerkmale. Die Selbststeuerung des Lemens kann sich somit auf sehr Unterschiedliches beziehen und unterschiedlich weit gefaBt sein: Zum einen sind dies Aspekte der Organisation und Gestaltung des Lemprozesses (Wahl der Lemzeit, des Lemortes, des Lemtempos ... ), zum anderen aber auch die Freiwilligkeit der Teilnahme an einer WeiterbildungsmaBnahme oder die Mitbestim­mung bei den Inhalten und Zielen des Lemens.

Wenn jedoch unter Selbststeuerung des Lemens ganz - v.a. auch qualitativ - un­terschiedliche Aspekte des Lemens gefaBt werden können, wird es dringend erforder­lich, im jeweiligen pädagogischen Handlungsfeld inhaltlich zu präzisieren, worauf sich die Selbststeuerung bezieht.

Die spannende Frage ist also, welche Art von Selbststeuerung des Lemens im be­trieblichen Kontext realisiert wird: Auf welche Aspekte bezieht sich die Selbststeue­rung bzw. wie eng oder weit ist die "Lemautonomie" der Lemenden im betrieblichen Kontext gefaBt? Sollen die Lemenden beispielsweise nur den Lemort und die Lemzeit eigenständig bestimmen oder sind die Lemenden auch daran beteiligt, die Inhalte und Lemziele mit zu gestalten?

Es liegt auf der Hand, daB die Grenzen der Selbststeuerung des Lemens im be­trieblichen Kontext sehr eng gezogen sind. Analysiert man dahingehend verschiedene Konzepte selbstgesteuerten Lemens in den Untemehmen, dann zeigt sich ganz deut­lich, daB die Selbststeuerung im LemprozeB sich vorwiegend auf lemorganisatorische Fragen wie Lemort und Lemzeit bezieht (z.B. beim computerunterstützten Selbstler­nen), während die Inhalte, Ziele sowie Methoden jedoch weitgehend vorgegeben sind (vgl. beispielsweise Klein 1990; Heidack 1989; Projektgruppe Schlüsselqualifikationen 1992). Es geht urn die selbständige Ausführung vorgegebener Aufgaben und urn die selbständige (selbstorganisierte, selbstgesteuerte) Aneignung vorgegebener Inhalte -zumeist mit vorgegebenen Methoden (vgl. ebdf

Neben dieser Beschränkung von Selbststeuerung des Lemens auf nur wenige Aspekte, werden mit der Einführung selbstgesteuerter Lemformen in erster Linie öko­nomische Zwecksetzungen verfolgt. Severing spricht sogar von einem grundsätzlichen Spannungsfeld von Arbeitsorganisation einerseits und Bedingungen selbstorganisierten Lemens andererseits: Schranken selbstorganisierten Lemens finden sich - so Severing - bereits grundlegend in dem Verhältnis zwischen Qualifikation und ArbeitsprozeB: Lemen und Weiterbildung sind Mittel zum Fortgang des Arbeitsprozesses, nicht um­gekehrt. "Selbstorganisiertes Lemen ist für viele Untemehmen nicht wegen besonderer pädagogisch-methodischer Vorteile effektiv, sondem aus der Erwartung einer zeitna­hen, reibungslosen und kostengünstigen Bereitstellung jeweils aktuell erforderlicher Qualifikationen" (Severing 1998, S. 195).

Durch die mangelnde Berücksichtigung der betriebsökonomischen Zielsetzungen werden jedoch die, mit der Einführung selbstgesteuerter Lemformen einhergehenden Implikationen, oftmals nicht zur Kenntnis genommen: Wenn es aus betrieblicher Sicht darum geht, durch selbstorganisierte und selbstgesteuerte Lemformen Kosten zu spa-

5 Interessanterweise wird dieser Tatbestand nur selten problematisiert.

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ren und betriebliche Lemprozesse zu flexibilisieren, bedeutet dies auch, daB Betriebe die Verantwortung für Qualifizierungsprozesse an ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterin­nen abgeben. Für diese hat das zur Konsequenz, daB jeder/jede sich auch selbst "ler­nend" urn den Erfolg seiner/ihrer Qualifikationsbernühungen kümmem und etwaige Fehlqualifikationen auch selbst verantworten muB. So mögen zwar durchaus neue Handlungs- und Entscheidungsfreiräume entstehen, die jedoch verbunden sind mit Verpflichtungen und neuen Anforderungen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Diesen Implikationen selbstgesteuerten Lemens im betrieblichen Kontext und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Lemenden wird bislang viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

Nicht Selbststeuerung des Lemens an sich ist deshalb positiv zu bewerten, sondern entscheidend sind zum einen die Aspekte des Lemens, auf die sich die Selbststeuerung bezieht und wieviel Selbststeuerung zugelassen und realisiert wird, zum anderen die Konsequenzen, die sich daraus für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ergeben.

3.2 Kooperatives Lernen im Betrieb

"Es ist für die Weiterentwicklung von Untemehmen wichtig, daB die Mitarbeiter mit­und voneinander lemen, teamorientiert zusammenarbeiten und sich in gemeinsamen Lemprozesse neuen Entwicklungen und Veränderungen im Untemehmen stellen bzw. vorantreiben. Kooperation ist auch ein Weg, urn das bereits existierende Wissen der Mitarbeiter zu mobilisieren und für andere wie auch für das Untemehmen insgesamt nutzbar zu machen." (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1993, S. 235) Analog zum selbstgesteuerten Lemen wird auch dem kooperativen Lemen eine hohe Bedeutung zugeschrieben. "Kooperation hat sich als wirksame Form des Arbeitens und Problem­lösens bewährt. ( ... ) Gemeinsames Lemen in Gruppen fördert die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven und kann darnit zu einer flexiblen Anwendung des Ge­lemten beitragen. Sozialer Austausch in Gruppen ist dazu geeignet, die Bewältigung von Transferproblemen zu erleichtem." (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1998, S. 202f.)

Aus pädagogischer Sicht werden dem kooperativem Lemen positive Effekte hin­sichtlich der Förderung sozialer Aspekte beim Lemen, Förderung intrinsischer Lem­motivation sowie vermehrter Partizipation zugeschrieben. Individuelle Lem- und Wis­senspotentiale, Problemlösungsfähigkeiten und Kreativität sollen dadurch genutzt, so­wie soziale Kompetenzen der Mitarbeiter gefördert werden (Reinmann-Rothmeier & Mand11993; Dehnbostel1998; Peters 1992; Wildemann 1995).

Die Zielrichtung ist allerdings auch hier klar: Die Einführung kooperativer Lem­und Arbeitsformen zielt darauf, vorhandene und bisher nicht genützte (Wissens-) Res­sourcen und Kompetenzen der Mitarbeiter zu mobilisieren sowie Lem- und Arbeits­prozesse zu effektivieren. Effekte aus Gruppenprozessen und Gruppenlemen sollen al­so im Interesse des Unternehmens gezielt genutzt werden.

Inwieweit die genannten positiven Effekte kooperativen Lemens und Arbeitens im betrieblichen Kontext tatsächlich greifen, ist jedoch noch wenig geklärt: Ganz im Ge­genteil zeigen vorliegende Untersuchungen, daB gerade im betrieblichen Kontext ko­operative Lem- und Arbeitsformen durchaus auch negative Effekte nach sich ziehen

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können. So verweisen Bullinger & Schlund auf vielfältige Problernfelder in betriebli­chen Arbeits- und Lemgruppen wie Arbeits- und Gruppendruck, Zwang zur Koopera­tion, psychische und emotionale Belastungen, Leistungsverdichtung, Verschlechterung des Lohn-Leistungsverhältnisses und Scheinpartizipation (Bullinger & Schlund 1994; dazu auch Bender 1996; Peters 1992). Zu vermuten ist, daB kooperatives Lemen und Arbeiten im Betrieb nicht unbeeinfluBt von betrieblichen Machtkonstellationen, Hierarchien (auch sogenannte "flache Hierarchien" sind immer noch Hierarchien) und Konkurrenz zwischen den Mitarbeitem und Mitarbeiterinnen stattfindet. In Frage ge­stellt ist damit zum einen, inwieweit die betrieblich erwünschten "sozialen" Wirkungen unter diesen Rahmenbedingungen tatsächlich erzielt werden können, zum anderen kann die (v on oben verordnete) Kooperation unter Konkurrenzbedingungen die genann­ten Probleme und damit zusätzliche Belastungen für die Mitarbeiter und Mitarbeiterin­nen zur Folge haben.

Kooperatives Lemen und Arbeiten im betrieblichen Kontext ist zweckgebunden und Kooperation solI Lemen und Arbeiten im Interesse des Untemehmens effektivie­ren. Diese Aspekte sollten bei einer kritischen Analyse berücksichtigt werden: Koope­ration des Lemens und Arbeitens im Betrieb sind nicht an sich erstrebens- und wün­schenswert, sondem zu fragen ist, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kooperieren sollen, wie die betrieblichen Lem- und Arbeitsgruppen konstituiert sind, wie die Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Grup­pe verteilt sind und welche Inhalte kooperativ gelemt werden sollen (vgl. dazu auch Heid 1995; Bender 1996).

3.3 Motiviertes Lemen im Betrieb

Damit sich eine neue Lemkultur in den Betrieben entwickeln kann, bedarf es nicht nur neuer Lemformen, sondem als entscheidende Voraussetzung für den Erfolg von Lem­prozessen wird die "richtige" Lemmotivation "entdeckt":

"Eine auf Optimierung bedachte Gestaltung von Lehr-Lem-Arrangements in Schu­Ie und Betrieb muG stets den Faktor Lemmotivation als wichtige Bedingung des Ler­nens berücksichtigen und im Auge behalten. Es ist wichtig, eine Motivation zu erzeu­gen und aufrechtzuerhalten, die bei Schülem/Auszubildenden eine hohe Wertschät­zung der Leminhalte und eine insgesamt hohe Erlebnisqualität bei den Auseinanderset­zungen mit den Leminhalten ermöglicht. Eine langfristige Folge einer motivationsför­demden Gestaltung der Ausbildung könnte die Entwicklung inhaltlicher Interessen sein." (Lew alter u.a. 1999, in diesem Band)

"Auch wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Aus- und Weiterbildung mit unterschiedlichen Motivationen starten, kann und muB die Entwicklung von Lem­motivation einer höheren Qualität Cim Sinne selbstbestimmter Motivationsvarianten) angeregt und motiviert werden" (Prenzel u.a. 1999, in diesem Band).

Unbestritten ist, daB ein Lemen, bei und zu dem der Lemende motiviert ist, weit­aus mehr zum Lemerfolg führt, als ein Lemen, bei dem der Lemende nicht oder nur wenig motiviert ist. In der pädagogisch-psychologischen Forschung wird dabei zwi­schen extrinsischer und intrinsischer Motivation unterschieden: Extrinisch motiviert sind Lemende immer dann, wenn sie aufgrund äuBerer Einflüsse und Anreize lemen -

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140 Susanne Kraft

z.B. zum Erwerb von Zertifikaten, wegen guter Noten, urn externe Leistungsanforde­rungen zu erfüllen. Intrinsisch motiviert sind Lemende dann, wenn sie wegen der Sa­che, des Inhaltes oder gar aus Interesse lemen. Das Lemen erfolgt hier aus eigenem Antrieb, ohne Druck und äuBere Anreize. Intrinsisch motiviertes Lemen führt zu einem gröBeren Lemerfolg und die Lemenden haben zudem mehr SpaB am Lemen.

Naheliegend ist es, daB intrinsische Lemmotivation eher im Freizeitbereich vorzu­finden ist, und daB in der Schule und den Institutionen der beruflichen Aus- und Wei­terbildung weitaus mehr eine extrinsische Lemmotivation vorherrscht: In der Schule beispielsweise geht es urn gute Noten und einen guten AbschluB als wichtigen Bau­stein für den erfolgreichen Einstieg in das Berufsleben, in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung geht es urn den Erwerb von Zertifikaten, Kompetenzen und Qualifika­tionen, die bedeutsam sind für einen beruflichen Aufstieg oder für den Erhalt des Ar­beitsplatzes. Das Lemen und der Lemgegenstand ist hierbei lediglich Mittel zum Zweck. Viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nehmen eben nur dann an Weiterbil­dungsmaBnahmen teil, wenn sie sich davon berufliche Aufstiegschancen versprechen oder wenn es eben unbedingt notwendig ist (z.B. urn den Arbeitsplatz zu erhalten).

Dieses Problem der mangeinden bzw. "falschen" (= extrinsischen) Motivation zum Lemen wurde in den letzten Jahren auch für die betriebliche Aus- und Weiterbildung erkannt: Sind Lemende nicht in der "richtigen" Form motiviert, kann dies den Erfolg des Lemens durchaus negativ beeinträchtigen.

DaB intrinsische Motivation förderlich für den Erfolg von Lemprozessen ist, steht sicherlich auBer Frage. DaB Betriebe sich hochmotivierte und lembereite Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wünschen, ist ebenfalls evident.

Bemerkenswert ist es jedoch, daB die intrinsische Motivation extrinsisch gefördert werden muB: Was ist der Zweck der Bemühungen, Lemende zu etwas zu motivieren und für Leminhalte zu interessieren, für die sie ganz offensichtlich kein oder wenig Interesse haben? Insbesondere wenn intrinsische Lemmotivation sich auszeichnet durch Aspekte von Selbstbestimmung (vgl. Prenzel u.a. 1999, in diesem Band), dann ist es doch mehr als befremdlich, deren Förderung explizit zum Prograrnm zu machen.

Zudem: Ist es denn nicht - aus Sicht der Lemenden - durchaus legitim, sich für etwas nicht zu interessieren?

Mit der Forderung nach mehr intrinsischer Lemmotivation wird darnit ein zusätzli­cher Anspruch an die Lemenden verbunden - zum einen: in der betrieblich erwünsch­ten Form zu lemen und zum anderen: Engagement und Interesse für jegliche Lemin­halte zu entwickeln.

Als weitere "gute Bedingungen" für den Lemerfolg und den Aufbau intrinsischer Lemmotivation werden "soziale Einbindung", "Kompetenzerfahrung" und "Autono­mie" gefordert6 (vgl. Prenzel u.a. 1999, in diesem Band) die es gilt in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung zu fördem. DaB es "angenehm ist, sich in einer Gruppe hei­misch zu fühlen", "daB man sich weiterentwickelt" und "sich für einen bestimmten Be­reich kompetent fühlt" (ebd.), steht sicherlich auBer Frage und all dies sind wün­schenswerte Aspekte für die Gestaltung von Lemprozessen.

6 Der Frage, ob es sich dabei tatsächlich urn "angeborene rnotivationale Tendenzen" (ebd.) handelt, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden.

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Lernen im Betrieb: selbstgesteuert, kooperativ, motiviert? 141

ledoch: Wie sieht denn eigentlich die betriebliche Realität aus? Ist unter den vor­findbaren betrieblichen Bedingungen wie Rationalisierung, Konkurrenz, Leistungs­druck die Realisierung sozialer Einbindung, Autonomie und Kompetenzerleben der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen möglich?

Bislang ist betriebliches Lemen und Arbeiten jedenfalls eher gekennzeichnet durch die dominierende extrinsische Notwendigkeit zur Fort- und Weiterbildung einerseits und StreB, Druck, Konkurrenz und Angst urn den Arbeitsplatz andererseits. Betriebli­ches Lemen und Arbeiten ist derzeit sicherlich und wird auch zukünftig nicht nach pädagogisch wünschenswerten Aspekten organisiert und kann auch nicht durch schöne Worte herbei geredet werden, weil die betriebliche Lem- und Arbeitsrealität immer von ökonomischen Zielen, Zwecken und Kalkulationen geprägt ist. Ohne strukturelIe Änderungen (z.B. Abbau von Hierarchien und betrieblichen Machtstrukturen sowie echter Partizipation der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an wichtigen Entscheidungs­prozessen) wird sich der pädagogische Wunsch nach mehr intrinsischer Lem- und Ar­beitsmotivation wohl kaum realisieren lassen. Zudem ist es problematisch, diese gerade inhaltsunspezifisch zu fordem.

4. Resümee

Die Ausführungen zielten darauf, einige Aspekte, die in der euphorisch geführten Dis­kussion urn neues Lemen und neue Lemformen im Betrieb oftmals vemachlässigt werden, aufzuzeigen. Dabei wurden manchmal sicherlich mehr Fragen gestellt, als Antworten gegeben. Problematisiert wurde insbesondere die "Magie der schönen Wor­te" wie "Selbststeuerung", "Kooperation" und "Motivation".

Verdeutlicht werden sollte die Notwendigkeit, erstens die "schönen Worte" inhalt­lich zu präzisieren und zweitens die strukturellen Rahmenbedingungen betrieblichen Lemens und Arbeitens in die pädagogische Analyse mit einzubeziehen. "Der gewach­sene Stellenwert des Lemens ordnet sich zweifellos in modernen Organisations- und Untemehmenskonzepten in Zwecke und Kriterien ein, die eindeutig auf betriebswirt­schaftliche Kalküle, auf Wettbewerbsfähigkeit und dementsprechende Organisations­und Qualifikationsformen zielen" (Dehnbostel 1998, S. 8) und die neuen - auf mehr Selbststeuerung, Kooperation und Motivation zielenden - Lem- und Arbeitsformen heben die in den Untemehmen dominierenden ökonomischen Zwecksetzungen und Prinzipien nicht auf.

Diese Erkenntnis ist nun freilich weder neu noch läBt sich dadurch die betriebliche Handlungslogik autbrechen.

Sich diese jedoch immer wieder zu vergegenwärtigen und sie in die pädagogische Analyse mit einzubeziehen hat aber zumindest den Vorteil, daB die gegenwärtige Pra­xis und die Bedingungen betrieblicher Aus- und Weiterbildung nicht idealistisch ver­klärt werden. Inhaltliche Präzisierung und eine Analyse der Gründe verweisen auf die Grenzen und die Selektivität von Selbststeuerung und Kooperation sowie die Funktio­nalität von mehr Motivation in betrieblichen Lem- und Arbeitsprozessen.

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142 Susanne Kraft

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Individuelle Unterschiede und Wissenserwerb bei multimedialem Lemen 1

Detlev Leutner

Multimediales Lemen betrifft Lemen in einer Umgebung, in welcher - u.a. - textuelIes als auch bildliches Lemmaterial präsentiert wird. Üblicherweise wird erwartet, daB die Kombination von zwei Arten von Lemmaterial den Erwerb von Wissen fördert. Dieser Beitrag befaBt sich mit zwei experimentellen Studien, welche durchgeführt wurden, urn diesen Effekt auf dem Gebiet des Fremdsprachenerwerbs zu untersuchen. Die Studien basieren auf der sogenannten "Generativen Theorie multimdedialen Lemens". Diese Theorie wurde von Mayer (1997) vorgeschlagen und wird hier erweitert im Hinblick auf interindividuelle Unterschiede in bezug auf das Vorwissen und auf Präferenzen der Stu­dierenden für bildliches gegenüber textuellem Lemmaterial beim Fremdsprachenlemen. Die Ergebnisse zeigen, daB sowohl textuelles als auch bildliches Material den Erwerb von Wissen fördert. Aber Studierende mit geringem Vorwissen profitieren von einer Kombination beider Materialtypen mehr als Studierende mit hohem Vorwissen. Darüber hinaus resultieren interindividuelle Unterschiede bzgl. des Visualisierer-Verbalisierer­Lemstils dann in schlechterem Erwerb tieferen Wissens, wenn die Verbalisierer keinen Zugriff haben auf den von ihnen präferierten Typ von Lemmaterial.

Einleitung

Multimediales Lemen betrifft Lemen in einer Umgebung, in der u.a. textuelIes als auch bildliches Lemmaterial präsentiert wird. Auf dem Gebiet der Multimediatechnologie zeigt sich zwar eine rasche Entwicklung, es gibt aber nur geringfügige Fortschritte im Hinblick auf Forschung zu den psychologischen Prinzipien des Lehrens und Lemens in multiinedialen Lemumgebungen (Kozma 1991). Dieser Beitrag befaBt sich mit zwei die­ser Prinzipien. Auf der einen Seite wird multimediales Lemen unter einer allgemeinpsy­chologischen Perspektive betrachtet: Basierend auf der Doppelkodierungs-Theorie (Pai­vio 1971, 1990) und ihrer Erweiterung zu einer "Generativen Theorie multimdedialen Lemens" (Mayer & Anderson 1991; Mayer & Sims 1994; Mayer 1997) wird demon­striert, daB Studierende dann am besten lemen, wenn sie nicht nur Zugang haben zu ver­balen und visuellen Informationen in einer multimedialen Lemumgebung, sondem wenn

Beirn vorliegenden Text handelt es sich urn die Ausarbeitung eines Vortrags auf dern KongreS der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 17.-20.3.98 in Hamburg. Eine englische Fassung des Textes wird derzeit in einern von Jonassen, Dijkstra & SembiII herausgegebenen und bei Lang erscheinenden Proceedings-Band veröffentlicht.

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144 Detlev Leutner

sie dieses Material auch nutzen (siehe Mandl & Levin 1989; Rieber 1990; Schnotz 1993; Schnotz & Kulhavy 1994; Winn 1991). Andererseits wird multimediales Lemen unter ei­ner differentialpsychologischen Perspektive betrachtet: Ausgehend von der umfangrei­chen Literatur zu individuellen Unterschieden im Visualisierer-Verbalisierer-Lemstil (Ri­chardson 1977; Keefe 1989; Kirby Moore & Schofield 1988; Schofield & Kirby 1993) wird gezeigt, daB Studierende sich deutlich unterscheiden im Hinblick auf ihr Verhalten in einer multimedialen Lemumgebung und daB sie dann am besten lemen, wenn sie Zu­griff haben auf das von ihnen präferierte Lernmaterial, d.h. entweder visuell oder verbal präsentierte Information. Die beiden hier berichteten Studien wurden im Bereich des Zweitspracherwerbs durchgeftihrt, unter Verwendung einer multimedialen Lemumge­bung ftir Deutsch als Fremdsprache ftir englischsprachige Studierende (Chun & Plass 1995a, b). Es wird gezeigt werden, daB interindividuelle Unterschiede im Vorwissen die Wirksamkeit des multimedialen Lemens verändern, und zwar in solch einer Weise, daB Studierende mit geringem Vorwissen von den multimedialen Möglichkeiten mehr profi­tieren als Studierende mit hohem Vorwissen.

Theorie

Zahlreiche Studien auf der Basis von Paivio's Doppekkodierungstheorie (Paivio 1971, 1990) haben wiederholt gezeigt, daB verbale Informationen, die visualisert werden können, d.h. mental als Bild repräsentiert werden können, bes ser erinnert werden als verbale Informationen, die nicht visualisiert werden können. Entsprechend Paivio wer­den solche verbalen Informationen nicht nur in einem propositionalen, sondem darüber hinaus auch in einem analogen Speicherbereich des Gedächtnisses abgelegt, so daB es nicht nur einen, sondem zwei Zugriffspfade gibt, urn die Informationen wieder aus dem Gedächtnis herauszuholen. Dieser Effekt der doppelten Kodierung und der da­durch bewirkten doppelten Speicherung ist besonders bedeutsam für die Abspeiche­rung von bildlich präsentierten Informationen, da Bilder gewöhnlicherweise sowohl vi­suell als auch verbal gespeichert werden.

Auf der Basis einer Serie von Experimenten zum multimedialen Lemen entwickelte Mayer (1997) eine Erweiterung von Paivio's Doppelkodierungstheorie. Entsprechend dieser sogenannten "Generativen Theorie multimedialen Lernens" ist es ftir effektives Lemen notwendig, gleichzeitig Zugriff zu haben sowohl zu visuellem als auch zu verba­lem Informationsmaterial (Kontiguitätsprinzip). In diesem Fall, wenn visuelle und verbale Information, z.B. Text und lllustration, dem Lemenden gegenüber zur selben Zeit auf demselben Bildschirm angezeigt werden, dann werden nach Mayer im Arbeitsgedächtnis sogenannte referentielle Verknüpfungen hergestellt. Diese ftihren zu einer gut integrierten Repräsentation des jeweiligen Sachverhalts und zu einem tieferen Verständnis insbeson­dere dann, wenn es urn komplexe Informationen geht, die es zu verstehen gilt.

Multimediale Systeme, in denen z.B. Texte, Bilder und Videosequenzen kombi­niert werden, lassen sich als "Adaptive Lehrsysteme" (Leutner 1992, 1997) auffassen. In solchen Systemen haben die Lemenden die Möglichkeit, den LemprozeB an ihre spezifischen Bedürfnisse und Interessen anzupassen, indem sie selbst aus dem multi­medialen Material auswählen (leamer control, d.h. Kontrolle des Lehr-Lemgeschehens durch den Lemenden selbst). Diese Wahlmöglichkeit sollte insbesondere für Studie-

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/ndividuelle Unterschiede und Wissen.~erwerb bei multimedialem Lemen /45

rende interessant sein, welche sich im Hinblick auf den Visualisierer-Verbalisierer­Lemstil unterscheiden (ein Überblick über die Lemstilliteratur findet sich bei Jonassen & Grabowski 1993): Auf den Punkt gebracht sind Visualiserer Menschen, welche bildliches Material beim Lemen bevorzugen, während Verbalisierer textuelles Material vorziehen. Visualisierer "denken in Bildem", während Verbalisierer "in Worten den­ken". Trotz der wenig erfolgreichen Versuche der 70er Jahre, diesen Lemstil als eine bedeutsame Lemvariable zu etablieren, kann erwartet werden, daB dann, wenn dieser Lemstil tatsächlich für das Lemen relevant ist, multimediales Lemmaterial sowohl die spezifischen Bedürfnisse der Visualisierer als auch der Verbalisierer in besonderer Wei se treffen wird, weil Visualisierer und Verbalisierer Zugriff haben zu genau dem­jenigen Typ von Material, welches sie für ihr Lemen bevorzugen.

Vor dem Hintergrund dieser beiden Perspektiven zum multimedialen Lemen lassen sich drei Forschungsfragen formulieren: Die erste Frage bezieht sich darauf, ob mul­timediales Material in einer authentischen Lemumgebung V orteile bietet gegenüber "mo­no"-medialem Material. Die zweite Frage bezieht sich darauf, ob der Visualisierer­Verbalisierer-Lemstil den allgemeinen Doppelkodierungseffekt im Sinne von A TI (apti­tude treatment interaction; Cronbach & Snow 1977; Como & Snow 1986; Leutner 1992, 1997) moderiert und was mit den Lemenden geschieht, wenn ihnen das präferierte Mate­rial nicht zur Verfügung steht. Eine dritte und mehr allgemeine Frage bezieht sich darauf, ob individuelle Unterschiede im Bereich des Vorwissens ebenfalls eine Rolle spielen.

Im folgenden werden zwei Studien vorgestellt, die an der University of Califomia at Santa Barbara durchgeführt wurden und an anderer Stelle ausführlicher dargestellt wurden bzw. werden. Studie 1 befaBt sich mit dem Doppelkodierungseffekt und seiner Veränderung durch den Visualisierer-Verbalisierer-Lemstil (Plass, Chun, Mayer & Leutner 1998). Es wird gezeigt, daB Studierende dann am besten lemen, wenn sie zu dem von ihnen präferierten Typ von Lemmaterial Zugriff haben. Studie 2 befaBt sich mit dem Doppelkodierungseffekt und seiner Veränderung durch individuelle Unter­schiede im Vorwissen (Leutner, Plass, Chun & Mayer 1997). Es wird gezeigt werden, daB Studierende mit geringem Vorwissen mehr von multimedialem Lemmaterial pro­fitieren als Studierende mit hohem Vorwissen.

Studie 1

Methode

Versuchspersonen: 103 Fremdsprachenstudenten im 2. Studienjahr, die als Teil ihrer Germanistiklehrveranstaltungen teilnahmen.

Material: Die Studierenden bearbeiteten einzeln einen PC-implementierten Hypertext mit Namen "Cyber-Buch", der die "Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral" von Böll (1986) den englisch-sprachigen Lesem in deutscher Sprache präsentierte (762 deutsche Worte auf insgesamt 11 Computerbildschirmseiten). In diesem Hypertext sind unbe­kannte Worte markiert. Urn sie nachzuschlagen, kann man sie mit der Maus anklicken und zu einem von zwei Schaltknöpfen am oberen Bildschirm ziehen. Je nach Art des Schaltknopfes erhält der Leser dann eine textuelle Übersetzung des W ortes (d.h. eine verbale Erläuterung) oder ein Bild oder eine Videosequenz (d.h. eine visuelle Erläute-

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146 Detlev Leutner

rung)2. So wird z.B. das deutsche Wort "Fischschwärme" übersetzt als "school of fish" (verbale Erläuterung), oder es wird ein Bild gezeigt, welches einen Fischschwarm zeigt (visuelle Erläuterung). Das deutsche Wort Hubschrauber z.B. wird visuell erläutert durch ein sechs Sekunden laufendes Video, welches einen fliegenden Hubschrauber zeigt.

Klassifikation der Studierenden als Visualiserer oder als Verbalisierer: 12 der Worte des Hypertextes sind sowohl durch Text als auch durch Bild erläutert, 12 Worte des Textes sowohl mit Text als auch mit Video. Wenn man nun den Begriff "Lemstil" wörtlich nimmt (als Präferenz nämlich für einen bestimmten Typ an Lemmaterial), dann lassen sich die Studierenden vergleichsweise einfach als Visualisierer oder als Verbalisierer klassifizieren. Grundlage der Klassifikation ist ihr Wahlverhalten, wenn sie versuchen, ein Wort zu verstehen, indem sie bei den 24 visuell (d.h. per Bild oder per Videoclip) als auch verbal (d.h. per Text) erläuterten Worten entweder die visuelle Erläuterung nachschlagen oder die verbale Erläuterung. Im Ergebnis lieGen sich 39 Studierende als Visualisierer klassifizieren und 35 als Verbalisierer, wobei 29 Studie­rende nicht klassifiziert werden konnten, weil sie keine deutliche Präverenz für das ei­ne oder das andere Lemmaterial zeigten (siehe Leutner & Plass 1998).

Testmaterial: Das Vokabelwissen im Hinblick auf die 24 visuell und verbal erläu­terten unbekannten deutschen Wörter, die im übrigen balanciert waren im Hinblick auf potentielI wirksame Störvariablen wie z.B. Wort-Typ, Abstraktheit usw., wurde durch einen Vokabel-Nachtest gemessen. In diesem Test war jeweils die englische Überset­zung zu demjeweiligen deutschen Wort niederzuschreiben. Neben diesem Vokabeltest gab es einen Verstehenstest, in dem die Studierenden die Hauptgedanken der Kurzge­schichte aufzuschreiben hatten. Diese Texte wurden im Hinblick darauf ausgewertet, inwieweit sie Aussagen aus zwei unterschiedlichen Listen enthielten: Die erste Liste enthielt alle relevanten Textaussagen; diese sind im Text selbst entweder nur verbal oder sowohl verbal als auch visuell erläutert. Die zweite Liste enthielt Aussagen, die in einem Vorschau-Video illustriert waren oder nicht; das Video hatten alle Studierenden als Bestandteil des Hypertextes vor dessen Bearbeitung gesehen.

Vorgehensweise: Das gesamte Prozedere, incl. Vortest zur Messung des Visualise­rer-Verbalisierer-Lemstils mit zwei Fragebögen (welche sich als wenig brauchbar her­ausstellten und deshalb im folgenden nicht weiter betrachtet werden; siehe Leutner & Plass 1998), Anschauen des Vorschau-Videos, Lesen der Kurzgeschichte und Bear­beiten des Nachtests, beanspruchte 100 Minuten, verteilt über zwei reguläre Lehrver­anstaltungssitzungen. (Für Details siehe Plass, Chun, Mayer & Leutner 1998).

Ergebnisse und Diskussion

Die Hauptergebnisse sind folgende: (1) Die Studierenden lemten besser, wenn sie so­wohl visuelle als auch verbale Erläuterungen benutzten und wenn die betreffenden In­formationen im Vorschau-Video dargestellt waren. Dieser allgemeine dual-coding-

2 Die Bezeichnungen "verbal" und "visuell" werden hier im traditionellen Sinne des VisualisiererNer­balisierer-Lernstils verwendet, wobei mit "verbal" textuelle Erläuterungen gemeint sind und mit "vi­suell" bildliche Erläuterungen. Dabei ist vollkommen klar, daB die propositionale Kodierung textu­eller Erläuterungen über die visuelle Sinnesmodalität aufgenommen wird, und zwar ebenso wie die piktorale Kodierung bildlicher Erläuterungen.

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Individuelle Unterschiede und Wissenserwerb bei multimedialem Lemen 147

effect ergab sich sowohl beim Vokabelwissen (F[3,69] = 7.1, p<.OOl; Abb. 1) als auch beim Erinnem der Textinhalte (F[1,72] = 7.7, p< .01; Abb. 3) sowie beim Erinnem der im Vorschau-Video dargestellten Textinhalte (F[1,72] = 45.5, p<.OOl; Abb. 4). (2) Die zuvor genannten Doppelkodierungseffekte werden verändert durch den Visualiserer­Verbalisierer-Lemstil. Dies zeigte sich in einem ATI-Effekt beim Vokabellemen: Die Übersetzung der fremdsprachigen W orte wird bes ser erinnert, wenn die Studierenden berichten, daB sie die individuell präferierte Art von Erläuterung (visuell versus verbal) benutzt haben (F[1,72] = 45.9, p<.OOl; Abb. 2). Es gab darüber hinaus ATI-Effekte beim Textverstehen, welche anzeigen, daB die Vorteile visueller Erläutererungen für Visualisierer gröBer sind als für Verbalisierer (F[1,72] = 4.4, p<.05; Abb. 3) und daB der Vorteil des Vorschau-Videos ebenfalls gröBer ist für Visualiserer als für Verbali­sierer (F[1,72] = 5.1, p< .05; Abb. 4). (3) Die ATI-Effekte beim Textverstehen lassen sich anders ausdrücken: Der Lemerfolg der Visualisierer bricht ganz deutlich ein, wenn das von ihnen präferierte visuelle Lemmaterial nicht vorhanden ist, während Verbalisierer deutlich weniger beeinträchtigt werden, wenn das von ihnen nicht präfe­rierte visuelle Material fehlt. Das Fehlen der visuellen Erläuterungen resultierte bei den Visualisierem in einem Lemerfolgsdefizit von d = .67 Standardabweichungen, aber nur d=.30 bei Verbalisierem (Abb. 3). Beim Vorschau-Video beträgt die Differenz bei Vi­sualisierem d=.46 gegenüber d=.05 bei Verbalisierem (Abb. 4). (4) Über den positiven Effekt der Videovorschau hinaus zeigt sich kein statistisch signifikanter Vorteil einer Erläuterung durch Videoclips gegenüber einer Erläuterung durch Bilder, und zwar we­der für Vokabelwissen, noch für Textverständnis.

Abbildung I: Prozentsatz richtiger Antworten im Vokabeltest für Gruppen von Studierenden rnit unterschiedlichem Nachschlageverhalten bei unbekannten Wörtem (Plass et al., 1998; Studie 1).

45

c 40 a>

lil lil

~ 35 a> .0 <ti ~ 0 30 > .t:I <ti

25 Cf) I

~ 0 L-a> 20 L-a> El 'E 15

nichts nach- nur nur visuell geschlagen visuell verba I & verba I

Nachschlageverhalten wahrend des Lesens

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J 48 Detlev Leutner

Abbildung 2: Prozentsatz richtiger Antworten im Vokabeltest in Abhängigkeit vom Lemstil und dem erinnerten Erläuterungstyp (Plass et al., 1998; Studie 1). c ~ u ve~a~ I/) '§ Erlauterung "ij) 20 erinnert .0 ]! ~ 15

~ visuelle ct? 10 Erlauterung ~ erinnert ... ~ 5 Q)

E 'Ë ol---f--------f---

Visualisierer Verbalisierer Abbildung 3: Prozentsatz richtiger Antworten im Verstehenstest in Abhängigkeit vom

Abbildung 4:

Lemstil und dem verfügbaren Er1äuterungstyp (Plass et al., 1998; Studie 1).

C Q)

.J::. Q) ... ~ Q)

> .t:I ca

Cl) I

~ 0 ... ~ Q)

E 'Ë

65

60

55

50

45

40

35

0

Visualisierer

visuell & verbal erlautert

nur verbal erlautert

Verbalisierer

Prozentsatz richtiger Antworten im Verstehenstest in Abhängigkeit von Lemstil und Vorschau-Video (Plass et al., 1998; Studie 1).

70 in Vorschau-65 • Video

• iIIustriert 60

55

50

45

40

35

o

/

in Vorschau­Video nicht iIIustriert

Visualisierer Verbalisierer

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lndividuelle Unterschiede und Wissenserwerb bei multimedialem Lemen /49

In der hier vorgestellten Studie zeigte sich der V orteil koordinierten multimedialen Lemmaterials: Visuelles Material (d.h. Bilder und Videoclips) ist besonders für den Lemerfolg von Visualisierem wichtig. Dieses Forschungserergebnis ergab sich aller­dings im Rahmen eines recht ungewöhnlichen Design zur Variation des Lemmaterials in einer ansonsten vergleichsweise authentischen multimedialen Lemumgebung: Eini­ge Worte der von den Studierenden zu lesenden Kurzgeschichte waren in Form von Textübersetzungen erläutert (wie bei traditionellen Wörterbüchem), andere Worte wa­ren sowohl durch Textübersetzung als auch durch Bilder bzw. Videoclips erläutert, so daB der Leser auszuwählen hatte, was er sehen wollte. In einer Folgestudie (Studie 2) ging es nun darum, zu untersuchen, inwieweit die Effekte einer Kombination von ver­balem und visuellem Lemmaterial auch in einer eher traditionellen Lemumgebung wirksam sind, d.h. in einer Lemumgebung, in welcher entweder gar keine Erläuterun­gen verfügbar sind oder nur verbale Erläuterungen oder nur visuelle Erläuterungen oder sowohl verbale als auch visuelle Erläuterungen simultan. Diese Spezifikation der multimdedialen Lemumgebung sollte konstant sein für alle unbekannten Wörter des fremdsprachigen Textes und wurde deshalb in der Folgestudie "between-subjects" va­riiert. Ein zweites Ziel der Studie 2 bestand darin, den Effekt individueller Unterschie­de im Vorwissen zu untersuchen, welches sich in einer Reihe der von Mayer (1997) vorgestellten Studien als relevant herausgestellt hatte.

Studie 2

Methode

Versuchspersonen: 70 Fremdsprachen-College-Studenten. Design: Es handelte sich um ein 2x2-experimentelles between-subjects-Design mit

den Faktoren "verbale" bzw. "visuelle" Erläuterungen (jeweils mit den Stufen "nicht vorhanden" oder "vorhanden"). Die Versuchspersonen wurden einer von vier experi­mentellen Lembedingungen zufállig zugewiesen: (a) weder verbale noch visuelle Er­läuterungen als Kontrollbedingung, (b) nur verbale Erläuterungen, (c) nur visuelle Er­läuterungen und (d) sowohl verbale als auch visuelle Erläuterungen (multimediale Lembedingung).

Material und Vorgehensweise: Das Lemmaterial wurde der Studie 1 entnommen, und die Vorgehensweise war im wesentlichen dieselbe. Eine Abweichung zu Studie 1 bestand darin, daB in Studie 2 insgesamt 35 unbekannte deutsche Worte der Kurzge­schichte entsprechend dem experimentellen Design erläutert waren. Das Vokabelwis­sen wurde sowohl in einem Vor- als auch in einem Nachtest erfaBt. Das Vorschau­Video aus der Studie 1 war nicht imp lemen tiert. Eine Klassifikation der Versuchsper­sonen in Visualisierer oder Verbalisierer konnte nicht vorgenommen werden, weil nur eine der vier experimentellen Gruppen (die Multimedia-Gruppe) den Versuchsperso­nen die Möglichkeit gab, zwischen verschiedenen Erläuterungsvarianten zu wählen. (Eine detaillierte Darstellung der Studie wurde von Leutner, Plass, Chun & Mayer 1997, vorgestellt, vgl. auch weitere in Kürze erscheinende Veröffentlichungen dersel­ben Arbeitsgruppe.)

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150 Detlev Leutner

Ergebnisse und Diskussion

Das Experiment ergab folgende Ergebnisse: Cl) Beide Erläuterungstypen, sowohl ver­bale als auch visuelle, waren hilfreich beim Vokabellemen (F[1,65] = 7.1, p<.O 1, für den Haupteffekt der verbalen Erläuterungen; F[1,65] = 7.3, p<.Ol, für den Haupteffekt der visuellen Erläuterungen; Abb. 5). (2) Obwohl die Interaktion der beiden Faktoren statistisch signifikant war, F[l,65] = 4.7, p<.05, ist dieser Interaktionseffekt haupt­sächlich zurückzuführen auf die geringe Leistung der Versuchspersonen in der Kon­trollgruppe ohne jegliche Form von Erläuterung. (3) Es zeigt sich eine hohe Korrelati­on zwischen Vortest- und Nachtestwissen in der Kontrollgruppe (r= .84), die sowohl durch visuelle (r=.62) als auch durch verbale Erläuterungen (r=.78) reduziert wird und nahezu null wird, wenn beide Typen von Erläuterungen gleichzeitig verfügbar sind (r=.05). Diese Unterschiede der Korrelationen über die vier experimentellen Gruppen hinweg sind statistisch signifikant (X2[3]= 11.7, p<.Ol). Abb. 6 zeigt die Regressionsli­nien zusammen mit ihren 75%-Konfidenzintervallen, die man erhält, wenn man das Nachtest-Vokabelwissen anhand einer Regressionsgleichung aus dem Vortest­Vokabelwissen vorhersagt, und zw ar jeweils getrennt für jede der vier experimentellen Gruppen. Die horizontale, ausgezogene Regressionsgerade repräsentiert die Regressi­onsgleichung für die Multimedia-Gruppe mit beiden Erläuterungstypen; die Regressi­onsgleichungen der anderen drei Gruppen werden durch unterschiedlich strichlierte Regressionsgeraden repräsentiert. Bis auf eine Ausnahme zeigt sich, daB die Konfiden­zintervalle sich im Bereich niedrigen Vorwissens nicht überlappen. Dies demonstriert, daB die Studierenden mit geringem Vorwissen entweder von verbalen Erläuterungen oder von visuellen Erläuterungen bzw. von verbalen und visuellen Erläuterungen zu unbekannten Wörtem besonders profitieren.

Abbildung 5: Anzahl richtiger Antworten im Vokabel-Nachtest in Abhängigkeit vom verfügbaren Erläuterungstyp (Leutner et al., 1997; Studie 2).

c Q) til til '§

25

Q) .c ]!20 o > ~ til Cl> -..c o cu Z

15 L...A~lo..1, verbal

Erläuterung

Erläuterung ISJnicht visuell

IIIIIvisueJl

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lndividuelle Unterschiede und Wissenserwerb bei multimedialem Lernen 151

Abbildung 6: Anzahl richtiger Antworten im Vokabel-Nachtest in Abhängigkeit vom Vorwissen und dem verfügbaren Erläuterungstyp (Leutner et al., 1997; Studie 2)

35~------------------------~~--~

c: Q) (/) (/)

.~

(ij ..c <11 ~

~ ~ ~ U <11 Z

30

20

15

10

05

o 05 10 15 20

Vortest-Vokabelwissen

Zusammenfassende Diskussion

25 30 35

Erlauterung

D verbal & visuell

o nurvisuell

o nurverbal

A Kontrollbedingung

Die in diesem Beitrag berichteten Studien haben sowohl theoretische als auch prakti­sche Implikationen. Das erste Experiment ergab einige Hinweise darauf, daB im Hin­blick auf das Fremdsprachenlemen möglicherweise eine spezifische Erweiterung von Mayer' s (1997) "Generativer Theorie multimedialen Lemens" erforderlich ist. Diese Erweiterung sollte unterscheiden zwischen Vokabellemen und Textverstehen: Beim Vokabellernen, einem Beispiel für einfaches Auswendiglemen, scheint die Einspeiche­rung der Information in das Gedächtnis für den Lemenden eine vergleichsweise einfa­che Aufgabe zu sein, da die zu speichemde Information in den Erläuterungen zu den unbekannten Wörtem explizit gegeben wird. In diesem Fall scheint die doppelte Ko­dierung der Informationen besonders für die Erinnerung der gespeicherten Informatio­nen relevant zu sein (entsprechend Paivio's Doppelkodierungstheorie: Zwei Zugriffs­pfade sind bes ser als einer). Beim Textverstehen aber, einem Beispiel für komplexes Lemen von Bedeutungen, scheint das Einspeichern der Informationen in das Gedächt­nis für den Lemenden eine recht schwierige Aufgabe zu sein, weil die zu speichemden Informationen nicht explizit gegeben sind, sondem durch den Lemenden beim Lesen aktiv konstruiert werden müssen. In diesem Fall bietet die koordinierte Verfügbarkeit

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152 Detlev Leutner

von textuellen und bildlichen Informationen dem Lemenden die Gelegenheit, genau je­ne integrierten referenziellen Verknüpfungen im Arbeitsgedächtnis herzustellen, wel­che nach Mayer' s Theorie notwendig sind, urn ein tieferes Verständnis der Textaussa­gen zu erreichen, bevor sie dann letztendlich in das Langzeitgedächtnis eingespeichert werden können.

Die Ergebnisse der hier berichteten zwei Studien deuten daraufhin, daB interindi­viduelle Unterschiede beim Lesen eines fremdspachlichen literarischen Textes in der Einspeicherungs- und in der Erinnerungsphase des Informationsverarbeitungsprozesses unterschiedliche Rollen spielen. Wenn es urn reines Auswendiglernen geht (z.B. Voka­belwissen) dann scheint die doppelte Kodierung gemäB Paivio insbesondere bei der Erinnerung von Informationen relevant zu sein, und interindividuelle Unterschiede im Visualisierer-Verbalisierer-Lemstil scheinen hier kaum bedeutsam zu sein (Studie 1). Bei dieser Art des Lemens sind aber interindividuelle Unterschiede im Vorwissen rele­vant, da Studierende rnit geringem Vorwissen von der Verfügbarkeit von zwei Zu­griffspfaden profitieren, während Studierende mit hohem Vorwissen diese Art von Erinnerungsstütze nicht benötigen - möglicherweise weil der ErinnerungsprozeB hoch überlemt und prozeduralisiert ist (Studie 2).

Beim Lernen von Bedeutungen jedoch (z.B. Textverstehen) scheint die koordi­nierte Integration doppelt kodierter Informationen im Arbeitsgedächtnis nach Mayer besonders beim Einspeichem von Informationen in das Langzeitgedächtnis von beson­derer Bedeutung zu sein, und hier kommen interindividuelle Unterschiede im Visuali­sierer-Verbalisierer-Lemstil ins Spiel (Studie 1): Wenn Visualisierer keinen Zugriff haben zu dem von ihnen präferierten visuellen (bildlichen) Lemmaterial, dann bricht ihre Lemleistung deutlich ein, während Verbalisierer durch die Abwesenheit von visu­ellem (bildlichem) Material kaum beeinträchtigt werden. Dieser Unterschied deutet da­raufhin, daB insbesondere Visualisierer von der koordinierten Integration doppelt ko­dierten Materials abhängen, die erforderlich ist, urn die referentiellen Verknüpfungen im Arbeitsgedächtnis zu bewirken, urn dann die fremdsprachlich präsentierten Textin­halte in das Langzeitgedächtnis einspeichem zu können. Im übertragenen Sinne heiSt das für Visualisierer, daB die Visualisierung bildlicher Informationen für sie eine Art virtueller Krücke darstellt, urn die Bedeutung des Textes zu erfassen und abspeichem zu können - ein Krücke, welche die Verbalisierer nicht benötigen.

Die praktischen Implikationen dieser beiden Studien lassen sich darstellen als eine einfache Regel für das Design multimediaier Lemumgebungen für fremdsprachliches Lemen: Beim Lesen eines fremdsprachlichen literarischen Textes sollten die Lemenden sowohl zu visuellem (bildlichem) als auch zu verbalem (textuellem) Material Zugriff ha­ben, urn die Bedeutung der einzelnen Sätze und Textaussagen zu explorieren. Diese Re­gel entspricht Paivios Doppelkodierungstheorie (Paivio 1990) als auch Mayers "Genera­tiver Theorie multimedialen Lemens" (Mayer 1997) und ist geeignet, interindividuelle Unterschiede im Lemstil und im Vorwissen der Lemenden auszugleichen.

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Individuelle Unterschiede und Wissenserwerb bei multimedialem Lernen 153

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247

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Motivationsförderung in Lehr-Lem-Arrangements­eine interessentheoretische Perspektive

Doris Lewalter, Andreas Krapp und Klaus-Peter Wild

1. Einführung

In der gegenwärtigen Diskussion über die Zukunft des Lernens besteht weithin Kon­sens, daS es nicht nur auf eine Neubestimmung der Inhalte ankommt, sondern auch auf übergeordnete Ziele des Lernens wie z.B. den Erwerb von Schlüsselqualifikationen. Das ist jedoch primär eine Frage der Motivation. Mit einer lebenslangen Bereitschaft zu selbstbestimmter Steuerung und eigenverantwortlicher Weiterentwicklung des indi­viduellen Wissens kann z.B. nur dann gerechnet werden, wenn eine Person in der rich­tigen Weise motiviert ist.

Erinnern Sie sich für einen Augenblick daran, warum Sie sich mit manchen Wis­sensgebieten im Laufe Ihrer bisherigen Karriere immer wieder befaSt haben, ohne äu­Beren Zwang, vielleicht sogar ohne unmittelbar erkennbaren Nutzen. Ein solches Ge­biet werden Sie vielleicht als persönliches Interesse bezeichnen, als etwas, "woran Ihr Herz hängt", was Ihnen persönlich wichtig ist. Im Idealfall überschneiden sich die Themen Ihrer persönlichen Interessen mit den Anforderungen in Ihrem Beruf. Der Er­werb neuen Wissens (z.B. im Rahmen von WeiterbildungsmaBnahmen) wird dann nicht als lästige Pflicht erlebt, sondern als etwas, was einem SpaB macht.

Die Lernmotivation, die hinter einem solchen Interesse steht, bezeichnet man auch als "intrinsisch". In diesem Fall wird nicht wegen eines Zertifikats, guter Noten oder einer formell bestätigten Leistung gelernt, sondern weil einem der Inhalt persönlich etwas bedeutet. Der Erwerb neuen Wissens wird auch dann als befriedigend und freud­voll erlebt, wenn die Bewä1tigung der Lernaufgabe Mühe bedeutet und Anstrengung kostet. Diese intrinsische Form der Lernmotivation stellt im Hinblick auf die Notwen­digkeit lebenslangen Lernens eine wichtige motivationale Basis dar (Krapp 1998b).

Eine auf Optimierung bedachte Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements in Schule und Betrieb muS deshalb stets den Faktor Lernmotivation als wichtige Bedingung des Lernens berücksichtigen und als Zielkriterium der Ausbildung im Auge behalten. Es ist wichtig, eine Motivation zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, die bei SchülernlAuszu­bildenden eine hohe Wertschätzung der Lerninhalte und eine insgesamt positive Erle­bensqualität bei den Auseinandersetzungen mit den Lerninhalten ermöglicht. Eine langfristige Folge einer motivationsfördernden Gestaltung der Ausbildung könnte die Entwicklung inhaltlicher Interessen sein.

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156 Doris Lewalter, Andreas Krapp, Klaus-Peter Wild

2. Überlegungen zur konzeptuellen Struktur des Interesses und Bedingungen seiner Entwicklung

Wissenschaftliche Theorien beschreiben das Interesse als eine besondere Art der "Per­son-Gegenstands-Beziehung" (Krapp 1992a,b; 1998a; Prenzel 1988). Interesse be­zeichnet kein stabiles Persönlichkeits- oder Charakterrnerkmal, sondem eine mehr oder weniger dauerhafte intrinsische motivationale Orientierung, welche die Qualität der Auseinandersetzung einer Pers on mit einem Ausschnitt oder einem Teilgebiet ihrer er­fahrbaren Umwelt bestimmt. Das Interesse kann sich, insbesondere im Kontext von Aus- und Weiterbildung, sowohl auf inhaltliche Themen, als auch auf Tätigkeiten oder konkrete Objekte und abstrakte Ideen beziehen. Allen Interessengegenständen gemein­sam ist die positive wertbezogene Einschätzung, die ihnen von der Pers on entgegenge­bracht wird. Die Beschäftigung mit den Gegenständen des Interesses wird darüber hin­aus in der Summe als angenehm erlebt, weil ei ne Person etwas tut, was sie geme macht und zugleich für persönlich wichtig hält. Daher benötigt das Lemen keinen Druck von auGen, keinen Zwang oder materiellen Anreiz. Es erfolgt vielmehr aus eigenem An­trieb; es ist intrinsisch motiviert.

Im Hinblick auf die Optimierung der Ausbildung stellt sich die Frage, wie Interes­sen entstehen und wie ihre Entwicklung gefördert werden kann. Urn solche MaBnah­men hinreichend wissenschaftlich begründen zu können, benötigt man eine genauere Vorstellung über die psychologischen Bedingungen der Interessengenese (vgl. Krapp 1998a; Lewalter, Krapp, Schreyer & Wild 1998). Ein Erklärungsmodell, welches hier zum Ausgangspunkt für Überlegungen einer Verbesserung der Lehr-Lem-Bedingun­gen in Schule und Betrieb gemacht wird, geht von der Annahme aus, daB sowohl die Entstehung ei nes neuen Interesses als auch die Stabilisierung oder Veränderung bereits bestehender Interessen durch emotionale Erfahrungen und kognitive Bewertungspro­zesse während des Lemens beeinfluBt werden (s. Abb.l).

Abbildung 1: EinfluBfaktoren auf die Interessenentwicklung während der Beschäftigung mit einem Thema

Kognitive und emotionale Erfahrungen während des Lernens

Kompetenz

Autonomie

Sonale Eingebundenheit

Wertschätzung für ein Thema

rordern Interessen­entwicklung

Die emotionalen Begleitprozesse laufen gröBtenteils ohne bewuBte KontrolIe ab und hängen mit der Tatsache zusammen, daB der Ablauf einer Handlung neben kognitiv­rationalen Faktoren auch durch emotionale Faktoren gesteuert wird. Ein zentrales

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Motivationsförderung in Lehr-Lern-Arrangements 157

emotionsgesteuertes Regulationssystem ergibt sich aus der Wirkungsweise der sog. "grundlegenden psychologischen Bedürfnisse". Folgt man den Aussagen der Selbstbe­stimmungstheorie von Deci & Ryan (1985, 1993), dann sind für die Steuerung von Lemhandlungen vor allem die drei "basic needs" des Erlebens von Kompetenz, Auto­nomie und sozialer Eingebundenheit zu beachten.

Im Bedürfnis nach dem Erleben eigener Kompetenz kommt der Wunsch zum Aus­druck, sich selbst als den aktuellen und zukünftigen Anforderungen gewachsen und handlungsfähig zu erleben. Die Erfahrung, anstehende Aufgaben und Probleme selb­ständig bearbeiten oder lösen zu können, führt zu einem Vertrauen in die eigene Lem­und Entwicklungsfähigkeit und unterstützt die Entstehung und Aufrechterhaltung einer intrinsischen Lemmotivation.

Im Bedürfnis nach Autonomie oder Selbstbestimmung zeigt sich das Bestreben ei­ner Person, sich als eigenständiges "Handlungszentrum" zu erleben. Es geht hier in er­ster Linie darum, das eigene Tun selbst bestimmen zu können. Darnit ist aber nicht der Wunsch nach gröBtmöglicher Freiheit oder Unabhängigkeit gemeint, sondem vielmehr das Bedürfnis im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten autonom zu handeln, z.B. selbst ent scheiden zu können, wann und wie gelemt wird und auf welche Weise Hilfe von auBen in Anspruch genommen wird. In Lehr-Lem-Situationen hängt das AusmaB positiv erlebter Autonomie zu einem erheblichen Anteil vom jeweils er­reichten Kompetenzniveau ab. Handlungsfreiheit bei der Bewältigung einer komplexen Lemaufgabe wird nur dann positiv erlebt, wenn diese auch mit hinreichender Wahr­scheinlichkeit erfolgreich bewältigt werden kann (Lewalter et al. 1998).

Im Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit drückt sich das grundlegende Bestre­ben einer Pers on nach befriedigenden Sozialkontakten zu einer oder mehreren Perso­nen aus, die in direktem Bezug zur Interessenthematik stehen. So bilden zum Beispiel Lehrer, Ausbilder oder Kollegen, die Experten auf einem interessenrelevanten Gebiet sind, eine wichtige Bezugsgruppe. Nur wenn die soziale Eingebundenheit als hinrei­chend gesichert erlebt wird, kann sich eine Pers on freiwillig und angstfrei neuen (Lem-) Aufgaben widmen. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer als attraktiv erachteten Personengruppe und die Identifizierung mit den besonderen Kompetenzen und Fähig­keiten dieser Personen ist zugleich ein wichtiger Anreiz für die Beschäftigung mit ganz neuen Themenfeldem und Interessengebieten.

Diese drei grundlegenden Bedürfnisse darf man sich nicht als Motive oder vonein­ander unabhängige implizite Handlungsziele vorstellen. Vielmehr handelt es sich urn Komponenten oder Teilaspekte eines ganzheitlich wirkenden emotionalen Steuerungs­systems (Nuttin 1984; Krapp 1998a).

Neben dem emotionalen Erleben während einer Lemhandlung beeinfluBt auch die bewuBt repräsentierte Wahmehmung der persönlichen Wertzuschreibung, die ein Ler­nender einem Thema entgegenbringt, das Entstehen von Interessen. Das zunehmende AusmaB positiver Bedeutungszuordnungen ist wichtiger Bestandteil der Interessen­entwicklung.

Auf dem Hintergrund dieses theoretischen Modells der Interessengenese erwarten wir, daB in Lemsituationen, in denen Lemende einerseits den subjektiven Wert einer Thematik entdecken und rational nachvollziehen können und andererseits auf der emotionalen Ebene in höherem AusmaB die Befriedigung der drei psychologischen Bedürfnisse erleben, mit gröBerer Wahrscheinlichkeit intrinsisch motiviert gelemt wird

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158 Doris Lewalter, Andreas Krapp, Klaus-Peter Wild

und langfristig berufsrelevante Interessen entstehen. Empirische Untersuchungen in verschiedenen pädagogischen Kontexten unterstützen diese Vermutung (vgl. z.B. Le­walter et al. 1998; Prenzei 1994; Prenzel & Drechsel 1996; Wild & Krapp 1996a). So belegen die Befunde einer Interviewstudie mit Auszubildenden des Versicherungswe­sens (Lewalter et al. 1998), die im Rahmen eines gröBer angelegten Forschungspro­jekts durchgeführt wurde (Wild & Krapp 1996a,b; Wild, Lewalter & Schreyer 1994; Wild et al. 1998), die besondere Bedeutung sowohl des Kompetenzerlebens, als auch der Erfahrung von Autonomie und sozialer Eingebundenheit für die Entwicklung be­rufsbezogener Interessen. Fragt man die Auszubildenden retrospektiv nach den Entste­hungsbedingungen eines neuen berufsbezogenen Interesses während der Ausbildungs­zeit, so verweisen ca. dreiviertel der Probanden auf positive Erfahrungen in bezug auf ihr persönliches Kompetenzerleben. In über der Hälfte der Fälle werden das Erleben sozialer Eingebundenheit und bei einem Drittel die Erfahrung von Autonomie als wichtige Entstehungsfaktoren der Interessenentwicklung thematisiert.

Aus pädagogischer Sicht stellt sich nun die Frage, wie durch die Gestaltung von Lehr-Lem-Arrangements das Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Einge­bundenheit beeinfluBt und gefördert werden kann.

3. Möglichkeiten zur Förderung von Interesse und intrinsischer Motivation

Da ein Interesse durch die besondere Qualität der Beziehung zwischen einer Person und einem bestimmten Gegenstand gekennzeichnet ist, nehmen wir an, daB seine Ent­wicklung sowohl von Merkmalen der Pers on als auch von den subjektiv wahrgenom­menen Qualitäten des Interessengegenstandes und den situativen Rahmenbedingungen beeinfluBt wird.

Für Lehrer/Ausbilder ergeben sich vor allem bei der Gestaltung des Lemumfeldes eine Reihe von Möglichkeiten, die Interessenentwicklung der Lemenden zu unterstüt­zen. Dabei geht es in ers ter Linie darum, den Aufbau einer intrinsischen motivationa­len Orientierung zu fördem, indem Rahmenbedingungen ge schaffen werden, die das Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Eingebundenheit erleichtem. Aller­dings muB hier einschränkend angemerkt werden, daB die Entstehung und Aufrechter­haltung dieser Erlebensqualitäten durch den Kontext nur unterstützt, aber nicht quasi automatisch induziert werden kann.

Konkret kann die Förderung der Lemmotivation auf dem Hintergrund dieser Überlegungen durch zwei Strategien erreicht werden. Zum einen kann man versuchen, diejenigen Faktoren der Unterrichtsgestaltung zu identifizieren und in der Folge zu verändem, die sich nachhaltig negativ auf die Qualität der bedürfnisbezogenen Erle­bensqualitäten auswirken. Zum anderen können diejenigen Aspekte der Unterrichtsge­staltung ermittelt und verstärkt eingesetzt werden, die dazu beitragen, die motivations­relevanten Erlebensqualitäten zu verbessem.

Für das Erleben von Kompetenz in einer Lemsituation spielt der individuelI wahr­genommene Schwierigkeitsgrad der Lemaufgabe eine wichtige Rolle (vgl. z.B. Deci, Ryan & Williams 1996). Länger andauemde Unterforderung führt zu Langweiie; Über­forderung erzeugt dagegen StreB und Angstgefühle (Csikzentmihalyi 1985). Optimal sind Aufgaben mit einer aus der Sicht der Lemenden "wohl dosierten", d.h. bewältig-

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Motivationsförderung in Lehr-Lern-Arrangements 159

baren Diskrepanz zwischen eigenem Wissenstand bzw. Fähigkeitsniveau und Anforde­rungsniveau der Aufgabe (Deci, Ryan & Williams 1996). Im Idealfall treten flow­ähnliche Zustände auf, die durch eine sehr intensive und konzentrierte Beschäftigung mit dem Inhalt oder der Tätigkeit gekennzeichnet sind: Der Lernende geht "ganz in der Sache auf' (Csikzentmihalyi 1985).

Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Unterrichtsgestaltung betrifft die Leistungs­rückmeldung. Positives Feedback steigert die wahrgenommene Kompetenz und ist auf diese Weise förderlich für die Entstehung von intrinsischer Motivation (Deci, Ryan & Williams 1996). Allerdings kommt es darauf an, in welcher Form das Feedback gege­ben wird. Die Rückmeldung sollte stets eine informierende und hilfreiche Funktion ha­ben, unabhängig davon, ob das Leistungsergebnis gut oder schlecht ist. Bewertende Leistungsrückmeldungen, die den Lemenden ohne weitergehende Informationen le­diglich mitteilen, ob das Arbeitsergebnis richtig oder falsch ist, werden oft negativ er­lebt und haben deshalb keine günstige Wirkung auf das Kompetenzerleben (Deci & Ryan 1985). Dagegen wirken sich Leistungsrückmeldungen, die verwertbare Hinweise und Tips für die weitere Arbeit anbieten, positiv auf die Kompentenzerfahrung aus (Deci, Ryan & Williams 1996). Wichtig ist hier auch der Hinweis, daB Kompetenzer­fahrung und Autonomie im subjektiven Erleben eng zusammenhängen. Man kann nur dort von seiner Leistungstüchtigkeit überzeugt sein, wo die Aufgaben im Rahmen der eigenen Möglichkeiten weitgehend selbständig bewältigt wurden.

Gewährung von Autonomie ist nicht in jeder Unterrichtssequenz in gleicher Weise sinnvoll und möglich. In heutigen Schulsystemen wird die Wahrscheinlichkeit, Auto­nomie zu erleben, u.a. durch das formalisierte Prüfungswesen erheblich beeinträchtigt (Benware & Deci 1984). Die ständige Erwartung, daB der Lerninhalt Gegenstand einer mündlichen oder schriftlichen Prüfung werden könnte, verbindet den LernprozeB fast unweigerlich mit der Perspektive der nachfolgenden KontrolIe, die das Autonomieer­leben tendenziell untergräbt. Daher erscheint es sinnvoll, im Unterricht immer wieder Lernabschnitte einzuplanen, die von Prüfungen weitgehend abgekoppelt sind und Frei­räume für selbstbestimmtes und eventuell sogar interessenorientiertes Lemen schaffen. Doch auch im prüfungsbezogenen Lernprozessen gibt es Möglichkeiten zur Unterstüt­zung des Autonomieerlebens. Ob die Bearbeitung von Lern- und Übungsaufgaben als kontrollierend oder autonomieunterstützend erlebt wird, hängt z.B. davon ab, ob die Art und Wei se ihrer Bearbeitung vom Lehrer/Ausbilder genau vorgeschrieben wird oder dem Auszubildenden Wahlmöglichkeiten verbleiben. Ganz generelI gilt, daB eine detaillierte V orgabe der Lern- und Arbeitsschritte zumindest im fortgeschrittenen Sta­dium eines Lehr-Lern-Prozesses das Autonomieerleben eher beeinträchtigt als fördert (Prenzel 1994). Auch das ständige Beobachten und sofortige Korrigieren von Fehlern machen es wenig wahrscheinlich, daB Lernende ihre eigenen Lernwege und eventuell auch Umwege gehen. Empirische Studien haben darüber hinaus gezeigt, daB sich kon­trollierende Zeitbegrenzungen bei der Aufgabenbearbeitung negativ auf das Autono­mieerleben auswirken (Deci & Ryan 1987).

Im Hinblick auf eine motivationsförderliche Gestaltung des Unterrichts sollte man also möglichst vielfáltige (aus der Sache gerechtfertigte) Wahlmöglichkeiten anbieten, (Deci, Ryan & Williams 1996). Lernende werden in ihrem Autonomieerleben unter­stützt, wenn sie sich selbst für die Inhalte und den Zeitpunkt der Bearbeitung eines be­stimmten Themas entscheiden können, oder selbst darüber bestimmen dürfen, welche

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160 Doris Lewalter, Andreas Krapp, Klaus-Peter Wild

der angebotenen Aufgaben sie bearbeiten wollen. Selbst die Vorgehensweise beim Wissenserwerb kann von Fall zu Fall Gegenstand selbstbestimmter Entscheidungen sein, indem den Lemenden freigestellt wird, ob sie den Lemstoff auf der Basis entspre­chender Materialien selbständig erarbeiten wollen, die Präsentation des Lemstoffs durch den Lehrer bevorzugen oder die Bearbeitung in Form von Gruppenarbeiten durchführen möchten. In diesem Zusammenhang haben Untersuchungen gezeigt, daB sprachliche Details der Instruktionsgestaltung eine groBe Rolle spielen können (Koest­ner et al. 1984; Ryan et al. 1983). So werden Aussagen wie "Du sollst" oder "Du muBt" als kontrollierend erlebt, während die gleiche Aussage mit der Redewendung "Du kannst" eher als informativ und damit autonomiegewährend empfunden wurde.

Eine motivationsförderliche Unterrichtsgestaltung muB schlieBlich auch auf das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit Rücksicht nehmen. Damit ist nicht gemeint, daB jedem Schüler das Gefühl vermittelt werden sollte, bei Lehrem und Schülem glei­chermaBen beliebt zu sein. Es geht vielmehr urn das Gefühl des Dazugehörens und des Akzeptiertwerdens in bezug auf jene Aspekte, die im Unterricht im Vordergrund ste­hen, nämlich das lembezogene Verhalten als Einzelner und als Mitglied einer Lem­gruppe. Eine wichtige Rolle spielt hier die allgemeine Einstellung der Lehrenden ge­genüber ihren Schülem oder Auszubildenden. Ein günstiges Sozialklima ist z.B. dann zu erwarten, wenn alle Lemenden ohne Rücksicht auf ihre jeweils erbrachten Leistun­gen (bzw. ihrer postulierten Leistungsfähigkeit) als gleichwertige Mitglieder der Lem­gruppe anerkannt und akzeptiert werden. Deshalb sollten sich Lehrer/Ausbilder darum bemühen, auf die individuelle Gefühlslage der Lemenden Rücksicht zu nehmen und auf die jeweiligen Signale der aktuellen Befindlichkeit zu achten (Deci, Ryan & Wil­liams 1996). Nur so gewinnen die Lemenden die emotionale Sicherheit, die notwendig ist, urn auch unter "Risikobedingungen" die Bereitschaft zu selbstbestimmtem Handeln aufrechtzuerhalten und die eigene Kompetenz prüfend weiterzuentwickeln. Die Erfah­rung von Autonomie und Kompetenz wird vor allern dann ermöglicht, wenn zugleich eine gesicherte soziale Basis vorhanden ist, d.h. wenn sowohl positive als auch negati­ve Lemerfahrungen angstfrei gemacht werden können. Zu wünschen ist ein soziales Klima, das nicht von Konkurrenz, sondem von Akzeptanz und gegenseitiger Unter­stützung geprägt ist.

Neben der Berücksichtigung dieser bedürfnisbezogenen motivationsrelevanten Aspekte, die primär die Qualität des emotionalen Erlebens beeinflussen, spielt die Art und Weise, wie ein bestimmtes Thema oder ein Teilaspekt des zu unterrichtenden Ge­genstandsbereichs präsentiert und vermittelt wird, ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Interessenentwicklung. Durch die Auswahl der Leminhalte, die Art ihrer Aufbereitung und durch die Gestaltung des kontextuellen Rahmens kann die individuelle wahrge­nommene Interessantheit in erheblichem AusmaB beeinfluBt werden (Krapp 1998a). Eine Möglichkeit "situationales" Interesse zu wecken besteht darin, bei der Einführung in ein Thema und der Behandlung eines Themengebietes an schon bestehende Interes­sen anzuknüpfen (Häusler & Hoffmann 1990). Dieses Vorgehen kann darüber hinaus dazu beitragen, daB Lemende die Bedeutung und den Wert, den eine Thematik für sie persönlich haben kann, leichter entdecken.

Im Rahmen eines BLK-Modellversuchs zur Neugestaltung des Anfangsunterrichts in Physik konnten Häusler und Hoffmann (1995) zeigen, daB die verstärkte Berück­sichtigung der Lebenswelt und auBerschulischen Erfahrungen der Lemenden bei der

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Motivationsförderung in Lehr-Lern-Arrangements 161

kontextuellen Einbindung des Lemstoffs das Interesse an den Fachinhalten der Physik günstig beeinflussen kann. Dies ist ein Gestaltungsaspekt, der bislang viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Lehrbücher und Lehrer konzentrieren sich in erster Linie auf den fachlichen Inhalt und seine sachlogische Aufbereitung. Daneben ist allerdings zu bedenken, daB über den frei wählbaren Kontext der Wissensvermittlung die emotionale und damit auch motivationale Dynamik gezielt beeinfluBt werden kann. So stellte sich im BLK-Modellversuch heraus, daB es für Mädchen einen erheblichen Unterschied macht, ob im Unterricht das physikalische Prinzip der Pumpe am Beispiel der Funkti­onsweise des Herzens oder einer Ölförderungsanlage erarbeitet wurde.

Insgesamt kann also festgestellt werden, daB Lehrer und Ausbilder ein breites Spektrum an MaBnahmen einsetzen können, urn in ihrem Unterricht intrinsisch moti­viertes Lemen zu unterstützen. Doch darf bei allem Optimismus nicht übersehen wer­den, daB es letztlich immer auf den Lemenden selbst ankommt, ob und bis zu welchem Grad er oder sie im Unterricht angebotene Lemangebote und Entwicklungschancen wahmimmt und sinnvoll nutzt.

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Lernmotivation in der Aus- und Weiterbildung: Merkmale und Bedingungen

Manfred Prenzel, Barbara Drechsel, Anke Kliewe, Klaudia Kramer und Nicola Röber

Das allgemeine Ziel jeglicher Aus- und Weiterbildung ist, daB gelemt wird, und zwar etwas Bestimmtes. Was gelemt werden solI, läBt sich ebenfalls formal aufschlüsseln: Zum Beispiel das Wissen von Fakten und Bezeichnungen, ein Verständnis von Begrif­fen und Zusammenhängen, mehr oder weniger komplexe Fertigkeiten, aber auch die Fähigkeit, bestimmte Probleme zu lösen, mit anderen zu kooperieren, sich für be­stimmte Dinge verantwortlich zu sehen, gegenüber neuen Entwicklungen aufgeschlos­sen zu sein oder die Bereitschaft, über die gesamte Lebensspanne weiter zu lemen.

Das für ein Erhalten und Weiterentwickeln der beruflichen Qualifikation notwen­dige Lemen findet nicht nur im Rahmen von Aus- und WeiterbildungsmaBnahmen statt (Prenzel, Mandl & Reinmann-Rothmeier 1997). Das Lemen erfolgt in unzähligen beruflichen Situationen, die ein Neujustieren oder Ausdifferenzieren eingeschliffener Handlungsabläufe hervorrufen, es erfolgt beim Nachdenken über Anforderungen und beim Sprechen über berufliche Belange. Aber auch in der Freizeit, möglicherweise beim Sport oder Femsehen, laufen Lemprozesse ab, die berufliche Qualifikationen weiterentwickeln können.

Für die zuletzt angesprochenen Lemvorgänge gilt, daB sie nicht immer bzw. nur selten bewuBt als Lemen wahrgenommen werden. Die agierende Person lemt zwar, dies aber gewissermaBen nebenbei. Sie verfolgt keine explizite Lemabsicht (vgl. Oer­ter 1997).

In Veranstaltungen zur Aus- und Weiterbildung sieht dies anders aus. Allen Betei­ligten ist bewuBt, daB sie in einem Lemzusammenhang stehen. Klar ist auch, daB hier das Lemen durch Lehre geprägt und bestimmt wird. Es gibt mehr oder weniger deut­lich formulierte Lehrziele und Lemanforderungen, daneben Anleitungen, Unterstüt­zungen, Aufgabenstellungen, die das Lemen erleichtem bzw. erfolgreiches Lemen si­chem sollen. Im Rahmen von Aus- und Weiterbildung erfolgt somit ein über weite Strecken bewuBtes Lemen.

Man könnte deshalb annehmen, daB in der Aus- und Weiterbildung ebenso ab­sichtsvoll gelemt wird. Die Entscheidung für die Teilnahme an einer Aus- oder Wei­terbildung schlieBt ja gewissermaBen eine Einwilligung in den Lemzweck der Veran­staltung ein. Über Gründe (oder Motive) dieser Einwilligung ist damit noch nichts ge­sagt. Jedenfalls unterscheidet sich diese Einwilligung deutlich von üblichen Kauf- oder Dienstleistungsverträgen. In der Aus- und Weiterbildung müssen die Lemenden das angestrebte Produkt selbst konstruieren. Bereits die Vorstellungen über erwünschte oder erzielbare Produkte (darüber, was man nach dem Lemen weiB und kann) bleiben für die Lemenden oberflächlich und vage. Die Vorstellungen vom "fertigen" Produkt,

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über die zweifellos die Lehrkräfte (Dozentinnen und Dozenten oder Trainerinnen und Trainer) aufgrund ihrer Expertise verfügen, sind nur bedingt an die "Novizen" mitteil­bar.

Immerhin erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Lehrveranstaltungen für die Konstruktion des Lemprodukts Materialien und Anleitungen. Diese sind jedoch selten so beschaffen, daB sie schon auf die individuellen Gegebenheiten (z.B. Vorwis­sen, verfügbare Lemtechniken) passen. Die Lemenden müssen die Anpassung selbst vomehmen, und das kann ein kompliziertes und mühevolles Unterfangen werden. Die Lehrkräfte können zwar versuchen, durch individualisierte Anregungen zu helfen. Dennoch müssen letztlich die Lemende jeweils für sich selbst Wissen aufbauen.

Der Wissensaufbau beruht auf unzähligen kognitiven Einzelaktivitäten, z.B. auf elaborativen Prozessen (Vorstellungen bilden, SchluBfolgerungen ziehen) und redukti­ven Prozessen (Ordnen, Zusammenfassen, Wiederholen), die in einem relativ hohen Tempo über relativ lange Zeitabschnitte durchgeführt und koordiniert werden müssen. Entsprechende Vorgänge sind nicht ohne weiteres willentlich zu steuem; ihre Wirk­samkeit hängt von den individuellen kognitiven Ressourcen ab (z.B. vom Vorwissen oder vom Verfügen über Lemstrategien). Die bloBe Absicht zu lemen, garantiert des­halb noch keinen erfolgreichen, sukzessive fortschreitenden Kompetenzaufbau.

So bleibt Lemen auch unter einer Anleitung durch Lehre ein aktiver Vorgang des Subjekts. Dessen Lemaktivitäten müssen ausgelöst, angetrieben, gesteuert und über die Zeit aufrechterhalten werden. Dynamik, Richtung und Ausdauer erhält Lemen durch Lemmotivation. Der Begriff Lemmotivation bezeichnet das prozeBhafte Geschehen, das dem Lemen vorausläuft und es begleitet. In diesem Sinne kann man Lemmotivati­on als aktuellen Zustand in der Person begreifen. Nicht nur die Quantität (die Stärke), sondem vor allem die Qualität der Lemmotivation beeinflussen das Lemen. Lemmoti­vation wird damit zu einer zentralen Voraussetzung und Bedingung für die Aus- und Weiterbildung.

Qualitative Aspekte von Lemmotivation stehen im Blickpunkt dieses Beitrags. Man kann sich für die Teilnahme an Aus- und Weiterbildung entscheiden, aber den­noch auf unterschiedliche Art und Weise zum Lemen motiviert sein. Verschiedene Ty­pen dieser Lemmotivation und ihrer Auswirkungen auf das Lemen werden deshalb im folgenden dargestellt. Wenn man Lemmotivation als Zustand in der Person begreift, dann ist dieser Zustand abhängig von Bedingungen. Hier kann grob unterschieden werden zwischen Bedingungen, die in der Person und in ihrer Lemgeschichte liegen, und situativen Bedingungen, die im Rahmen von Aus- und Weiterbildung gestaltet oder beeinfluBt werden können. Auf stabile motivationale Orientierungen, die sich aus wiederholten Lemerfahrungen in der Person entwickeln, wird in diesem Beitrag nur kurz eingegangen (Krapp 1998; vgl. dazu den Beitrag von Lewalter, Krapp und Wild in diesem Band). Ausführlicher betrachtet werden demgegenüber situative Bedingun­gen von Lem- und Arbeitsumgebungen, die motivationsunterstützend gestaltet werden können.

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Lemmotivation in der Aus- und Weiterbildung 165

Varianten von Lernmotivation

Lehrenden vertraut und vielen Lemenden bekannt ist die Unterscheidung zwischen "extrinsischer" und "intrinsischer" Motivation, die auf eine ältere Forschungstradition zurückgeht. "Intrinsische Motivation" meint, daB jemand "von innen" bzw. "aus der Sache heraus" für eine Tätigkeit bzw. zum Lemen motiviert ist (vgl. Rheinberg 1997). Anreize, die in Inhalten oder Tätigkeiten stecken bzw. wahrgenommen werden, regen die Person dazu an, sich mit einer Sache zu beschäftigen. "Extrinsische Motivation" beruht dagegen auf "äuBeren" Anreizen, die mit den Inhalten oder der Sache unmittel­bar nichts zu tun haben. Die Person sieht sich durch eine Verkoppelung mit Gratifika­tionen (Belohnungen) oder Sanktionen (Bestrafungen, negative Konsequenzen) zum Handeln bzw. Lemen veranlaBt.

Mit dieser einfachen Unterscheidung können Motivationen für die Teilnahme an Aus- und WeiterbildungsmaBnahmen kontrastiert werden. Die Teilnahme kann intrin­sisch oder extrinsisch motiviert sein. Die intrinsisch motivierte Teilnahme ist charakte­risiert durch Freiwilligkeit und durch eine positive Einstellung bzw. Erwartungshaltung gegenüber den Inhalten und Tätigkeiten. Demgegenüber zeichnet sich eine extrinsisch motivierte Teilnahme durch Druck oder Zwang und Gleichgültigkeit bzw. vielleicht sogar Abneigung gegenüber den Inhalten und Tätigkeiten aus.

Die Unterscheidung kann aber auch auf die aktuellen motivationalen Zustände in Lehrveranstaltungen oder TrainingsmaBnahmen angewendet werden. In Abhängigkeit von den jeweils behandelten Inhalten und der Art ihrer Aufbereitung kann das Lemen intrinsisch oder extrinsisch motiviert erfolgen. Es liegt auf der Hand, daB die Chance für ein überwiegend intrinsisch motiviertes Lemen dann steigt, wenn die Entscheidung für die Teilnahme an der Aus- oder WeiterbildungsmaBnahme intrinsisch motiviert er­folgte. Allerdings kann auch durch bestimmte Umstände eine anfangs vorhandene in­trinsische Motivation über den Verlauf von Lehrveranstaltungen reduziert und durch extrinsische Motivation ersetzt werden (Prenzel 1997). Umgekehrt ist es nicht auszu­schlieBen, daB bei einer ursprünglich extrinsisch motivierten Teilnahme im Laufe der Zeit intrinsische Anreize in den Lemgegenständen erkannt und handlungsrelevant werden.

Die Gegenüberstellung von "intrinsisch" und "extrinsisch" motiviertem Lemen hat sich jedoch als zu einfach und zu grob erwiesen. Die neuere Motivationsforschung zeigt, daB Tätigkeiten und Inhalte, die wenige oder keine inneren Anreize mit sich bringen, über unterschiedliche Formen motivationaler Regulierung ausgeführt und ge­lemt werden können (vgl. Deci & Ryan 1993). Unter Rückgriff auf diesen Motivati­onsansatz und auf interessentheoretische Überlegungen (Krapp & Prenzel 1992) unter­scheiden wir im Rahmen unserer Untersuchungen zur Lemmotivation in der kaufmän­nischen Ausbildung sechs Varianten motivierten Lemens (vgl. Prenzel, Drechsel & Kramer 1998):

"Amotiviert" bezeichnet einen Zustand gewissermaBen "ohne" Lemmotivation. Der bzw. die Lemende steht den Leminhalten oder Lemanforderungen gleichgül­tig oder hilflos gegenüber, läBt sich nicht darauf ein, ist geistig abwesend. "Extemale Lemmotivation": Der bzw. die Lemende lemt nur, weil (bzw. wenn) Bekräftigungen (z.B. Anerkennung, Lob, Noten) in Aussicht gestellt sind oder Sanktionen drohen (z.B. Druck durch Vorgesetze, Kollegen oder Ausbilder). Das

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Lemen erfolgt hier aufgrund des wahrgenommenen äuBeren Drucks; es ist weitge­hend fremdbestimmt. "Introjizierte Lemmotivation "; Der bzw. die Lemende hat das äuBere Bekräfti­gungssystem in sich selbst hinein verlegt, sozusagen "verinnerlicht". Das Lemen erfolgt nun ohne unmittelbaren Druck von auBen. Aber der oder die Lemende zwingt sich selbst zum Lemen, etwa weil er bzw. sie sonst ein schlechtes Gewissen hat. Aufgrund des "von innen" empfundenen Druckes ist das Lemen noch nicht selbstbestimmt. "ldentifizierte Lemmotivation"; Die Pers on lemt "von sich aus", weil sie mit dem Lemen die Möglichkeit verbindet, selbst gesetzte Ziele zu erreichen. Manche In­halte, die zu lemen sind, aber als nicht reizvoll erscheinen, werden subjektiv wich­tig, weil sie dem Erreichen eigener, für die Person bedeutsamer Ziele dienen. Die Pers on lemt freiwillig und selbstbestimmt. ,,1ntrinsische Lemmotivation "; Die Person lemt aufgrund der von ihr wahrge­nommenen Anreize in der Sache oder in den inhaltsbezogenen Tätigkeiten. Cha­rakteristisch für diese Form motivierten Lemens sind z.B. das neugierige Fragen oder Erkunden, das faszinierte Problemlösen, das Aufgehen in einer Sache bzw. im Tun. Das Lemen erfolgt in hohem MaBe selbstbestimmt. ,,1nteressiertes Lemen" betrifft eine weitergehende Variante der intrinsischen Mo­tivation. Die Person lemt aufgrund der wahrgenommen persönlichen und allge­meinen Bedeutung der Sache. Sie will auch über die aktuelle Situation hinaus mehr über den Gegenstandsbereich erfahren und ihre Kompetenz weiterentwickeln. Sie ist vom Gegenstandsbereich so fasziniert oder "gepackt", daB sie ihn aus freien Stücken emeut aufsuchen und ihn sich weiter erschlieBen möchte.

Diese Varianten motivierten Lemens lassen sich unter zwei Gesichtspunkten anordnen. Die Varianten unterscheiden hinsichtlich der Veranlassung durch Anreize oder Be­deutungen, die in den Leminhalten oder im Lehrstoff wahrgenommen werden. Sach­bezogene Anreize bzw. inhaltliche Bedeutungen kennzeichnen das intrinsisch moti­vierte bzw. das interessierte Lemen; sie spielen aber keine (oder nur eine nachgeord­nete) Rolle bei den anderen Motivationsvarianten.

Die sechs Motivationsvarianten unterscheiden sich zudem im AusmaJ3 an Selbstbe­stimmung: Das nur durch äuBere Bekräftigungen regulierte Lemen erfolgt fremdbe­stimmt. Das AusmaB an Fremdbestimmung verringert sich beim introjizierten Lemen, während das Lemen durch Identifikation bereits weitgehend selbstbestimmt ist. Das nicht durch äuBere Bekräftigungen veranlaBte intrinsisch motivierte und interessierte Lemen erfolgt vollständig selbstbestimmt.

Die folgende Abbildung stellt die Varianten motivierten Lemens in einer entspre­chenden Anordnung dar.

Betrachtet man die se Motivationsvarianten aus der Perspektive übergeordneter Zielstellungen von Aus- und Weiterbildung, dann bleibt es nicht mehr gleichgültig, auf welcher Art von Motivation Lemen beruht (vgl. Heid 1990). Vnter einem modernen Bildungsbegriff, der auf Selbstbestimmung, Authentizität, persönliche Identität, Indi­vidualität und moralische Verantwortung abzielt (vgl. Bundesminister für Bildung und Wissen schaft 1990; Senatskommission der DFG 1990), gewinnen die stärker selbstbe­stimmten Motivationsvarianten an Gewicht. Der Stellenwert des identifizierten, intrin­sisch motivierten oder interessierten Lemens begründet sich aber nicht nur durch die

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Lernmotivation in der Aus- und Weiterbildung 167

Zielrelevanz. Für eine Unterstützung und Förderung dieser Formen motivierten Ler­nens sprechen ebenfalls zahlreiche empirische Befunde.

Selbstbestimmung

Hahe interessiert

intrinsisch

identifiziert

I introjiziert

extemal I Keine amotiviert

keine ho he

Wirkungen der Motivationsvarianten au! das Lemen

Inhalts· und Tätigkeitsanreize

Wie die Befunde zeigen, beeinflussen die Motivationsvarianten das Lemgeschehen je­weils in besonderer Wei se. Sie führen zunächst zu unterschiedlichen Gefiihlserlebnis­sen beim Lemen (vgl. Prenzel, Drechsel & Kramer 1998):

Amotivation und Formen fremdbestimmt motivierten Lemens (extemal und intro­jiziert) werden meist von ausgeprägten unangenehmen Empfindungen, von Angst und Unlusterlebnissen begleitet; Bei den Formen selbstbestimmt motivierten Lemens (identifiziert, intrinsisch, in­teressiert) treten dagegen sehr häufig "positiv" gefärbte Gefühle auf. Bei intrin­sisch motiviertem oder interessegeleitetem Lemen kommen mit dem Erleben von Faszination oder anregender Spannung weitere Gefühle hinzu, die als angenehm empfunden werden.

Emotionen sind wichtige Kriterien für die Qualität des Lemens (pekrun 1998). Die Ge­fühlsempfindungen beeinflussen das nachfolgende Lemen und die Entwicklung von sach- und tätigkeitsbezogenen Präferenzen.

Die einzelnen Motivationsvarianten wirken sich aber auch in unterschiedlicher Wei se auf die kognitiven Prozesse beim Lemen aus (vgl. Schiefele 1996). Gegenüber der extern alen oder introjizierten Motivation führen die selbstbestimmten Motivations­varianten zu einem höheren Lemgewinn. So wird beim identifizierten, intrinsisch mo­tivierten oder interessierten Lemen das Wissen tiefer verarbeitet und bes ser verstanden. Die Gründe für diesen höheren Lemgewinn selbstbestimmter Motivationsvarianten liegen u.a. darin, daB

die Lemenden mehr SchluBfolgerungen ziehen, mehr bildliche Vorstellungen entwickeln, und die Sachverhalte häufiger in eigene Worte fassen.

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Die ausgeprägten mentalen Aktivitäten und das erreichte tiefere Verständnis begünsti­gen eine Anwendbarkeit des Gelemten in realen Situationen.

Motivationale Zustände, die mit groBer Häufigkeit in Lemsituationen erfahren werden, zei gen schlieBlich längerfristig Wirkungen auf die Entwicklung von stabilen Persönlichkeitsmerkmalen wie motivationalen Orientierungen und Interessen. Die Be­reitschaft, Lemanforderungen auf persönliche Belange und Ziele zu beziehen oder nach intrinsischen Anreizen zu suchen, hängt von den Erfahrungen mit entsprechenden motivationalen Regulierungen ab. Ein anhaltendes Interesse für einen Inhaltsbereich kann sich nur aus einer wiederholt erlebten Interessiertheit bei der Beschäftigung mit entsprechenden Themen entwickeln. Über wiederholt erlebte motivationale Zustände werden so Persönlichkeitsmerkmale ausgeschärft, die wiederum die Fortbildungsbe­reitschaft und das Weiterlemen nachhaltig beeinflussen.

Grenzen einer Motivierung

Die vorangegangen Ausführungen legen nahe, in der Aus- und Weiterbildung durch eine der Formen selbstbestimmter Motivation zu lemen: Wenn nicht schon interessiert, dann zumindest über eine selbstbestimmte Identifikation mit Anforderungen.

Wohl alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Aus- und WeiterbildungsmaB­nahmen würden geme mit Interesse oder intrinsisch motiviert lemen. Aber bestimmte Aspekte sind nicht interessant, manche Ausführungen äuBerst langweilig und bei eini­gen Lemanforderungen läBt sich beim besten Willen keine Nutzen unter eigenen Ziel­stellungen erkennen. Nur wenige beherrschen das Kunststück, sich jederzeit selbst in Begeisterung über angebotenen Lemstoff zu versetzen. Aber wozu gibt es denn die "Profis" für Aus- und Weiterbildung - deren Aufgabe ist es doch, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu motivieren!

Zum Lemen "motivieren" würden diese sicher geme, aber das geht nicht auf di­rekte und einfache Wei se. W ohl kann man durch mehr oder weniger sanften Druck je­manden zur Teilnahme an einer Weiterbildung veranlassen. Aber bereits hier wirkt der Druck nur indirekt und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit motivierend. Kompli­ziert wird es, wenn Lemen motiviert werden solI. Dabei kommt es ja darauf an, vor­wiegend mentale (innere) Aktivitäten, in erheblicher Dichte und über längere Zeiträu­me auszulösen, und das heiBt auch, die Aktivitäten zieibezogen auf einen bestimmten Lemgegenstand zu richten.

Lehrende haben deshalb durchaus Recht, wenn sie behaupten, sie könnten Lemende nicht motivieren. Zumindest können nicht sie nicht auf unmittelbare Weise bestimmte motivationale Zustände in anderen Personen erzeugen. Aber: Ob und wie die Lemenden motiviert sind, hängt durchaus von den Lehrenden und ihren Aktivitäten ab. Die Art, wie die Lehr-Lem-Umgebung gestaltet wird, ist eine durchaus ausschlaggebende Bedingun­gen für den Aufbau von Lemmotivation, bzw. einer wirksamen, pädagogisch anzustre­benden Lemmotivation. Deshalb gilt es in der Aus- und Weiterbildung, Lemsituationen und Lemsequenzen so zu arrangieren, daB die Teilnehmer und Teilnehmer mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit lemförderliche motivationale Zustände aufbauen. Wie selbst­bestimmt motiviertes Lemen durch das Gestalten von Bedingungen der Lemumgebungen unterstützt beeinfluBt bzw. unterstützt werden kann, behandelt der nächste Abschnitt.

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Lernmotivation in der Aus- und Weiterbildung 169

Bedingungen für selbstbestimmt motiviertes Lemen

Die Forschung zur Lemmotivation hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Ein­fluBfaktoren untersucht. In den Blick genommen werden im folgenden insbesondere die Bedingungen, die für die Formen selbstbestimmt motivierten Lemens ausschlagge­bend sind. Es gilt ja Lemumgebungen so zu gestalten, daB selbstbestimmtes, also iden­tifiziertes, intrinsisch motiviertes und interessiertes Lemen unterstützt wird. Auch wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Aus- und Weiterbildung mit unter­schiedlichen Motivationen starten, kann und muB die Entwicklung von Lemmotivation einer höheren Qualität (im Sinne selbstbestimmter Motivationsvarianten) angeregt und gefördert werden.

Motivationstheorien beruhen auf grundlegenden Annahmen über menschliche Be­dürfnisse und Funktionsweisen. Seit geraumer Zeit werden in verschiedenen Theorien insbesondere drei grundlegenden Bedürfnisse betont: Der Mensch hat die angeborene motivationale Tendenz, sich mit anderen Personen in einem sozialen Milieu verbunden zu fühlen, sich mit seinen Fähigkeiten in dieses Milieu wirksam einzubringen und sich dabei persönlich autonom und initiativ zu erfahren (vgl. Deci 1998).

Diese grundlegenden motivationalen Tendenzen und eine Reihe weiterer Faktoren, die auf die Motivation einer Person wirken, kann man motivationalen Bedingungs­komplexen zuordnen. Theoretische Grundlage unserer Forschungsarbeiten ist ein Mo­dell, das empirisch belegte EinfluBfaktoren zu sechs Bereichen von Bedingungen gruppiert (vgl. Prenzel 1995; Prenzel, Drechsel & Kramer 1998). Die Bedingungsfak­toren sind V oraussetzungen für die Ausprägung und Entwicklung selbstbestimmter Lemmotivation im Sinne eines identifizierten, intrinsisch motivierten und interessierten Lemens. Einen Überblick über die sechs Bedingungskomplexe liefert die nachstehende Abbildung:

Ilnhal1llche Relevanz I InstruIdIonlQllall1lt I ~ Ie

Interesse der -+ Motivlertes Lemen + SozIaIe Lehrenden Bnb!nc!unA

" ~

AutonomIe- I I ~-unteratOtzuno unteIItOtzuna

Im folgenden werden die einzelnen Bedingungskomplexe kurz skizziert.

lnhaltliche Relevanz: Lemmotivation beruht zu einem erheblichen Teil auf dem Er­kennen oder Herstellen von Bedeutung. Selbstbestimmte Motivation setzt voraus, daB der Lemstoff als relevant wahrgenommen wird. Die Bedeutung hängt eng zusammen mit der Nützlichkeit der Fertigkeiten, Einstellungen oder Qualifikationen, die erworben werden, für die Bearbeitung beruflicher wie auch auBerberuflicher Situationen, Aufga­ben und Problemstellungen. Nützlich sein kann aber auch Wissen, das ein Erkennen neuer Aspekte oder Zusammenhänge sowie ein tieferes Verständnis von Sachverhalten gestattet und das eventuell beim Identifizieren und Lösen von Problemen hilft. Aus subjektiver Sicht nützlich werden Qualifikationen, die beruflichen Aufstieg, eine Ver­änderung der beruflichen Aufgaben ermöglichen bzw. zur Stabilisierung der berufli­chen Position erforderlich sind. DaB Lehrstoff oder Lemanforderungen in der Aus- und

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Weiterbildung als nützlich oder relevant erlebt werden, ist allerdings keineswegs selbstverständlich. Verweise auf die Wichtigkeit und abstrakte Begründungen hel fen wenig, urn die Bedeutung nachvollziehen zu können. Günstiger ist es, anhand von au­thentischen Problemsituationen zu zei gen bzw. erfahren zu lassen, wozu die zu lemen­den Kompetenzen nützen. Ein weiterer kritischer Punkt betrifft das Herstellen eines Bedeutungszusammenhanges, in den sequentiell zu lemende Wissens- oder Fertig­keitskomponenten eingebettet sind. Oft bleibt unklar, welchen Stellenwert das Einprä­gen von einzelnen Fakten und Details, das langwierige Üben oder das rückblickende Reflektieren für den Aufbau der angestrebten Kompetenz oder Qualifikation bzw. für das spätere Bearbeiten von Aufgaben und Problemen im Beruf haben. Das Einbetten der jeweiligen Lemeinheiten in einen vorher aufgebauten und nachvollzogenen Ge­samtzusammenhang, das überblickhafte und begründende Einführen in eine neue The­matik (Advance Organizer) helfen den Lemenden, die Bedeutung des jeweiligen Stoffs nachzuvollziehen.

1nstruktionsqualität: Selbstverständlich wirkt sich auch die didaktische Gestaltung von Unterrichts- oder TrainingsmaBnahmen auf die Lemmotivation aus. Motivationsunter­stützend wirken klare und transparente Lehrziele, die auch über Lemwege und Auf­wand inforrnieren. Hilfreich sind klar strukturierte und verständliche Wissensdarbie­tungen, wenn diese nötig sind; präzise und zielbezogene Auftragsbeschreibungen für Explorations- oder Selbstlemphasen, aber auch für Gruppenarbeiten. Der Lemgang muB kohärent sequenziert sein, gleichgültig, ob er sich an einer sachbezogenen Syste­matik oder an einer Problemstruktur des Anwendungsfeldes orientiert. Ein kritischer Faktor, der wohlbekannt ist, betrifft das Schwierigkeitsniveau. Die Lemaufgaben lie­gen häufig nicht auf dem nächsthöheren Anforderungsniveau, das für die Motivation optimal ist. Durch geeignete Unterstützungen (scaffolding) können zum Beispiel die Lemenden auch mit komplexeren Problemen konfrontiert werden, die anregender und realistischer sein können. SchlieBlich spielen die Vielfalt und Abwechslung in den Lehr-Lem-Zugängen, Arbeits- und Sozialformen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Lemmotivation.

1nteresse der Lehrenden an den Lerninhalten: Auch in der Aus- und Weiterbildung fungieren die Lehrkräfte als ModelIe. Sie können demonstrieren, daB der Lehrstoff wichtig und interessant ist; sie können zeigen, daB es reizvoll ist, in einem Bereich kompetent handeln zu können, daB es herausfordemd und spannend ist, in diesem Ge­biet Probleme zu lösen. Dies kann erkennbar werden am Auftreten, Engagement, an der Mimik, aber z.B. auch am "lauten Denken", welches das Tun begleiten kann. Das eigene Interesse an den Leminhalten sichtbar zu machen, verlangt keine Schauspiele­rei. Es ist ja selbstverständlich, daB die Lehrenden das Wissen und die Fertigkeiten, die sie vermitteln, als wichtig und interessant empfinden. Das müssen sie nur zeigen. Als Experten für die Sache wissen sie, wo in der Sache die Anreize und Bedeutungen stek­ken.

Soziale Einbindung: Jeder von uns weiB aus eigener Erfahrung, wie angenehm es ist, sich in einer Gruppe "heimisch" und akzeptiert zu fühlen. Dies trifft natürlich auch für Lemgruppen zu, in denen sich die Personen als eingebunden in eine Gruppe erleben können, die sich gemeinsam darum bemüht, etwas Bestimmtes zu lemen und zu kön­nen. In besonderer Weise sind wiederum die Lehrkräfte für das soziale Klima zustän-

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Lernmotivation in der Aus- und Weiterbildung 171

dig. Sie repräsentieren ein bestimmtes Fachgebiet, und sie können zeigen, wie Fach­leute in diesem Bereich miteinander, vor allem aber mit "Neulingen" oder Fortge­schrittenen umgehen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Aus- und Weiter­bildung können dementsprechend spüren, ob sie überhaupt zu dieser "Zunft" gehören, das heiBt sich auf das Gebiet einlassen wollen. Neben einem partnerschaftlichen und kollegialen Umgang zeichnet sich eine motivationsunterstützende soziale Einbindung durch Perspektivenübemahme und Empathie, durch gegenseitiges Akzeptieren, offenes und kontaktfreudiges Umgehen und durch ein Anregen und Unterstützen von koopera­tiven Arbeits- und Lemformen aus.

Autonomieunterstützung: Ein grundlegendes psychologisches Bedürfnis richtet sich darauf, sich selbst als Person zu entwickeln und zu verwirklichen und eigene Hand­lungsspielräume und Entscheidungsmöglichkeiten zu gewinnen. Wer lemt, versucht sich auf eigene Art und Wei se auf Leminhalte einzulassen. Vor allem solI das Lemen dazu beitragen, daB man sich selbst weiter entwickelt. Dazu gehört z.B., daB Lemakti­vitäten nicht bis ins Detail vorgeschrieben werden und daB Wahlmöglichkeiten bezüg­lich der Gestaltung der Lemsituation für die Person offensichtlich werden. Je mehr Vorgaben eine lemende Person erhält, urn so weniger wird sie von sich aus aktiv wer­den. Das Unterstützen von Autonomie bedeutet jedoch nicht das Alleinelassen einer Person in einer unstrukturierten Lemsituation. Für motiviertes Lemen sind Spielräume zur Selbstbestimmung erforderlich. Andererseits geht es in der Aus- und Weiterbildung darum, daB etwas Bestimmtes (z.T. durch Lehr- oder Ausbildungspläne festgelegt) gelemt wird. Die damit verbundene Lemanforderung muB aber nicht in einem Wider­spruch stehen zum Bedürfnis nach Entwicklung von Autonomie; sie könnte ja auch Gelegenheit und Unterstützung zur Weiterentwicklung der Person oder des "Selbst" geben. Wichtig ist freilich, daB die Lemenden über Anliegen und Ziele des Unterrichts bzw. der Aus- und Weiterbildung informiert sind. Erst dann können sie sich selbstbe­stimmt für (oder auch gegen) ein Einlassen auf die Anforderungen entscheiden. Das Bedürfnis nach Autonomie kann in Lehr-Lem- oder Arbeitsumgebungen auf verschie­dene Weise unterstützt werden. Autonomieunterstützend ist es beispielsweise,

wenn Lemende innerhalb einer vorgegebenen Struktur Wahlmöglichkeiten oder Spielräume haben, die für sie zu erkennbaren Zielen führen; wenn sie immer wieder die Chance haben, Fragen zu stellen und differenzierte und konstruktive Rückmeldung zu erhalten; wenn sie sich aktiv und gestaltend betätigen; wenn sie die Möglichkeit haben, Probleme in ihrem eigenen Tempo zu erarbeiten, wenn sie Gelegenheiten haben, selbständig Themen zu vertiefen; wenn sie dazu angeregt werden, selbständig Aufgaben und Probleme zu bearbeiten und wenn sie dabei gegebenenfalls unterstützt werden.

Das Unterstützen von Autonomie ist immer mit vorgegebenen Strukturen verbunden, innerhalb derer sich Lemende "frei" bewegen können.

Kompetenzunterstützung: Ein weiteres grundlegendes Bedürfnis richtet sich darauf, wirksam zu sein, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterzuentwickeln, Fortschritte zu spüren und Anerkennung zu finden, sich als für einen bestimmten Bereich als "kompetent" zu empfinden. Kompetenzerlebnisse im LemprozeB sind eine Bedingung

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dafür, daB man sich selbstbestimmt motiviert mit einem Inhaltsbereich auseinander­setzt und lemt. Lehrkräfte in der Aus- und Weiterbildung können das Kompetenzerle­ben in verschiedener Hinsicht unterstützen:

Kompetenzerleben benötigt Bezugspunkte. Man muB spüren können, daB man die Kompetenz in Richtung der angestrebten Lemziele weiterentwickeln konnte, und daB die eigenen Lemaktivitäten und Anstrengungen ausschlaggebend für den Zu­wachs waren. Hilfreich ist dabei ein abgestufte Vorstellung über Kompetenzni­veaus, die man Stück urn Stück erreichen kann. Es werden dann aber auch Gele­genheiten benötigt, an denen man sein Können überprüfen kann. Für beides kön­nen die Lehrkräfte in der Aus- und Weiterbildung sorgen. Häufige, individuelle und konstruktive Rückmeldungen sind für die Lemmotivati­on besonders wichtig. Rückmeldungen müssen nicht immer von anderen Personen gegebenen werden, sondem aus dem Gelingen oder Scheitem bei geeigneten Auf­gaben hervorgehen. Besonders wichtig ist die Rückmeldung über den individu ellen Fortschritte (individuelle Bezugsnorm), die ja den Kompetenzzuwachs hervorhebt (vgl. Rheinberg 1997). Das bedeutet für Möglichkeiten zu sorgen, daB das Können einer Pers on zu unterschiedlichen Zeitpunkten verglichen werden kann. Konstruktive Rückmeldung muB nicht unbedingt durch Bekräftigungen (Lob) ge­geben werden. Fehler zu machen ist ein wesentlicher Bestandteil von Lemprozes­sen, und dementsprechend sollte aus den Fehlem gelemt werden. Das Ignorieren von Fehlem läBt die lemende Pers on im Unklaren, was falsch (und was richtig) gemacht wurde. Informierende (keinesfalls negative oder abwertende) Rückmel­dungen über den "Irrweg" zeigen dem Lemenden, daB der Lemfortschritt des Ein­zelnen wichtig ist und unterstützen dessen Bemühen urn Verbesserung. Selbstbestimmt motiviertes Lemen ist dann möglich, wenn die Lehrkraft signali­siert, daB sie den Lemenden zutraut, sich die Lehrinhalte zu erschlieBen. Die Bot­schaft "Ich bin der festen Überzeugung, daB Sie das schaffen werden" kann auf verschiedenartige Weise vermittelt werden. Damit wird nicht der Eindruck erweckt werden, daB keine Anstrengung notwendig ist. Die Mitteilung "Ich weiB, daB es z.T. harte Arbeit bedeutet, aber ich weiB auch, daB Sie es schaffen können", spie­gelt eine kompetenzunterstützende Haltung wider.

Grundlage für kompetenzunterstützendes Gestalten der Aus- und Weiterbildung ist ei­ne positive Erwartungshaltung der Lehrkräfte in Hinblick auf ein erfolgreiches Lemen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Schluj3

Die skizzierten Bedingungsfaktoren kennzeichnen einige Ansatzpunkte für eine Unter­stützung selbstbestimmt motivierten Lemens in der Aus- und Weiterbildung. Sie be­schreiben Anforderungen an die Qualifikationen von Lehrkräften in der Aus- und Wei­terbildung, die nicht nur zu einer besseren Motivierung beitragen dürften (vgl. Harteis & Prenzel 1998). Freilich war im Rahmen dieses Beitrags nur eine relativ allgemeine Be­schreibung von MaBnahmen zur Unterstützung von Lemmotivation möglich.

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Lernmotivation in der Aus- und Weiterbildung 173

Einige der skizzierten Bedingungsfaktoren für die Forrnen selbstbestimmt moti­vierten Lemens sind freilich nicht nur im Feld der Aus- und Weiterbildung wirksam. So sind etwa die Autonornieunterstützung, die soziale Einbindung und die Kompeten­zunterstützung, die Menschen an ihren Arbeitsplätzen erfahren, äuBerst wichtige Be­dingungen für die Entwicklung der Lem- und Fortbildungsbereitschaft. Sie sind aber auch ausschlaggebende Bedingungen für die Arbeitsmotivation schlechthin und für das anfangs angesprochene beiläufige Lemen am Arbeitsplatz.

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Lemen mit neuen Medien: Eine Chance für neue Konzepte und innovative Ziele

Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl

1. Das Neue an den neuen Medien

Was ist neu an den neuen Medien und was bedeutet das für das Lemen? Wie wird das, was technisch machbar ist, im Kontext von Lemen und Weiterbildung begründet? Ausgehend von diesen Eingangsfragen wollen wir im Folgenden diejenigen Problem­stellungen einführen, die wir im vorliegenden Beitrag aufgreifen werden.

Was ist neu an den neuen M edien?

Was an den neuen Medien neu ist, ist relativ schnell umrissen: Neu ist erstens die inte­grative Bündelung mehrerer Text-, Bild- und/oder Tonmedien und damit verschiedener Zeichensysteme, die unterschiedliche Sinne des Nutzers ansprechen. Neu ist zweitens die Möglichkeit, unabhängig von Ort und Zeit über lokale und weltweite Netze mitein­ander zu kommunizieren und zu kooperieren. Und neu ist drittens die wachsende "In­telligenz" computerbasierter Systeme, die ein Agieren und Manipulieren in virtuellen Welten erlaubt und ein hohes MaG an Interaktivität eröffnet. Dies alles ist nur möglich mit der dahinter stehenden digitalen Technik, deren Nutzung offline (ohne Kabel) be­gann und sich nun vor allem online (mit Kabel) weiterentwickeln wird (Wemer & Becker 1997). Diese Merkmale der modernen Informations- und Kommunikations­technologien stellen erweiterte und zusätzliche Potentiale für das Lemen bereit. Aber impliziert das Lemen mit solchermaGen neuen Medien auch ein "neues Lemen"?

Wie wird das technisch Machbare begründet?

Es ist zumindest nichts Neues, daG in der Phase der Entwicklung neuer Technologien mit einzelnen interessanten Prototypen Euphorie verbreitet und damit einem "techno­logischen Opportunismus" (Salomon & Perkins 1996) Vorschub geleistet wird: Noch bevor von einer flächendeckenden Nutzung der neuen Technologien im Kontext von Lemen und Weiterbildung auch nur die Rede sein kann, rückt das technisch Machbare in den V ordergrund, während die eigentlich relevanten Fragen des Lemens vertagt werden. Die am häufigsten genannten Gründe dafür, neue Medien in der Weiterbil­dung einzusetzen, bleiben entsprechend oft an der Oberfläche (Collis & Sakomoto 1996): "Der Medieneinsatz hat wirtschaftliche Vorteile und trägt zur Kostenreduktion bei", lautet das wohl wichtigste ökonomische Argument; mit der "technischen Kom­petenz als berufliche und gesellschaftliche Notwendigkeit" argumentieren diejenigen,

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die vorrangig praktische Ziele im Auge haben; pädagogisch-psychologische Argu­mente aber beschränken sich nur allzu oft auf spekulative Lemvorteile (vgl. Dillon & Gabbard 1997).

Inwiefern besteht Reflexionsbedaif?

Es steht auBer Zweifel, daB die neuen Medien enormen EinfluB auf die Weiterbildung haben (werden). Technologische Entwicklungen sind stets wichtige Katalysatoren für Veränderungen im Bereich des Lemens, die jedoch ohne pädagogisch-psychologische Reflexion ins Leere laufen. Wir wollen mit dem vorliegenden Beitrag eine solche Re­flexion in mehrere Richtungen betreiben und folgenden Problemstellungen nachgehen: Gibt es echte Lemvorteile durch den Einsatz neuer Medien? Was kann man mit den neuen Medien in der Weiterbildung unmittelbar tun? Welchen EinfluB haben die neuen Medien auf Veränderungen in der W eiterbildungspraxis? Welche Rahmenbedingungen machen den Einsatz neuer Medien zum tatsächlichen Erfolg? Und schlieBlich: Wozu das Ganze? Was macht das Lemen mit neuen Medien und neuen Konzepten für die Zukunft so attraktiv und notwendig?

2. Neue Medien in der Forschung

Gibt es echte Lernvorteile durch den Einsatz neuer Medien? Es ist an der Zeit zu fra­gen, was hinter den Aussagen der Hochglanzbroschüren aus Wirtschaft und Politik steckt, die uns eine schöne neue Bildungswelt infolge der neuen Medien suggerieren, und wie die aktuelle Forschung zu solchen Versprechungen steht. Aus den inzwischen wachsenden empirischen Arbeiten der sogenannten Multimedia-Forschung wollen wir im Folgenden eine kleine Auswahl von Befunden zusammenstellen - mit einer schlechten und einer guten Nachricht. Des Weiteren wollen wir auf zwei Phänomene genauer hinweisen, die auch in der Forschung künftig an Bedeutung gewinnen dürften: Das Dilemma mit den Info-Happen und die Aufmerksamkeit als Flaschenhals.

Die schlechte Nachricht

Die Erwartungen an das Lemen mit neuen Medien sind vor allem in der Praxis ausge­sprochen hoch. "Ungetrübter Optimismus" (Schnotz 1997) und die Vision vom Bil­dungshelden im Cyberspace, der selbstgesteuert und mit hypersozialer Kompetenz durch das Netz surft, werden inzwischen immer häufiger mit Ergebnissen aus der Mul­timedia-Forschung gedämpft (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl 1998): So zeigt sich in empirischen Studien etwa, daB allein die Kombination unterschiedlicher Symbolsy­steme nicht ausreicht, urn das Lemen zu verbessem; auch die Verwendung animierba­rer Grafiken und die Erhöhung der Interaktivität sind für sich genommen keine Garan­ten für erfolgreiches Lemen (z.B. Mayer, 1997; Schnotz 1997). Beim selbstgesteuerten Lemen mit neuen Medien ges ellen sich häufig Entscheidungs- und Orientierungs­schwierigkeiten hinzu (z.B. Friedrich & Mandl 1997); so manch einer kämpft dabei

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Lernen mit neuen Medien 177

auch noch erfolglos mit der Technik. Bei der netzbasierten Kooperation scheitem nicht wenige an den hohen Ansprüchen der Verarbeitung multimedialer und gleichzeitig dy­namischer Information. Der zusätzliche Aufwand für die lembezogene und technische Koordination läBt so manches netzbasierte Lemprojekt schnell an seine Grenzen gera­ten (z.B. Gräsel, Fischer, Bruhn & MandI1997). Und was speziell das Internet mit sei­nen hypermedialen Strukturen, immensen Inhaltsmengen und vielfàltigen Kommuni­kationsmöglichkeiten betrifft, so lassen sich derzeit empirisch weder verbesserte Lem­leistungen noch erhöhte Effektivität beim Lemen nachweisen (vgl. Dillon & Gabbard 1997, 1998; Slotta & Lin, in press).

Die gute Nachricht

Es ist zwar nicht alles Gold, was sich anklicken läBt, aber die Goldgrube ist durchaus da, man muB sie nur richtig heben. Worauf es beim Lemen mit neuen Medien an­kommt, ist die Konzeption und Ausgestaltung der gesamten Lemsituation, und hierzu liefert die Multimedia-Forschung bereits einige Anhaltspunkte. So muB etwa die Ge­staltung multimediaier Lemumgebungen der menschlichen Informationsverarbeitung Rechnung tragen, den Aufbau kohärenter Wissensstrukturen unterstützen und die Kon­struktion mentaler Modelle fördem. Sinnvoll erweist sich hierzu vor allem eine koordi­nierte Präsentation von Text - am besten gesprochen - und Bild, ohne dabei jedoch die visuelle Aufmerksamkeit zu überlasten. Werden diese Prinzipien beachtet, können Lemen und Problemlösen sowie der Transfer des Gelemten nachhaltig verbessert wer­den (Mayer 1998). Wenn Lemumgebungen nicht nur multimedial, sondem auch ver­netzt sind, ist in jedem Fall die Gefahr der kognitiven, motivationalen und technischen Überforderung einzudämmen. Explizite Anleitungen zum Einsatz von Problemlöse­strategien, Beispiellösungen und Expertenkommentare haben sich zu diesem Zweck vor allem in Computerlemprogrammen als sinnvoll erwiesen (Stark, Graf, Renkl, Gru­ber & Mandl 1995); Tele-Tutoring und direktes Coaching ergänzen diese MaBnahmen (Geyken, Mandl & Reiter 1998). Wer mit den neuen Medien das kooperative Lemen forcieren will, muB den Lemenden ebenfalls Unterstützung gewährleisten, Hilfen zur Koordination anbieten und echte Gruppenaufgaben auswählen. Der Einsatz von Ko­operationsstrategien in Computernetzen will gelemt sein - explizite Anleitungen und Beispiele konnen hierbei helfen. Auch technische Tools bieten inzwischen verschiede­ne Wege der Unterstützung teambasierten Lemens und Arbeitens im Netz an (z.B. Fi­scher, Gräsel, Kittel & MandI1996).

Das Dilemma mit den Info-Happen

"Im Netz und in den Datenbanken ... ist die effiziente Suche nach Informationen per­manent bedroht durch Ablenkung, Vollständigkeitsanspruch nach dem Arche-Noah­Prinzip (,Wann habe ich endlich alle beisammen?'), Unübersichtlichkeit" (Weiden­mann 1997, S. 95). Wer die neuen Medien nutzt, will möglichst schnell finden, was er wissen will, und er will dabei auch noch SpaB haben - beide Bedürfnisse erfüllen die neuen Medien relativ gut, in jedem Fall weitaus besser als die traditionellen Medien.

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Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist der Kampf mit multimedial verpackten Bündeln geballter Information - "multimedialen Info-Paketen" (Weidenmann 1997), die sich in hohem MaBe von konventionellen Texten unterscheiden: In konventionellen Texten wird ein übergreifender Zusammenhang aufgebaut - der Leser solI eine gut organi­sierte Wissensstruktur entwickeln. Multimediale Informationspakete dagegen verzich­ten oft auf Kohärenz dieser Art - der Leser solI die Information leicht erfassen und sich im Übrigen mit weiteren Links beschäftigen. In konventionellen Texten entfalten sich Informationen und Argumente - der Leser steht vor der Aufgabe, den Text auf das Wesentliche zu reduzieren. In multimedialen Info-Paketen wird genau umgekehrt ver­fahren: Sie sind bereits auf ein Minimum reduziert - der Leser steht vor der noch schwierigeren Aufgabe, den Informationshappen sinnvoll zu ergänzen und in einen Zusammenhang zu bringen. All diese Fähigkeiten können vom Nutzer der neuen Me­dien nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern müssen explizit gefördert wer­den. Erste Ansätze zur Unterstützung der hierzu notwendigen Wissensintegration exis­tieren bereits und werden vor allem im Schulbereich intensiv erforscht (vgl. Slotta & Linn, in press).

Die Aufmerksamkeit als Flaschenhals

Informationsselektion und -verarbeitung sowie Wissenskonstruktion und Verstehen kosten in multimedialen Kontexten der skizzierten Art Zeit, Energie und Aufmerk­samkeit - knappe Ressourcen, die sich mehr oder weniger effektiv verwenden, aber nicht vermehren lassen: "Je höher die Ladung der alltäglichen Lebenswelt mit In­formation, die eigens zum Blickfang hergerichtet und in den Kampf urn die Auf­merksamkeit ausgeschickt ist, urn so enger wird der Flaschenhals der organisch li­mitierten Kapazität aufmerksamer Informationsverarbeitung" (Frank 1998, S. 23). Im Kommunikationsraum Internet gilt die Aufmerksamkeit inzwischen als wichtig­ster Rohstoff. Immer mehr Menschen müssen am Arbeitsplatz bereits die Erfahrung machen, daB die Aufnahme und Verarbeitung von Information und Wissen mit stei­gen der Wissens- und Informationsflut schnell an ihre Grenzen stoBen. Lemen mit neuen Medien muB diesem Phänomen Rechnung tragen, es muB die Aufmerksamkeit als EngpaB ernst nehmen und zu einem wichtigen Faktor in Forschung und Praxis machen (Windschitl 1998).

3. Neue Medien als Lehr-Lern-Tool

Was kann man mit den neuen Medien in der Weiterbildung unmittelbar tun? Inwie­fern eignen sich die neuen Medien als Lehr-Lern-Tool und welche Rolle spielt dabei das so viel gepriesene Internet? Viele Fragen, auf die wir im Folgenden nur knappe und keineswegs vollständige Antworten, aber hoffentlich praktische Anregungen geben können.

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Lemen mit neuen Medien 179

Was ist ein Lehr-Lern-Tool?

Unter Lehr-Lem-Tools sind Werkzeuge oder Hilfsmittel zu verstehen, deren unmittel­barer Einsatz zum Zwecke des Lehrens Veränderungen in der Qualität, im ProzeB, in der Organisation und/oder Sozialform des Lemens bewirken. Die neuen Medien zeich­nen sich dadurch aus, daB sie multimediale Präsentations-, Interaktions- und Simulati­onsmöglichkeiten mit neuen Formen der Telekommunikation und -kooperation ver­knüpfen. Als Werkzeuge können die neuen Medien sowohl in Form von Offline­Lösungen (z.B. Diskette oder CD-ROM) als auch in Form von Online-Lösungen (z.B. Lemaktivitäten in Computernetzen) oder in Kombination von beidem zum Lehren und Lemen in der Weiterbildung genutzt werden.

Vom Tooi zum Modul

Die neuen Medien gewähren mit ihren Eigenschaften ein hohes MaB an Flexibilität bei der Zusammenstellung unterschiedlicher mediengestützter Lemmodule (Mandl, Rein­mann-Rothmeier & Gräsel 1998). Innerhalb dieser Module kann Lemen textbasiert oder multimedial sein; lemrelevante Interaktionen können zwischen Lemenden und Mediensystem oder zwischen Lemenden untereinander rnit oder ohne Trainer/Coach stattfinden; kooperative Zusammenarbeit kann synchron oder asynchron, in Form einer Einpunkt- oder Mehrpunkt-Kommunikation ablaufen - urn nur die wichtigsten Bei­spiele zu nennen. Die verschiedenen Möglichkeiten des Medieneinsatzes implizieren entsprechend unterschiedliche Formen des Lemens: Durch aktive Nutzung digital auf­bereiteten Lemmaterials kann selbst in traditionellen WeiterbildungsmaBnahmen mul­timediales Lemen ermöglicht werden. Die neuen Medien erleichtem sowohl selbstge­steuertes Lemen etwa zur Vor- und Nachbereitung von Weiterbildungsinhalten als auch selbstgesteuerte Lemphasen in Seminaren und Lehrgängen. Darüber hinaus bie­ten die neuen Medien eine hervorragende Möglichkeit zum kooperativen Lemen z.B. in netzbasierten Projekten oder in virtuellen Unterrichtsmodulen, die in den Seminar­ablauf integriert werden (vgl. Owston 1997).

Liegt die Zukunft im Netz?

Nichts ist für das Lemen spannender und gleichzeitig unsicherer als das Internet. Im Rahmen der Weiterbildung spielt das Internet eine nicht zu unterschätzende Rolle als Pool für Bildungsinformationen. Inzwischen mangelt es Suchenden nicht an Bildungs­adressen, Veranstaltungsterminen und dergleichen, wohl aber an Orientierung und Be­ratung in dieser Informationsflut. Auch als Ressource für Lemmaterial bietet das Inter­net viele Möglichkeiten, WeiterbildungsmaBnahmen rnit interessantem Anschauungs­material und aktuellen Informationen anzureichem. Digitalisiertes Lehr-Lemmaterial im Netz ist für Lemende wie auch für Trainer und Lemberater leicht und schnell zu­gänglich.

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Aher Vorsicht!

Das Internet ist zunächst einmal ein hervorragendes Transport- und Informationsmedi­urn, das als Instruktionsmedium in inhaltlich-didaktischer Hinsicht auf jeden Fall zu ergänzen ist (Roschelle & Pea, 1999). Besondere Vorzüge bietet das Internet nach wie vor als Kommunikationsmedium: Kein anderes Medium zuvor hat wie die Netztech­nologie so vielfältige Wege eröffnet, Lemen mit interaktiven Elementen zu verbinden. Als Plattform für Kommunikation und Kooperation bildet das Internet die notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für neue Lehr-Lernarrangements wie virtuelle Seminare, Tele-Tutoring oder elektronische Projektgruppen (Nistor & Mandl 1997). Allerdings muB vermieden werden, jeden simplen Informationsaustausch bedenkenlos als Kooperation zu bezeichnen, denn auf diese Wei se verliert der Kooperationsbegriff, der die Schaffung einer gemeinsamen Verständigungsgrundlage impliziert, seine ei­gentliche Bedeutung.

4. Neue Medien als Impuls für neue Lehr-Lernkonzepte

Welchen EinfluJ3 haben die neuen Medien au! Veränderungen in der Weiterbil­dungspraxis? Ändert sich das Lemen mit den neuen Medien oder bleibt es, wie es ist? Wie steht es mit neuen Konzepten zum Lemen und Lehren? Haben Trainer und Do­zen ten infolge der neuen Medien ausgedient? Wir konzentrieren uns angesichts dieser Fragen im Folgenden auf problemorientierte, selbstgesteuerte und kooperative Lern­formen - nicht als Allheilmittel, aber als Mittel zur Verbesserung der Qualität des Ler­nens und zur Veränderung der Rolle der Lehrenden in der Weiterbildung.

Die Technik ist da, doch was soli man damit machen?

Das Aufstellen multimediafähiger Computer in Lernumgebungen on und of! the job, die Herstellung einer gut funktionierenden technischen Infrastruktur in Unternehmen und Bildungsinstitutionen und der AnschluB an das Internet sind notwendige Bedin­gungen für die Nutzung der neuen Medien in der Weiterbildung. Ausreichend sind die­se grundlegenden MaBnahmen allerdings nicht. Die Lernpotentiale der neuen Medien müssen erkannt und analysiert und mit den Möglichkeiten vor Ort verknüpft werden. Nur so lassen sich neue Lehr-Lernformen und entsprechende Konzepte entwickeln, die zum einen die besonderen Qualitäten der neuen Medien effizient nutzen und die sich zum anderen in der Weiterbildungspraxis auch umsetzen lassen. Der Einsatz neuer Medien in der Weiterbildung darf nicht mit einem additiven Ansatz, sondern muB mit einem systemischen Ansatz verbunden sein: Wenig erfolgversprechend ist es, neue Technologien dem nach traditioneller Lehr-Lernauffassung ablaufenden Seminarunter­richt einfach hinzuzufügen. Vielmehr geht es darum, die neuen Medien als Impuls für einen Wandel ineffektiv gewordener Lehr-Lernformen zu sehen.

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Lemen mit neuen Medien 181

Problemorientiertes Lemen mit neuen Medien

Fallbasierte Lemprogramme, Simulationen und Planspiele eignen sich beispielsweise dafür, das Leitkonzept des problemorientierten Lemens (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1997) selbst in der herkörnmlichen Seminarpraxis umzusetzen. Computerpro­gramme dieser Art präsentieren authentische Situationen bzw. realitätsnahe Probleme und fordem die Lemenden zur aktiven und konstruktiven Bearbeitung auf. Dabei ha­ben die Lemenden die Möglichkeit, selbst in Systeme einzugreifen und die Resultate dieses Eingreifens unmittelbar zu erleben. Bestehendes Wissen kann zur Lösung dieser Probleme angewendet bzw. neues Wissen im Kontext von authentischen Problemen erworben werden - die Gefahr des "trägen Wissens", das die traditionelle Weiterbil­dung oft begleitet, wird damit entscheidend reduziert.

Selbstgesteuertes Lemen mit neuen Medien

Die Anwendung von Programmen dieser Art sowie der Einsatz von Multimedia-Um­gebungen in der Weiterbildung erlauben darüber hinaus ein hohes MaB an selbstge­steuertem Lemen (siehe auch Dubs, in diesem Band). Selbstbestimmung bei der Ziel­setzung und bei der Suche nach Lösungswegen, Selbststeuerung des Lemprozesses und Selbstverantwortung für das Lemergebnis kennzeichnen das eigenständige Lemen mit Multimedia-Programmen ebenso wie problemorientierte Vorgehensweisen. Mit der zunehmenden Forderung nach Selbststeuerung beim Lemen ist jedoch keineswegs eine Tendenz zu isolierter Individualisierung gemeint - im Gegenteil: Immer wichtiger werden kommunikative und soziale Fertigkeiten, die man inzwischen auch in der Weiterbildung stärker als bisher vermitteln will.

Kooperatives Lemen mit neuen Medien

Bisher haben Lemende in vielen Weiterbildungssituationen infolge der Dominanz von Trainem, Seminarleitem oder Referenten nur begrenzte Möglichkeiten, sich mit ande­ren auszutauschen. Die wachsende Vielfalt der text-, audio- und videobasierten Tele­kommunikation und -kooperation bietet unschlagbare Voraussetzungen für eine Förde­rung von Kooperation und erhöht ihrerseits die Bedeutung des kooperativen Lemens im Team (s.o.). Anzustreben ist letztlich die Bildung reaier wie auch virtueller Lem­gemeinschaften, in denen nicht nur rezipiert, sondem diskutiert und gegenseitig kriti­siert wie auch produziert wird (Roschelle & Pea, 1999).

Haben Trainer und Dozenten ausgedient?

Problemorientierte und mediengestützte Formen der Weiterbildung mit selbstgesteu­erten und kooperativen Lemphasen erfordem vom Lehrenden die Wahmehmung einer anderen, erweiterten Rolle: Er ist nicht mehr nur Wissensvermittler, sondem auch An­reger, Gestalter und Unterstützer von Lemprozessen. Die Kompetenzen, die für diese

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Art des "Lehrens" notwendig sind, sind nicht identisch mit den Kompetenzen, die man für den herkömmlichen Seminarunterricht braucht. Die Gestaltung problemorientierter Lemumgebungen (unter Nutzung der neuen Medien) erfordert die Auswahl bzw. Auf­bereitung geeigneter Problemstellungen, deren Einbettung in instruktionale Kontexte und vor allem das Anbieten angemessener Unterstützung für die Lemenden. Professio­nelle Trainer und Dozenten werden also weiterhin gebraucht, allerdings in anderer, wahrscheinlich sogar anspruchsvollerer Funktion.

5. Neue Medien im Kontext der Weiterbildung

Welche Rahmenbedingungen verhelfen dem Einsatz neuer Medien zum tatsächlichen Erfolg? Wenn von neuen Medien in der Weiterbildung die Rede ist, denkt jeder zu­nächst an den Einsatz von Multimedia und Computemetzen zur unmittelbaren Förde­rung des Lemens. DaB damit aber auch Veränderungen für den gesamten Kontext der Weiterbildung verbunden sind, wird weit weniger bedacht. Wenn nicht nur der Tool­Charakter der neuen Medien für das Lehren und Lemen, sondem auch der Impuls­Charakter zur Entwicklung und Etablierung neuer Lem-, Arbeits- und Kommunikati­onsformen in der Weiterbildung umgesetzt wird, kann dies weder an den Inhalten noch an der Beurteilung des Lemens vorübergehen. Praktische Erfahrungen und empirische Studien belegen, daB eine problemorientierte Gestaltung von Lemumgebungen schnell an ihre Grenzen stöBt, wenn traditionelle Rahmenstoffpläne und Prüfungsmodi unver­ändert beibehalten werden (Gräsel 1997; Reinmann-Rothmeier, Mandl & Aufschläger 1997). Der Erfolg des Medieneinsatzes ist somit nicht nur davon abhängig, wie ge­schickt jemand den Tooi-Charakter der neuen Medien nutzt und wie emsthaft deren Impuls-Charakter realisiert wird, sondem auch inwieweit geeignete Rahmenbedingun­gen ge schaffen werden.

lnnovatives Lernen mit Rahmenstoffplänen von gestern?

Nicht nur in Schulen und Universitäten ist ein konservatives Verharren in der Struktur von Lehrplänen zu beklagen. Auch in der Weiterbildung hält man nur allzu gem an Rahmenstoffplänen fest, die hierarchisch gegliedert, in einzelne Fächer aufgespalten und nach dem Muster "vom Einfachen zum Komplexen" strukturiert sind. Komplexe Inhalte werden nach wie vor zerlegt und zu didaktisch aufbereiteten Sequenzen wieder zusammengesetzt. Die behavioristisch geprägte Auffassung vom Lemen weicht zwar im Bereich der Lehr-Lemansätze und -methoden zunehmend kognitiven und konstruk­tivistischen Einflüssen, in curricularen Fragen aber ist diese weiterhin dominierend.

Ein Plädoyer für problemorientierte Curricula

Mit Rahmenstoffplänen elementaristischer Machart ist vor allem ein problemorientier­tes Lemen (mit und ohne neue Medien) kaum möglich. Aus einer gemäBigt konstrukti­vistischen Sicht werden inzwischen problemorientierte Curricula gefordert, die ein

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Lernen mi! neuen Medien 183

Lemen und Arbeiten mit authentischen Problemen erlauben und von typischen Pro­blemfeldem anstatt von einzelnen Fächerstrukturen ausgehen (Cognition and Techno­logy Group at Vanderbilt 1996). Problemorientierte Curricula gehen eher in die Tiefe als in die Breite, ermöglichen die Betrachtung ein- und derselben Problemstellung aus mehreren fachlichen Perspektiven und fördem die Entwicklung der für die jeweilige Gemeinschaft typischen Denk- und Dialogstile. Für Rahmenstoffpläne innerhalb der Weiterbildung bedeutet das konkret, die Auswahl und Beschreibung von Leminhalten vorrangig an typischen Arbeitsaufgaben und -anforderungen auszurichten, die Inhalte aus einer handlungs- bzw. problemlösungsorientierten Perspektive darzustellen und entsprechend praxisnah und fächerübergreifend zu vermitteln (Linder & Vogt 1998).

Bewertung innovativen Lernens mit Kriterien von vorges!ern?

Eine behavioristisch geprägte und elementaristische Einstellung herrscht auch in Fra­gen des Assessments sowohl innerhalb der Weiterbildung als auch im Schul- und Hochschulbereich vor: Ziel ist im Allgemeinen die "Messung" von Lemerfolg und Leistung, wofür eine Stichprobe von Kenntnissen und Fertigkeiten quantitativ beurteilt wird. Wie stark die Art des Prüfens und Beurteilens die Art des Lemens beeinfluBt - ja geradezu lenkt -, wird in der Weiterbildung meist unterschätzt. Nachvollziehbar ist die­ser enorme EinfluB allemal: Wer etwa Multiple-Choice-Fragen beantworten oder un­zählige Fakten und Zahlen reproduzieren soll, ist wenig motiviert, an komplexen Fra­gestellungen oder gar in Projekten eigenverantwortlich und gemeinsam mit anderen zu lemen. Wer Konkurrenz sät, kann keine Kooperation emten!

Ein Plädoyer für problemorientiertes Assessment

Problemorientiertes Lemen (mit und ohne neue Medien) muB sich für die Lemenden "lohnen". Dies ist erst dann der Fall, wenn auch diejenigen Prozesse und Fähigkeiten beurteilt und honoriert werden, die während des problemorientierten Lemens beson­ders gefördert werden. Aus einer gemäBigt konstruktivistischen Sicht werden inzwi­schen problemorientierte Beurteilungsverfahren gefordert, die nicht nur das Ergebnis, sondem auch den ProzeB des Lemens berücksichtigen und sich auf komplexe Leistun­gen wie Fallbearbeitungen und Projektarbeiten beziehen. Problemorientiertes Assess­ment läBt verschiedene Hilfsmittel und Ressourcen zu, räumt Möglichkeiten zur Ko­operation und verteilten Expertise ein und richtet den Blick nicht nur auf die erworbe­nen, sondem auch auf die angewandten Inhalte, Prinzipien und Strategien innerhalb ei­ner Domäne (Greeno, Collins & Resnick 1996). Für Prüfungsordnungen innerhalb der Weiterbildung bedeutet das, handlungs- bzw. problernlösungsorientierte Beurteilungs­methoden zuzulassen, Wissen und Wissensanwendung (Theorie und Praxis) integriert zu bewerten und Prüfungsaufgaben zu stellen, die traditionelle Fächergrenzen über­schreiten (Linder & Vogt 1998).

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184 Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl

6. Die Zukunft der Weiterbildung: Ein Szenario

Lassen wir die bisherigen Ausführungen an dieser Stelle noch einmal Revue passieren: Die neuen Medien sind kein Garant für ein neues, besonders wirkungsvolles Lemen, aber sie besitzen Lehr-Lempotentiale, zu deren Nutzung die Forschung bereits einige Anhaltspunkte bereithält (vgl. Roschelle & Pea, 1999). Somit macht es durchaus Sinn, die neuen Medien als Mittel der Anregung und Unterstützung von Lehr-Lemprozessen in der Weiterbildung einzusetzen und deren Tool-Charakter auszuschöpfen. Auf der Werkzeug-Ebene stehenzubleiben aber ist wenig effektiv, denn erstrebenswert ist aus vielen Gründen letztlich eine Veränderung der Weiterbildungspraxis. Wer neben dem Tooi-Charakter auch den lmpuls-Charakter der neuen Medien vor allem für problemo­rientierte Lemkonzepte einschlieBlich der Förderung selbstgesteuerten und kooperati­ven Lemens realisiert, setzt bereits solche Veränderungen in Gang. Spätestens dann kommt man an einem "echten" Wandel im Kontext der Weiterbildung nicht mehr vor­bei: Problemorientiertes Lemen mit neuen Medien - egalob in völliger Eigenregie, im selbstorganisierten Team oder in der "Obhut" eines Seminarleiters - bedarf Curricula und Assessment-Verfahren, die den durch die neuen Medien mitangestoBenen neuen Formen des Lemens angemessen Rechnung tragen. Und wozu das Ganze? Was macht denn nun eigentlich das Lernen mit neuen Medien und neuen Konzepten für die Zu­kunft so attraktiv und notwendig?

lllusionäre Ansprüche oder berechtigte Erwartungen?

In einer Zeit, die wie nie zuvor von Informations- und Wissensfluten gekennzeichnet ist, sind die im Arbeitsleben stehenden Menschen in hohem Ma8e mit neuen Anforde­rungen konfrontiert: Lembereitschaft, Flexibilität und die Fähigkeit zum kompetenten Umgang mit Information, Wissen und technischen Tools werden erwartet - in der Weiterbildung aber oft vemachlässigt. Die Weiterbildung der Zukunft steht vor dem heute noch schwer erfüllbaren Anspruch, so etwas wie eine allumfassende Lem- und Handlungskompetenz aufzubauen - Einstellungen, Kenntnisse und Fähigkeiten, die den einzelnen wie auch die Gruppe in die Lage versetzen, sich relativ rasch neues Wis­sen anzueignen, aus dem vielfáltigen und oft chaotischen Informations- und Bildungs­angebot relevante Inhalte herauszufiltem und daraus anwendungsbezogenes Wissen zu konstruieren. Illusionär sind diese Ansprüche in jedem Fall vor dem Hintergrund des traditionellen Seminarstils, der - trotz vieler gegenläufiger Beteuerungen - innerhalb der Weiterbildung immer noch dominiert. Berechtigt könnten die damit verknüpften Erwartungen allerdings dann sein, wenn sich die Weiterbildungspraxis mit und infolge der neuen Medien grundsätzlich ändert.

Wie ist es um die Nutzung der neuen Medien in der Praxis bestellt?

Vor knapp zwei Jahren führte die Süddeutsche Zeitung ein neues Konzept für ihre SZ­Seminarkritik ein (Reinmann-Rothmeier & Mandl 1996), das neben eher traditionellen Kriterien und dem Novum der Problemorientierung auch den Einsatz der neuen Medi-

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Lemen mit neuen Medien 185

en in die Beurteilung von Seminaren beinhaltet. Zieht man seit Einführung dieses Be­urteilungskonzepts eine Art Zwischenbilanz, so muB man feststellen: Die neuen Medi­en spielen in Seminaren der Weiterbildung bislang eine untergeordnete bis keine Rolle. Eine Überraschung? Oder eine logische Konsequenz? Letzteres erscheint naheliegen­der zu sein, denn die neuen Medien eignen sich eben nicht - wie die bisherigen Aus­führungen deutlich machen sollten - als blo Bes TooI, das sich der herkömmlichen Se­minarpraxis einfach hinzufügen läBt. Lemen mit neuen Medien impliziert in der Tat ein neues Lemen, das mit dem traditionellen Weiterbildungsverständnis weniger ge­mein hat als vielen lieb ist.

Seminar und neue Medien - Ein Widerspruch in sich?

An dieser Stelle sind zwei SchluBfolgerungen möglich. Erstens: Der kreative Einsatz von Multimedia, Internet und anderen Anwendungen der digitalen Technik ist kein ge­eignetes Kriterium für die Beurteilung von Seminaren. Das ist dann richtig, wenn diese im Kern nach dem konventionellen Lehr-Lem-Schema abläuft. Zweitens: Lemen mit neuen Medien und Lemen in traditionellen Seminaren ist ein Widerspruch in sich. Auch das ist im Prinzip richtig. Denn die Stärken der neuen Medien liegen nicht darin, kurzfristige Unterhaltungseffekte im Rahmen eines dozentenorientierten Unterrichts sicherzustellen. Die Potentiale der neuen Medien stecken vielmehr darin, Lemen und Arbeiten miteinander zu verbinden und flieBende Übergänge zwischen dem Lemen ei­nerseits sowie Arbeits- und Freizeittätigkeiten andererseits herzustellen. Die neuen Medien können den Lemenden von zeitlichen und örtlichen Beschränkungen befreien und dem Bedarf nach zielgenauem Inforrnationsangebot sowie nach spontaner Unter­stützung, Beratung und gegenseitigem Austausch entgegenkommen.

Lemen als lnvestition

Die neuen Medien sind ebensowenig ein Universalwerkzeug für das Lehren und Ler­nen wie das Bildungsfemsehen, mit dem man seinerzeit ebenfalls höchst euphorisch gestartet war. W orauf es ankommt ist, die neuen Medien immer dann zu nutzen, wenn sie echte V orteile bringen. Alle Forrnen des Lemens werden in Zukunft gefragt sein, denn die soziale und wirtschaftliche Bedeutung der Bildung als lebensbegleitende Aufgabe wächst. Vor allem in wissensbasierten Organisationen werden Lemen und Weiterbildung zum integralen Bestandteil des strategischen Managements (North 1998; Reinmann-Rothmeier, Mandl & Erlach 1999). Denn: Wissen avanciert immer mehr zu einer zentralen Ressource, insbesondere dort, wo die Dominanz der Produkt­wirtschaft zugunsten der Dienstleistungsökonomie an Gewicht verliert. Das Lemen mit neuen Medien on und of{ the job sowie flexible Lemphasen on demand kommen den Ansprüchen einer wissensbasierten Untemehmensführung in hohem MaBe entgegen. Technologiegestützte MaBnahmen allein aber führen - wie in anderen Bereichen auch - mit Sicherheit in die Sackgasse: Denn wer lemt, der braucht auch den Erfahrungs­austausch mit anderen - nicht nur im virtuellen chatroom, sondem auch im realen Se­minar- oder Arbeitsraum. Neues Wissen entsteht nur bei dem, der faBbare Vorbilder

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186 Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl

und Kontakte hat und eine Atmosphäre vorfindet, in der Lemen nicht als Zeitver­schwendung, sondem als Investition in die Zukunft gilt.

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Kapitel3: Neue Konzepte betrieblicher Personal­und Organisationsentwicklung

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral - Befunde zur beruflichen Primärsozialisation und Implikationen für die Weiterbildung

Klaus Beek, Thomas Bienengräber und Kirsten Parehe-Kawik

1. Problemstellung

1.1 Zur Verständigung über den Moralbegriff

DaB die umgangssprachliche Bedeutung des Moralbegriffs nur wenig mit dem zu tun hat, wofür er aus erziehungspsychologischer Sicht steht, hat sich seit dem Bekannt­werden der bahnbrechenden Arbeiten des 1987 verstorbenen amerikanischen Psycho­logen Lawrence Kohlberg auch in weiten Feldem der Berufs(bildungs)praxis längst herumgesprochen. Zwar scheinen deutschsprachige Autoren in diesem Bereich nach wie vor die Verwendung des Terminus "Moral" wegen seiner Alltagsverstrickungen in Religions- und Sexualsemantiken zu meiden und dem Ethikbegriff den Vorzug zu ge­ben (vgl. Lempert 1988, S. 10; auch Seiffert 1992, S. 56f.). Aber nach und nach setzt sich doch auch hier der überkommene philosophische Sprachgebrauch (wieder) durch, wonach Moralaussagen das vom Menschen Gesollte zum Gegenstand haben, während der Ethikbegriff zur Bezeichnung von Aussagen über Moral ("Meta-Moral") Verwen­dung findet.

Sprachregulierungen führen nicht zu Erkenntnisgewinn. Aber sie können MiBver­ständnisse vermeiden helfen. Daher wollen wir gleich zu Beginn darauf verweisen, daB sich unser Begriff von Berufsmoral auf eine psychische Leistung bezieht - im vorlie­gen den Zusammenhang von kaufmännischen bzw. Verwaltungssachbearbeitem. Diese Leistung besteht darin, Urteile hervorbringen und begründen zu können, die sich auf die Zulässigkeit, Akzeptierbarkeit und Erwünschtheit von berufsrelevanten Sachver­halten beziehen, seien sie Handlungen oder Ergebnisse von Handlungen.

In der Regel erscheint es den Akteuren so, als stünden die Urteile, die sie ihren ÄuBerungen und ihrem Verhalten zugrunde legen, für sie selbst immer schon fest. Aber Ausnahmen treten doch hin und wieder auf und sind jedenfalls stets leicht vorzu­stellen: SolI man seinem Personalchef, der im Begriff ist, die Frau eines Freundes ein­zustellen, verschweigen, was man privatim erfahren hat, nämlich daB sie schwanger ist? Darf man einem guten Kunden, det eine rabattierte GroBbestellung aufgeben möchte, sagen, daB eine modemisierte Version des Produkts kurz vor der Markteinfüh­rung steht? MuB man den langjährigen Lieferanten vor der absehbaren Liquiditätskrise des eigenen Untemehmens wamen? Kann man dem Arbeitskollegen vorenthalten, daB seine Kündigung beschlossene Sache ist, aber er st in sechs Monaten ausgesprochen werden solI? Es gibt viele alltägliche und auch (allzu) viele spektakuläre Fälle, in de­nen - wie wir sagen - die moralische Urteilskompetenz des Kaufmanns ganz offen­sichtlich gefordert ist und bewuBt in Aktion tritt. Aber auch dann, wenn die Dinge klar zu liegen scheinen, entfaltet - gemäB der erziehungspsychologischen Modellierung -die moralische Urteilskompetenz ihre Wirkung. Sie filtert gewissermaBen alle internen Handlungsentwürfe unter den Aspekten der Gerechtigkeit, Verantwortung, Fürsorge

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192 Klaus Beek, Thomas Bienengräber und Kirsten Parehe-Kawik

und Wahrhaftigkeit (vgl. Heinrichs 1997, S. 3-5). Was ihr unproblematisch erscheint, läBt sie passieren; was Gewissensbisse, Skrupel, Schuldgefühle oder Scham auslösen würde, führt sie einem ggf. wiederholten Reflexions- und UrteilsbildungsprozeB zu.

1.2 Berufsmoral in entwieklungspsyehologiseher Sieht

Bekanntlich unterscheiden sich Menschen darin, was sie - im oben angedeuteten Sinne - als moralisch akzeptabel betrachten und welche Begründungen sie für ihre Urteile vorbringen bzw. welche sie geIten lassen. Nach Kohlbergs Theorie liegt dies daran, daB sie sich auf unterschiedlichen Stufen moralischer Entwicklungsmöglichkeiten be­finden. Aus seiner Sicht, die durch viele Forschungsbefunde bestätigt wurde, entfaltet sich die individuelle moralische Urteilskompetenz in der sozialen Interaktion nach und nach bis weit ins Erwachsenenalter und zwar in Abhängigkeit vom Anregungspotential der Umfelder, in denen man sich bewegt (vgl. Oser & Althof 1992, S. 71-72). Das be­deutet, daB in dieser Hinsicht die persönliche Entwicklung mit dem förmlichen Ab­schluB der Ausbildung keineswegs beendet sein muB. Zwar können wir nach der Kohlberg-Theorie, wenn die Umgebungsbedingungen ungünstig sind, ein (Berufs-) Leben lang auf Stufe 1 oder 2 stehen bleiben. Aber unter geeigneten Umständen wird die moralische Weiterentwicklung von Stufe zu Stufe weitergetrieben.

Zunächst ist mit diesem Hinweis ein Punkt angedeutet, dem für das Verständnis der realen Prozesse und zumal für ihre Beeinflussung zentrale Bedeutung zukommt: Die moralische Entwicklung erfolgt nicht, wie eine ganze Reihe von Reifungsprozes­sen, aufgrund immanenter Entfaltungskräfte, sondem als Wirkung extemaler sozialer Konstellationen, die stimulierenden Charakter ebenso aufweisen können wie retardie­renden. Ob sich demnach auch nach Überschreiten der "zweiten Schwelle" in dieser Hinsicht etwas "bewegt", dürfte nach allem, was wir gegenwärtig darüber wissen, von den "Milieus" abhängen, innerhalb derer der einzelne zu agieren hat. Es ist gar nicht ausgeschlossen, sondem sogar eh er wahrscheinlich, daB insbesondere in den frühen Phasen der Berufstätigkeit, die sich unmittelbar an die Ausbildung anschlieBen, moral­relevante Änderungen einstellen. Sie könnten, wenn sich die - unten noch näher zu erläutemden - Hypothesen als brauchbar herausstellen, damit zusammenhängen, daB in diesen Abschnitten subjektiv neue Erfahrungen gemacht werden, etwa im Hinblick auf eine gewisse Selbständigkeit der Arbeit, die mit Entscheidungsbedarf, mit zuge­schriebener Verantwortung und mit der Nutzung von Aktionsspielräumen zu tun hat.

In dieser Übergangsphase und insbesondere mit Blick auf die moralischen Heraus­forderungen werden Berufsanfänger, also fertig ausgebildete junge Kaufleute, in aller Regel mit sich selbst alleingelassen. Während ihnen zuvor - in der Ausbildungsphase -"Bildungsangebote" (die oftmals diesen Namen kaum verdienen dürften, vor allem wenn man an die Vorbereitung auf die IHK-Prüfungen denkt) nachgerade aufgedrängt wurden (zumindest aus ihrer Sicht), fehlen solche möglicherweise entwicklungsförder­lichen Hilfen eventuell gerade dann, wenn ein Bedarf für sie aus der Tätigkeit heraus erwächst und vom einzelnen auch empfunden wird. Wir werden auf diesen Punkt in Kapitel 3 noch näher eingehen.

Wir wollen im folgenden am Beispiel von angehenden Versicherungskaufleuten darüber berichten, welches Anregungspotential die dual verfaBte Berufsausbildung als

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral 193

Grundlegung der berufsmoralischen Weiterentwicklung und zugleich als Prototyp ei­nes eher auf Leistungserstellung (Betrieb) und eines eher auf Persönlichkeitsentwick­lung (Schule) angelegten Milieus für sie bereithält. Auf Einzelheiten der Kohlberg­schen Stufenkonzeption der moralischen Urteilsbildung gehen wir hier nicht ein. 1 Für das Verständnis dessen, was wir an Befunden vorstellen, genügt es, sich vor Augen zu halten, daB auf Stufe 1 ein egozentrisches Vorteils- und Lustprinzip als Moralinstanz wirkt, während auf den Stufen 5 bis 6 sich ein universalistisches Urteilsprinzip Geltung verschafft, wie es etwa im Kategorischen Imperativ (Kant) zum Ausdruck kommt. Die dazwischen liegenden Stufen zeichnen sich durch fortschreitende strukturelle Differen­zierung und wachsende soziale Perspektivenvielfalt aus.

Unsere Aufmerksamkeit gilt nun vor allem den folgenden Fragen: Wirkt das be­triebliche Umfeld moralisch stimulierend, stabilisierend oder eh er "herabziehend" (Kap. 3)? Wie steht es in dieser Hinsicht mit der Berufsschule (Kap. 2)? Und schlieB­lich: Gibt es unter dem Aspekt der Moralentwicklungsförderung Gestaltungsbedarf und die erforderlichen Gestaltungsspielräume (Kap. 4)?

1.3 Die Determinanten der Moralentwicklung

Urn die beiden institutionellen Kontexte im Hinblick auf unsere Fragen untersuchen und beschrei ben zu können, muB zuvor nach relevanten Aspekten Ausschau gehalten werden. Wir schlieBen uns in diesem Punkt vorläufig einem Ansatz von Wolfgang Lempert an, der mit Blick auf die Moralentwicklung die Unterscheidung von sechs "soziobiographischen Bedingungen" vorschlägt, nach denen vorfindliche Milieus zu analysieren wären (vgl. Lempert 1993). Diese Bedingungen hat eine Forschergruppe urn Wolfgang Lempert anhand ihrer Studien als für die Moralentwicklung bedeutsame Faktoren befunden: Je nach Ausprägung werden ihnen entwicklungsfördemde, stabili­sierende oder sogar regressionsauslösende Einflüsse zugeschrieben.

Zwar konnten Lempert und Mitarbeiter ihre Hypothesen bezüglich solcher Zu­sammenhänge zwischen Interaktionsbedingungen und moralischer Entwicklung in Längsschnittstudien weitgehend sichem (vgl. Hoff, Lempert & Lappe 1991; Corsten & Lempert 1997). Es ist jedoch noch nicht zuverlässig geklärt, ob es sich bei diesen Di­mensionen tatsächlich urn Determinanten der Moralentwicklung handelt. Die empiri­sche Tragfähigkeit des Lempert-Ansatzes wird zur Zeit an der Universität Mainz im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Untersuchung der Entwicklung moralischer Ur­teilskompetenz bei Versicherungskaufleuten geprüft. 2

Wenn wir im folgenden Daten aus diesem Projekt unter Rekurs auf den Lempert­schen Ansatz berichten, so tun wir dies unter dem Vorbehalt, daB die Aufklärung der Ursachen für moralische Entwicklungsprozesse über unsere Befunde hinaus noch der weitergehenden sorgfältigen Analyse bedarf.

V gl. hierzu für den Kontext unserer Studie Beek u. a. (1996) sowie ausführlieh Oser & Althof 1992, S. 41-68; Garz 1996, S. 53-76.

2 Die Längssehnittstudie "Die Entwieklung moraliseher Urteilskompetenz in der kaufmännisehen Er­stausbildung - Zur Analyse der Segmentierungshypothese" wird im Rahmen des DFG-Sehwerpunkt­programms "Lehr-Lern-Prozesse in der kaufmännisehen Erstausbildung" an der Universität Mainz seit 1994 durehgeführt und 1999 abgesehlossen (Az. Be 1077/5-11-2/-3).

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194 Klaus Beek, Thomas Bienengräber und Kirsten Parehe-Kawik

Die von Lempert und Mitarbeitern vorgeschlagenen soziobiographischen Bedin­gungen lauten, wenn man eine kleine Differenzierung bei der ers ten Dimension ein­fügt, so wie in Abb. 1, Spalte 1, dargestellt (vgl. dazu ausführlicher Lüdecke-Plümer 1997):

Abbildung 1,' Dimensionen sozialer Felder

Soziobio graphische Bedingung Ausprägung

I a) Wahrgenommene Wertschätzung als Fach- erfahren oder entzogen mann in beruflichen Fragen

I b) Wahrgenommene Wertschätzung als Per- erfahren oder entzogen son, als "ganzer Menseh" mit allen Stärken und Schwächen

2) Erfahrung von sozialen Konflikten mit den offene oder verdecktel Interaktionspartnern im Berufsfeld (insbes. gravierende oder leichte Ausbilder, Lehrer, Kollegen, Mitauszubil- Interessen- oder Wertkonflikte dende)

3) Kommunikationserfahrungen zwanglos oder restringiert

4) Kooperationserfahrungen partizipativ oder direktiv

5) Erfahrene Verantwortungszuweisung adäquat, über- oder unterfordernd

6) Eingeräumte Handlungschancen adäquat, über- oder unterfordernd

Urn die Informationen, die wir erhoben haben, richtig zu deuten, ist es wichtig zu be­achten, daB unsere Daten stets die subjektive Sichtweise der Auszubildenden wieder­geben. Nicht wie die Dinge "wirklich" sind, ist entscheidend, sondern vielmehr, wie sie von jedem einzelnen wahrgenommen, gedeutet und bewertet werden. DaB insofern "gleiche" Umgebungen unterschiedliche Erfahrungen vermitteln, ist demnach zu er­warten. DaB die unterschiedlichen subjektiven Deutungen "objektiver" Gegebenheiten jedoch so erheblich voneinander abweichen, wie sich in unseren Daten zeigt, hat auch uns überrascht - vor allem im Hinblick auf die Differenz in der Sichtweise der Auszu­bildenden und ihrer betrieblichen Ausbilder (vgl. Kap. 4.1).

Bei der Vorstellung unserer Befunde zu den Ausprägungen der sechs Wahrneh­mungsdimensionen sollte auch mitbedacht werden, daB das von uns untersuchte Um­feld mit groBer Sicherheit nicht allein auf die Entwicklung der moralischen Urteils­kompetenz einwirkt. Zwar sind uns keine Studien bekannt, in denen solche weiterge­henden Effekte empirisch untersucht worden wären, aber schon Lempert (1993, S. 4) hat die Vermutung ausgesprochen, daB die Merkmalsausprägungen in den sechs Di­mensionen auch andere (beruflich relevante) Lernprozesse beeinflussen dürften. Zu denken wäre hier bspw. an die Entwicklung von Teamfähigkeit, Entscheidungsfähig­keit, Handlungsfähigkeit, aber auch an Kundenorientierung, Verhandlungskompetenz, KompromiBfähigkeit und dergleichen. Solange die mit diesen Begriffen verbundenen

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral 195

erziehungspsychologischen Konzepte nicht hinreichend elaboriert sind (und das gilt für fast alle sog. Schlüsselqualifikationen), läBt sich freilich darüber nichts Genaueres sa­gen. Aber selbst bei so viel Unklarheit wird man unseres Erachtens davon ausgehen müssen, daB die in diesem Text berichteten Bedingungen nicht nur von erheblicher be­rufsmoralischer, sondern auch von ausbildungspraktischer Relevanz und, weit darüber hinaus, von unternehmenskultureller Bedeutung sein dürften.

1.4 Charakterisierung der Probandenauswahlfür den Berichtsteil

Die hier berichteten Daten entstammen dem Kontext der erwähnten Längsschnittstudie zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit von (angehenden) Versicherungskauf­leuten. Wir beschränken uns auf eine kleine Auswahl von Befragten, die wir sowohl zu Beginn als auch gegen Ende ihrer Ausbildungszeit untersucht haben. Für den vorlie­gen den Bericht stützen wir uns auf die Daten derjenigen Probanden aus unserer gröBe­ren Studie, für deren Ausbildungsbetriebe uns zugleich Interviews mit den Ausbil­dungsleitern vorliegen.3 Das ist zu Beginn der Ausbildung, d. h. innerhalb der ers ten drei Monate der Lehrzeit, eine Gruppe von N=39. Zum Ausbildungsende hin, also nach zwei Jahren, verfügen wir gegenwärtig über Daten von 12 Personen.4

Zunächst erheben wir die von Lempert als relevant erachteten Dimensionen der beiden sozialen Felder "Betrieb" und "Berufsschule". Da es uns auf die subjektive Sicht unserer Probanden ankommt, erfassen wir zusätzlich auch Aussagen über die subjektive Bedeutsarnkeit dieser Dimensionen.5 So können bspw. unterschwellige schulische Konflikte, die nach Lempert (vgl. 1995, S. 58) die moralische Entwicklung eher beeinträchtigen, dann nicht als "hinderlich" gedeutet werden, wenn sie den betref­fenden Auszubildenden nicht weiter beschäftigen. In diesem Falle wäre von einer "neutralen" Bedingungsausprägung auszugehen. Eine solche Einstufung wird durch die jeweils mittleren Säulen in den nachfolgenden Diagrammen (Kap. 2-4) wiederge­geben.6

Die Altersspanne der Probanden reicht von 16 bis 26 Jahren. Unter der Frage nach der Weiterbildungsrelevanz unserer Befunde haben wir zunächst untersucht, ob die äl­teren unter ihnen (über 21 Jahre) die Umgebungsbedingungen ihres beruflichen Um­feldes anders wahrnehmen als die jüngeren, etwa weil sie in ihrer biographischen Ent­wicklung bereits weiter fortgeschritten sind und daher die sozialen Gegebenheiten im Betrieb und in der Schule aus einer "reiferen" Perspektive deuten. Das wäre ein für die Weiterbildung bedeutsamer Punkt. Sie müBte in diesem Falle nämlich solche Altersdif­ferenzen in der Gestaltung des Treatments beachten. Allerdings hat die Analyse unse-

3 Für weitere Befunde zu betrieblichen Entwicklungsbedingungen siehe z.B. Beck u. a. (1998). 4 Diese geringe Zahl resultiert daraus, daB die übrigen Probanden ihre Ausbildung frühzeitig beendet

oder abgebrochen haben, keine verwertbaren Aussagen machten oder aus sonstigen Gründen für eine dritte Befragung nicht mehr zur Verfügung standen.

5 lm Fragebogen wird zu diesem Zweck z.B. mit der Formulierung: "Wie oft erleben Sie Unstimmigkeiten oder Spannungen in der Berufsschule?" zunächst die Dimension "Konflikte" erhoben. Die Bedingungs­ausprägung erfragen wir mit dem Item: "Wie wird in der Berufsschule normalerweise mit solchen Kon­flikten umgegangen?", wobei die Aussage: ,,sie werden offen angesprochen" von uns als "förderlich", die Einschätzung: "Sie bestehen eher unterschwellig" als "hinderlich" angesehen wird. Auf die subjekti­ve Bedeutsamkeit schlieBlich zielt das Item: "Wie stark beschäftigen Sie solche Spannungen?"

6 Zur Tragfàhigkeit des Einflusses dieser Dimensionen auf die Moralentwicklung vgl. Kap. 1.3.

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196 Klaus Beek, Thomas Bienengräber und Kirsten Parehe-Kawik

rer Daten unter diesem Aspekt ergeben, daB die Einschätzungen der "jüngeren" von denen der "älteren" Probanden nicht signifikant abweichen, so daB nachfolgender Be­richt - zumindest unter der Perspektive der Moralentwicklung - durchaus auf die mögliche Konstruktion von Weiterbildungsarrangements extrapoliert werden kann.

2. Moralbedeutsame Entwicklungsbedingungen in der Berufsschule

In der Berufsschule ist die Wahmehmung der Ausbildungsbedingungen insgesamt von "förderlich" bis "hinderlich" breit gestreut. Allerdings überwiegt der Anteil der Schü­Ier, auf die sie "neutral" bis "förderlich" einwirken dürften (vgl. Abb. 2.1). Dieser ers te Eindruck bestätigt sich nach zwei Jahren im wesentlichen (vgl. Abb. 2.2), lediglich die Kooperation in den berufsbildenden Fäehern (Nr. 8) scheint am Ende der Ausbil­dungszeit eher "negativ" ausgeprägt zu sein.

Wir wollen nun die einzelnen Dimensionen näher beleuchten und sie in Einzelfällen durch Aussagen unserer Probanden im Interview illustrieren. Die faehliehe Wertsehät­zung seitens der Mitsehüler (Nr. 1), also jene Wertschätzung, die man von Klassenkame­raden im Hinblick auf schulische Leistungen erfáhrt, verteilt sich zu Anfang etwa gleich auf die drei Ausprägungsrichtungen. Zum Ende der Ausbildungszeit hin wird sie über­wiegend als positiv beschrieben. Das überrascht nicht weiter, wenn man bedenkt, daB die Schüler, für die das Kaufmännische zunächst ja fremd war, im Verlauf der Ausbildung auf diesem Gebiet ei ne gewisse Leistungsfähigkeit entwickeln und einander auch gegen­seitig öfter urn Rat fragen können. Wir haben es schlieBlich fast durchweg mit Abituri­enten zu tun, also mit Auszubildenden, für die das Inhaltliche der Ausbildung kaum eine Überforderung darstellen dürfte, und die deshalb auch mehrheitlich ihre wachsende Kompetenz registrieren und sich untereinander wechselseitig attestieren.

Anders verhält es sich mit der faehliehen Wertsehätzung von seiten der Lehrenden (Nr. 2 in Abb. 2.1). Wird sie zunächst eh er als "neutral" wahrgenommen, so zeigt sich bei Ausbildungsende ein veränderter Eindruck: Deutlich mehr Schüler fühlen sich jetzt fachlich durchaus anerkannt, während es auf der anderen Seite aber auch einige Lehr­linge gibt, denen die Anerkennung der erbrachten Leistungen in ihren Augen vorent­halten wird (Nr. 2 in Abb. 2.2). Dies dürfte urn so schwerer wiegen, als es sich nach Corsten & Lempert (1997, S. 58) negativ auf die moralische Entwicklung auswirkt, wenn einmal gewährte Wertschätzung wieder entzogen wird.

Erklären kann man im FalIe unserer Probanden diesen Befund mit den näherrük­kenden AbschluBprüfungen, die eine differenzierte Leistungsmessung erwarten lassen und auf deren Ausgang die Lehrer ihre Schüler im Vorfeld offenbar schon einstimmen. Hier zeigt sich, daB die Selektionsfunktion des Ausbildungswesens für die potentiell "Auszusondemden" auch ungünstige Auswirkungen im moralischen Bereich haben kann - ein Gesichtspunkt, der bei betrieblichen Weiterbildungsaktivitäten ebenfalls ei­ne Rolle spielen dürfte.

Die persönliehkeitsbezogene Wertschätzung (Nr. 3), die den Auszubildenden von ihren Mitsehülern entgegengebracht wird, ist zu Beginn der Ausbildung überwiegend ,,förderlich" ausgeprägt. Dies ändert sich im Ausbildungsverlauf; zum Ende der Aus­bildung hin ist offenbar die Distanz zwischen den Auszubildenden gewachsen. DaB sich das anfangs günstigere Verhältnis der Lehrlinge untereinander in dieser nicht ohne

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral 197

weiteres zu erwartenden Weise ändert (vgl. Homans 1950), läBt sich ebenfalls auf den steigenden Prüfungsdruck gegen Ausbildungsende zurückführen. Auch die persönlich­keitsbezogene Wertschätzung seitens der Lehrer (Nr. 4) scheint einem gewissen Ab­wärtstrend zu unterliegen, wenngleich hier keine negativ getönten Beziehungswahr­nehmungen zu registrieren sind.

Konflikte (Nr. 5) scheinen in der Berufsschule keine besondere Rolle zu spielen. Die meisten Berufsschü1er schildem uns Konfliktfálle derart, daB sie weder als "för­derlich" noch als "hinderlich" zu bewerten sind. Bemerkenswert ist dabei allerdings, daB viele Schüler Konflikte nur dann als solche zu erkennen scheinen, wenn sie mit lautstarken Auseinandersetzungen verbunden sind. So sagte uns Ursula: "Also, ich ha­be noch niemanden gesehen, der sich - also groJ3artig angeschrien, das gibt's also nur ganz selten. "

Abbildung 2.1: Entwicklungsbedingungen in der Berufsschule zu Ausbildungsbeginn (N=39)X

I ~---------------------------------------------.

0.9 +------------------------1 0.8 4------... ----------------------------------=-------1 0.7 4------... -----,-r---------...----n------------------1 0.6 4------... ---j 1------------1 I--- _._----j 0.5 -I-----.---j 1----..--------1

0,4 4----nI--"'---j 0.3 0.2 0.1 o

• hinderlich

.neutral

C1 fórderlich

X In der Skala auf der linken Seite haben wir, urn die Vergleichbarkeit zwischen Eingangs- und SchluBbetrachtung herzustellen, die Probandenzahl in Anteilen dargestellt. Da es sich urn weniger als 100 FäIle handelt, verzichten wir auf Prozentangaben. Die Kurzbezeichnungen der Säulentripel sind irn Text erläutert. Die hier berichteten Beobachtungen sind mit dern 2î-Test von Kullback (Blöschl 1966, S. 379-406) auf Signifikanz geprüft worden (gegen die NuIlhypothese, daB die beobachteten Werte einer Gleichvertei­lung über die drei Säulen entstammen). Soweit sie auf dern lO%-Niveau gesichert werden konnten, sind die Dimensionsbezeichnungen unterhalb der Säulen mit einern Kreis (0) rnarkiert; die übrigen Ni­veaustufen (5 %, 1 %, 1 %0) werden, wie üblich, mit einem, zwei oder drei Sternen (*) gekennzeichnet.

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198 Klaus Beck, Thomas Bienengräber und Kirsten Parche-Kawik

Abbildung 2.2: Entwicklungsbedingungen in der Berufsschule zu Ausbildungsende (N=12)X

I

0,9 0,8

0.7 0.6 . hinderlich

0.5 neutra] 0,4 D fórderlich 0.3 0.2

Zeigt sich die Kommunikation mit den Mitschülern (Nr. 6) nach drei Schuljahren über­wiegend ähnlich "förderlich" wie zu Ausbildungsbeginn, so ist bei der Kommunikation mit den Lehrern (Nr. 7) ein Unterschied feststellbar. Zu Beginn der Ausbildung war eine bemerkenswerte Zahl von Schülem der Ansicht, daB die Kommunikation mit den Leh­rem nicht zwanglos ablaufe. Diese Einschätzung verkehrt sich bei Ausbildungsende ins Gegenteil (vgl. die deutlich ausgeprägte rechte Säule bei "förderlich", Nr. 7 in Abb. 2.2). In der Anfangsphase scheint es für die Schüler noch unklar zu sein, auf welche Art und Wei se man mit den Lehrem sprechen kann, während sie gegen Ende der Ausbildung den Eindruck gewonnen haben, daB man als Gesprächspartner ernstgenommen wird. Claudia stellt ihrem Fachkundelehrer diesbezüglich ein glänzendes Zeugnis aus: "leh denke, daj3 der Herr R. als Klassenlehrer ein idealer Ansprechpartner ist. "

Bezüglich der Kooperationsdimension verfügen wir über differenziertere Informatio­nen, denn wir haben hier nach berufsbezogenen (Allgemeine BWL, Fachkunde) und al/­gemeinen Fächem (Deutsch, Sozialkunde, Religion) getrennt gefragt (Nr. 8 und 9). Wie die Diagramme veranschaulichen, ergeben sich in diesen beiden Feldem durchaus be­trächtliche Unterschiede. So zeigt sich, daB in den berufsbezogenen Fächem bereits bei Ausbildungsbeginn partizipative Kooperation zwischen Schülem und Lehrem eher selten zu sein scheint, ein Befund, der bei Ausbildungsende noch deutlicher zutage tritt: Nicht ein einziger Proband schildert dann noch Ausprägungen, die als "förderlich" einzuschät­zen wären. Dies liegt wohl zum Teil daran, daB gerade die Fächer "Allgemeine BWL" und "Fachkunde" wegen des strengen Stoffplans meist bis ins letzte vorstrukturiert sind und kei ne Gestaltungsfreiräume lassen. Diese Vermutung wird beispielsweise von Anne bestätigt: "Da ist keine Mitsprache mäglich, weil da so ein stofflicher Rahmenplan schon vorhanden ist. Wenn man dann malfragt: ,Ja, kann man das mal so und so machen?', dann wurde gesagt: ,Nein, im Lehrplan steht es so und so, und so machen wir es auch. ' "

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Entwieklungsbedingungen kaufmänniseher Berufsmoral 199

Die eher ungünstige Konstellation in den berufsbildenden Fächern kontrastiert in­sofern mit derjenigen in den allgemeinen, als dort zu Beginn der Ausbildung ein über­wiegend "neutrai" bis "förderlich" einzuschätzendes Umfeld vorzufinden ist, während das Profil gegen Ende ebenfalls stark ins "Hinderliche" abrutscht (Nr. 9). Die nahende Prüfung scheint auch in dieser Hinsicht ihre Schatten vorauszuwerfen.

Die beiden letzten Dimensionen, Verantwortungsübernahme7 und Handlungsehan­een, stellen sich zum Ende der Ausbildung ebenfalls anders dar als zu deren Beginn, wobei besonders bei der erstgenannten der Unterschied auffällig ist (Nr. 10 und 11). Während ein GroBteil der Berufsschüler zu Beginn der Ausbildung adäquate Verant­wortungszuweisung erfährt, ist gegen Ausbildungsende der Anteil derer angestiegen, die in dieser Dimension moralisch nicht gefördert oder sogar beeinträchtigt werden dürften. Das liegt daran, daB sich viele Schüler durch die schulischen Fragestellungen zunehmend unterfordert füh1en, denn die Bewältigung des Stoffes, der zu Beginn der Ausbildung noch neu und teilweise ungewohnt war, stellt für sie zumeist keine beson­dere Leistung mehr dar (vgl. auch die Dimensionfaehliehe Wertsehätzung seitens der Mitsehüler). Diese Unterforderung führt zu einer negativen Bedingungsausprägung, wenn den Probanden eine gröBere Eigenverantwortung wichtig wäre.

Bei den Handlungsehaneen schlieBlich bietet sich wieder ein differenziertes Bild. Zu Beginn der Ausbildung empfinden zum einen recht viele Schüler ihre schulischen Freiheiten eher so, daB wir sie als "hinderlich" bezeichnen muBten, ein anderer groBer Teil eher so, daB sie als "förderlich" eingestuft werden konnten (Nr. 11). Bei einer ge­genüber dem Ausbildungsbeginn gröBeren Schülerzahl konnten wir die Handlungsfrei­räume als "neutrai" einstufen. Immer noch empfand aber die Mehrheit der Befragten ihre Handlungschancen als angemessen. Dieser positive Befund überrascht etwas, da unseren Probanden ihren Aussagen nach recht geringe Freiräume für selbständiges Ar­beiten eingeräumt werden, wie Helmut beschreibt: " Wir kriegen halt ziemlieh viel An­leitung. BWL, Faehkunde und so was. Naja, die Riehtlinien". DaB sie ihre Handlungs­chancen dennoch überwiegend als angemessen betrachten, liegt wohl daran, daB, be­sonders im Hinblick auf die bevorstehenden AbschluBprüfungen, eine stärkere Anlei­tung durch die Lehrer durchaus erwünscht ist.

Zusammenfassend läBt sich feststellen, daB die Berufsschule ein Bereich zu sein scheint, in dem die Umgebungsfaktoren, die als für die moralische Entwicklung be­deutsam angenommen werden, am Anfang der Berufsausbildung überwiegend in "neutraler" bis "förderlicher" Ausprägung zur Verfügung stehen. Hierbei ist allerdings zu beachten, daB die Schüler manche Umgebungsmerkmale, die der Moralentwicklung durchaus zuträglich wären (wie bspw. die "objektive" Einräumung von Handlungs­ehaneen), subjektiv gar nicht erst vermissen. - Das dürfte in Weiterbildungsarrange­ments anders aussehen. Wegen ihrer i.d.R. weniger stark vorgeprägten Strukturen und ihres häufig auf Freiwilligkeit der Teilnahme beruhenden Charakters dürften vorenthal­tene Mitgestaltungsansprüche als stärker restriktiv empfunden werden. - Gegen Aus­bildungsende zeichnet sich in der Berufsschule ein differenzierteres Bild ab, das auch stärker "hinderlich" ausgeprägte Dimensionen aufweist (vor allem bei den Kooperati­onsmögliehkeiten in den allgemeinen Fäehern). Man erkennt insgesamt, daB sich das

7 Mit der Verantwortungsdimension beziehen wir uns besonders auf die Verantwortung. die die Be­rufsschüler für ihre eigene Leistung tragen.

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200 Klaus Beck, Thomas Bienengräber und Kirsten Parche-Kawik

moralrelevante "Milieu" für jeden einzelnen aus einem differenzierten Zusammenspiel von Erwartungen, sozialen Umgebungsbedingungen, institutionellen Gegebenheiten und verschiedenen ProzeBverläufen bildet - ein Punkt, auf den wir unter dem Gestal­tungsaspekt im letzten Kapitel noch einmal zurückkommen.

3. Moralbedeutsame Entwicklungsbedingungen im Betrieb

Die Abbildungen 3.1 und 3.2 zeigen, wie sich das betriebliche "Milieu" aus der Sicht der Auszubildenden jeweils zu Beginn und zum Ende der Ausbildung darstellt: Mit Blick auf die in Kap. 1.3 formulierten Einschränkungen dürfte sich das betriebliche Umfeld insgesamt als überwiegend stimulierend hinsichtlich der Entwicklung morali­scher Urteilsfähigkeit bezeichnen lassen. lm Vergleich der beiden Zeitpunkte ändert sich dieser Gesamteindruck nicht wesentlich (weshalb wir uns auch mit unseren lnter­pretationen knapper fassen). Es ist mit wenigen Ausnahmen, auf die gleich eingegan­gen wird, sogar eine leichte Verschiebung in Richtung auf eine noch günstigere Ein­schätzung der moralrelevanten betrieblichen Atmosphäre auszumachen.

Die Auszubildenden fühlen sich überwiegend schon zu Ausbildungsbeginn von den Mitauszubildenden, Mitarbeitem und Vorgesetzten fachlich anerkannt (jachliche Wertschätzung, Nr. 1), was gegen Ende der Ausbildung deutlicher hervortritt. lnsbe­sondere die Übemahmezusage von seiten des Ausbildungsbetriebes scheint zu bewir­ken, daB sich die Auszubildenden in fachlicher Hinsicht bestätigt fühlen.

GleichermaBen positiv wie die fachliche stellt sich die persönlichkeitsbezogene Wertschätzung (Nr. 2) dar. Die "Azubis" fühlen sich offenbar in ihrer betrieblichen Umgebung gut aufgehoben und erfahren wachsende emotional positive Zuwendung von seiten der Kollegen und V orgesetzten.

Von den Konflikten (Nr. 3), die unsere Auszubildenden an ihren Arbeitsplätzen erle­ben, dürften in der ersten Zeit der Berufsausbildung nur wenige Wirkungen auf die mo­ralische Entwicklung ausgehen; sie bleiben überwiegend "neutrai", denn sie kommen eher selten vor, werden kaum als belastend empfunden und in der Regel offen ausgetra­gen. Die linke Säule ("hinderlich") läBt gleichwohl auf das Auftreten von Konflikten schlieBen, die nicht ganz spurlos an den Lehrlingen vorübergehen, d. h. die unausgespro­chen im Raum stehen bleiben oder für die Auszubildenden "schwer zu verdauen" sind. So berichten die Betreffenden häufig, daB es insbesondere während der ersten Zeit der Ausbildung oftmals zum Aufstauen von Spannungen kommt, wenn Auszubildende mei­nen, nicht ausbildungsgemäB für "Hilfsarbeiten" eingesetzt zu werden, und sich dagegen zunächst nicht zur Wehr setzen. Gleichwohl scheinen sich in einer Reihe von Fällen die Umstände auch zu verbessem (Anstieg der rechten Säule). Das bedeutet nicht, daB bei ihnen gar keine Konflikte mehr auftreten (ein ohnehin unwahrscheinlicher Fall), sondem daB diese offen und in angemessener Weise ausgetragen werden.

Die Atmosphäre der betrieblichen Kommunikation (Nr. 4) wird von der Mehrzahl der Auszubildenden sowohl zu Beginn als auch gegen Ende der Ausbildung in einer moral­entwicklungsförderlichen Ausprägung, d.h. als zwanglos, erlebt. Nur wenige empfinden die Kommunikationsbedingungen als eher restringiert. So klagt etwa Marc über einige seiner Vorgesetzten: ,,Nein, da ist ganz egal, was man sagt, da wird gar nicht darauf ein­gegangen. " Einige "Schwankungen" dürften mit dem ausbildungsplangemäBen Durch-

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral 201

lauf unterschiedlicher Abteilungen und dem dadurch verursachten Wechsel der Personen­konstellationen im unmittelbaren Urnfeld der Probanden zusammenhängen.

Abbildung 3.1: Betriebliche Entwicklungsbedingungen aus der Sicht der Azubis zu Ausbildungsbeginn (N=39)"

I ~------------------------------------------------. 0.9 -1-----------;;=---------------------------;

0.8 -1------------1

0.7

0.6

0.5

0,4

0.3 0,2

0,1

o

. hinderüch

.neutral

o fórderlich

Abbildung 3.2: Betriebliche Entwicklungsbedingungen aus der Sicht der Azubis zu Ausbildungsende (N=12)"

0,9 -1--,1-- -1

0.8

0.7

0,6 0,5

0,4

0,3

0.2 0,1

O+---"" ....... .......,----....... -r-• 2

.* ~.

~#

. hinderüch

.neutral

Dfórderlich

X Zur Beschreibung der Diagramme vgl. die Anmerkung zu den Abb. 2.1 und 2.2; zur Erläuterung der StichprobengröBe siehe Kap. 1.4 und FuBnote 4.

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Die betriebliche Kooperation (Nr. 5) wird zu Ausbildungsbeginn hauptsächlich entwe­der als "partizipativ" oder aber als "direktiv" erlebt. Dies wird möglicherweise dadurch verursacht, daB mancher Auszubildende die in der Einarbeitungszeit allenthalben übli­chen Unterweisungen als unnötig strikt empfindet, während manch anderem diese Art der Einarbeitung sehr entgegenkommt. Wer allerdings gegen Ende der Ausbildung nach wie vor Anweisungen von den "ausgelemten Kollegen" erhält, empfindet dies als störend und unangebracht. In solchen Fällen scheint das Umfeld auf die sukzessiven Kompetenzgewinne nicht flexibel zu reagieren, sondem in hierarchischen Kategorien zu denken.

Zu Beginn und am Ende der Ausbildungszeit nehmen etwa zwei Drittel der Auszu­bildenden aus ihrer Sicht Verantwortung in adäquatem Umfang wahr (vg!. Nr. 6, rech­te Säule). Ausbilder und Kollegen scheinen es zu verstehen, die Auszubildenden in be­triebliche Abläufe so einzubinden, daB sie sich für "einen eigenen Bereich" zuständig fühlen können. Das verbleibende Drittel (vg!. linke Säule) teilt sich in zwei Gruppen auf: Mehrheitlich klagen diese Lehrlinge darüber, daB ihnen "zu wenig zugetraut" wer­de. So berichtet etwa der Auszubildende Johannes: "Ich sage es mal so: Verantwor­tung finde ich, wenn mir jemand nicht so einen Kleckervertrag von 400 Mark im Jahr in die Hand drückt, sondem mal einen Vertrag meinetwegen von 30.000 oder 50.000 im Jahr, und daj3 ich da mal ein bij3chen rumspielen kann. Denn kontrollieren tun sie es eh. Und lemen kann ich dabei nur, ob ich es falsch mache oder richtig. Und das hat mir im Endeffekt gefehlt. " Hingegen fühlen sich einige Probanden in puncto Verant­wortung aber auch überfordert. Es sind dies zumeist Auszubildende in Klein- und Kleinstbetrieben, z.B. in ländlichen Regionalagenturen, die häufig schon sehr früh ganz auf sich allein gestellt sind, wenn der Vorgesetzte zur Kundenbetreuung auBer Haus ist und sie Aktenbearbeitung, Telefongespräche und Kundenbesuche in der Nie­derlassung selbständig bewältigen müssen.

Auch in Bezug auf betriebliche Handlungschancen (Nr. 7) ist die Einschätzung der Probanden uneinheitlich. Hier überwiegt zu Beginn der Ausbildungszeit der Anteil de­rer, für die von dieser Bedingung kein Anregungsgehalt hinsichtlich der Entwicklung moralischen Denkens erwartet werden dürfte (vg!. Mittelsäule). Einem weiteren Drittel der Befragten werden schon zu Ausbildungsbeginn Handlungschancen in "förderli­chem" Umfang eingeräumt, während diejenigen, denen Spielräume nicht in angemes­senem AusmaB zur Verfügung stehen, mehrheitlich vermissen, wenigstens im kleinen Rahmen selbst etwas "bewegen" zu können. So berichtet Beatrice: "Also, ich war in einer Abteilung [ ... ], wo es also viel zu eng bemessen war. Ich war also gerade fähig, den Ausdruck zu holen und Vorgegebenes in einen Computer einzugeben. Und später war der [Vorgesetzte] dann total stolz darauf, daj3 ich das schon alleine eingeben konnte. Und ich hab dann da gedacht: ,Mein Gott, der hätte mir die Akten geb en kön­nen, ich hätte mir halt die Fälle angeguckt, hätte irgendwas dazu geschrieben, und dann hätte er es immer noch kritisieren können. ' " Nur einige wenige fühlen sich hier überlastet und wünschen sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mehr Unterstützung und Begleitung von seiten der Kollegen und Vorgesetzten.

Zum Ende der Ausbildung zeigt sich hinsichtlich der Handlungschancen ein deut­lich positiveres Bild. Es scheint in den Betrieben häufig zu gelingen, dem Kompetenz­zuwachs der Auszubildenden mit der Einräumung gröBerer Freiheiten zu entsprechen, wie bei Bettina: "Ja, ich möchte ganz geme eine Herausforderung haben, wenn ich

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral 203

zur Arbeit gehe. Irgendwas, woran ich zu knabbern habe. Wenn ich das aus dem Effeff kann, und dann macht mir das irgendwo keinen SpajJ mehr, und dann mache ich das fünf Minuten vor der Mittagspause, damit die Zeit rumgeht. Aber was SpajJ macht, wenn man dann auf die Uhr guckt, und es ist schon Feierabend, dann sieht der Tag doch viel anders aus. "

Im betrieblichen Kontext scheint es - nach allem - insgesamt schwieriger zu sein, auf Prozesse der Pesönlichkeitsentwicklung (i.w.S. ) flexibel zu reagieren. Das kann eine ganze Reihe von Gründen haben, z.B. eine geringere "diagnostische" Sensibilität bei Vorgesetzten und Kollegen als bei den dafür ausgebildeten Lehrem oder die Schwierigkeit, Arbeitsaufgaben "kontinuierlich" in Anpassung an den Persönlichkeits­wandel von Arbeitnehmem zu verändem. Möglicherweise bieten viele Formen der Weiterbildung ein Arrangement, in dem solche Probleme nicht auftreten, weil dort oh­ne unmittelbaren Produktivitätsdruck bes ser auf die Bedürfnisse der Teilnehmer einge­gangen werden kann. Voraussetzung dafür wäre freilich, daB Weiterbildungsvorhaben nicht ausschlieBlich von betrieblichen Verwertungsgesichtspunkten her konstruiert werden, sondem über didaktische und methodische Spielräume verfügen, die für eine flexible Anpassung auf die jeweiligen konkreten Adressaten genutzt werden (können). In dieser Hinsicht hat die Weiterbildung ohne Zweifel höhere Wirkungschancen als die Berufsschule.

Der Umstand, daB viele Weiterbildungsangebote auf die Freiwilligkeit der Teil­nehmer abstellen, dürfte von vomherein einen günstigen EinfluB auf die Ausprägung der (moral-)entwicklungsbedeutsamen Umgebungsbedingungen ausüben, weil damit zwischen "Anbieter" und "Nachfrager" eine quasi-symmetrische Beziehung entsteht, die zumindest für die Dimensionen der Kommunikation, Kooperation und Konfliktaus­tragung entwicklungsförderliche Effekte bewirken sollte. Zu bedenken ist aber auch, daB die Ausprägungen der Milieudimensionen in den Weiterbildungsarrangements eine geringere Entwicklungsbedeutsamkeit aufweisen werden als diejenigen des Arbeits­platzes, der wegen seiner subjektiv hohen Wichtigkeit und seines "Emstcharakters" auch vergleichsweise intensiver wahrgenommen wird. Die "Toleranz" gegenüber Ab­weichungen bzw. die "Elastizität" in der Bereitschaft, Abweichungen "nach unten" (noch) nicht als qualitative Verschlechterungen zu betrachten, ist nach unseren Befun­den gegenüber der Arbeitsplatzumgebung stärker ausgeprägt als gegenüber der Schule. Ob dies auch für Weiterbildungsangebote gilt, wäre allerdings erst noch zu prüfen.

MaBnahmen der Organisationsentwicklung, die von den Betroffenen wegen des fehlenden Überblicks über den betrieblichen Gesamtzusammenhang oft nicht wirklich (mit-) gestaltet werden können, dürften in dieser Hinsicht kritischer sein. Die subjekti­ve Wahmehmung, in die Planung von Veränderungen nicht kooperativ, kommunikativ und konstruktiv einbezogen zu werden, kann, wie sich schon in unseren ausführlichen Interviews andeutet, zum "Kippen" einer positiven Grundstimmung führen und Tole­ranzschwellen wie Reaktionselastizitäten rapide absinken lassen. Solche Effekte er­scheinen den jeweiligen Planem oft unverständlich, weil sie ja in aller Regel versu­chen, die pers on ellen Gegebenheiten aus ihrer Sicht systematisch zu berücksichtigen. Hier spi el en jedoch weitere Gesichtspunkte eine wichtige Rolle, auf die wir in unserem abschlieBenden Kapitel eingehen wollen.

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204 Klaus Beek, Thomas Bienengräber und Kirsten Parehe-Kawik

4. Wahrnehmungsdifferenzen bei Ausbildern und Lehrlingen als praktisches und methodisches Problem

4.1 Ein Saehverhalt - mehrere Perspektiven

Wir haben auch die Ausbilder daraufuin befragt, wie sie die moralische Atmosphäre einschätzen, der sie ihre Lehrlinge ausgesetzt sehen (vgl. Abb. 4.1). Es war zu er­warten, daB ihr Bild von den Gegebenheiten günstiger sein würde, weil sie selbst die se ja teilweise mitgestalten. Dennoch registrieren auch sie Einschränkungen, am gravierendsten bei den Kooperationsmögliehkeiten (Nr. 4), teils auch bei den Mög­lichkeiten zur Verantwortungsübernahme (Nr. 5) und bei autonomen Handlungs­ehaneen (Nr. 6). Sie führen diese Restriktionen allerdings auf kaum beeinfluBbare "Systemzwänge" zurück: Man könne den jungen Leuten nicht von Anfang an ein fachliches Mitspracherecht einräumen; insbesondere müsse man intern und vor al­lem extern die rechtlichen Implikationen selbständigen Sachbearbeiter-Handelns im Auge behalten. Auszubildende bedürften insoweit doch noch einer weitgehenden KontrolIe.

Abbildung 4.1: Betriebliche Entwicklungsbedingungen aus der Sicht der Ausbilder (N=lO)

1,------------------------------------------------, 0,9 +--------,....,----------------,r--t---------------=,--------.-T"""""l

0,8 +----1

0,7 +----1

0,6 1---1

0,51---1

0,4 1---1

0,3 +----1

0,2 +----1 0,1

o

. hinderlich

.neutral

o fórderlich

Vergleicht man die Sicht der Ausbilder mit derjenigen der Lehrlinge (Abb. 4.1 und 4.2), so erkennt man deutliche Unterschiede. Die letzteren registrieren mehr Defizi­te, als sie nach Meinung der ersteren empfinden dürften. Aber auch unter den Lehr­lingen differieren die Erfahrungen z.T. ganz erheblich. Urn dies zu zeigen, wurden in Abb. 4.2 die Wahrnehmungsprofile von vier im selben Unternehmen arbeitenden Auszubildenden aufgetragen, zusammen mit dem Profilzug für die Ausbildungsleite­rin.

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral

Abbildung 4.2: Wahmehmungsprofile von 4 Auszubildenden und ihrer Ausbildungsleiterin

rórderlich ,

'\ ",

V , 10-.... "

, r- \ .... " .... .... " /, , .... ' ....

,........ , neutra!

Fachl.~ I'V "'~7 Konflikte Kommunikation

~ hinderlich

205

V Handlungschancen

~ "Arno" ~ "Birgit" - "À- . "Caria" - - -)f - - "Dietmar" ~ Ausbildungsleiterin

Obwohl alle fünf Befragten - aufs Ganze gesehen - von ein und derselben Realität spreehen, unterseheiden sich ihre Deutungen, Empfindungen und Einsehätzungen die­ser Realität nicht unerheblieh. So bewertet bspw. Amo seine Ausbildungsumgebung vor dem Hintergrund seiner persönliehen Erwartungen und Wünsehe eher negativ, während Dietmar die Dinge nahezu genauso positiv sieht wie die Ausbilderin. Man könnte diesen Saehverhalt aueh so ausdrüeken: Mit Bliek auf Dietmar ist es der Aus­bilderin gelungen, ein insgesamt als "förderlieh" zu bezeiehnendes Milieu zu gestalten (wenn wir einmal unterstellen, daB für ihn die fehlenden Chaneen zur Verantwortungs­übemahme nicht gravierend sind). Zugleieh erweist sich jedoeh eben dieses Milieu für Carla, Birgit und Amo als weniger günstig.

Auf der Suehe naeh Mögliehkeiten, die organisationalen Strukturen für die Auszu­bildenden im besonderen, aber aueh für das betriebliehe Personal im allgemeinen zu optimieren, seheint man angesiehts so1cher Befunde in ein Dilemma zu geraten: Ge­sehaffene Bedingungen erweisen sich immer nur für eine Teilgruppe der Untemeh­mensmitglieder als günstig (oder wenigstens akzeptabel), während sie zugleieh für an­dere Gruppen immer schon eher ungünstig sein werden. Gibt es aus dieser "Gestal­tungsfalle" kein Entrinnen? Wir wollen absehlieBend diese Frage mit Bliek auf den Ausbildungsbetrieb erörtem.8

8 Die analogen Probleme der Gestaltung von Schule werden an anderer Stelle behandelt.

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206 Klaus Beek. Thomas Bienengräber und Kirsten Parehe-Kawik

4.2 Beabsiehtigte Wirkungen und ungewollte Nebenwirkungen planvoll gestalteter Interaktionsmilieus

Zunächst gilt es, eine triviale (Auf-)Lösung des Problems auszuklammem, die darin bestünde, nur solches Personal zu rekrutieren, das im Hinblick auf die relevanten Ge­gebenheiten "Wahmehmungskongruenz" aufweist. Das wäre allenfalls bei Klein- und Kleinstbetrieben möglich, jedoch unrealistisch, weil für die Personalauswahl zum ei­nen andere Gesichtspunkte im V ordergrund zu stehen pflegen und zum anderen auch eine geeignete Diagnostik der Wahmehmungsdispositionen von Bewerbem gar nicht zur Verfügung stünde.

Wer sich mit Organisationsentwicklung unter dem Ziel der strukturellen Verbesse­rung betrieblicher Milieus befaBt, wird sich der oben angedeuteten Einsicht nicht ver­schlieBen dürfen, daB alle MaBnahmen prinzipiell janusköpfig sein können. Individu­elle Verschiedenheiten, die ja unter vielerlei anderen betrieblich bedeutsamen Ge­sichtspunkten durchaus wünschenswert sind, bilden im Prinzip stets auch die Ursachen für Differenzen in der Reaktion auf Veränderungen im Bedingungsfeld der Leistungs­erstellung.

Nun wäre es gleichwohl Ausdruck einer künstlichen Abstraktion von der Wirk­lichkeit, wenn man annähme, daB damit schon das letzte Wort gesprochen sei. Men­schen kommunizieren untereinander. Und sie haben auBerdem häufig das Bedürfnis nach konsensueller Kommunikation in den sie gemeinsam betreffenden Fragen. Wo es urn die Bewertung von vorfindlichen Gegebenheiten, wie organisatorischen Arrange­ments, geht (und nicht etwa urn deren Beschreibung), können abweichende, differente Einschätzungen unter geeigneten Umständen kommunikativ "synchronisiert" werden. Innerbetriebliche Verständigungsprozesse und Überzeugungsdialoge führen nicht sel­ten zu derartigen Resultaten, die u.a. ja auch das Ziel dessen sind, was mit der Pflege einer besonderen Untemehmenskultur verbunden wird.

Hier eröffnet sich also ein Interventionsfeld, dessen Bedeutung und Nutzungsper­spektiven im Kontext von MaBnahmen der Organisationsentwicklung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Zwar wäre es eine Illusion zu hoffen, es sei möglich, jede beliebige milieubestimmende Bedingung jedem Betriebsmitglied qua kommuni­kativer Zuwendung "schönreden" zu können. Aber im Bereich der pragmatisch rele­vanten Urteilsstreubreite dürften die Chancen nicht schlecht stehen, interaktiv zu grup­penkonsensuellen Bedingungsdeutungen zu gelangen. Dabei kommt es selbstverständ­lich vor allem darauf an, die "Tönungen" der wichtigen Bewertungen ("förderlich", "neutraI", "hinderlich") zu harmonisieren.

Die kritische Folgefrage richtet sich nun darauf, ob man in der Gestaltung der Randbedingungen mit dem "Organisationsentwicklungslatein" schon am Ende sei, falls das Programm der kommunikativen Bewertungssynchronisation sein Ziel nicht er­reicht. Immerhin hat sich ja gezeigt, daB die von Personen abstrahierende Rede vom "Betriebsmilieu" oder der "Betriebsatmosphäre" sinnlos ist, und daB sie erst dann se­mantisch brauchbar wird, wenn man sie auf ein gegebenes Individuum relativiert (bzw. auf eine Mehrzahl von Individuen mit übereinstimmenden Urteilen). Soweit wir sehen, blei ben auch dann noch wichtige Gestaltungsspielräume offen. Dabei erinnem wir zu­nächst daran, daB - wie bereits erwähnt - nicht alle negativen Individualurteile ent­wicklungsbeeinträchtigend wirken. Ihre subjektive (Un-)Wichtigkeit dürfte in dieser

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Entwicklungsbedingungen kaufmännischer Berufsmoral 207

Hinsicht ebenso eine Rolle spielen wie ihre Anerkennung als "unabänderbar" oder je­denfalls als durch die betriebliche Organisation nicht gestaltbar. So heben manche Auszubildende durchaus hervor, daB sie sich im Hinblick auf ihre Chancen, selbstän­dig handeln zu dürfen, deutlich beeinträchtigt fühlen. Aber sie fügen hinzu, es sei ih­nen vollständig einsichtig, daB das angesichts ihres Auszubildendenstatus auch gar nicht anders sein könne. Von einer solchen negativen, subjektiv bedeutsamen Bedin­gungsbeurteilung sollten gleichwohl keine deprivativen Entwicklungseffekte ausgehen.

Zu hinterfragen ist nun jedoch auch die obige These, daB jede organisationsstruktu­relle MaBnahme eine personenabhängig unterschiedliche Wirkung entfalten könne. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, daB in bestimmten Dimensionen entwick­lungsförderliche Verbesserungen praktisch nur als positiv wahrgenommene Verände­rungen zu wirken vermögen: Dauerhaftere und zuverlässigere persönliche Wertschät­zung, stärkere Einbeziehung in offene Konfliktlösungen sowie in die Kooperationsge­staltung und zwanglosere Kommunikationsformen dürften von niemandem als "Ver­schlechterung" wahrgenommen werden. Dagegen können höhere Verantwortungszu­weisung bzw. Verantwortungsrücknahmen und breitere Handlungsspielräume bzw. de­ren Begrenzung vom einzelnen - je nach seinem dispositionalen Hintergrund - als re­gressions- oder als entwicklungsstimulierend erfahren werden.

Selbst wenn also vorfindliche Interaktionskonstellationen von verschiedenen Per­sonen dissensual positiv oder negativ erfahren werden, würden eben diese Personen in der Beurteilung ihrer Veränderung doch übereinstimmen können. Das macht das Ge­schäft der Organisationsentwicklung leichter. Aber dies gilt offenbar keineswegs in je­der Hinsicht. So werden die mit job enlargement und lean management verbundenen positiven betrieblichen Haupteffekte in vielen Fällen mit der ungewollten Nebenwir­kung verbunden sein, daB die Betroffenen die höhere Verantwortungszuweisung und die breiteren Entscheidungsspielräume als Verschlechterung ihrer Befindlichkeit und als Belastung erfahren (vgl. Priddat 1994, S. 6). Die Feststellung, daB solche Effekte eintreten können, liegt freilich auf der Hand und ist insofem nachgerade trivial. Wel­che (Neben-) Folgen sie allerdings auslösen und wie diese auf die intra- und die inter­personale Gesamtkonstellation zurückwirken, darüber wissen wir noch wenig. Im Hin­blick auf die moralische Entwicklung werden, so viel ist doch schon bekannt, von in dieser Wei se wahrgenommenen Eingriffen regressive Tendenzen ausgehen. Direkt und indirekt dürfte jedoch eine Reihe weiterer Kompetenzen ebenfalls ungünstig betroffen sein, wie etwa die eingangs bereits erwähnten Teamfähigkeit, Selbständigkeit und En­gagement. Mit dieser Feststellung verbindet sich nun nicht der Appell, in Dingen der Organisationsentwicklung wegen solcher Wirkungsmöglichkeiten umsichtiger zu Werke zu gehen. Umsicht ist ohnehin stets geboten. Aber sie kann nur dann in einer gehaltvollen Weise eingefordert werden, wenn die Vemetzungen, in die betriebliche Gestaltungshandlungen kausal verstrickt sind, von den Akteuren durchschaut werden können.

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208 Klaus Beek, Thomas Bienengräber und Kirsten Parehe-Kawik

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Beschäftigte im Spannungsfeld ökonomischer und pädagogischer Prinzipien betrieblicher Personal­und Organisationsentwicklung

Christian Harteis

Aufgrund programmatischer Aussagen im Rahmen von Modellen betrieblicher Perso­nal- und Organisationsentwicklung, die die Bedeutung individueller Kompetenzent­wicklung Beschäftigter postulieren, läBt sich die Hypothese von der Konvergenz öko­nomischer und pädagogischer Prinzipien aufstellen. Wenngleich auf der theoretischen Ebene die Gültigkeit dieser These begründet werden kann, gibt es berechtigten Zweifel an der Umsetzung in der Praxis des betrieblichen Alltags. Dieser Beitrag führt dies auf ein Problem unangemessener zeitlicher Betrachtungsperspektive zurück.

Einleitung

Diskussionsbeiträge aus Wissenschaft und Praxis betonen unter Bezugnahme auf ver­änderte Bedingungen des Wettbewerbs die Notwendigkeit, moderne Unternehmen in einer bestimmten Weise umzustrukturieren (Kühl 1998). Ausgedient hätten GroBorga­nisationen, die "Dinosaurier" der Industrie seien zum Aussterben verurteilt. Die neuen Konzepte lau fen unter Schlagworten wie "Modulare Fabrik" (Wildemann 1994) oder "Fraktale Fabrik" (Warnecke 1996) und verheiBen eine Zerschlagung der groBen Ap­parate in kleine, überschaubare Einheiten. Damit sollen alte, festgefahrene Hierarchie­strukturen aufgelöst sowie Entscheidungsprozesse und -verantwortung in kleine, näher am ProduktionsprozeB angesiedelte Einheiten verlagert werden. Gleichzeitig wird eine Veränderung des (betrieblichen) Verständnisses sowohl von Beschäftigten als auch von der Führungsaufgabe proklamiert: Mit dem Wegfall langer Entscheidungswege "solI die Motivation der Mitarbeiter durch ganzheitliche Aufgabenerfüllung erhöht und der Anreiz zu marktgerechtem Handeln verstärkt werden. Damit wandelt sich auch die Rolle des Managers vom klassischen Vorgesetzten zum Coach" (Picot, Reichwald & Wigand 1996, S. 205).

Beschäftigte werden in Folge dieser Ansätze nicht als ein Produktionsfaktor unter den vielen anderen betrachtet, sondern sie gewinnen aufgrund ihrer spezifischen, indi­viduellen Kompetenzen als Humanressourcen besondere Bedeutung. Demnach geIten Beschäftigte auch nicht mehr als beliebig austauschbar, sondern sie werden als Indivi­duen betrachtet. Daraus ergeben sich nun auf vielfältige Wei sen Herausforderungen und Aufgaben für die betriebliche Personal- und Organisationsentwicklung, da - urn nur einige Beispiele anzusprechen -

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210 Christian Harteis

zum einen Führungskräfte auf ihre nun gewandelte Ro11e als "Coaches" vorbereitet und qualifiziert werden müssen, zum zweiten die Beschäftigten die Möglichkeit erhalten müssen, die für ihre neue Ro11e benötigten Kompetenzen zu entwickeln sowie zum dritten organisationale Bedingungen herbeigeführt werden müssen, die die Voraussetzung sowohl für den Kompetenzerwerb als auch für die Einbringung der Kompetenzen in den ArbeitsprozeB bereitste11en.

Natürlich wird mit dieser "inneren Neuorientierung" zuerst ein wirtschaftlicher Nutzen verbunden. Die Humanressourcen werden gemeinhin als strategischer Erfolgsfaktor für Unternehmen gesehen (z.B. Eicher 1997; Hoss 1996; Meyer-Dohm 1990), die je nach Betrachtungsperspektive die rasche Anpassung von Unternehmensaktivitäten und Pro­dukten an die Bedürfnisse der Kunden garantieren oder dem Unternehmen von innen heraus Sicherheit gegenüber den Unwägbarkeiten der Marktbedingungen verleihen (Buck 1996). Insofern gewinnen individuelle und organisationale Lernprozesse an Re­levanz, Aufwendungen hierfür sind als Investitionen in die Zukunft anzusehen (Bet­cherman 1997; Black 1996).

Zur Konvergenzthese

Die einleitend beschriebenen Sachverhalte umreiBen eigentlich Rahmenbedingungen, unter denen man von einer "Koinzidenz ökonomischer und pädagogischer Vernunft" (Achtenhagen 1990, S. VII) sprechen könnte. Idealiter wird eine Praxis betrieblicher Ar­beitsorganisation beschrieben, in denen Beschäftigte zum einen Gelegenheiten erhalten, individuelle Kompetenzen aufzubauen und so ein individuelies Kompetenzprofil zu ent­wickeln. Zum anderen veranlassen partizipative Strukturen die Beschäftigten zur Ein­bringung ihrer Kompetenzen in die betrieblichen Arbeitsprozesse. Dies sol1 eine Steige­rung der Produktivität oder Flexibilität des Unternehmens bewirken und damit auch be­triebswirtschaftliche Zielsetzungen verfolgen. Durch Partizipation und Kompetenzförde­rung einerseits und Effektivitätssteigerung des Unternehmens andererseits könnte sich so eine Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Prinzipien ergeben. Die Konver­genzthese besagt - abstrakt formuliert -, daB eine Vernachlässigung ökonomischer Prin­zipien die Erreichung (betriebs)pädagogischer Ziele verhindert und in der umgekehrten Richtung die Vernachlässigung pädagogischer Prinzipien zu suboptimalen ökonomischen Resultaten führt. Konkreter: Bei BildungsmaBnahmen muB ein ökonomisches Prinzip zumindest insoweit berücksichtigt werden, daB der entstehende Aufwand durch den er­warteten Nutzen berechtigt erscheint. Zwar sind derartige Überlegungen nicht bis ins kleinste quantifizierbar und somit objektivierbar (Harteis 1998), a11erdings können Bil­dungsbemühungen, die dieser Regel nicht folgen, kaum als sinnvo11 bezeichnet werden. Auf der anderen Seite läBt ein Unternehmen, das nicht auf eine (nicht nur gesteuerte) Kompetenzentwicklung seiner Beschäftigten achtet, Ressourcen ungenutzt und verstöBt damit gegen das ökonomische Prinzip des sparsamen Umgangs mit knappen Ressourcen. Die angesprochenen Mode11e betrieblicher Organisationsentwicklung scheinen auf der pragmatischen Ebene der Konvergenzannahme zu genügen, nicht zuletzt aufgrund ihrer Betonung der Bedeutung der vielfáltig beanspruchten Schlüsselqualifikationen.

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Beschäftigte im Spannungsfeld ökonomischer und pädagogischer Prinzipien 211

Hoffnungen auf eine derartige Form betrieblicher Arbeitsorganisation würden sich jedoch nach Nickolaus (1997) an der Realität brechen. Zum einen sei bislang völlig ungeklärt, ob und wie weit das, was weitläufig unter Schlüsselqualifikationen verstan­den wird, vom Arbeitsvollzug auf überberufliche oder gar private Bereiche übertragbar sei. Zum anderen würden pädagogische Maximen im Betriebsalltag "konfrontiert mit wirkungsmächtigen ökonomischen Kalkülen. Bedarfsorientierung und reduzierte Res­sourcen begrenzen pädagogisch Wünschenswertes" (S. 188). Hier wird nun eine Dis­krepanz zwischen theoretischen Ansätzen einerseits und betrieblicher Alltagspraxis an­dererseits impliziert, die der Konvergenz- bzw. Koinzidenzannahme widerspricht und einer näheren Betrachtung und Überprüfung wert ist.

DaB zumindest auf der programmatischen Ebene der Produktionsfaktor Mensch innerhalb moderner Wirtschaftsunternehmen als Humanressource betrachtet wird, läBt sich als gemeinsamer Nenner verschiedener Ansätze zur Personal- und Organisations­entwicklung erkennen (z.B. Fatzer 1999). Die Zuordnung zur Kategorie der Ressour­cen impliziert eine natürliche Knappheit, so daB Beschäftigte mit ihrem individuellen Kompetenzprofil und Potential schon alleine daraus ihren Wert für ihre Unternehmen beziehen. Aus ökonomischer Sicht ergeben sich aus der Knappheit besondere Anforde­rungen an einen rationalen Umgang mit Ressourcen, mit denen es sparsam umzugehen gilt und die entsprechender Pflege bedürfen. Diesen Ansprüchen versuchen neuere An­sätze betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung gerecht zu werden.

Derlei Ansätze bewegen sich auf einer Ebene der Kommunikation und program­matischer Aussagen. Davon kann die Ebene von Handlungen im betrieblichen Alltag unterschieden werden. Diese getrennte Betrachtung bezieht ihre Berechtigung daraus, daB normengeleitetes Handeln eine Interpretation der Norm durch das handeinde Sub­jekt voraussetzt (Meulemann 1987). Unsystematische Beobachtungen, aber auch empi­rische Befunde stützen die Bedenken von Nickolaus (1997), wonach theoretisch-pro­grammatische Postulate an der betrieblichen Praxis scheitern würden. So stellen Kern & Schumann (1998) in jüngeren Analysen der deutschen Industrie einen Rückbau par­tizipativer Organisationsstrukturen sowie eine Renaissance von Niedriglohn- und Nie­drigqualifikationsmodellen fest.

Bevor nun der Gültigkeit der Konvergenzthese angesichts dieser Unstimmigkeiten weiter nachgegangen werden kann, solI eine Konkretisierung der ökonomischen und der pädagogischen Perspektive erfolgen. Hierdurch wird zum einen die Schnittfläche beider Maximen bestimmt, innerhalb der eine Konvergenz möglich erscheint, zum an­deren können weitere Implikationen für die betriebliche Praxis unter Konvergenzbe­dingungen abgeleitet werden.

Die ökonomische Perspektive

Privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen verfolgen i.d.R. keinen Selbstzweck, son­dern stehen unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit. Deren erster Zweck besteht in der Erwirtschaftung von Erträgen, wobei damit nur ein sehr unklares Grundprinzip beschrie­ben ist, dessen Konkretisierung von Fall zu Fall in unterschiedliche Kriterien von Wirt­schaftlichkeit münden kann (Ulrich 1996). Eine wesentliche EinfluBgröBe ist beispiels­weise das zugrunde gelegte Zeitverständnis (Bievert & Held 1995): Ob nun Zeiträume

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212 Christian Harteis

zwischen zwei Geschäftsberichten oder über längere Ph asen des Bestehens eines Unter­nehmens hinweg als Grundlage herangezogen werden, kann zu völlig unterschiedlichen Kriterien von Wirtschaftlichkeit führen. Betriebe neigen aufgrund der tradierten Quartals­und Geschäftsjahr-Planung zu kurzfristigen Perspektiven, die - verbunden mit einer im­plizierten Wachstumslogik - zu einem Streben rascher Gewinnmaximierung tendieren. Dem gegenüber stehen längerfristige Perspektiven, die beispielsweise ein Streben nach solchen Erträgen ergeben, die zu einer möglichst langen Sicherung der Existenz des Un­temehmens führen sollen (Seidel 1994). Der folgende Versuch der Abgrenzung von Er­füllung und Verfehlung des Prinzips Wirtschaftlichkeit ist dernnach nicht trivia!.

Wie in den vorangegangenen Abschnitten bereits angedeutet, sind gemäB dem Verständnis neuerer Organisationskonzepte und Untemehmensphilosophien Aufwen­dungen zur Bereitstellung und Sicherung von Humanressourcen als Investitionen auf­zufassen. Investitionen zeichnen sich im Gegensatz zu Aufwendungen anderer Art da­durch aus, daB sie in einer spezifischen Erwartung getätigt werden: Sie sollen über ei­nen abgrenzbaren Zeitraum hinweg durch ihre Erträge (mehr als) ausgeglichen werden, die durch einen bestimmten Zielzustand realisiert werden. Ein ökonomisches Prinzip impliziert also einen entsprechend (meist klar definierten) Nutzen eines eben in Hin­blick darauf getätigten Aufwands. Als ökonomisch rational (im Sinne: diesem Prinzip folgend) sind dann all solche Aufwendungen zu bezeichnen, die zur Erreichung des Zielzustandes beitragen bzw. deren Wahrscheinlichkeit erhöhen, wobei eine Verhält­nismäBigkeit des Aufwand/Nutzen-Verhältnisses nicht vemachlässigt werden darf. (Die Kriterien der VerhältnismäBigkeit sind aber ebenfalls als variabie GröBen anzuse­hen.) Der Beitrag zur (Steigerung der Wahrscheinlichkeit einer) Zielerreichung kann sowohl unmittelbar als auch mittelbar erfolgen, urn in diesem Sinne als ökonomisch rational bezeichnet werden zu können.

Irrational in diesem ökonomischen Sinne sind demnach Investitionen, bei denen wissentlich oder versehentlich die Ausschöpfung der vollen Möglichkeiten unterbleibt, die Erreichung des angestrebten Zielzustandes sicherzustellen. Mit anderen Worten können solche Investitionen als irrational bezeichnet werden, deren "Qualitätssiche­rung" - im Sinne eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Unterlassens flankierender MaBnahmen zur Sicherung des Investitionsertrags - unterbleibt.

Die Notwendigkeit zur Investition in Humanressourcen wurde ebenfalls bereits als Grundtendenz neuerer Konzepte zur Personal- und Organisationsentwicklung ange­sprochen. Besonders deutlich wird dies im Ansatz von Friedman, Hatch & Walker (1999), die von "Humankapital" sprechen, weil der Begriff Ressource den Verbrauch im Sinne eines endgültigen Verzehrs derselben impliziere und mit dem Begriff Hu­mankapital ein Sachverhalt beschrieben werde, den es aufzubauen gelte. Welche Im­plikation sich unter diesem Blickwinkel für die betriebliche Bildungsarbeit ergeben, solI diskutiert werden, nachdem die pädagogische Perspektive dargestellt wurde.

Die pädagogische Perspektive

Pädagogische Handlungsfelder im Rahmen von Personal- und Organisationsentwick­lung sind im Bereich betrieblicher Bildungsarbeit anzusiedeln. Betriebliche Bildungs­maBnahmen verfolgen ebenfalls keinen Selbstzweck, sondem sie sind zielgerichtet, so

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Beschäftigte im Spannungsfeld ökonomischer und pädagogischer Prinzipien 213

daB sich deren pädagogische Prinzipien nur unter Berücksichtigung ihrer Zielsetzung definieren lassen. Eine sehr globale Zielsetzung pädagogischen HandeIns besteht im Anliegen, sich selbst überflüssig zu machen, d.h. Beschäftigte zu befáhigen, Kompe­tenzen selbständig und eigenverantwortlich einsetzen zu können. Verantwortlichkeit setzt eine wohlüberlegte Entscheidung auf Basis real existierender Handlungsaltemati­ven voraus (Heid 1995) und insofem beinhaltet das Erziehungsziel Kompetenzerwerb zugleich auch die Befáhigung zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung über den Einsatz der erworbenen Kompetenzen. Erst wenn diese beiden Komponenten gewähr­leistet sind, kann das Erziehungsziel als erreicht betrachtet werden, denn erst dann er­übrigen sich weitere pädagogische Handlungen.

In Analogie zum ökonomischen Prinzip lassen sich Handlungen bzw. Aktivitäten dann als einem pädagogischen Prinzip folgend (pädagogisch rational) bezeichnen, wenn sie zur Erreichung des Erziehungsziels beitragen. Demnach können alle Hand­lungen, die einen (möglicherweise auch nur indirekten) Beitrag zur Kompetenzent­wicklung Beschäftigter leisten, als pädagogisch rational bezeichnet werden. Angesichts der zusätzlichen Komponente Eigenverantwortung kann jedoch im Kompetenzerwerb allein noch kei ne hinreichende V oraussetzung für den sicheren Einsatz der Kompetenz gesehen werden. Vielmehr muB mit dem Kompetenzerwerb auch eine Erweiterung der Handlungsaltemativen für Beschäftigte einhergehen, oder, urn es mit anderen Worten auszudrücken: Der Zielzustand kompetenter Beschäftigter realisiert sich gerade über eine Anreicherung an realisierbaren Handlungsaltemativen, die die Basis für eine ei­genverantwortete Entscheidung erweitem.

Irrationalität in diesem pädagogischen Sinne läBt sich teil wei se ebenfalls in Analo­gie zur ökonomischen Perspektive beschreiben, nämlich als die wissentlich oder fahr­lässig unterlassene mittelbare oder unmittelbare Förderung des Kompetenzerwerbs (hierzu auch Heid 1996). Eine wesentliche Ergänzung ist jedoch noch zu treffen: Als irrational sind nämlich auch solche pädagogischen Aktivitäten zu bezeichnen, die zwar individuellen Kompetenzerwerb ermöglichen, jedoch nicht zugleich die freie Ent­scheidbarkeit über den Einsatz der Kompetenzen implizieren.

Implikationenfür die Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Prinzipien

Aus der Konkretisierung der ökonomischen und pädagogischen Prinzipien können nun Folgerungen für ei ne Realisierung der Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Prinzipien im Rahmen betrieblicher Pers on al- und Organisationsentwicklung abgeleitet werden. Als zentrale Implikation wird die Wahl einer langfristigen Perspektive für Prozesse betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung vorgeschlagen.

Seidel (1994) unterstellt betrieblichen Routinen überwiegend kurzfristige, an Quartals- und JahresabschluB orientierte Perspektiven. Senge (1999) sieht dies als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Fixierung auf medial vermittelte Ereignisse (z.B. Börsenkurse) und weist in seiner Unterscheidung in adaptives und schöpferisches Ler­nen darauf hin, daB diese Fokussierung auf kurzfristige Zei tab schnitte zwar Anpas­sungslemen ermöglicht, schöpferisches (generatives) Lemen als eigentlich ursprüngli­che Form menschlichen Lemens durch das Diktat enger Fristen aber verhindert werde.

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214 Christian Harteis

Es deutet sich also eine Diskrepanz an, die auf ein Problem unterschiedlicher Fristig­keiten reduziert werden kann.

Ob und wie weit diese Diskrepanz in Hinblick auf die Realisierung der Konver­genz eine Rolle spielt, wird beim Blick auf die Kompetenzanforderungen neuer Kon­zepte betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung deutlich, denn auf diese Anforderungen und Ziele betrieblicher Qualifizierung berufen sich nämlich die Ver­treter der Konvergenzthese (z.B. Achtenhaben & Oldenbürger 1996; Berryman & Bailey 1992). Stellvertretend sei hier auf diejenigen Anforderungen verwiesen, die Pi­cot, Reichwald & Wigand (1996) unter dem Begriff "Empowerment (d.h. Bevollmäch­tigung bzw. Ermächtigung)" Beschäftigter zusammenfassen (S. 452ff.): Lemen zu ler­nen, fachliche Basiskompetenzen, Kommunikationskompetenz, Flexibilität, Teamfä­higkeiten, Selbstmanagement, Entscheidungs- und Problemlösekompetenz, Autonomie sowie innovatorische Qualifikation. Sowohl der ökonomische als auch der pädagogi­sche Aufwand betrieblichen Empowerments ist auf den Zielzustand ausgerichtet, Be­schäftigte mit diesen Kompetenzen ausgestattet zu haben. Urn nun beiden Prinzipien gerecht zu werden, ist die Optimierung der Wahrscheinlichkeit zur Erreichung des an­gestrebten Zielzustands (Kompetenz) notwendig.

Die Entwicklung beispielsweise von Flexibilität und Autonomie im betrieblichen Arbeitsalltag bedarf neben der Entfaltung jeweils vielfältiger konkreter Fähigkeiten eben auch eines Aufbaus von Vertrauens- und Sicherheitsbeziehungen, und zwar so­wohl auf Seiten der Beschäftigten als auch auf Seiten der Untemehmensführungen, die sich nicht über schnelle und temporäre (möglicherweise auch nur implizite) Vertrags­vereinbarungen erreichen lassen. Vielmehr besteht eine Aufgabe betrieblicher Organi­sationsentwicklung gerade darin, Strukturen herbeizuführen, die Vertrauens- und Si­cherheitsbeziehungen ermöglichen. Hier sind also Aspekte zu sehen, die langfristig orientiertes Handeln von Seiten des Untemehmens voraussetzen (Dörre 1996).

Dem stehen andererseits mit Entscheidungs- und Problernlösekompetenz Qualifikati­onsanforderungen gegenüber, die in engem Zusammenhang mit der Expertise und der Er­fahrung der Trägerinnen und Träger jener Kompetenzen stehen (Gruber 1999). Urn diese aufzubauen, spielen überwiegend Bedingungen eine Rolle, die den Beschäftigten zuzu­schreiben sind (hierzu der Beitrag von Gruber in diesem Band). Selbst wenn eine lange Zeitspanne der Auseinandersetzung mit Themengebieten keine hinreichende Bedingung für den Aufbau von Erfahrung darstellt, liegt auf der Hand, daB Erfahrung als Ziel be­trieblicher Bildungsbemühungen auf langfristig angelegten Überlegungen beruht.

Wesentliche Bestandteile eines Anforderungsprofils erscheinen dernnach nur dann sinnvoll, wenn eine langfristige Orientierung zugrunde gelegt ist. Die betrifft sowohl Be­schäftigte, die Aufwendungen für ihre Qualifizierung, als auch Untemehmen, die Auf­wendungen für Personal- und Organisationsentwicklung unter Bezugnahme auf eine langfristige Perspektive bewerten sollen. Daran geknüpft ist die Billigung der Möglich­keit, daB kurzfristige Erfolge oder Returns of Invest nicht eintreten. Denn eine Bewertung unter einer kurzfristigen Perspektive wäre ein unzweckmäBiges Verfahren, da es nicht mit den angestrebten Zielen in Zusammenhang stünde. Eine Beurteilung des Kompetenz­erwerbs unter Bezugnahme auf falsche Kriterien würde sowohl gegen das ökonomische Prinzip verstoBen, mit allen geeigneten Mitteln die Erreichung des Zielzustands Kompe­tenzerwerb zu unterstützen, als auch gegen das pädagogische Prinzip, weil der ProzeB des Kompetenzerwerbs durch fehlerhafte Urteile korrumpiert werden kann.

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Beschäftigte im Spannungsfeld ökonomischer und pädagogischer Prinzipien 215

Umsetzung in der betrieblichen Praxis?

Als entscheidende Frage stellt sich nun die Umsetzung in betriebliche Praxis der Ar­beits- und der Bildungsorganisation dar. Freilich ist eine Antwort hierauf nur in Be­trachtung konkreter FäIle zu geben, aber im begrenzten Rahmen eines solchen Beitra­ges kann ein Problembereich diskutiert werden, der sich im Trend aktueller Weiterbil­dungspraxis andeutet und sich genau auf die Diskrepanz kurzfristiger und langfristiger Kalküle beziehen läBt.

Dubs (1998) entwickelt in Abgrenzung zum tradierten betriebswirtschaftlichen Pa­radigma formal strukturierter und regulierter Untemehmen ein konstruktivistisches Pa­radigma, in dem er neue Organisationskonzepte aufgreift. Zentrale Bestandteile derar­tiger Untemehmen sind nach diesem Verständnis Kompetenznetzwerke und ein funk­tionierendes Wissensmanagement, die selbstgesteuerte, dezentrale Lemprozesse zur wichtigsten Form beruflicher Bildung erheben. Weil sich mit dieser Organisation be­ruflichen Lemens eine bedarfsgerechtere Qualifizierung erzielen läBt als in durchwegs konventionelier Schulungsform, erringen individualisierte (selbstgesteuerte) Lemstra­tegien breite Resonanz.

Hier etablieren sich in betrieblichen Bildungsabteilungen gerade durch die (ver­meintlichen) Potentiale neuer Medien groBe Hoffnungen, die sich in Begriffen wie "Anytime-Everywhere-Leaming", "Leaming on Demand" und "Leaming Just-in­Time" niederschlagen (Petrovic, Kailer, Scheff & Vogel 1998). Während an dem er­sten Schlagwort der eher diffuse, möglicherweise auch Ratlosigkeit signalisierende Charakter kritikwürdig erscheint, deuten die beiden anderen einen strengen Effizienz­gedanken an, dem neben der Einengung der Idee individueller Kompetenzentwicklung auf arbeitsplatzspezifische Anforderungen auch eine (kurzfristige) Orientierung auf ei­nen festgestellten Bedarf unter Berücksichtigung momentaner Erfordemisse am Ar­beitsplatz unterstellt werden kann. Die Einpassung von Lemprozessen in ständig wech­seInde Prozesse am Arbeitsplatz gelingt nur in einer flexiblen, hier aber im Sinne einer kurzfristig variablen Gestaltung der Lemaktivitäten. Ein solches Verständnis aber im­pliziert klare Priorität zugunsten der Bewältigung der Arbeitsaufgaben - eine ebenso­wenig überraschende wie unplausible Beschreibung betrieblicher Arbeitsorganisation.

Für die Realisierung einer Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Prinzipi­en aber wirft ein derart starres Modell hierarchischer Anordnung beider MaBstäbe Pro­bleme auf. Die generelle Unterordnung individueller Lembedürfnisse (Kompetenzent­wicklung) unter die Arbeitserfordemisse ist in Hinblick auf die Konvergenzthese eben­so problematisch wie - anders gewendet - die Zurückstellung arbeitsorganisatorischer Anforderungen hinter Lembedürfnisse einzelner Beschäftigter.

Wenn also in Konzepten betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung Begrifflichkeiten Verwendung finden, in denen der Ausdruck prinzipieller Dominanz ökonomischer Maximen vermutet werden kann, so bestätigt dies den bereits erwähnten Vorbehalt von Nickolaus (1997), daB pädagogische MaBstäbe im betrieblichen Alltag ökonomischen Ansprüchen weichen müBten. Erweist sich diese Annahme als zutref­fend, kann die Ursache in Anlehnung an Seidel (1994) in kurzfristig ausgerichteten Betriebsroutinen gesehen werden, nach denen langfristig erzielte Nutzenmomente nicht erfaBt und somit in Bewertungen betrieblicher Bildungsbemühungen berücksichtigt werden. Damit die Konvergenzthese bestätigt werden kann, bedarf es einer langfristig

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216 Christian Harteis

ausgelegten Bewertung betrieblicher Bildungsbernühungen urn individuelle Kornpe­tenzentwicklung von Beschäftigten, wie es die neuen Entwicklungskonzepte eigentlich postulieren.

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisches Lernen

Franz Lehner

J. Bedeutung und Kontext von Organisational Memory Systemen

Unter dem Titel "Organisational Memory Systeme" werden seit einiger Zeit innova­tive, aber auch bekannte Konzepte und Systeme präsentiert und erprobt, die mit gro­Ben Erwartungen hinsichtlich ihrer Erfolgswirksamkeit verbunden sind (vgl. z.B. Morschheuser 1997, Lehner et al. 1998, Lehner 1995, Wargitsch 1997 & Poveschi 1998). Dem Thema kommt durch den weltweiten UmstrukturierungsprozeB in Wirt­schaft und Gesellschaft eine hohe Aktua1ität und Brisanz zu. Vor allem in groBen Unternehmen laufen bereits einschlägige Projekte. Den Hintergrund bilden die Um­weltdynamik und der Wettbewerbsdruck, die in den Unternehmen die Entwicklung oder die Aktivierung neuer Fähigkeiten erzwingen. Diese Anpassungsleistungen er­folgen in den seltensten Fällen automatisch, sondern setzen (Lern-)Prozesse voraus. Häufige Ziele sind dabei die Erhöhung der organisatorischen Effïzienz und Flexibi­lität und die Überwindung von Wachstumsgrenzen. In Zeiten, in denen ein quantita­tives Wachstum (z.B. durch Umsatzsteigerung, Erhöhung der Marktanteile, oder der ErschlieBung neuer Märkte) nur eingeschränkt möglich ist und die Beibehaltung des Status Quo bereits als Erfolg angesehen wird, gewinnt die Konzentration auf quali­tative GröBen an Bedeutung. Man könnte dies auch als Expansion nach innen ver­stehen, bei der neue oder bisher ungenutzte Potentiale erschlossen werden sollen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Entwick1ung vollzogen, die u.a. durch kontinuierliche, ab er sehr bedeutende Verbesserungen der Informationstechnologie gekennzeichnet war. Als unmittelbare Folge steht heute ein weites Spektrum an Ein­satzformen dieser Technologien für viele betriebliche Aufgabenfelder zur Verfü­gung. Die Entwicklung von Organisational Memory Systemen (OMS) ist dabei er­heblich komplexer als die Entwicklung herkömmlicher Informationssysteme, weil bestehende Modellierungs- und Planungsmethoden erweitert und ein Bezug zu mo­dernen Managementansätzen (z.B. BPR, ProzeBorganisation, Unternehmensmodel­lierung) hergestellt werden muB. Abbildung 1 zeigt dies als Konvergenz von unter­schiedlichen Gestaltungsansätzen, unter denen das organisatorische Lernen eine be­sonders wichtige Rolle spielt. In den nachfolgenden Ausführungen sollen die Grundlagen dieser Systeme erläutert und die Verbindung zum organisatorischen Lernen analysiert werden.

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Organisational Memory Systeme I Knowledge Management Systeme

Franz Lehner

2. Begriffsklärung und Theorien

Die zentrale Komponente dieser neuen Klasse von Informationssystemen, d.h. von Or­ganisational Memory Systemen, ist das organisatorische Gedächtnis (Organisational Memory). Zahlreiche Funktionen eines "Gedächtnisses" sind immanent auch ohne softwaretechnische Unterstützung in jeder Organisation vorhanden (z.B. in Form von Such- oder Erinnerungsprozessen mittels telefonischen Nachfragen oder als Brain­storming bei Team-Sitzungen). Typische Anfragen an ein solches "Gedächtnis" sind:

Gab es da nicht schon einmal einen ähnlichen Fall? Wie haben wir das bisher gemacht? Kann sich jemand noch erinnem, wie .. .. ? Hat jemand bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet? Wie kann die Erfahrung des Untemehmens bei der Entwicklung neuer Produkte genutzt werden? Welches Produkt könnte Ähnlichkeiten mit dem neuen Entwurf aufweisen? Welche Probleme gab es bei der Projektdurchführung? Wie kann das Potential der wichtigsten Konkurrenten eingeschätzt werden? etc.

Allgemein bezeichnet man mit Gedächtnis ein System von Fähigkeiten, urn Wahrge­nommenes, Erlebtes oder Erfahrenes über die zeitliche Dauer des aktuelIen Gesche­hens hinaus zu speichem und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abrufen zu können. Ohne Gedächtnis ist kein Lemen möglich. Dementsprechend wird auch das organisato­rische Gedächtnis in Zusammenhang mit dem organisatorischen Lemen immer wieder als die wichtigste V oraussetzung hervorgehoben. Dabei solI die Verwendung des Be-

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisches Lernen 221

griffes "organisatorisches Gedächtnis" keineswegs auf die Analogie hindeuten, nach der Organisationen über ein "Gehim" verfügen. Der Begriff bringt lediglich zum Aus­druck, daB sowohl Organisationsmitglieder als auch beis pi els wei se Schriftstücke oder Dateien Wissen enthalten, das zum Abruf bereitsteht (vgl. Oberschulte 1996, S. 53).

Mittlerweile gibt es für die kollektive und organisatorische Ebene unterschiedliche Gedächtnisbegriffe und Wissensdefinitionen. Die intensive wissenschaftliche Ausein­andersetzung mit der Thematik begann Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, und wurde zunächst überwiegend in den USA geführt. Duncan & Weiss schlagen in diesem Zusammenhang folgende Definition vor, die nach wie vor Aktualität besitzt (vgl. Dun­can & Weiss 1979, S. 86-87):

Organizational Knowledge Base = Gesamtheit des kooperativ vermittelten Wissens und Könnens in­nerhalb einer Organisation.

Hedberg entwickelt diesen wissensbasierten Ansatz weiter. Er führte 1981 als ers ter den Begriff des "Organizational Memory" ein (Hedberg 1981):

Das Organizational Memory legt die kognitiven Strukturen der Informationsverarbeitungsprozesse' der gesamten Organisation, die Theory of Action, fest.

Huber definiert den Begriff später unter dem Eindruck der Diskussion zum organisato­rischen Lemen wie folgt (Huber 1991, S. 90):

Organizational Memory is the means by which knowledge is stored for future use.

Parallel dazu prägte Kirsch in seinen Arbeiten den Begriff der organisatorischen Wis­sensbasis für den deutschsprachigen Raum. Darauf aufbauend entwarf Pautzke 1989 ein Schichtenmodell der organisatorischen Wissensbasis, das eine wichtige Basis für weitere Forschungen und Konzepte bildete. Ein umfassender und integrativer Erklä­rungsansatz für das organisatorische Gedächtnis existiert bislang allerdings nicht. Die heute vorliegenden Erkenntnisse sind zum Teil verschiedenen Wissenschaftsdiszipli­nen zu verdanken, was deren Integration zusätzlich erschwert. Versucht man die An­sätze und Theorien zum organisatorischen Gedächtnis zu ordnen, so lassen sich vier Richtungen oder Gruppen unterscheiden:

Strukturtheorien, die eine Aussage über Struktur oder Aufbau des organisatori­schen Gedächtnisses machen, Prozej3theorien, die die Arbeitsweise des Gedächtnisses, bestimmte Gedächtnis­funktionen oder einzelne Gedächtnisleistungen erklären, lnhaltstheorien, welche das organisatorische Gedächtnis über die repräsentierten Objekte, die gespeicherten Wissensinhalte usw. erklären, Technologische Ansätze, welche von den technischen Speichermöglichkeiten aus­gehen und diese in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken.

Die empirischen Erkenntnisse sind in allen vier Bereichen noch gering oder gar nicht gegeben, so daB sich bereits vorweg ein umfangreicher Forschungsbedarf feststellen läBt. Die Konzepte werden bisher auch für die bewuBte Gestaltung von OMS kaum eingesetzt. Dies dürfte sich jedoch in Zukunft ändem, da die Resultate auf der Basis von "intuitiven Gestaltungsansätzen" nicht immer befriedigend waren. Das bekannte

Informationsverarbeitung ist hier überwiegend im nicht-technischen Sinne gemeint.

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222 Franz Lehner

Schichtenmodell von Pautzke, das den Strukturtheorien zuzuordnen ist, soli nachfol­gend stellvertretend für weitere Theorien etwas näher beschrieben werden. Kirsch und Pautzke schlagen folgende Definition vor:

Die organisatorische Wissensbasis ist die Ansammlung des für die Mitarbeiter einer Organisation prinzipiell zugänglichen (horizontales Schichtenmodell) bzw. verfügbaren (vertik ales Schichtenmo­delI) Wissens.

Abbildung 2: Horizontales Schichtenmodell der organisatorischen Wissensbasis (Darstellung von GüldenberglEschenbach 1996, nach Pautzke/Kirsch)

von allen

Unlernehmens­

mltgliedern

sonstlges

kosmlsches

Wissen ...

"Die organisatorische Wissensbasis repräsentiert den Wissensbestand, der einer Organisation zur Verfügung steht. Organisationen benötigen für ihre Handlungen und Entscheidungen nicht nur wis­senschaftlich/ technisches Wissen, ihre Wissensbasis umfaBt vielmehr ein breites Spektrum von Wis­sen höchst unterschiedlicher Art. .. . Die organisatorische Wissensbasis stellt kein homogenes Gebilde dar, sondern weist eine Vielzahl von Schichtungen auf." (Pautzke 1989).

Das horizontale SchichtenmodelI, das eine Vorstellung vom strukturellen Aufbau der organisatorischen Wissensbasis vermitteln möchte, erlangte in der Folge eine gröBere Bekanntheit. Im Mittelpunkt des ModelIs, steht die Annahme, daB die Wahrschein­lichkeit der Wissensanwendung bei organisatorischen Entscheidungen von au Ben nach

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisches Lemen 223

innen zunimmt. Abbildung 2 zeigt dieses Schichtenmodell in der ursprünglich vorge­stellten Form. Die ersten beiden Schichten bilden das der Organisation aktuell zugäng­liche Wissen, also das eigentliche organisatorische Gedächtnis. Die latente organisato­rische Wissensbasis (dritte und vierte Schicht) umfaBt hingegen das der Organisation potentiell zugängliche Wissen. Zur fünften Schicht gehört schlieSlich sämtliches son­stige im Kosmos vorhandene Wissen.

Wie diese kurze Einführung zeigt, ist das organisatorische Gedächtnis zunächst al­so kein technisches Produkt, sondem steht als Thema und Erkenntnisobjekt in der Tra­dition von Organisationsentwicklung, organisatorischem Lemen und Wissensmanage­ment. Die wissenschaftlichen Arbeiten im Umfeld des organisatorischen Gedächtnisses waren anfangs aber eher von abstrakten und theoretischen Überlegungen gekenn­zeichnet. Die allgemeine und praktische Umsetzung der neuen Erkenntnisse für be­triebliche Zwecke lieS zunächst auf sich warten. Im deutschsprachigen Raum begann man sich für das Thema seit den 80er Jahren zu interessieren, wobei Kirsch und Pautz­ke als V orreiter bereits erwähnt wurden. In unveröffentlichten Arbeitspapieren hat Kirsch den Begriff "organisatorische Wissensbasis" angeblich bereits 1974 und damit vor seinen amerikanischen Kollegen verwendet (vgl. Güldenberg & Eschenbach 1996).

3. Organisational Memory Systeme

Aufgrund der dynarnischen Entwicklung des Einsatzbereiches und des Umfeldes von OMS ist es zunächst nicht verwunderlich, daS es noch kaum Definitionen für diesen neuen Typus von Informationssystemen gibt. Einer der wenigen Erklärungsversuche, der eine gröSere Verbreitung gefunden hat, stammt von Stein & Zwass (1995, S. 95), die ein Organizational Memory Information System definieren als

" ... a system that functions to provide a means by which knowledge from the past is brought to bear on present activities, thus resulting in increased levels of effeetiveness for the organization".

Die Definition von Stein & Zwass zielt klar auf den Beitrag solcher Systeme zur Stei­gerung der organisatorischen Effizienz ab. Dabei bezieht sich die Definition auf das Begriffsverständnis Hubers zum organisatorischen Gedächtnis (vgl. Huber 1991, S. 90). Urn die Kompatibilität mit dem inzwischen breiter gefaSten Einsatzspektrum zu erreichen, wird eine Neudefinition vorgeschlagen, welche den Zweck von OMS allgemeiner beschreibt. Der Versuch einer solchen Definition macht natürlich auch die Schwierigkeiten deutlich, die mit der Begriffsklärung verbunden sind. U.a. muS bei der Definition ein unausgesprochenes Vorverständnis über den Anwendungsbereich, der offen und hetero gen ist, vorausgesetzt werden. Diesem Dilemma entgeht man, wenn man von einem uni vers ellen Erklärungsanspruch Abstand nimmt und einen per­spektivischen Ansatz benutzt. Dieser läSt verschiedene Sichten als gleichrangige Erklä­run gen ZU, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Dies steht im Einklang rnit den hete­rogenen und zum Teil sogar widersprüchlichen Eigenschaften, die mit OMS verbunden werden.

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224 Franz Lehner

Sicht 1: OMS als neuer Typ von Anwendungssystemen

Geht man vom Verständnis aus, daB ein OMS etwas Reales und konkret FaBbares ist (z.B. ein verteiltes Datenbanksystem im Intranet-Verbund), dann kann die folgende Begriffsauffassung zugrundegelegt werden:

Definition I: Ein Organisational Memory System (OMS) ist ein System, das entwe­der mit informations- und kommunikationstechnischen Mitteln Teile der organisa­torischen Wissensbasis realisiert (Klasse 1) und/oder ein System, das Aufgaben, Funktionen und Prozesse, die mit der Nutzung des organisatorischen Gedächtnisses in Verbindung stehen, realisiert oder unterstützt (Klasse 2). In den Einsatzzielen und der Architektur des Systems muj3 das Konzept des organisatorischen Gedächtnisses explizit ader implizit berücksichtigt sein.

Diese Definition hat auf den ersten Blick den Nachteil, daB keine bewuBte Abgrenzung gegenüber traditionellen Informations- und Datenbanksystemen vorgenommen wird. Solche Systeme würden zumindest im Sinne der Klasse 1 als OMS eingestuft werden. Es soli daher ausdrücklich betont werden, daB der Einbezug dieser Systeme gewollt ist und für sinnvoll gehalten wird, da sie einen integralen Bestandteil des organisatori­schen Gedächtnisses ausmachen. Die Differenz und der Mehrwert gegenüber der traditionellen Technologienutzung sind es allerdings, die OMS zu einem eigenständi­gen Thema machen. Eine weitere Schwierigkeit dieser Sicht ist die Abgrenzbarkeit bzw. Definition der organisatorischen Wissensbasis, die vorausgesetzt wird.

Sicht 2: OMS als Konzept

Dinge haben konkret wahmehmbare Merkmale, durch die sie auch beschrieben werden können. Konzepte haben solche Merkmale nicht. Sie sind Abstraktionen, die für be­stimmte Zwecke geschaffen oder entwickelt werden. Häufig dienen sie dazu, komplexe Phänomene systematisch zu beschreiben oder zu analysieren. Ein bekanntes Beispiel für ein solches Konzept ist die menschliche Intelligenz bzw. der Intelligenzquotient. Mit Hilfe des Intelligenz-Konzeptes können bestimmte Beobachtungen, menschliche Fähigkeiten usw. klassifiziert und wissenschaftliche Aktivitäten koordiniert werden. Das Konzept ist jedoch nur in Zusammenhang mit diesen Fakten von Bedeutung. Es existiert auBerhalb davon gar nicht (vg!. Müller-Merbach 1996, S. 354).

Unter den dargelegten Voraussetzungen lassen sich OMS auch als Konzept auffas­sen. Mit Hilfe des Konzeptes soll ein selektiver Eingriff in bestimmte Teile (z.B. Strukturen oder Prozesse) einer Organisation unterstützt werden. Ein solches Verständ­nis ist der Definition 1 fast diametral entgegengesetzt. Es steht jedoch im Einklang mit dem ebenfalls dichotomen Verständnis des organisatorischen Gedächtnisses und setzt nicht unbedingt eine bestimmte systemtechnische Realisierung ("Konstrukt") voraus. Diese Auffassung kann mit dem Informationsverarbeitungsansatz der Betriebswirt­schaftslehre verglichen werden, der ebenfalls keine Aussage über die computertechni­sche Realisierung macht. Dennoch kann in beiden Fällen die Computertechnik eine entscheidende Rolle spielen.

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisches Lernen 225

Definition 2: Ein Organisational Memory System (OMS) ist ein Konzept, mit dem bestimmte Phänomene und Fähigkeiten von Organisationen beschrieben oder er­klärt werden. Diese stehen insbesondere in Verbindung mit der Lernfähigkeit, der Intelligenz, dem Wissensmanagement u.ä. Das Konzept kann zur Leistungsbewer­tung und Leistungsverbesserung dieser Fähigkeiten herangezogen werden. Die technische Realisierung von Teilfunktionen wird als Bestandteil dieses abstrakten Konzeptes verstanden.

Sicht 3: Funktionale Definition von OMS

Einen weiteren Zugang gewinnt man, wenn man von den Funktionen ausgeht, die sol­che Systeme erfüllen (bzw. erfüllen sollen). Neben den bereits vorgeschlagenen Defi­nitionen, ist es durchaus sinnvoll, auch eine funktionale Systemabgrenzung vorzuneh­men. Unter Bezugnahme auf Systeme, die in der Fachliteratur mit der Bezeichnung OMS in Verbindung gebracht werden, sollte ein solches System über ei ne oder mehre­re der nachfolgend präzisierten Grundfunktionalitäten verfügen. Schneider geht bei ih­ren Überlegungen zu einer möglichen technischen Unterstützung vom Kontext des Wissensmanagements aus (vgl. Schneider 1996, S. 9). Sie unterscheidet auf der Um­setzungsebene die Funktionen Wissensschaffung, Wissensspeicherung, Wissensnut­zung, Wissensdiffusion und Wissenssubstitution. Auf der Grundlage eines solchen Verständnisses läBt sich ein OMS wie folgt definieren:

Definition 3: Ein Organisational Memory System (OMS) ist ein computergestütztes System, das mit softwaretechnischen Mitteln mindestens die folgenden Grundfunk­tionalitäten unterstützt: Wissensschaffung und Wissensbeschaffung, Wissensspeiche­rung, Wissenssuche und Wissensnutzung, Wissensdiffusion sowie die Aktualisierung von Wissen.

Die konkrete Ausprägung solcher Systeme kann natürlich sehr unterschiedliche For­men annehmen, wobei sich die Systemfunktionen aus dem Einsatzbereich oder An­wendungsfeld ableiten (z.B. Wissensmanagement, organisatorisches Lemen). Die De­finition läBt daher eine gewisse Variabilität zu. Dies solI aber nicht darüber hinweg­täuschen, daB sich die Literatur insgesamt eher zurückhaltend zu möglichen Funktio­nen äuBert und immer wieder auf den Artikel von Huber (1991) Bezug nimmt. Er nennt in Verbindung mit dem organisationalen Lemen folgende "Konstrukte und Pro­zesse" (vgl. Huber 1991, 90):

Wissensakquisition, Informationsverteilung, Interpretation von Information und Organizational Memory (Speicherung und Retrieval von Information sowie Com­puter-based Organizational Memory).

Die einzelnen Punkte werden von Huber näher erläutert, wobei auch mögliche Unter­stützung durch Informationstechnologien diskutiert wird. Die Verbindung zwischen den Konzepten des organisatorischen Lemens und dem organisatorischen Gedächtnis

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226 Franz Lehner

ist explizit dargelegt. Die Tatsache, daB OMS als "Computer-based Organizational Memory" als Teilfunktion ausgewiesen wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daB diese Funktion als Querschnittsfunktion mit allen übrigen Prozessen in enger Verbin­dung steht. Hubers Vorstellung ist dabei allerdings noch stark von der Tradition der Expertensystemtechnologie geprägt.

Sicht 4: OMS als Eigenschaft von Informationssystemen

Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, daB es sich bei OMS nicht unbedingt urn Systeme handeln muG, die einen begrenzten Zweck verfolgen oder die eine klar definierte Aufgabe unterstützen, sondem daB OMS auch als Eigenschaft verstanden werden kann, die einem System neben anderen Eigenschaften (z.B. Einstufung als Decision Support System oder Groupware-System) zukommen kann. Die Eigenschaft selbst sowie ihr Ausprägungsgrad können auf der Ebene der Definition variiert werden.

Definition 4: Ein lnformationssystem wird als Organisational Memory System (OMS) bezeichnet, wenn es die automatische Speicherung, das Aufsuchen und die Wiedergabe einer Teilmenge von lnformationen sowie von explizitem Wissens für den betrieblichen Leistungserstellungsprozej3unterstützt. Durch die Qualifikation als OMS sind weitere Eigenschaften und Bezeichnungen zur näheren Bestimmung des Systems nicht ausgeschlossen.

Definition 4 beschränkt sich auf Minimalforderungen, die aber problemlos erweitert werden können. Eine Abgrenzung gegenüber herkömmlichen Datenbanksystemen kann z.B. erreicht werden, indem die Gedächtnisinhalte von "normalen Daten" (Fak­ten) abgegrenzt werden. Weitere Definitionsvariationen, die z.B. den Kommunika­tions- und Interaktionsaspekt einschlieBen, sind nach diesem Muster mit geringem Aufwand ableitbar. Die Definition liegt auBerdem in einem aktuellen Trend, der als Externalisierung des Wissens (bzw. von Gedächtnisfunktionen) bezeichnet wird (vgl. Kotre 1995). Mit der Extemalisierung wird eine Tendenz beschrieben, bekannte "Män­gel" des herkömmlichen Gedächtnisses (z.B. Ungenauigkeit, Vergessen) durch techni­sche Speicherung zu verbessem. Gleichzeitig verlagert sich der Ort der Speicherung vom individuellen Gedächtnis auf technische Komponenten auBerhalb des Menschen. Diese Tendenz ist im Privatbereich genauso wie in Untemehmen feststellbar. Damit ist einerseits ei ne Ausweitung und Perfektion von Gedächtnisleistungen verbunden, ande­rerseits aber auch ein Verlust und neue Restriktionen. Das individuelle Gedächtnis ar­beitet eben nicht nur kumulativ und vor allem nicht auf der Basis fest programmierter Abläufe. Es unterstützt z.B. ei ne permanente und automatische Neubewertung oder Reorganisation des Wissens (z.B. Vergessen, selbständiges Erkennen von Kontextver­änderungen) sowie Verhaltensweisen bei Informationsüberflutung. Der Trend zur Ex­temalisierung ist demnach nicht beliebig fortsetzbar, ohne die Aktivitäten und Entwicklung einer Organisation nachhaltig zu stören oder zu gefährden.

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisch es Lernen 227

Sicht 5: Verhaltensorientierte Definition von OMS

Eine zentrale Annahme bei vielen Überlegungen besteht darin, daB auch Organisatio­nen Systeme sind, die ihr "Verhalten" auf der Grundlage von Informationen, die sie aus ihrer Umgebung empfangen (externer Bezug), kontrollieren. Durch den Faktor "Wissen" wird noch zusätzlich ein interner Bezug hergestellt, der das System ebenfalls beeinfluBt und auch die Mechanismen der Verhaltensanpassung steuert. Dies ist so­wohl in der Forschung als auch bei der praktischen Umsetzung zu berücksichtigen und stellt die Grundlage für die verhaltensorientierte Sicht dar.

Definition 5: Für den vorliegenden Zweck wird zunächst das organisatorische Ge­dächtnis definiert als die Gesamtheit aller Komponenten, Daten, Dokumente, Ereig­nisse, Informationen, Funktionen, mentale Konzepte und sonstige Einheiten einer Organisation, welche das spezifische Verhalten oder die Verhaltensdisposition der Organisationsmitglieder beeinflussen. Ein OMS ist ein computertechnisches System zur Realisierung oder Unterstützung einer Teilmenge dieser Funktionen, Kompo­nenten usw. mit unmittelbarem Einfluj3 auf das Verhalten eines oder mehrerer Or­ganisationsmitglieder. Man könnte daher auch von einer elektronischen, verhaltens­relevanten Reizumwelt sprechen

In einem Unternehmen kann es (bzw. wird es) im Einklang mit Definition 1 mehrere OMS parallel geben. Diese Systeme können unabhängig voneinander operieren oder in einem vernetzten Beziehungszusammenhang stehen (z.B. über technische Schnittstel­len, durch Überlappung auf der Benutzerebene, oder durch gemeinsame Wissens- und Anwendungsbereiche). Die eigentliche Verbindung wird durch das übergeordnete Konzept bzw. die Idee eines organisatorischen Gedächtnisses hergestellt. Die einzel­nen OMS sind (unter Annahme von Sicht 1, 3 und 4) Komponenten in diesem "Memo­ry" und realisieren bestimmte Teilfunktionen und Prozesse mit informationstechni­schen Mitteln.

4. Anwendungsbereiche van OMS

Beispiele für die Anwendung von Organisational-Memory-Systemen finden sich in­zwischen in sehr unterschiedlichen Bereichen (siehe z.B. Lukas et al. 1996, Aaltio­Marjosola 1994), wobei der Anteil der informationstechnischen Lösungen deutlich im Zunehmen begriffen ist (siehe z.B. Keleman et al. 1993, Ackerman & Mandel 1995, Wargitsch 1997).

Der Blickwinkel der Organisationsforschung gibt einen ersten AufschluB über die generelle Rolle von Organisational Memory Systemen. Ihr funktionaler Beitrag für eine Organisation (bzw. die Ziele einzelner Mitarbeiter) ist recht grundsätzlicher Art. Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich urn ganz elementare Grundfunktionen, die für so­ziale Gebilde generell wichtig sind. Rao & Go1dman-Segall (1995, S. 334-335) fassen die unterschiedlichen Einzelfunktionen zu drei Gruppen zusammen, die auch den Ein­satzzweck von OMS erklären:

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228 Franz Lehner

Kontrollfunktion (Monitoring der Entwicklung oder bestimmter Leistungen, insbe­sondere sollten Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden; Lemen ist näm­lich nur möglich, wenn die entsprechenden Informationen im "Gedächtnis" ver­fügbar sind. Diese Informationen müssen laufend aktualisiert und mit den Inhalten der organisatorischen Wissensbasis abgestimmt werden), Machtfunktion ("Wissen ist Macht", der Besitz wichtiger Daten und Informationen eröffnet auch EinfluBmöglichkeiten innerhalb der Organisation), Informationsfunktion (Beiträge u.a. zur Effizienzsteigerung, Schaffung der Grund­lage für bessere Entscheidungen, kurze Anlemphasen für neue Mitarbeiter, Ver­meidung von Doppelarbeit oder Wiederholung von Fehlem, Informationen über Erfolge und Rückschläge usw.).

Ein zweiter Aspekt, der die Bedeutung von OMS beeinfluBt, ist der schon mehrfach er­wähnte Zusammenhang mit bestimmten betriebswirtschaftlichen Ansätzen, unter denen das organisatorische Lemen eine besonders zentrale Stellung einnimmt. Dies erklärt auch den Konnex mit dem Konzept des organisatorischen Gedächtnisses sowie mit den Gedächtnisinhalten. Mit der Lemfähigkeit von Organisationen wird praktisch auch die Existenz eines organisatorischen Gedächtnisses postuliert. Die Diskussion über seine konkrete Ausprägung in Verbindung mit dem Nutzen einer informationstechnischen Unterstützung ist allerdings noch nicht sehr weit fortgeschritten, wie man an der spär­lich verfügbaren Fachliteratur feststellen kann. Es scheint ab er zumindest insoweit Ei­nigkeit zu bestehen, als durch die technische Unterstützung von Lemprozessen eine Verbesserung der organisatorischen Effizienz erwartet wird.

Ein dritter wichtiger Aspekt ergibt sich aus der steigenden Bedeutung des Wissens in Unternehmen. Das Stichwort dafür lautet Wissensmanagement. Es geht darum, das qualitative Erfahrungswissen von Untemehmen in Verbindung mit einer information­stechnischen Unterstützung zu bringen. Rao & Goldman-Segall (1995, S. 335) ver­wenden für solche Systeme (die oft unkritisch als Knowledge Management Systeme bezeichnet werden) den Terminus "Organisational Memory System" und nennen fol­gende Zielsetzungen:

not to rein vent wheels, not to repeat mistakes, and to update new employees on historical information.

Der Einsatz von OMS ist besonders bei komplexen Abläufen sinnvoll. Je standardi­sierter und routinisierter Abläufe sind, urn so weniger ist eine Organisation mit kogni­tiven Funktionen belastet. Bei Abläufen, die diese Eigenschaften nicht haben, können OMS den Mitarbeitern einen Teil der kognitiven Leistung abnehmen, indem sie die bedarfsgerechte Speicherung und Wiedergabe von Wissen, Know-how usw. unterstüt­zen (Wargitsch 1997, S. 16, nach Heimerl-Wagner 1992, S. 45). Der generelIe An­spruch, mittels OMS Wissensräume zu schaffen, welche das gesamte Wissen einer Or­ganisation in aufbereiteter Form umfaBt, scheint allerdings nicht realistisch (vg!. z.B. Schmidt & Bannon 1992). Als Hauptproblem erweist sich immer wieder die richtige Interpretation von Daten in groBen Wissensdomänen. Daher werden für den prakti­schen Einsatz Systeme empfohlen, welche einen "Memory in the SmalI" unterstützen, urn bestimmte Aufgaben in einer Organisation effektiver durchzuführen (Wargitsch 1997, S. 16, nach Ackerman & MandeI1995).

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisches Lemen 229

5. Organisatorisches Lemen und organisatorisches Gedächtnis

Die Beschäftigung mit Veränderungen in und von Organisationen ist eines der wichtig­sten Anliegen der Organisationslehre und -forschung überhaupt. Die Analyse der Lite­ratur zeigt, daB die Bedeutung des Themas stetig zugenommen hat. (vgl. Wiegand 1996, S. 78-79 sowie S. 81-143). Manche Autoren kommen dabei zur Einschätzung einer all­mählichen Annäherung populationsökologischer, institutionalistischer und konsistenz­theoretischer Ansätze. Dies betrifft die Konzeptualisierung von Organisation und Organi­sationspopulation in gleicher Wei se wie die Organisationsumwelt. Die Folge ist, daB jene Ansätze, die die Entstehung und Veränderung von Organisationen mit wenigen Variablen zu erklären versuchen (z.B. Transaktionskostentheorie) vermutlich an Bedeutung verlie­ren werden. Konzepten des organisatorischen Lemens, denen auch im vorliegenden Kontext eine wichtige Rolle zugemessen wird, werden hingegen als Teil der interpretati­ven Organisationsforschung an Bedeutung gewinnen (vgl. Wiegand 1996, S. 141-143).

Wege und Möglichkeiten, urn von überholten Verhaltensweisen, Denkrnustem und Erfahrungen loszukommen (manchmal auch "Entlemen" genannt), werden in der mo­dernen Managementliteratur in groBer Zahl vorgeschlagen. Die von auBen einge­brachten oder initiierten Lem- und Veränderungsprozesse in Untemehmen sind aber nicht immer geeignet, urn eine nachhaltige Anpassung an neue Gegebenheiten zu ge­währleisten. Die verschiedenen Ansätze zur Bewältigung des Wandels werden daher immer öfter mit den Konzepten des organisatorischen Lemens in Verbindung gebracht, das sich zunehmend zu einem Integrationskem zu entwickeln scheint.

AuBer Zweifel steht, daB für alle organisatorischen Veränderungsprozesse, ein­schlieBlich Lemen und Entlemen von Verhaltensmustem, das organisatorische Ge­dächtnis eine zentrale Rolle spielt. Bereits in frühen Veröffentlichungen findet sich der Hinweis auf die enge Verbindung zwischen organisatorischem Lemen und organisato­rischem Gedächtnis, die einander wechselseitig bedingen (vgl. z.B. Hedberg 1981). Die einzelnen Rahmenkonzepte der Betriebswirtschafts- und Managementlehre, die das Konzept des organisatorischen Gedächtnisses benutzen oder benötigen, wei sen viele Überlappungen auf, entwickeln sich parallel zueinander oder aufeinander zu.

Der Bezug zum organisatorischen Lemen wird in neueren Veröffentlichungen prä­zisiert und mit instrumentellen Wirkungen in Verbindung gebracht. Organisatorisches Lemen bezeichnet "die Art und Wei se, wie die Wissensbasis einer Organisation ge­nutzt, verändert und fortentwickelt wird" (Pautzke 1989, nach Kirsch 1987). Am Bei­spiel des Schichtenmodells zum organisatorischen Gedächtnisses nach KirschlPautzke lassen sich diese Aussagen noch etwas bes ser verdeutlichen. Die im Modell abgebil­deten Sachverhalte erlauben folgende Differenzierung des organisatorischen Lemens (nach Albrecht 1993, S. 218-219):

1. Organisatorisches Lemen dient der Überführung eines der Organisation bereits zur Verfügung gestellten Wissens der Mitglieder in ein von allen geteiltes Wissen. Durch diese Lernprozesse (z.B. Formalisierung) wird das ursprüngliche Wissen ei­ner Person zum Wissen der Organisation und damit unabhängig von seinem bishe­rigen Träger.

2. Organisatorisches Lemen transferiert das Wissen eines oder mehrerer Mitglieder, welches der Organisation bisher nicht zur Verfügung stand, in ein von allen ge­teiltes Wissen.

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230 Franz Lehner

3. Organisatorisches Lemen bewirkt, daB das Wissen eines oder mehrerer Mitglieder, mit dern die Organisation bisher nicht arbeiten konnte, nun für sie abrufbar ist.

4. Durch Lemen eignen sich Mitglieder Wissen aus der Urnwelt an. Wenn sich in der Folge Lemprozesse der Art (1)-(3) anschlieBen, stellt dieses prirnär individuelle Lemen einen TeilprozeB des OL dar.

5. Organisatorisches Lemen verweist auf solche Lemprozesse (höherer Ordnung), die zu einern Paradigrnenwechsel führen , und darnit Evolutionsprozesse von Wissens­basis und Organisation bilden.

In den Fällen I bis 3 findet ein Lemen der Organisation statt, ohne daB eines der Mit­glieder gelemt hat (Bei 3 z.B. rnittels OMS). Die Lemprozesse 2 und 3 führen zu einer VergröBerung der aktuellen Wissensbasis. 4 setzt beim einzelnen Organisationsmit­glied an und ist vor allern durch MaBnahrnen der Personalentwicklung zurn Aufbau von langfristigen Wissenspotentialen zu gewährleisten.

Der Fortschritt bei den IuK-Technologien bietet inzwischen vielfältige Möglich­keiten, urn das organisatorische Gedächtnis und den Thernenkornplex "Lemen" zu un­terstützen. Dabei geht es weniger urn die autornatisierte Bewältigung von groBen Da­tenrnengen, als vielrnehr urn die Verbindung rnenschlicher und rnaschineller Fähigkei­ten. Errnöglicht wird dies nicht zuletzt durch die zunehrnende Integration und das Zu­sarnrnenwachsen von Technologien, die zur Zeit rneist noch isoliert eingesetzt werden. Mit Bezug zurn Ansatz der organisatorischen Intelligenz gibt Jacobsen (1996, S. 169) einen Überblick über Technologien, welche zur Kornpetenzbildung in Untemehrnen beitragen (vg!. Abbildung 3, vg!. z.B. auch Zander/Kog ut 1995).

Abbildung 3: Landkarte der IKT-Nutzung zur Kompetenzbildung (nach Jacobsen 1996,169)

Wahmehmung Lemen Anwendung

, Erwerb neuer Kompetenz

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisches Lemen 231

Zielsetzung einer technischen Unterstützung oder Realisierung von OMS kann nicht die "Automatisierung" von Lemprozessen oder Organisationsentwicklungsprozessen sein. Es geht vielmehr urn die Unterstützung von ausgewählten Teilprozessen, die das organisatorische Gedächtnis betreffen. Damit erklärt sich auch die integrative Bedeu­tung von OMS für andere betriebswirtschaftliche Konzepte. Herkömmliche Daten­bank-Technologien zielen eher auf die Funktion der Speicherung (Storage) ab, Organi­sational Memory Systeme unterstützen jedoch Gedächtnisfunktionen (Mind) in einem umfassenderen Sinne.

6. Resümee - Die Rolle der Informationstechnologie für das Organisatorische Lemen

In Verbindung mit den Einsatzvoraussetzungen lassen sich zwei unterschiedliche Pro­blemstellungen identifizieren, nämlich der KollektivierungsprozeB von Wissen (unab­hängig von einer möglichen computertechnischen Unterstützung) und die Entwicklung von Systemen, die diesen ProzeB gezielt unterstützen. Für die Entwicklung oder Ent­stehung eines "collective minds" in sozialen Systemen sehen Weick & Roberts (1993, s. 363) zwei Punkte für besonders wichtig an, wobei sie sich auf Vorarbeiten von Asch (1952) beziehen (zit. nach Wahren 1996, S. 126):

Das Zusammenwirken in Gruppen ("contributing") muB so gestaltet sein, daB sich die Akteure in den GruppenprozeB eingliedem ("subordinating") und ei ne enge wechselseitige Beziehung aufbauen ("interrelating") Die individuellen Vorstellungen, Wissensbestände usw. der Akteure müssen in der Kommunikation der Gruppenmitglieder dargestellt ("representing") sowie als mentale Bilder sichtbar gemacht werden ("envisaging")

Als Mittel und Medium für den Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses stellt sich im­mer wieder die Kommunikation heraus. Jede bewuBte Verbesserung sollte daher das Zusammenwirken der Akteure und die Verknüpfungen im Rahmen von Kommunika­tionsprozessen beobachten (vgl. Wahren 1996, S. 127). Obwohl über die Bedeutung der Kommunikation mittlerweile kein Zweifel mehr besteht, macht ihre sinnvolle und bewuBte Gestaltung in Organisationen erhebliche Probierne. Selbst umfangreiche Wei­terbildungsmaBnahmen von Führungskräften zeigten oft keine oder nur sehr mäBige Verbesserungen. Die Lösung wird von Wahren (1996, S. 128) in einer Ablöse des per­sonenzentrierten Ansatzes durch systemtheoretische Perspektiven und Selbstorganisa­tionsprozesse gesehen. Eine unmittelbare Konsequenz ist allerdings die Einsicht, daB sich die Kommunikation der bewuBten Steuerung oder eine Beeinflussung durch die Akteure weitgehend entzieht. Zur Aktivierung sozialer Kräfte und zur Freisetzung des vorhandenen Potentials ist jedoch die Kopplung von Personen über die Kommunikati­on unabdingbar. Durch die zusätzliche Visualisierung und Explikation von persönli­chen Informationen, Zielen, Vorstellungen, Wissenseinheiten usw. werden Zusam­menhänge für alle Beteiligten transparent und verständlich. In der Folge bilden oder verändem sich Teile des organisatorischen Gedächtnisses, die von verschiedenen Au­toren recht unterschiedlich bezeichnet werden ("organizational map" bei Argyris &

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232 Franz Lehner

Schön, "collective mental reality" bei Asch, "collective mind" bei Weick & Roberts oder "shared mental model" bei Kim und bei Senge). Auf den Punkt gebracht heiBt dies:

Ohne Kommunikation kein "common knowledge"!

Kommunikation ist zwar nicht identisch mit dem organisatorischen Gedächtnis, sie ist jedoch ein zentraier ProzeB, der für die Bildung der Gedächtnisinhalte verantwortlich ist. Er kann durch computertechnische Systeme in vielfältiger Weise unterstützt wer­den, wobei es in den meisten Fällen sinnvoll sein dürfte, die konkrete Ausgestaltung des Kommunikationssystems auf die Untemehmensziele abzustimmen. Ein EinfluB der allgemeinen Kommunikationsprozesse auf strukturelle Eigenschaften und materielle Ausprägungen des organisatorischen Gedächtnisses ist nur sehr bedingt vorstellbar. Sehr wohl bestehtjedoch ein direkter Zusammenhang mit der Recall-Funktion, d.h. mit dem Abrufen oder Wiedergewinnen von Gedächtnisinhalten. Diese Aspekte werden u.a. im Transactive-Memory-Ansatz und in den Theorien zum Group Remembering adres siert (vgl. Lehner 1999). Sie müssen jedoch für den breiteren instrumentellen Ein­satz erst noch präzisiert bzw. erforscht werden. Insbesondere ist eine aufgaben- oder situationsspezifische Differenzierung zu erwarten.

Aufgrund der Komplexität und Dynamik dieser Sachverha1te muB auch der Rolle des Managements ein besonderes Augenmerk geschenkt werden. Die veränderte Rolle des IV-Managements wird inzwischen in der Literatur mehrfach thematisiert (vgl. Lehner 1999). Senge argumentiert, daB die Rolle des Managers in lemenden Organisa­tionen die eines Designers, Lehrers oder Stewards ist, und daB es vor allem darum geht, gemeinsame Visionen sowie ein Forum für die Diskussion von mentalen Model­len zu schaffen. Es geht also vor allem urn die Verantwortlichkeit, in den Untemehmen ein Klima herzustellen, in dem die Mitarbeiter ihre Fähigkeiten kontinuierlich erwei­tem können. Anders ausgedrückt: die Verantwortung für das organisatorische Lemen liegt beim Management, nicht bei der Technik.

Die Organisationsmitglieder müssen nicht nur über fachliche Qualifikationen ver­fügen, sondem auch wissen, wo und wie sie sich weiterführende Erfahrungen oder Kenntnisse selbst beschaffen können. Untemehmen stellen in zunehmender MaB com­puterunterstützte Möglichkeiten zur Erweiterung des Wissens ihrer Mitarbeiter bereit. Und dies ist die Ebene, auf der die technische Unterstützung durch OMS ansetzt. Es handelt sich dabei überwiegend urn Software, mit deren Hilfe Lemprozesse unterstützt werden können. Gerade des wegen haben sich verschiedene Autoren (vgl. Greschner 1996, Götz & Häfner 1992, Brendel 1990, Freiblicher 1990) mit Untersuchungen über rechnerunterstütztes Lemen, computergestütztes Simulations- und Lemmodell-Instru­mentarium sowie die Explikation der mentalen Modelle beteiligter Entscheidungsträger beschäftigt. Vor allem die Explikation mentaler Modelle beteiligter Entscheidungsträ­ger ist wichtig geworden, denn sie stellt Denkfehler und Lembarrieren fest und wird damit zum Ausgangspunkt der Unterstützung von Lemprozessen im Rahmen der Be­wältigung komplexer Problemstellungen im strategischen Management (vgl. GeiBler 1995, S. 89; Senge 1990, S. 268).

AbschlieBend läBt sich feststeIlen, daB sich das organisatorische Gedächtnis bis­lang als inhomogenes "System" präsentiert. Neben unterschiedlichen Technologien

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Organisational Memory Systeme und Organisatorisches Lemen 233

und Informationssystemen ist es vor allem ein Netzwerk aus Personen. Bestimmte Fä­higkeiten und Dispositionen von Organisationen werden unmittelbar darnit in Verbin­dung gebracht. OMS, die darauf autbauen, gewinnen ihre Bedeutung auch durch die Rolle, die sie bei der Implementierung oder Umsetzung von Strategien spielen. Mit der technologischen Unterstützung können z.B. der KonsensbildungsprozeS und die rasche Diffusion von Wissen gefördert werden, Anforderungen, die heute besonders häufig gestellt werden. Notwendig ist daher die Verstärkung der Forschungsbemühungen zum organisatorisches Gedächtnis, urn einzelne Phänomene zu klären und eine bewuSte Gestaltung zu unterstützen.

Die Einsatzbereiche von OMS sind äuSerst vielfáltig und in den seltensten Fällen stabil oder gut strukturiert. Es handelt sich also urn Systeme, die mit den Anforderun­gen und Vorstellungen der traditionellen Systementwicklung nur schwer in Einklang zu bringen sind. D .h. es handelt sich eher urn Organisationsentwicklungsprojekte, für die technische Möglichkeiten und Hilfsmittel herangezogen werden. Organisational Memory Systeme werden daher auch in Zukunft kaum als Standardlösungen angebo­ten werden. Aufgrund ihres Beitrags zur Sicherung der Existenz und Überlebensfáhig­keit von Unternehmen bzw. der Entwicklung von entsprechenden Funktionen und Ei­gen schaf ten, wird die Bedeutung solcher Systeme in den kommenden Jahren jedoch enorm zunehmen.

OMS sind zwar kein Allheilmittel für aktuellen Probleme von Unternehmen und sie können auch den Erfolg eines Unternehmens nicht garantieren oder herbeiführen. Sie werden jedoch zu einem zunehmend wichtigen Baustein der modernen Organisationsar­beit, in der das organisatorische Lemen inzwischen einen festen Bestandteil bildet.

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Die Kommerzialisierung von Gefühlen im Kontext betrieblicher Personalentwicklung -Thesen zur Genese der Konvergenzproduktion

Barbara Röj1er

1. Einleitung

In Reaktion auf die zunehmende Unfruchtbarkeit der klassischen Instrumente des Tay­lorismus fordistischer Ausprägung zur Bekämpfung der Krisenmomente des Produk­tionsprozesses1, rückt ein formaier Wandel der Arbeitsbeziehungen in den Vorder­grund untemehmenskultureller Programmatiken. Mit dem Ziel, Produktivitätspoten­tiale auszuschöpfen, setzt sich in der Arbeitsorganisation ein anthropozentrischer Ent­wicklungspfad durch, der subjektivistische und emotionale Dimensionen zu integrieren und zu nutzen versucht (Teil2).

Die/der Arbeitnehmende kann auf drei Ebenen zu einer intensivierten Arbeitslei­stung veranlaBt werden: zum einen über Zwang, wie Entlassungsdrohungen, oder über materielle oder immaterielle Anreizsysteme, wie Lohn- und Aufstiegsversprechen bzw. die stärkere Berücksichtigung soziopsychischer Bedürfnisse. Diese Instrumente mögen dazu beitragen, die Kalkulierbarkeit der Arbeitsergebnisse zu erhöhen. Zu einer weite­ren Leistungssteigerung bedarf es jedoch auch der Bereitschaft der/des Arbeitnehmen­den. Urn diese Bereitwilligkeit zu mobilisieren, urn damit erweiterte Produktivitätspo­tentiale zu erschlieBen, ist eine ,dichtere' Annäherung an die Person und den Willen der Arbeitskraft erforderlich. Dies scheint - so die These - über den Zugang der Ge­fühle zu gelingen, über den auch die Möglichkeiten des Zugriffs auf die ,ganze' Person der/des Arbeitnehmenden zunehmen. Dieser Zugang ermöglicht es, Subjektivität und Gefühle als Arbeitsvermögen, als Ressource zu nutzen und damit zu ,kommerzialisie­ren', d.h. mit relativ kalkulierbarer Warenförmigkeit auszustatten.

Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise diese ,weichen' Dimensionen Berechenbarkeit annehmen, solI im dritten Teil theoretisch entwickelt werden. Auf­grund der besonderen Qualität von Gefühlen, diese mit (beliebigen) Inhalten codieren zu können, können nämlich erwünschte (untemehmenskulturelle) Konzeptionen bes ser durchgesetzt werden.

Über sozial erlemte Muster der Vergemeinschaftung sollen Unberechenbarkeiten bewältigt, Stabilität hergestellt werden und Strategien der aktiven Partizipation akzep­tabel erscheinen. Diese Illustration dient der Erläuterung diverser Praktiken der ,Do­mestizierung,2 von Gefühlen und Verhaltensweisen mit dem Ziel ihrer Instrumentali­sierbarkeit (Teil 4).

Diese manifestierten sich in den 70er Jahren in Form der Ölkrise, technischer und innovativer Defi­zite, zunehmender Arbeitskämpfe etc. (vgl. Hirsch 1985).

2 Domestizierung mei nt die Internalisierung external erwünschten Verhaltens und den AusschluB von U nerwünschtem.

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236

Abbildung:

Produktions­minel

Produktions­prozef3

Ware

Barbara Röj3er

Qua Vertragsverhältnis trägt die Arbeitskraft mit ihrem Arbeitsvermögen zum ProduktionsprozeB bei. Im Austausch gegen Lohn kann ihr Käufer über ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen. Die Be­sonderheit dieser Ware liegt darin, daB ihr Träger untrennbar mit ihr verbunden ist und an seiner Re­produktion existentielIes Interesse hat. Zwang und Anreizsysteme bilden herkömmliche Medien der relativ kalkulierbaren ErschlieBung von Produktivitätspotentialen. Gelingt es darüber hinaus, mit be­stimmten Inhalten besetzte Gefühlsmomente zu installieren und dadurch ,näher' an die Person heran­zutreten, ist damit eine zunehmende Berechenbarkeit auch der emotionalen und subjektiven Dimen­sionen (für erwünschte Betriebszwecke) erreicht und eine Bereitschaft zu Mehrarbeit konstituiert.

Das Wissen urn die Kontextbedingungen der instrumentellen Verwendung von Ge­fühlen läBt die in betriebspädagogischen Diskursen aufgestellte Konvergenzbehaup­tung ökonomischer und pädagogischer Rationalität bis zu einem gewissen Grad obsolet erscheinen (Teil 5): eine pädagogische Rationalitäe, die Mündigkeit und Autonomie zum Ziel hat, werde deckungsgleich mit einem ökonornischen Kalkül4 des skizzierten anthropozentrischen Personalmanagements. Die Konvergenz zwischen Untemehmens­zielen und der ,Aufwertung' der ganzen Person der/des Arbeitnehmenden wird der Ar­gumentation nach vermutlich zu einem beachtlichen MaB über das ,Medium' Gefühl konstruiert und wird als Konvergenz in erster Linie affektiv bloB so wahrgenommen. Welche pädagogische Konsequenzen sich aus dieser Interpretation ergeben, wird schlieB­lich in (Teil 6) diskutiert.

2. ,Anthropozentrische Arbeitsorganisationskonzepte'

Die Nutzung sog. ,weicher' Faktoren der menschlichen Arbeitskraft gewann in der personalpolitischen Geschichte der letzten achtzig Jahre als Instrument zur Kompensa­tion untemehmenspolitischer Krisen zunehmend an Relevanz. Damit ist die Bedeutung sozialer und emotionaler Momente zur Reduktion insbesondere hierarchischer Kon­flikte und zur ,ErschlieBung' ungenutzter Produktivitätspotentiale zum Gegenstand des Untemehmensinteresses geworden. Die Idee der Unternehmenskultur (vg!. Athos, Bendixen, Neuberger, Rosenstiel, Schreyögg, Waterman, u.a.) - nämlich subjektivisti­sche Momente auf verschiedenen Ebenen zur Steigerung der Effektivität nutzbar zu

3 Wie von Benner, Heid oder Mollenhauer forrnuliert 4 Unter kapitalistischen Bedingungen

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Kommerzialisierung von Gefühlen im Kontext betrieblicher Personalentwicklung 237

machen - greift die se Momente auf. Dies impliziert die Verbesserung zwischen­menschlicher Beziehungen und der Kommunikation, die Berücksichtigung soziopsy­chischer und emotionaler V oraussetzungen, die Harmonisierung von Konflikten aber auch, dem produktiven Potential von Subjektivität und Gefühlen Rechnung zu tragen. Dieses ,neue Arbeiten' unter dem Zugriff auf die Subjektivität und die Gefühle ist eine Reaktion auf das Problem der Transformation des konkreten Subjekts in eine ,effekti­ve' Arbeitskraft. In einem ,dichteren' Herantreten an den Willen und die Person wird­aus dem Spielraum arbeitsvertraglicher Regelungen heraus - eine innere Bereitschaft konstituiert, formale betriebliche Aufgabenstellungen nicht nur als ,Dienst nach Vor­schrift' zu begreifen, sondern vielmehr aus einer ,Leistung aus leidenschaftlicher Iden­tifikation' heraus zu erbringen. Diese innere ,Einsicht' ist mit der Wertschätzung der Möglichkeit gegenüber verbunden, entfremdeter Arbeit über die Integration von Sub­jektivitätsmomenten ,Ganzheitlichkeit' und Sinn zurückzugeben. Entsprechende als Humanisierung propagierte Politiken der aktiven Partizipation sind allerdings in ihrer Ambivalenz zu betrachten: einem tatsächlichen Zugewinn an Mitwirkungs- und Ent­faltungsmöglichkeiten, einem Autonomiegewinn, stehen die unbestreitbare Funktiona­lität und Leistungsintensivierung durch solche MaBnahmen und eine reale Subsumtion des ,general intellect' gegenüber. Zudem bedeuten diese Politiken, den "Antagonismus zwischen Hierarchie und Kooperation, zwischen Autonomie und Kommando auszulö­schen," der dann jedoch "auf höherer Ebene reproduziert (wird), indem er die Persön­lichkeit der individuellen Arbeiterin und des individuellen Arbeiters mobilisiert und sich ihr zugleich entgegenstemmt." "Das bedeutet soviel wie die Persönlichkeit und Subjektivität zur Disposition zu stellen und zum Gegenstand des Kommandos zu ma­chen. Qualität wie Quantität der Arbeit werden rund urn ihre Immaterialität organi­siert" (Lazzarato 1998, S. 4lf., Hervorhebung B.R.). Mit diesem leistungspolitischen und -verdichtenden Zugriff verbunden sind, wie vielfach nachgewiesen (vgl. Böhle, Marstedt, Schumann, Parker & Slaughter), multiple gröBtenteils psychisch bedingte Belastungssyndrome. Zeitökonomische und arbeitsorganisatorische Rationalisierung, gestiegene Anforderungen durch flexibilisierte und mehrdimensionale Mitwirkung und Verantwortungsübertragung innerhalb eines vergemeinschafteten Verpflichtungskon­textes, erweiterte Kontrollformen, eine verschärfte horizontale Konkurrenzsituation, Druck zu freiwilliger Mehrarbeit u.s.w. verursachen soziale Kosten, die sowohl indivi­duell kompensiert als auch volkswirtschaftlich - das offensichtlichste Beispiel dafür ist das Phänomen des ,karoshi', Tod durch Überarbeitung, im japanischen Fall - getragen werden müssen.

Partizipatives Management ist seit den 20er Jahren5 die Machttechnik, Subjektwer­dung zu konstituieren und zu kontrollieren und damit Subjektivität in eine ,Verkäuflichkeit' zu transformieren, ihr Warencharakter zu geben. Erst seit dem Toyo­tismuslLean Management (vgl. Revelli, Cattero) wird durch abgeflachte Hierarchien, durch semi-autonome, polyvalente Gruppen, durch neue Klassifikations- und Lohnsy­steme und die Umverteilung der Autoritätsformen die tayloristische Produktionsweise deutlich modifiziert: Die Notwendigkeit zur Effektivierung der produktiven Wert­schöpfungskette (auf Grund der Konkurrenz- und Krisensituation im Westen bzw. auf

5 Die ,Human-Relations-Schule' erkennt bereits in den 20er Jahren Subjektivität und Gefühle als hand­lungsleitendes Motiv und war deshalb bestrebt, Konflikte zu harmonisieren und Dimensionen der ,ganzen' Person in den ProduktionsprozeB produktiv zu integrieren.

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238 Ba rba ra Röj3er

der Grundlage eines geringen Kapitalstocks wie im japanischen Kontext) und das im­plizierte Bestreben urn weitgehende Kostenreduktion - vor allem der nicht-produktiven Bereiche, wie bspw. personaler und technischer Kontrolle, Planung oder Zulieferung -erklären die zentrale Bedeutung von Verschlankungsstrategien vor allem eben ge­nannter Bereiche über die Instrumente des ,Kaizen' - des permanenten Verbesserungs­prozesses -, der ,Just-in-Time'-Produktion und der Gruppenarbeit6 ; Instrurnente, die Produktivität und Flexibilität garantieren sollen. Dies fordert und fördert ein Ver­pflichtungsgefühl sowie mehrdimensionale Kompetenzen und aktive Teilnahme der Arbeitnehmenden. Jede/jeder Einzelne ist innerhalb geforderter innerer und zum Teil auch äuBerer Uniformierung qua untemehmenskultureller Sinnstiftung in besonderem MaB auf ihr/sein individuelles Subjektivitätspotential zum Zweck seiner Nutzung für das Untemehmen verwiesen. Die Domestizierung von Ideen zur Verbesserung des Produktionsprozesses oder die Fähigkeit, sozial kompetent Kooperation und Kommu­nikation in der Gruppe zu mei stem, vergröBert die Identifikationswahrscheinlichkeit mit dem Untemehmen. Neben materieller Beteiligung und symbolischer Sinnstiftung erweist sich die "Kombination aus lebenslanger Beschäftigungsgarantie und firmenin­temer Ausbildung ... als wirkungsvolles Instrument" (Steinkühler 1995, S. 44) zu ei­nem aktivenfirmenbezogenen Engagement.

3. Theoretischer Deutungsversuch

Anthropozentrische Arbeitsorganisationskonzepte verfolgen die Strategie, durch einen immer perfekteren Zugriff auf die gesamte Persönlichkeit der Arbeitskraft den nicht­rationalisierten Charakter von Subjektivität über die Installierung einer Unterneh­menskultur in eine kontrollierbare und kalkulierbare Dimension zu transformieren und damit zu domestizieren. Subjektivität und im besonderen Gefühle fungieren darin ge­rade wegen ihres amorphen Charakters als ,Medium' dieser Strategie. Indem versucht wird, über die ,ErschlieBung' von Subjektivität und Gefühl ,dichter' an die Person her­anzutreten, gelingt es, neben der notwendig zu erbringenden betrieblichen Arbeitslei­stung freiwillige Mehrarbeit zu gewinnen und zunehmend Gefühl als berechenbare Ka­tegorie zu konstituieren. Dies geschieht vor dem Hintergrund, daB der emotionalen Di­mension - unter der Voraussetzung eines sozio-historischen Prozesses der Dualisie-

6 Konstituierende Idee der Gruppenarbeit ist die Subjektorientierung, in der durch Verantwortungs­übertragung bisher brachliegende fachliche und soziale Fertigkeiten zur F1exibilität und Produktivität gefordert sind und damit entfremdeter Arbeit Identifikationswahrscheinlichkeit zurückgegeben wird. Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit forciert Synergieeffekte und fördert Identifikation und Kon­sens und ist gepaart mit formaIer Dehierarchisierung Teil einer Strategie zur Produktion von subjek­tiv empfundener Konvergenz. Als integrierte Subjektivität in Form von Gruppenarbeit gegossen, bleiben die "täglichen Übungen in den Fächern Selbstverleugnung und Identifikation mit der Gruppe ... keinem erspart" (Pohrt 1997, S. 36). Eine direkte KontrolIe des Kapitals wird durch Strategien einer ,selbstgesteuerten' Eigenkon­trolIe abgelöst. Diese neue (hierarchieunabhängige) Kontrollform bietet einen leistungspolitischen Zugriff auf die Arbeitskraft, die neue (psychosomatische) Belastungssyndrome entstehen läBt. Wer gezwungen ist, auch seine Subjektivität der Verkäuflichkeit zu unterwerfen, ist eines vertieften Zu­griffs auf ein weiteres Reservat menschlicher Autonomie ausgesetzt. (vgl. Sen net 1998)

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rung von Rationalität und Gefüht - eine ,eigenständige' Hypostasierung zugesprochen wird. Diese historisch generierte Polarisierung suggeriert eine Eigenständigkeit von Gefühlen, denen damit gleichzeitig die Notwendigkeit einer rationalen Kontrollinstanz über ihre lnhalte abgesprochen wird. Das Individuum ist dann auf eine Instanz zu­rückgeworfen, die scheinbar kompetent ist, dem Wahrheitsgehalt eines Gegenstandes nachzuspüren bzw. den ProzeB der Herstellung eines bestimmten Gefühls verborgen zu halten. Andererseits werden bestimmte Gefühle aktualisiert und re-thematisiert. Sie werden herausgegriffen und mit erwünschten Inhalten besetzt. In diesem Sinn sind Ge­fühle ein effektives ,Medium', an der Schnittstelle zu nicht mehr allein über Rationa­lität Durchsetzbarem, diese zu re-thematisieren, das heiBt zu instrumentalisieren. ,Ist' ein Gefühl konstituiert, ist es tendentiell der Unhinterfragbarkeit übergeben und ein verstandesmäBiger Zugang erschwert. Damit einher geht die Entkopplung von Gefüh­len und analytischem Diskurs, das heiBt, alles, was sich auf der Gefühlsebene bewegt, wird zu einem unhinterfragten und undiskutierbaren8 Moment. Jeglichem Diskurs in­nerhalb des Feldes der von Rationalität ,abgetrennter' Gefühle, der vorhandene Ge­fühle in Frage stellt oder eine Auseinandersetzung darüber fordert oder anregt, wird so die Vemunftbasis entzogen. Denn ein Streit über die Qualität der Gefühle findet dann lediglich auf der Ebene der subjektiven Wahmehmung statt und akzeptiert keine exter­nalen, also rationalen Instanzen. Umgekehrt ist diese Dichotomisierung ein ,fruchtba­rer Boden' dafür, einen Gegenstand mit Gefühlen nahezu beliebigen Inhalts zu beset­zen. Das heiBt, indem ein Gegenstand auf die Gefühlsebene transformiert wird, zu ei­ner Gefühlskategorie gemacht wird, ist ihm die rationale Hinterfragbarkeit entzogen. Dieses von Rationalität ,abgetrennte' Gefühl verstärkt die Möglichkeit seiner ,Domestizierung' und Kontrollierbarkeit. Damit erhalten (beliebige) Inhalte, sind sie erst einmal zum Gefühl transformiert, Gü1tigkeit und entziehen sich ihrer rationalen Reflektierbarkeit. Oder anders formuliert: die Codierbarkeit der Gefühle läBt eine (be­liebige) Inhaltsbesetzung von Gefühlen zu, wodurch diese erst zu einem verkäuflichen Teil der Ware Arbeitskraft werden können. Erst dann kann von Kommerzialisierbar­keit und der ,Kommerzialisierung von Gefühlen' gesprochen werden, wenn die "neue, die informationelle und kulturelle Dimension der Ware hervorbringende Qualität der Arbeit" (Lazzarato 1998, S. 39) nutzbar ist. Diese Form ,immaterielIer Arbeit' impli­ziert die umfassende Durchdringung und Nutzung der/des Arbeitnehmenden im Inter-

7 Kant konstatiert die Notwendigkeit der Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Verstand, "urn die Herrschaft der Vernunft zu retten". Demnach gehört die Einbildungskraft als empirisches Vermögen zur Bestialität im Menschen. Im Streben nach Autarkie ist Kant darum bemüht, sein sinnliches Da­sein zu desensibilisieren und polizeiförmiger KontroIIe zu unterwerfen. Seine Diätethik besteht in KontrolIe und Gängel. Seine Freiheit in KontroIIe und Entsinnlichung. (vgl. Böhme & Böhme 1985, S. 442) Der Grund liegt darin, daB nach Kant Autonomie - nämIich allein von der Vernunft bestimmt und durch die Vernunft unabhängig zu sein - die Weisung des Menschen ist und Triebe, Affekte und Imagination als das ,Andere' der Vernunft autonomiegefàhrdend sind und also verdrängt, unterdrückt und kontrolIiert werden müssen.

8 Diese Behauptung schei nt VOf dem Hintergrund unplausibel, da es wohl kaum ein breiter diskutiertes Thema gibt, als Gefühle. leh betrachte Gefühle aber nicht als tabuisiert, sondern bezweifle ledigIich, daB deren rational-reflektierte Bearbeitung praktiziert, das heiBt, daB ein kritischer Diskurs darüber geführt wird. Dieser wäre nämIich notwendig, urn die Gefahr der InstrumentaIisierung von Gefühlen zu reduzieren. Andererseits soli das nicht heiBen, daB der gesamte Gefühlsbereich wissenschaftIicher Rationalität untergeordnet werden soli. Diese dient vielmehr lediglich als Hilfsmittel zur Interpretati­on von solchen Gefühlen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu gesellschaftIichen Zusammenhän­gen stehen.

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esse des Untemehmens. Eine ,Kommerzialisierung der Gefühle' und damit die relative Kalkulierbarkeit und ökonomische Nutzung von Gefühlen fungiert quasi als ,Brücken­schlag' zum Willen bzw. zur Person der/des Arbeitnehmenden. In ihrer Konsequenz bedeutet dies, Gegensätze einzuebnen, Konflikte zu reduzieren und Produktivitätspo­tentiale zu erschlieBen.

4. Soziale Muster

Über untemehmenskulturelle Praktiken kann auf sozial erlemte Muster zurückgegriffen werden, urn darüber eine Domestizierung und Kommerzialisierung bestimmter Gefühle zu erreichen und erwünschte Handlungs- und Verhaltensweisen sowie Einstellungen zu manifestieren. Diese wurden bereits in anderen Kontexten eingeübt und können auf den ProduktionsprozeB übertragen werden. Exemplarisch sei hier der ProzeB der Vergemein­schaftung genannt. Die Konstruktion von Gemeinschaft bzw. die mehr oder weniger auf der Basis von Übereinstimmung funktionierende Herstellung "subjektiv gefühlter ... Zu­sammengehörigkeit" (Weber 1985, S. 21) aller am Untemehmen Beteiligten verspricht eine Antwort auf das Problem, eine Steigerung der Leistungsprozesse erreichen zu wol­len. Dieser ProzeB der Vergemeinschaft gründet auf einem Geflecht vielfältiger Pakte und Praktiken zwischen Management und Belegschaft und fungiert als Instrument der Erzeugung von subjektiv gefühlter Partnerschaft innerhalb einer vergemeinschaftenden Personalpolitik9• Identifikatorische Prozesse der Intemalisierung ,gemeinsamer' Werte und Normen konstituieren eine gefühlsmäBig begründete gemeinschaftliche Verpflich­tung und forderen somit auch eine effektive vertikale Konfliktreduktion lO• Die Konstruk­tion von Gemeinschaft bedeutet eine Eingliederung der Subjektivität und der Subjekte in die Verbindlichkeit der Gemeinschaft, urn die Freiheit und Ungebundenheit der Ware Arbeitskraft mit Loyalität auszustatten. Über den Umweg der Selbstkontrolle, Selbstver­antwortung und Selbstbestimmung innerhalb adaptierter Logiken einerseits und des Ver­antwortungsbewuBtseins und der Opferbereitschaft qua Gemeinschaftsgefühl andererseits werden Subjektivität und Persönlichkeit erzeugt und sozialisiert und darnit der Nutzung zugänglich gemacht. Im vergemeinschafteten Individuurn, das über den ProzeB der Ver­gemeinschaftung subjektiv eine Verschmelzung von Fremd- und Eigeninteresse empfin­det, werden störende Momente zurückgedrängt und für den ProduktionsprozejJ schöpferi­sche Kräfte ermuntert. ,Autonomie' und Handlungsfreiheit kann darin umso absoluter gewährt werden, je vollständiger die Übemahme vorgegebener Logiken stattfindet. Diese Integration von Virtuosität und individuellen Fertigkeiten in Untemehmenszwecke be­deutet in diesem Sinn deren ,Domestizierung' über Vergemeinschaftungsprozesse bzw. über die Balance, Autonomie zu gewähren und gleichzeitig Macht nicht zu gefáhrden. Die in der postfordistischen Ära perfektionierte Übertragung des familialen Gemein-

9 Alain Lipietz möchte der Dualität von lndividuität und Strukturalität gerecht werden und skizziert die Struktur, das Geflecht sozialer Prozesse als "nichts anderes als eine Konzeptualisierung der beob­achteten Kompatibilität individueller Entwicklungslinien" und verwendet dafür die "Metapher des Kettfadens (Reproduktion der Verhältnisse) und des Schussfadens (individuelle Entwicklungslinien), die gemeinsam einem Gewebe Konsistenz geben" (Lipietz 1998, S. 110).

10 Eine Gemeinschaftsbildung intendiert zwar eine vertikale Konfliktreduktion, kann aber gleichzeitig die Produktion atomisierter Konkurrenten forcieren.

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schaftsmodelIs auf den Betrieb als ,totale Institution' (vgl. Goffman) - der vormals als ge­sellschaftliches Verhältnis funktionierte und in dem Prozesse der Aushandlung und der Konfliktualität legitim waren - zeichnet in besonderem MaSe diesen Mechanismus: Die Durchsetzung eines handlungsleitenden universalen Normen- und Einstellungssystems innerhalb gesetzter Grenzziehung mit informalen vertikalen Solidaritäten 11, persönlicher Verbundenheit und wechselseitiger Abhängigkeit bedeutet eine Domestizierung und Ver­einheitlichung von Verhaltensweisen und Einstellungen. Subjektivität - als Vorausset­zung von Identifikationsprozessen - muS, folgt man der Logik, gewährt und genutzt wer­den und dabei mit betriebswirtschaftlicher Rationalität kompatibel gemacht werden.

Zu einem wissenschaftlich fundierten Ansatz kristallisiert, fixiert sich die Kon­struktionsbemühung von Gemeinschaft schlieBlich in der Diskussion urn Unterneh­menskultur. Bezogen auf Beschäftigungsverhältnisse liegt das Typische der Unterneh­menskultur darin, die Trennung von Person und Arbeitskraft zunehmend aufzuheben und durch ,symbolisches Management' auf sogenannte ,weiche' Faktoren wie Werte, Gefühle und Einsichten abzuzielen. Damit sollen ungenutzte Potentiale zugänglich gemacht, Subjektivität eingebunden und konfliktorische Momente und Unberechenbar­keiten eliminiert werden. Im Sinne Gertrude Krells läSt sich diese Tendenz weniger als Entfaltungsgewinn für die Beschäftigten als vielmehr als Re-Feudalisierung bezeich­nen, denn eine Kultur der Anbindung an das Unternehmen eliminiert gewonnene Frei­heiten. Ebenso kritisiert sie eine (undemokratische) Re-Moralisierung durch eine bei­nah totale Unterwerfung unter eine gemeinsame genormte Lebensform und ei ne Re­Mythologisierung, in der der Gewinn der Aufklärung, die ,Entzauberung der Welt', wieder rückgängig gemacht wird, Symbolik ei ne Renaissance erlebt und damit eine Transformation von Gefühlen und Werten erzielt wird.

Entstehen Abweichungen von diesem sozialen Muster der Vergemeinschaftung als Programm der Vereinheitlichung und Domestizierung von Verhaltensweisen und Ein­stellungen, führen diese zur Krise dieser Ordnung, regulationstheoretisch gesprochen zum Verlas sen des ,Regimes'. Es steUt sich das Problem der Regulation, d.h. ein Ge­flecht von Normen muS wiederhergestellt und Divergenzen daran angeglichen werden. Es werden Konvergenzen erzeugt, die sich - wie oben beschrieben - über eine Codie­rung von Gefühlen herstellen lassen.

5. Die Genese subjektiv empfundener Konvergenz

An der Stelle greift pädagogische Skepsis, die dieser aus Vergemeinschaftungsprozes­sen erwachsenden und gefühlsmäSig konstituierten Konvergenzbehauptung - der per­sönliche und der ökonomische Nutzen entsprächen sich und stünden nicht im Wider­spruch zueinander - ein Wissen urn die Genese und Funktion von Gemeinschaft und von subjektiven Deutungen entgegensetzt. Die in den 80er Jahren in den USA erschie­nene Untersuchung von Arlie Russel Hochschild thematisiert bereits den durch die Fä­higkeit der situativen Gestaltbarkeit von Gefühlen und durch die Internalisierung von

II Sie sind deswegen vertikal. weil diese Solidaritäten allein zu dem Zweck zulässig sind. ein leitendes Unter­nehmensziel zu verfolgen; horizontale Solidaritäten können dieses Kriterium oftmals nicht erfüllen. da sich die Interessen der abhängig Beschäftigten und die des Unternehmens oftmals diametral gegenüber stehen.

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Mustern und Werten ermöglichten Verkauf von Gefühlen im Dienstleistungssektor und zeigt dies am Beispiel der Investition emotionaler und sozialer Ressourcen im Ar­beitsalltag von FlugbegleiterInnen. Sie betont darin die Diskrepanz zwischen dem for­malen und dem faktischen Charakter der (Gefühls-) Arbeit, zwischen ihrem vorgebli­chen Nutzen und den tatsächlichen Kosten für die Arbeitnehmenden, auf deren Verne­belung ei ne ,Politik der verbesserten Bedingungen' fuGt und äuBert damit Skepsis ge­genüber der allzu positiven Deutung derartiger personalpolitischer Veränderungen und der Ignoranz gegenüber daraus erwachsenden Belastungen.

Diese Ergänzung der Kopf- und Handarbeit durch die (emotionale wie intellektuel­Ie) Subjektivität und Virtuosität der Arbeitskraft kann - so behaupten Anhänger der Konvergenzthese - mit den Charakterisierungen Subjektorientierung und Persönlich­keitsentfaltung positiv konnotiert werden bzw. - von Seiten emanzipativ motivierter Theoretiker - im Glauben an die Autonomie der intellektuellen oder emotionalen Ar­beit als Zugewinn von Gestaltungsfreiheit und Mitbestimmung interpretiert werden. Damit wird aber - meines Erachtens - gerade der Prozej3 der Codierung der Persön­lichkeit ausgeblendet und der Latenz faktisch zunehmend effektivierter Kontrolle über bislang nichteingebundene Dimensionen und deren perfektionierte Nutzung Vorschub geleistet. Konsequenz aus dieser konstruktivistischen Deutung des Vorfindbaren ist die Infragestellung lediglich empfundener Konvergenz: die subjektiv gefühlte Zusammen­gehörigkeit einer Gemeinschaft ermöglicht die Produktion des Gefühls gemeinsam ge­tragener Interessen, Einstellungen und Verhaltensmuster. Sie produziert auch das Ge­fühl eines Autonomiegewinns (wenn auch nur) innerhalb gemeinsam geteilter (Unter­nehmens-)Logiken, das jedoch die Tatsache amorph werden läGt, wer die Träger der Entscheidung für die jeweiligen Logiken sind. Die Qualität der Konvergenz ist unter pädagogischem Gesichtspunkt jedoch daraufhin zu prüfen, welchen Gestaltungsanteil die Subjekte in dieser gemeinschaftlichen Verbindung innehaben und in welchem Aus­maG und in welchen Bereichen die individuellen Kosten im Vergleich zum betriebs­wirtschaftlichen Nutzen daraus angesiedelt sind. Diese oben beschriebene Persönlich­keitsorientierung bedeutet einen erweiterten Zugriff auf Dimensionen der Subjektivität, d.h. die gesamte Persönlichkeit wird auf den Horizont der Betriebslogik hin neu defi­niert. Subjektiv kann dies als Erweiterung der Anerkennung subjektiver individuelier Qualitäten für den ProduktionsprozeB gewendet und empfunden werden. Die Genese eines Gefühls, das diese Interpretation produziert, steht dabei jedoch im Fokus pädago­gischen Interesses.

Über die oben skizzierte historische Polarisierung von Verstand und Gefühl erklärt sich diese Entrationalisierung, d.h. die spezifische Nicht-Diskursivierbarkeit von Ge­fühlen. Durch diese Dualität: Rationalität - Irrationalität erhalten zunächst dichotomi­sierte, später wieder zu bestimmten Zwecken kanalisierte und domestizierte soziale Tatsachen suggestiv ihre Faktizität als Objektivität. Über diese These eröffnet sich ein Zugang zu der Auffassung, es handle sich urn eine tatsächlichel2 Konvergenz. Diese scheinbar tatsächliche Konvergenz ist vor diesem Hintergrund jedoch nichts anderes als eine behauptete Konvergenz, die eine produzierte und konstruierte und durch den spezifisch gesellschaftlichen Umgang mit Gefühlen als etwas Unhinterfragbares auch

12 Auch eine lediglich empfundene oder scheinbare Konvergenz ist eine tatsächliche; doch soli hier die Unterscheidung gemacht werden zwischen einer empfundenen bzw. scheinbaren und einer intersub­jektiv und rational nachvollziehbaren Konvergenz, die dann tatsächliche hei Ben soli.

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ei ne durchsetzbare ist. Das Individuum ist dann auf eine Instanz zurückgeworfen, die scheinbar kompetent ist, einem geitenden Wahrheitsgehalt nachzuspüren und den Pro­zeB der Herstellung eines bestimmten Gefühls verborgen hält. Jeglicher Diskurs inner­halb des Feldes der von Rationalität, Reflektierbarkeit und Aushandelbarkeit ab ge­trennten Gefühle, der vorhandene Gefühle in Frage stellen oder eine Auseinanderset­zung darüber fordern oder anregen könnte, läuft somit ins Leere. Anders betrachtet, stöBt die Möglichkeit der Besetzung von Rationalität ,getrennter Gefühle' mit beliebi­gen Inhalten von anerkannten Autoritäten auf ,fruchtbaren Boden'.

Gefühle sind ein äuBerst effektives ,Medium', an der Schnittstelle zu nicht mehr allein über Rationalität Durchsetzbarem diese zu re-thematisieren, zu codieren und damit instrumentalisierbar zu machen, z.B. indem aus oben beschriebener Tendenz zur Subjektorientierung eine Konvergenzbehauptung abgeleitet wird. Gefühle erweisen sich, sofern sie in modernen Gesellschaften als Kontradiktum zu Rationalität stehen, als besonders geeignet, Unhinterfragbarkeit und unreflektierte Handlungsübernahme zu garantieren l3 • Zum Beispiel gelingt gerade durch die Leerformelhaftigkeit (vgl. Schmid) betriebsstrategischer Artikulationen (z.B. ,Unternehmenskulturen') eine Iden­tifikationsproduktion zum Zweck der Leistungs- und Effektivitätssteigerung, gelingt eine Gefühlsproduktion mit ihrer jeweils erwünschten Ausdeutung (durch jeweilige Definitionsmächtige). Weder eine Orientierung auf eine selektiv zugegriffene Subjekti­vität noch die subjektiv generierte Bereitschaft zur Akzeptanz betrieblicher Ansprüche von Seiten der Arbeitnehmenden können zum alleinigen Maj3stab der Beurteilung der Qualität von Konvergenz erhoben werden, vielmehr ist es tautologisch, über Konver­genzpolitiken suggerierte subjektive Konsensbekenntnisse als Prüfmaj3stab für tat­sächliche Konvergenz heranzuziehen und damit letztendlich Funktionalisierungen der pädagogischen Problematisierung zu entheben. Die Konvergenzbehauptung selbst schafft einen sozialen Rahmen, in dem sich das Fühlen der Arbeitnehmer (trans-)for­miert und so entwickelt, daB diese schlieBlich verstärkt Betriebszwecke zu ihren ge­nuin eigenen Bedürfnissen interpretieren.

6. Pädagogische Konsequenz

Wenn Konvergenz behauptet wird, in der Form nämlich, daB sich bestimmte Dimen­sionen der eingebrachten Tätigkeiten und Fertigkeiten sowohl unter ökonomischer Ra­tionalität als auch unter pädagogischer Rationalität entsprächen, scheinen die se emo­tionalen und intellektuellen Dimensionen vorgegebenen Verkäuflichkeitskriterien un­terworfen zu sein und lediglich vor diesem MaBstab ökonomischer Rationalität zu ent­sprechen. Die Konvergenzbehauptung wird somit tautologisch bzw. unscharf. Konver­genz findet sich nämlich kaum darüber hinaus, z.B. vor der Folie pädagogisch rele­vanter Kriterien einer kritischen Tradition, die den Nutzen der Subjektorientierung an

13 Gerade zum Beispiel in bezug auf die Liebe wirkt der entrationalisierte Umgang mit Gefühlen begün­stigend, urn eine spezifische Form der Liebe zu einer universalen, zu einer anthropologischen Kon­stante zu erheben und damit deren Gestaltbarkeit zu leugnen, ohne damit breite Skepsis zu provozie­ren. Die Trennung von Rationalität und lrrationalität gilt darin vielmehr als notwendig und ,fort­schrittlich' .

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der individuellen Entwicklung nach pädagogischen Kriterien messen müBte - und zwar auch unabhängig von ihrer betriebswirtschaftlichen Verwertbarkeit. Autonomie und Mündigkeit müBten innerhalb einer kritischen Pädagogik am MaBstab des Subjekts gemessen werden, die Kosten dieser ,Kommerzialisierung der Gefüble' - auch die la­tenten und indirekten - müBten offengelegt und deren Ursachen verhindert werden. Für eine sozialtechnische Pädagogik, die sich in erster Linie an der Präparierung der Indi­viduen zur Erfüllung gestellter Aufgaben orientiert, stellt sich die Konvergenzfrage gar nicht, denn dort stellt die Pädagogik von vomherein keine eigenen Ziele, sondem ver­steht sich als Instrument, als Expertise für die vom Betrieb vorgegebene Bildungsar­beit. Empfundene Konvergenz erklärt sich jedoch aus der Genese dieses Gefühls, das vielfältigen Prozessen der Vergemeinschaftung und Domestizierung unterliegt. Diesen ProzeB zu dechiffrieren wäre Aufgabe der Pädagogik.

Für eine Pädagogik, die Mündigkeit und Selbstbestimmung anzielt und sich nicht sozialtechnisch versteht, ginge es darum, die Behauptung der Subjektorientierung, auf der die Konvergenzbehauptung fuBt, zu hinterfragen und Konzeptionen zur Persona­lentwicklung diesbezüglich auf ihre Stimmigkeit und ihre Aussagekraft hin zu untersu­chen. Das Individuum muB in diesem Sinn dazu befàhigt werden, Diskursfàhigkeit be­züglich seiner Bedürfnisse und Deutungen sowie Urteilskompetenz zu entwickeln. Da­für muB dem Individuum ein Wissen urn die ökonomischen Bedingungszusammen­hänge und die Prozesse der Konstituierung von subjektiven Deutungen, Empfindungen und Bedürfnissen bereitgestellt werden, urn diese dafür zu sensibilisieren und mit Kompetenz auszustatten. Eine kritische Pädagogik muB darin die Bedingungen der Verwendung von Gefühlen - und speziell zum Zweck der Produktion einer subjektiv gefühlten Konvergenzbeziehung - thematisieren: nämlich zum einen die intraperso­nellen, wie eine Person zu ihren Empfindungen, zu ihren Interesse kommt, und zum anderen die Anforderungen des Betriebs an die Subjekte. Die Entscheidung für eine zutreffende Interpretation eines als konsensual behaupteten Verhältnisses muB letztlich dem Individuum überlassen bleiben.

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Kapitel4: Evaluation

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Evaluation Diagnose oder Therapie

Michael Henninger

Einführung und Definitionsversuche

Evaluation, der lateinische Begriff für Bewerten, ist in seiner Bedeutung viel schichtig und in seiner Verwendung auBerordentlich vielfältig. So beginnt auch das erste Kapitel des deutschen Evaluations-Lehrbuchs von Heinrich Wottawa und Heike Thierau (1990; 1998) mit der Unterüberschrift "Definitionsversuche" von Evaluation. Zu groG erscheint diesen Autoren die Menge möglicher Interpretationen von Evaluation, als daB es eine allgemeingültige Definition geben könne. Diese Definitionsversuche reichen von der Auffassung, "Evaluation sei jegliche Art der Festsetzung des Wertes einer Sa­che" (Scriven 1980), bis hin zur wissenschaftlichen Definition von Rossi, Freeman & Hofmann (1988): "Evaluationsforschung ... als systematische Anwendung sozialwis­senschaftlicher Forschungsmethoden zur Beurteilung der Konzeption, Ausgestaltung, Umsetzung und des Nutzens sozialer Interventionsprogramme" (S. 3). Dieser Definiti­on nicht sehr entfemt formuliert Suchman (1967) "Evaluationsforschung als die expli­zite Verwendung wissenschaftlicher Forschungsmethoden und -techniken für den Zweck der Durchführung einer Bewertung".

Bei genauer Betrachtung sind bei den Definitionen wichtige Nuancierungen fest­zustellen, Rossi & Freeman (1993) sprechen von Evaluationsforschung, Scriven (1980) von Evaluation. Suchman hat zu dieser Trennung 1967 einen Systematisierungsver­such untemommen, der Evaluation als ProzeB der Beurteilung eines Produktes oder Programmes bezeichnet, welche nicht unbedingt des Einsatzes wissenschaftlicher Ver­fahren bedarf. Gerade diese sind es, die den Charakter der Evaluationsforschung aus­machen. Sie ist gleichsam eine Evaluation, die durch explizite Verwendung wissen­schaftlicher Forschungsmethoden und -techniken die Möglichkeit des Beweises an­stelle der reinen Behauptung betont (Wottawa & Thierau 1990).

Evaluation ist aber nicht nur ein Thema für Institutionen oder die Wissenschaft. Auch im Alltag findet permanent Evaluation statt. Es ist sogar so, daB die häufigste und oft genug auch wenig einfühlsame Bewertung von Verhaltensweisen im Alltag stattfindet. Rückmeldungen über eigenes oder fremdes Verhalten, die Bewertung oder Beurteilung reaier oder antizipierter Vorstellungen beeinflussen unser Handeln. Wobei die den Rückmeldungen zugrundeliegenden Daten im Alltag selten gezielt und metho­disch eingeholt werden. So greifen selbst die Vertreter der Evaluationsforschung bei so wichtigen Dingen wie der Partnerwahl vermutlich eher selten zu wissenschaftlich fun­dierten Diagnose-Instrumenten wie Persönlichkeitstests, sondem verlassen sich auf ihr subjektives oder intuitives Werturteil. Diese Strategie ist auch häufig bei der Einschät­zung eigener Lehrveranstaltungen anzutreffen. Rational kann diese Strategie zumindest in dem Sinne begründet werden, als der zu beurteilende Gegenstand hoch komplex und

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das Urteil von so vielen Faktoren abhängig ist, daB ein systematischer Gewinn von Daten nur eingeschränkt möglich ist. Darüber hinaus ist das Geschehen im Bereich der Lehre nicht so vo11ständig planbar, wie man es noch zu Beginn der "Evaluationseupho­rie" in den sechziger Jahren gedacht hat. Ob Evaluation aber letztlich nur für die Klä­rung der Frage tauglich ist, welche LehrmaBnahme die beste ist, wie es beispielsweise Wottawa (1994) beschreibt, oder Evaluation selbst als eine den LehrprozeB beeinflus­sende MaBnahme thematisierbar ist, sol1 im folgenden erörtert werden. Nach einem kurzen anekdotischen Rückschau wird ein Blick in die Zukunft der Evaluationsfor­schung geworfen und eine handlungstheoretische Formulierung und deren Implikatio­nen für ein Klassifikationssystem (Evaluationskubus) von Evaluationsforschung vorge­ste11t.

Ein kurzer Bliek zurüek

Wie so häufig beim Blick zurück in die Geschichte, bleiben auch bei einer historischen Rückschau in die Evaluationsforschung die griechischen Philosophen nicht unberück­sichtigt. Schon Aristoteles habe die empirische Nutzenbestimmung zur Bewertung ge­se11schaftlich relevanter MaBnahmen, in seinem Fa11e insbesondere jene, die die staatli­che Organisation betrafen, eingefordert. Diakrineia - altgriechisch: das Bewerten -sol1te zu einer objektiveren Haltung gegenüber Veränderungen führen (Wottawa & Thierau 1990).

Aber auch die frühe Seefahrt habe - alten Überlieferungen zu folge - sich bereits wissenschaftlicher Verfahren zur Wissensgewinnung bedient: Die Erkenntnis, daB Vit­amin C Skorbut zu verhindem vermag, geht - so wird berichtet - auf ein Kontro11-gruppendesign zurück. So sol1 ein nicht genannter Kapitän einem Teil seiner Mann­schaft den Konsum von Zitrusfrüchten, dem anderen die übliche Nahrung verordnet haben. Es zeigte sich das heute a11seits bekannte Phänomen, daB der GenuB von Zitrus­früchten zu einer Verhinderung von Skorbut führt. Welche Konsequenzen dieses Ver­suchsdesign für den Evaluator (d.h. den Kapitän) hatte, blieb leider offen, sicher ist je­doch, daB die Forderung nach einer robusten Psyche als Grundvoraussetzung für Eva­luatoren (Wottawa & Thierau 1998) in diesem Fa11 noch urn den Aspekt der körperli­chen Robustheit ergänzt werden kann.

Der Beginn der systematischen Erhebung von Daten zum Zwecke der Bewertung einer Sache (Evaluation) wird im a11gemeinen jedoch nicht in der Seefahrt, sondem vielmehr in den Vereinigten Staaten gesehen. Dort wurde während des Zweiten Welt­krieges begonnen, MaBnahmen wie beispielsweise die Propaganda auf ihre Wirkung hin zu untersuchen. Nach dies er kurzen Phase intensiver Nutzung von systematischer Evaluation begann dann im Jahre 1965 der eigentliche Höhenflug evaluatorischer Be­mühungen. Ähnlich wie im Zweiten Weltkrieg befanden sich die USA in einem Wett­kampf mit einem politischen System, in diesem Fa11 der UdSSR. Noch gezeichnet von dem sogenannten Sputnik-Schock, wurden die Bemühungen urn eine Verbesserung der Ausbildung und Forschung erheblich erhöht. Urn sicherzuste11en, daB die dafür bereit­gestellten finanzie11en Mittel auch sinnvo11 eingesetzt sind, wurde vom damaligen Ver­antwortlichen in der amerikanischen Regierung McNamara das PPBS-System instal­liert: Planning, Programming and Budgeting System. Insbesondere der einfluBreiche

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Evaluation - Diagnose oder Therapie 251

Senator Robert Kennedy machte seine Zustimmung abhängig von der Einrichtung sy­stematischer Evaluation, urn sicherzustellen, daB die Programmgelder dort zum Einsatz kommen, wo sie sollen: bei den benachteiligten Gruppen, und sie sollten dort Wirkung zeigen. In dieser Phase der Evaluationsforschung dominierten "objektivistische" Theo­rien der Evaluation. Prominente Vertreter dieser Forschungsrichtung sind Michael Scriven und Donaid T. Campbell. Sie und andere Forscher, die dieser Evaluationstradi­tion zuzurechnen sind, betonten die Wichtigkeit kontrollierbarer experimenteller Un­tersuchungsdesigns und die Verwendung vorwiegend quantitativer Methoden. Nur dann erschien es diesen Forschern möglich, valide, reliable und objektive Forschungs­ergebnisse zu erhalten (vgl. Cook & Matt 1990).

Evaluation findet jedoch eher selten unter Laborbedingungen statt, die für die Kon­trolle von EinfluBfaktoren und das Herstellen von Kausalzusammenhängen notwendig sind. Urn bei dem Beispie1 der Evaluation von LehrmaBnahmen zu b1eiben, hier sind so viele Kontextvariablen zu berücksichtigen, daB die Kontrolle möglicher Einflüsse in der Regel nicht so weitgehend ist, wie sie von experimentalpsych010gischer Seite aus not­wendig erscheint. Als eine Konsequenz dieser Problematik begann sich Mitte der siebzi­ger Jahre eine neue Richtung der Evaluationsforschung herauszukristallisieren, die von Cook & Matt (1990) als "Theoretiker der lokalen Mikroerkenntnis" bezeichnet wurde. Vertreter dieser Schule, wie Carol Weiss (1974) und Michael Patton (1978) stellen die Wichtigkeit der Kontextabhängigkeit von Evaluationskriterien heraus. Ihrer Meinung nach ist eine Generalisierung von Ergebnissen ohne eine umfassende Beschreibung des Kontextes und der Beobachtung vor Ort nicht möglich.

Diese beiden Forschungstraditionen fanden gewissermaBen ihre Zusammenfüh­rung in den achtziger Jahren in den Veröffentlichungen u.a. von Rossi & Freeman (1985) und Cronbach (Cronbach 1982; Cronbach et al. 1980). Rossi & Freeman (1985) beziehen sich einerseits stark auf die naturwissenschaftliche Tradition der Evaluations­forschung der sechziger Jahre. Andererseits verkennen sie nicht, daB Evaluation be­stimmte Ziele verfolgt und Interessen dient, die nicht zwingend wissenschaftlicher Na­tur sind. Als Lösung aus diesem Dilemma des wissenschaftlichen Anspruches und der praxisbezogenen Realität evaluatorischer Tätigkeit fordern sie einen theoriegeleiteten Evaluationsansatz (Rossi & Freeman 1985), in dem die den zu evaluierenden Program­men (z.B. TrainingsmaBnahmen, soziale Programme etc.) zugrundeliegenden Theorien identifiziert und in das Evaluationsdesign integriert werden. Dies kann beispielsweise eine Instruktionstheorie im Falle der Lehrevaluation sein, eine organisationspsycholo­gische Theorie bei betrieblichen VeränderungsmaBnahmen oder auch eine handlungs­theoretische Modellierung von Dozentenverhalten bei der Evaluation von universitären Veranstaltungen (vgl. Henninger, Balk & Mandl 1998).

Die mit der Orientierung an einer gegenstandsbezogenen Theorie einhergehende Formulierung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen erscheint Cronbach et al. (1980) hingegen für die Klärung der Wirkung von MaBnahmen zwar wichtig, aber an­gesichts der vorhandenen Untersuchungsmöglichkeiten in der Evaluationspraxis nur bedingt aussagekräftig. Cronbach (1982) betont vielmehr den idiosynkratischen Cha­rakter von Evaluation, d.h. die Einschränkung der Reichweite evaluatorischer Erkennt­nisse auf die jeweilige Studie. Die Generalisierung der Ergebnisse von Evaluationsfor­schung erscheint ihm auch bei der von Rossi & Freeman (1985) vorgeschlagenen Theorieorientierung nur bedingt möglich.

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252 Michael Henninger

Evaluatian in den neunziger Jahren

Den genannten Ansätzen ist die Fokussierung auf die methodisch-diagnostischen As­pekte der Evaluation gemein. Mit Beginn der neunziger Jahre geriet diese Orientierung in Kollision mit der Formulierung von Evaluation als einem kontinuierlichen Lehr- und LemprozeB, mithin die Thematisierung der veränderungsbezogenen Wirkung von Evaluation (Guba & Lincoln 1989). Evaluation im Sinne von Guba & Lincoln (1989) ist nicht mehr die wertfreie Generierung von Wissen, sondem stellt selbst eine MaB­nahme dar, die auf den zu evaluierenden Gegenstand und die dabei beteiligten Perso­nen wirkt. In diesem Sinne ist Evaluation nicht mehr unabhängig vom Kontext und den handeInden Personen. Evaluation erlangt nach Guba & Lincoln (1989) auch politi­schen Charakter.

Vor allem die Betonung der politischen Dimension und die Forderung nach einer radikalen Abkehr vom Besitzstand quantitativer Methoden brachte diesen Autoren energischen Widerstand von Vertretem der klassischen Schulen ein (Sechrest 1992; Sechrest & Figueredo 1993). Der zum Teil sehr scharfe Ton der Auseinandersetzung verschiedener Denkrichtungen wie bei Guba & Lincoln (1989) einerseits und Sechrest (1992) andererseits festzustellen war, wich in den letzten Jahren einem rationaleren Diskurs urn geeignete Forschungsmethoden (vgl. Greenwald 1997). In gewisser Weise kann sogar eine Annäherung der klassischen Position der Evaluationsforschung, die einen Schwerpunkt auf die Weiterentwicklung der diagnostischen Methodik legt, an die Themenschwerpunkte der neueren Ansätze konstatiert werden. Diese neuen Ansät­ze stellen die Frage nach der Wirkung von Evaluation. So gehen Marsh & Roche (1997) beispielsweise explizit auf den Zusammenhang der Rückmeldung von Evalua­tionsergebnissen (d.h. dem diagnostischen Anteil der Evaluation) mit Veränderung in der Lehrqualität (d.h. dem therapeutischen Anteil) ein. Allerdings bleibt hier die Tren­nung von Evaluation und Intervention noch erhalten, da nach Marsh & Roche (1997) die Evaluation lediglich die Daten liefert und die Intervention von anderer Seite zu er­folgen hat, d.h. nicht integraler Bestandteil evaluatorischer Tätigkeit ist. Die Evaluation wird noch nicht als Intervention betrachtet, wie von Guba & Lincoln (1989) gefordert. Auf der anderen Seite ist aber die Veränderung von LehrmaBnahmen durch die Eva­luation selbst nicht zu trennen von der diagnostischen Seite der Evaluation. Diagnose und Therapie sind also gleichsam zwei Seiten einer Medaille.

Ein Bliek naeh vam

Die Vielzahl vorhandener, wohluntersuchter Erhebungsverfahren (Diehl 1996; Marsh 1987; 1984; Marsh & Roche 1997; 1993; Rindermann 1997a; 1997b; 1996; 1995; Rindermann & Amelang 1994) zeigt den Erfolg der Evaluationsforschung auf der diagnostischen Seite. Demgegenüber ist die Erfolgsgeschichte der Forschung zur therapeutischen, d.h. verändemden Wirkung von Evaluation noch weniger lang. Hier gibt es bislang nur relativ wenige Studien (Cohen 1980; Marsh & Roche 1993; Overall & Marsh 1979; Wilson 1986), die auBerdem die bereits oben beschriebene Po si ti on einnehmen und Evaluation von Intervention theoretisch trennen. Es bleibt aber die Frage, ob sich eine solche Trennung theoretisch begründen läBt. Urn dies zu

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Evaluation - Diagnose oder Therapie 253

klären, ist es notwendig, zunächst zu spezifizieren, wer oder was evaluiert werden soU. Für den Bereich Lehr- und Trainingsevaluation, der im Rahmen der Schwer­punktsetzung dieses Buches relevant ist, ist dies die Lehre selbst, we1che sich so­wohl aus Lehrperson, -teilnehmern und -inhalt als auch den organisationalen Rah­menbedingungen zusammensetzt. Folgt man Marsh & Roche (1997), ist die primäre Grundlage für eine Evaluation auf der Basis von Teilnehmerbefragungen die Beur­teilung der Lehrperson und weniger die Bewertung beispielsweise organisatorischer Aspekte wie Planung oder ähnliches. Das bedeutet, daB Veränderungen durch Eva­luation im Handeln der Lehrperson zu suchen sind. Dies bleibt auch in den bisheri­gen Untersuchungen unwidersprochen (Cohen 1980; Marsh & Roche 1993; vgl. McKeachie 1997; 1990). Jedoch fehlt hier ei ne theoretische Modellierung dieses Handeins, welches eine Einordnung der Wirkung von Evaluation erlauben würde. Ein solches Modell, welches dies leisten kann, ohne durch einen zu hohen Auflö­sungsgrad die empirischen Möglichkeiten der Evaluationsforschung zu überfordern, ist das Handlungsregulationsmodell von Frese & Zapf (1994).

Abbildung 1: Handlungsregulation nach Frese & Zapf (1994)

Feedback (ROckmeldung der

Veranstaltungsbewertung)

Bewertung der Veranstaltung

Handlungsziele

Handlungsausführung

Orientierung

Plangenerierung

Entscheidung

Über alle bisher geschilderten Auffassungen zu Evaluation hinweg herrscht Einigkeit darin, daB Evaluation Rückmeldungen bzw. Feedbackinformationen auf der Grundlage von Veranstaltungsbewertungen zur Verfügung stellt. Im Handlungsregulationsmodell von Frese & Zapf (1994) flieBen diese Informationen über das Feld Feedback in den Handlungsregulationskreislauf ein. Dort wirken die aus der Evaluation (Veranstal­tungsbewertung) stammenden diagnostischen Informationen nun als Impuls in der Handlungsregulation der lehrenden Person. Ob die handeinde Person, z.B. ein Dozent, aufgrund dieser Information seine Handlungsweise ändert oder so weiter macht wie bisher, liegt in dessen Entscheidungsbereich. Theoretisch kann aber jede Information zu einer Veränderung führen. Die alte Streitfrage, ob Evaluation nun verhaltensneu-

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254 Michael Henninger

trale Diagnostik leistet oder verhaltenswirksame Intervention darstellt, löst sich gleich­sam in der evaluierten Lehrperson selbst. Es ist also nicht der Evaluationsforscher, der darüber entscheidet, ob Evaluation Diagnose oder Therapie ist, sondem der Adressat des Feedbacks aus der Evaluation, d.h. im Beispiel die Lehrperson selbst, indem sie ihr Handeln aufgrund der Information ändert oder beibehält. Da Informationen, die an Personen weitergegeben werden, handlungstheoretisch aber immer Veränderungen bewirken können, ist Evaluation prinzipiell in jedem Fall Diagnostik und Intervention zugleich1• Es bleibt nur offen, ob eine Veränderung resultiert, dies ist aber nicht mehr eine theoretische, sondem nun eine empirische Frage.

Es ist natürlich nicht so, daB durch die handlungstheoretische Einbettung von Evaluationsinformationen dem Forscher die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung in Richtung Diagnostik oder Intervention genommen ist. Zwar obliegt es handlungs­theoretisch gesprochen dem Adressaten der Evaluationsinformationen, ob Informa­tionen zu Veränderungen beitragen. Die Art der Information jedoch, die vom Eva­luator ausgewählt und zur Verfügung gestellt wird, beeinfluBt allerdings die Wahr­scheinlichkeit der Verhaltensrelevanz. So ist es beispielsweise relativ wahrschein­lich, daB Informationen, die die didaktischen Aspekte des Lehrverhaltens beleuch­ten, eh er zu einer Veränderung des Lehrverhaltens beitragen können als Informatio­nen über die Gebäudekosten, die durch die Nutzung durch den Kurs entstehen. Wo­bei hier noch einmal betont werden solI, daB theoretisch beide Informationen einen EinfluB auf das Handeln der Lehrperson nehmen können. Ist jedoch nicht die Lehr­pers on selbst Adressat für die Informationen, sondem beispielsweise die Leitung der Lehrinstitution, dreht sich im Beispiel die Situation urn, nicht mehr die didaktischen Informationen besitzen die höhere Wahrscheinlichkeit für die Verhaltensrelevanz, sondem die Kosten/Nutzen-Informationen sind es, die das Handeln der Verwal­tungspersonen beeinflussen dürften.

Dieses Beispiel zeigt, daB zunächst die Klärung der Adressaten wichtig ist, bevor der intervenierende Charakter von Evaluation über die Merkmale der Informationen gesteuert werden kann. Dies stellt den ersten notwendigen Schritt bei der Konzeption einer Evaluationsstudie dar. Der zweite besteht darin, die Evaluationsstudie selbst zu spezifizieren. In der Literatur gibt es dazu eine ganze Reihe von Modellen und Vor­schlägen, wie dies geschehen soU (vgl. Kirkpatrick 1987; Wottawa 1994; Wittmann 1990). Diese beschrei ben in der Regel, welche Aspekte einer TrainingsmaBnahme zu evaluieren sind (Evaluationsfokus) oder zu welchem Zeitpunkt im Lebenszyklus eines Programmes dies zu erfolgen hat: bei der Zielentwicklung, bei der Durchführung oder nach der Durchführung (MeBzeitpunkt). Auch die Frage, auf welcher Evaluationsebene die Datenerhebung ansetzt, d.h. beispielsweise Akzeptanz oder Lemerfolg, findet sich seit Kirkpatrick (1987) in zahlreichen Modellen. Diese Dimensionen bilden die drei Achsen des nachfolgend skizzierten Evaluationskubus. Dieser erlaubt es, eine Evalua­tionsstudie sehr exakt zu beschrei ben und damit die Merkmale der damit gewonnenen Informationen genauer zu bestimmen.

DaB dies auch ohne handlungstheoretische Formulierung von Evaluation so gesehen werden kann, zeigt die Formulierung von Marsh und Roche "formative-diagnostic evaluations of teachers" (\ 997, p. 1187).

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Evaluation - Diagnose oder Therapie

Abbildung 2: Evaluationskubus

Die drei Dimensionen des Evaluationskubus

Mefizeitpunkt

255

Hier werden drei Abschnitte unterschieden: (1) Zu Beginn der Lehr- oder Trai­ningsmaSnahme; (2) während der Durchführung der MaBnahme und (3) nach Beendigung der MaSnahme.

Evaluationsebene Auf dieser Dimension werden vier verschiedene Ebenen angeordnet, auf denen die Wirkung einer MaSnahme in Bezug auf die teilnehmende Pers on erfaBt wird (in Anlehung an Kirkpatrick, 1987): (1) Reaktionsebene, Messung des subjektiv wahrgenommenen Effekts einer MaBnahme im Teilnehmerurteil, z.B. Zufrieden­heit, Akzeptanz; (2) individuelier Erfolg, Erfassung der Wirkung in bezug auf ein Lemziel, z.B. Wissen, Arbeits- oder Lemmotivation bzw. Persönlichkeitsentwick­lung; (3) Transfer; inwieweit resultiert aus der Teilnahme eine spätere Anwendung des Gelemten; (4) organisationaler Erfolg, inwieweit folgt aus dem individuellen Effekt der Teilnahme ei nes Organisationsrnitglieds ei ne Wirkung auf die Organi­sation selbst, z.B. Produktionssteigerung oder Senkung der Fluktuation.

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256 Michael Henninger

Evaluationsfokus Die Unterteilung dieser Dimension folgt der inhaltlichen Schwerpunktsetzung der jeweiligen Evaluationsstudie. Es wird unterschieden ob der Fokus der Unter­suchung auf: (1) der Instruktion, d.h. Aspekten der instruktional-didaktischen Gestaltung; (2) der Organisation, d.h. Einbettung und Ablauf der MaBnahme; und (3) den Kosten/Nutzen, d.h. betriebswirtschaftlichen Erwägungen, liegt.

Die Vielzahl der Möglichkeiten des Evaluationskubus hier darzustellen, würde über den Rahmen dieses Kapitels hinausgehen. Es sollen vielmehr die Möglichkeiten dieses Spezi­fikationssystems am Beispiel zweier Evaluationsformen gezeigt werden, die in der Eva­luationsforschung ausgesprochen populär sind: formative und summative Evaluation (Reinmann-Rothmeier Mandl & Prenzel, 1994; Scriven 1980; 1972; Wottawa & Thierau 1998).

Abbildung 3: Evaluationskubus Formative Evaluation

Formative Evaluation

Grundsätzlich dient formative Evaluation einer Lehrveranstaltung dazu, die LehrmaB­nahme prozeBbegleitend zu verbessem. Diese ProzeBbegleitung macht eine mehrmali­ge Datenerhebung über den Verlauf der MaBnahme hinweg nötig. BelOgen auf die

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Evaluation - Diagnose oder Therapie 257

Dimension Mej3zeitpunkt bedeutet fonnative Evaluation daher, daB die Evaluation während der Durchführung der MaBnahme erfolgt. Durch die Analyse von Pro zessen können Hinweise auf Eingriffsnotwendigkeiten und -möglichkeiten gewonnen wer­den, wobei vor allem Erkenntnisse aus Einzelfallstudien bzw. die Untersuchung klei­ner Stichproben den Aufwand der fonnativen Evaluation in ein günstiges Verhältnis zum Ertrag setzen sollen.

Die weitergehende Ausdifferenzierung einer fonnativen Evaluation wird durch die beiden anderen Dimensionen des Evaluationskubus möglich. Auf der Dimension der Evaluationsebene wird festgelegt, ob die Effekte einer MaBnahme beispielsweise in bezug auf die Zufriedenheit der Teilnehmer erhoben werden sollen. Wird dann noch . der Evaluationsfokus bestimmt, ist die Evaluationsstudie in ihren drei Dimensionen spezifiziert. In der Abbildung 3 wird die fonnative Evaluation auf der Evaluationsebe­ne Reaktion (Zufriedenheit) für den Evaluationsfokus Instruktion dargestellt. Eine sol­chennaBen spezifizierte Evaluationsstudie (im Kubus gestrichelt eingezeichnet) würde dann zu mehreren MeBzeitpunkten Daten liefem, die über instruktionspsychologische Merkmale der evaluierten Veranstaltung (z.B. Didaktik, Medien) und die aus dem Veranstaltungsbesuch resultierende Zufriedenheit der Teilnehmer informieren würde.

Abbildung 4: Evaluationskubus Summative Evaluation

MeOzeitpunkt

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258 Michael Henninger

Summative Evaluation

Bei einer summativen Evaluation werden die Evaluationsdaten nach Beendigung der LehrmaBnahme erhoben, d.h. auf der Dimension Mej3zeitpunkt ganz rechts (siehe Abbildung). Auch bei summativer Evaluation macht die Spezifizierung auf der Eva­luationsebene und des Evaluationsfokus eine Evaluationsstudie genauer und ziel ge­richteter (vgl. Abbildung 4). Angenommen, der subjektive Lernerfolg (Evaluations­eb ene) solI auf dem Hintergrund des Evaluationsfokus lnstruktion, beispielsweise der problemorientierten Gestaltung, bewertet werden. Weil subjektiver Lemerfolg ein MaB ist, das nur von den Teilnehmem selbst eingeschätzt werden kann, werden diese am Ende der LehrmaBnahme dazu befragt. Die Kriterien des subjektiven Ler­nerfolgs werden unter dem Fokus der Problemorientierung der Lehrveranstaltung er­faBt (z.B. "die verschiedenen Sichtweisen tragen dazu bei, daB ich das Gelemte in der Praxis anwenden kann").

Hinsichtlich der Verwendung der Evaluationsergebnisse gibt es mehrere Möglich­keiten, z.B. können die Ergebnisse als Entscheidungshilfe darüber genutzt werden, ob die LehrmaBnahme weitergeführt wird oder inwieweit die LehrmaBnahme verän­dert werden solI, aber auch die Rückmeldung an die evaluierte Person ist geläufige Praxis bei summativen Evaluationen. Urn ein möglichst umfassendes Bild in bezug auf die Bewertung zu bekommen, sollten möglichst alle wichtigen Informa­tionsquellen einbezogen werden, d.h. daB groBe Stichproben (z.B. alle Teilnehmer an der LehrmaBnahme) befragt werden und eine quantitative Auswertung durchge­führt werden kann.

Diese Formen der formativen und summativen Evaluation, die in den sechziger Jahren von Michael Scriven eingeführt wurden (vgl. Scriven 1980; 1972), werden aber nicht nur wegen ihres Popularitätswertes dargestellt. Gerade an der von Scriven vorgenom­menen Aufteilung in eine auf Veränderung hinzielende und eine auf Diagnostik ge­richtete Evaluationsform haben sich die Geister - wie oben beschrieben - so heftig ge­schieden. Die in diesem Artikel dargestellte handlungstheoretische Verortung von Evaluation löst jedoch die aus Scrivens (1980, 1972) Unterteilung abgeleitete unter­schiedliche Funktion von Evaluation auf. Die dort noch vollzogene scharfe Trennung zwischen Messung und Veränderung (Diagnose und Therapie) ist durch die handlung­stheoretische Perspektive nicht weiter aufrechterhalten. Vielmehr kann formative und summative Evaluation auf der Dimension MeBzeitpunkt lokalisiert werden. Summative Evaluation ist im Evaluationskubus gleichbedeutend mit der Messung zum Ende einer Lehr- oder TrainingsmaBnahme. Die Frage, ob die dabei erhobenen Daten zu einer Veränderung einer MaBnahme durch die Lehrperson führen, wird nicht mehr am MeB­zeitpunkt, sondem vielmehr an der Qualität der im Feedback zur Verfügung gestellten Informationen festgemacht. Handlungstheoretisch ist es ohnehin nicht nachvollziehbar, daB durch Evaluation gewonnene Informationen primär in Abhängigkeit ihres MeB­zeitpunktes Veränderungscharakter besitzen sollen oder nicht. Ob ei ne Lehrperson zu einer Veränderung ihres Lehrangebots tendiert, kann zwar durchaus vom MeBzeitpunkt abhängig sein, allerdings nicht ausschlieBlich.

Lehrhandeln beispielsweise besteht selten aus der einmaligen Durchführung einer Lehrveranstaltung. Sehr viel häufiger konsitutiert sich ei ne Lehrveranstaltungen aus

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Evaluation - Diagnose oder Therapie 259

einer ganzen Reihe von kleineren Lehreinheiten (z.B. Schulstunden, Seminare, Übun­gen, einzelne Vorlesungen). Es ist nun handlungstheoretisch plausibel zu argumentie­ren, daB eine handlungsbegleitende Evaluation, wie sich formative Evaluation auch be­schreiben lieBe, deshalb das Lehrverhalten stark zu beeinflussen vermag, weil sie einen unmittelbaren RückfluB von Feedbackinformation, z.B. bereits während des Semesters, ermöglicht. Bei summativer Evaluation hingegen, die am Ende der gesamten Lehrver­anstaltung steht, ist eine Veränderung des Lehrverhaltens der evaluierten Pers on zwar nicht auszuschlieBen, aber weniger wahrscheinlich, da die Veranstaltung bereits vorbei ist. Aber auch hier ist es nicht eine Frage des entweder-oder, sondem des sowohl-als auch von Diagnose und Veränderung. Die dreidimensionale Formulierung von Eva­luation relativiert darüberhinaus die Wichtigkeit des MeBzeitpunktes. Wie in den Ab­bildungen 3 und 4 ersichtlich ist, lassen sich beide Evaluationsformen hinsichtlich des Evaluationsfokus und der Evaluationsebene ausdifferenzieren. Welche Wirkung die durch die Evaluation gewonnenen Informationen auf die Lehrperson haben, läBt sich theoretisch formulieren und empirisch überprüfen. Ob beispielswiese bei einer Lehre­valuation, die die instruktionalen Aspekte als Evaluationsfokus verwendet und auf der Evaluationsebene die Zufriedenheit der Teilnehmer erfaBt, der MeBzeitpunkt tatsäch­lich einen EinfluB auf die Veränderungskraft evaluatorischer Informationen hat, wie bei der Namensgebung von formativer/summativer Evaluation angenommen wurde, kann letztlich nur durch empirische Nachweise geklärt werden.

Diagnose oder Therapie? Der handlungstheoretisch begründbaren Antwort, daB das oder einem und zu weichen habe, folgt aber die Frage nach der Gewichtung dia­gnostischer und veränderungswirksamer Anteile von Evaluationsstudien. Am Beispiel der formativen und summativen Evaluation zeigt sich, wie über eine klare Spezifikati­on einer Evaluationsstudie im Evaluationskubus die se Frage systematisch und empi­risch beantwortet werden kann.

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Evaluation - eine Herausforderung für die Lehre?

Bettina Meier

Einleitung - der Begriff "Evaluation"

In nahezu allen Beiträgen, die sich mit dem Themengebiet "Evaluation" befassen, wird auf unterschiedliche Definitionsversuche des Begriffs verwiesen. Evaluation umfaBt eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen und entzieht sich damit einer einheitlichen Definition. Evaluation wird beispielsweise als ProzeB der Beurteilung eines Wertes ei­nes Produktes, Prozesses oder eines Programmes definiert (Wottawa & Thierau 1998). Wottawa und Thierau versuchen, allgemeine Kennzeichen wissenschaftlicher Evalua­tion herauszuarbeiten: Dabei dient Evaluation der Planungs- und Entscheidungshilfe, ist ziel- und zweckorientiert und solI dem aktuellen Stand wissenschaftlicher For­schung angepaBt sein. Zudem besteht laut Wottawa (1991) unabhängig von den zahl­reichen verschiedenen Evaluationsdefinitionen Konsens, daB die Evaluation zur Opti­mierung zielbezogener Handlungen beitragen solI.

Im folgenden solI dargestellt werden, inwieweit Evaluation als Bestandteil des Bil­dungsprozesses nicht nur der Überprüfung des Lemerfolgs, sondem der Optimierung von BildungsmaBnahmen dienen und somit auch als Herausforderung für die Lehre betrachtet werden kann.

Leitaspekte von Evaluationen

"Evaluationsvorhaben rechtfertigen sich nicht aufgrund des Findens von absoluten Wahrheiten, sondem aufgrund ihres Beitrages zu einem EntscheidungsprozeB bzgl. der Auswahl von Verhaltensaltemativen, der in jedem Fall ein Ergebnis (in Form der Aus­wahl einer bestimmten Verhaltensweise) erbringen muB." (Wottawa & Thierau 1998, S.21)

Damit jedoch Evaluationsvorhaben zu einem EntscheidungsprozeB beitragen kön­nen, müssen viele Vorüberlegungen angestellt werden, schliel3lich gibt es für eine er­folgreiche Evaluation viele verschiedene Voraussetzungen. Wesentlich hierfür ist unter anderem eine offene Atmosphäre, die die Durchführung von Evaluationen zu einem ProzeB fortwährenden Voneinander-Lemens sowie zur Entwicklung von neuen Kom­munikationsformen und Modellen der Zusammenarbeit führen kann.

Ritter (1993) formuliert in diesem Zusammenhang fünf erkenntnistheoretische Fra­gen, die komplexe Zusammenhänge zwischen Erkenntnissubjekt, Erkenntnisobjekt, Er­kenntnismethode und Erkenntnisziel sowie dem Zweck, d.h. der Verwendung der Eva­luationsergebnisse bestehen, aufzeigen sollen. Seine These lautet, daB sinnvolle Eva­luation nur dann durchgeführt werden kann, wenn man sich dieser Interdependenz be-

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262 Bettina Meier

wuBt ist und die damit zusammenhängenden Fragen für sich sorgfältig geklärt hat. Evaluierte und Auftraggeber müssen sich diesen Fragen stellen, denn je nachdem wie sie beantwortet werden, sind auch die Ergebnisse der Evaluation einzuschätzen. Ritter fordert eine Auseinandersetzung mit folgenden Fragen: Cl) Wer evaluiert? (2) Was soli evaluiert werden? (3) Wie soli evaluiert werden? (4) Warum? (5) Wozu wird evaluiert und wozu werden die Ergebnisse verwendet? (Ritter 1993).

Die ers te Frage ist diejenige nach dem Erkenntnissubjekt: Wer evaluiert? (z.B. Stu­dierende, Lehrende, AuBenstehende). Die Rolle des Evaluators bzw. dessen Evaluati­onsverständnis beeint1uBt die Vorgehensweise der Evaluation. So macht es einen Un­terschied, ob es sich urn eine Selbstevaluation oder eine Fremdevaluation handelt.

Dem Erkenntnisobjekt gilt die zweite Frage: Was sol! evaluiert werden? Beispiele hierfür sind: Das Lernen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Veranstaltung (z.B. inwieweit haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Kenntnisse erweitert, ihre Einstellungen und ihr Verhalten verändert); die Erfahrungen mit der Dozentin bzw. dem Dozenten, Einstellungen und Erfahrungen mit dem Stoff, allgemein die Zu­friedenheit mit der Veranstaltung und den dort erzielten Ergebnissen. Eine genaue Analyse des Erkenntnisobjekts erleichtert es unter anderem, eine geeignete Erkenntnis­methode auszuwählen und anzuwenden.

Auf einen interessanten Aspekt im Zusammhang mit dem Erkenntnisobjekt im Hochschulbereich wei st Radier hin. Ergebnisse zeigen, daB die Evaluation der Lehre von Studierenden von ihrer persönlichen Motivation abhängig ist (Rad Ier 1997).

Drittens stellt sich die Frage nach der Erkenntnismethode: Wie sol! evaluiert wer­den? (z.B. mit Hilfe von Fragebögen, Interviews usw.). Die Auswahl der Methode muB aufgrund der Bedingungen des Evaluationsprojektes erfolgen und beeint1uBt das weitere Evaluationsvorgehen wesentlich.

Die vierte Frage ist die nach dem Warum, also nach dem Erkenntnisgrund. Dabei geht es generelI urn die Veränderung der Lehre - im positiven Sinne, gelegentlich auch urn die Veränderung oder Verbesserung der Qualität des Lernens. Schwierig wird dann allerdings die Diskussion, wenn es urn die Einigung geht, was unter "Qualität der Leh­re" und "Qualität des Lernens" zu verstehen ist. Eine effektive Evaluation setzt diese aber voraus.

Im Kontext Hochschule ist die Qualität von Lehre und Studium mit der Frage nach der "guten Lehre" verbunden. Daran schlieBt sich zwangsläufig die Frage an, was ist "gute Lehre" und wie kann ich "gute Lehre" erkennen? Es muB nach Kriterien gesucht werden, die diese Qualität ausmachen (RadIer 1997).

Die fünfte Frage lautet: Wozu wird evaluiert und wozu werden die Ergebnisse ver­wendet? Sind die Ergebnisse öffentlich oder vertraulich? Werden sie für Verwaltungs­entscheidungen und finanzielle Entscheidungen genutzt? Welche Konsequenzen sollen daraus gezogen werden und wer zieht solche Konsequenzen? Auch diese Frage darf nicht unterschätzt werden, schlieBlich sollte bei der Beantwortung der Erkenntniszweck einer Evaluation offengelegt werden. Es macht einen Unterschied, ob die Evaluations­ergebnisse beispielsweise als Rückmeldung oder aber zu einer Bewertung herangezo­gen werden.

Eine wesentliche Forderung, die unter diesem Aspekt eingeordnet werden kann, ist die verständliche ErschlieBung der Ergebnisse auch für Nicht-Statistiker, wenn mit quantitativen Daten gearbeitet wird (Web Ier 1993).

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Evaluation - eine Herausforderung für die Lehre? 263

Ritter subsumiert unter die fünfte Frage auch folgenden Aspekt, der jedoch inner­halb eines zusätzlichen Fragenkomplexes - der Frage nach dem Wann - gestellt wer­den kann: Handelt es sich urn eine summative Evaluation, d.h. urn eine nachträgliche Bewertung oder urn eine formative Evaluation, die als Instrument zur Veränderung während der Veranstaltung selbst dient? Der Zeitpunkt einer Evaluation kann unter­schiedlich gewählt werden: vor (antizipatorisch, prognostisch, prospektiv), während (ProzeB- oder dynamische Evaluation) und nach einer MaBnahme bzw. Veranstaltung (Ergebnis-, Output oder Produktevaluation) (Wottawa & Thierau 1998).

Auch Grün (1997) stellt Fragen auf, wenn er von den "vier W's der Lehrevaluation" ausgeht. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen soll die Interessenvielfalt und die möglichen Interessenkonflikte verdeutlichen, Klarheit schaffen und gegebenenfalls eine Einigung erzielen. (1) Warum = gesellschafts- und bildungspolitischer Background: Warum werden Evaluationen gefordert ? (2) Wofür = Ziele, die mit der Evaluation ver­folgt werden (3) Wer = Wer will eine Evaluation? Wer sollen die Nutzer sein? (4) Was = Was soU bewertet werden (LehrverhaltenlLemerfolglRahmenbedingungen usw.).

In diesem Zusammenhang lieBe sich auch dan ach fragen, ob Evaluation in der La­ge sein kann, über die Erfassung bestimmter Variablen des Lehr-Prozesses hinaus die Qualität des Lernens zu verbessem. Wesseler (1993) präsentiert dazu einen Ansatz re­flexiver Evaluation, der sich im wesentlichen auf drei korrespondierende Fragen stützt. (1) Was will ich in dieser Veranstaltung lemen?/Was habe ich in dieser Veranstaltung gelemt? (2) Was bedeutet das für mich? (3) Wie werde ich zukünftig damit umgehen? Selbst wenn einige der von Wesseler formulierten Ziele (u.a. tiefere Einsicht der Stu­dierenden in das eigene Lemen gewinnen und bzw. oder sich der Lücken auf fachli­cher Ebene bewuBter werden) nicht immer erreicht werden können, so kann dieser An­satz doch eine Diskussion über die Komplexität des Lehr-Lern-Prozesses anregen. Diese Diskussion kann einen konstruktiven Gedankenaustausch zwischen den Betei­ligten ermöglichen und den Blick für die Argumente des Gegenübers schärfen.

Wottawa (1991) unterscheidet aufgrund der Schwerpunkte, die im Evaluationsvor­haben auf einzelne Teile des Handlungsmodells (vgl. Wottawa & Thierau 1990, S. 14) gesetzt werden, vier typische Rollenbilder: den Faktensammler, den Gutachter, den Entwickler und den Moderator. Es sollte bei jedem Evaluationsforschungsvorhaben Klarheit herrschen, nach welchem dieser typischen Rollenbilder das eigene Vorgehen zu strukturieren ist. Denn erst diese Basis ermöglicht die Erstellung eines den jeweili­gen Bedürfnissen wirklich gerecht werdenden Projektplans und die Auswahl des me­thodisch optimalen Vorgehens.

AU diesen verschiedenen Ansätzen ist gemeinsam, daB sie Ausgangsüberlegungen fordern, die bei einem Evaluationsprojekt zu klären und gegebenenfalls zusammen mit den Auftraggebern konsensfähig zu diskutieren sind. Sowohl im Lehr- als auch im LernprozeB ist eine konkrete Zielexplikation einer der wesentlichsten Ausgangspunkte für eine effektive Evaluation. Aber auch die Frage nach dem Erkenntnisobjekt (Was genau solI evaluiert werden?) fordert die Aufmerksarnkeit der Evalutoren und Evaluto­rinnen. Zudem ist die Frage, wer als Evaluator bzw. Evaluatorin im EvaluationsprozeB tätig wird, für eine erfolgreiche Evaluation von groBer Bedeutung. Auch die im Eva­luationsprojekt verwendete wissenschaftliche Methode muG auf das Gesamtkonzept abgestimmt sein. Oberstes Ziel dieser theoretischen Überlegungen ist eine systemati­sche und reflektierte Herangehensweise an eine Evaluationsaufgabe.

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264 Bettina Meier

Bei der Umsetzung dieser Forderungen in die Praxis ergeben sich jedoch viele Problembereiche. Diese lassen sich beispielsweise feststellen, wenn bei der Überprü­fung eines Evaluationsvorgehens Ritters fünf (bzw. sechs) Fragen und ihre Implikatio­nen berücksichtigt werden. Es zeigt sich, daS viele Evaluationsprojekte nicht klar strukturiert sind. Dies kann bedeuten, daS die Ziele nicht klar definiert sind oder auch die Zuordnung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnismethode unzureichend reflektiert wird. Eine Forderung, die diesen möglichen Problemen entgegenwirken könnte, be­steht in der methodenkritischen und erkenntniskritischen Reflexion der Evaluation (Ritter 1993).

Thierau und Wottawa verweisen auf ein allgemeines - jedoch sehr häufig anzutref­fen des und wesentliches - Problem von Evaluationen: Zu Beginn der Evaluationsarbeit ist meist kein strukturiertes Problem ausformuliert (Thierau & Wottawa 1990). Die Autoren erklären die oft fehlende Zunkunftsantizipation der Verantwortlichen darnit, daS langfristiges Handeln gegen eine nur kurzfristig gesehene Nutzenverantwortung kaum durchzusetzen ist.

Ein wiederkehrendes Problem bei Evaluationsprojekten ergibt sich darüber hinaus im Zuge der Weitergabe von Informationen an den bzw. die Auftraggeber. Diese ha­ben des öfteren Schwierigkeiten, die im Bericht enthaltenen Informationen sachgerecht in die Entscheidungsfindung einzubauen (die erforderliche Interpretationshilfe fehlt meist oder wird nur informell gegeben). Daran schlieSt sich die Forderung an, Evalua­tionsergebnisse so aufzubereiten, daS die Betroffenen unmittelbar darüber befinden und im FalIe unterschiedlicher Interessensschwerpunkte bei gleichzeitigem Auswahl­bzw. Handlungszwang einen Konsens oder doch zumindest einen KompromiS herbei­führen können. Dieses Vorgehen setzt eine sachadäquate Information und eine soziale Situation voraus, in der eine offene Diskussion möglich ist (Thierau & Wottawa 1990).

Ein weiterer wesentlicher Aspekt für effektive Evaluationsarbeit ist eine - zurnin­dest hinreichende - Akzeptanz von Lehrevaluationsprojekten bei den beteiligten In­stanzen. Die Akzeptanz von Evaluationsprojekten ist eine notwendige Bedingung für ihre Wirksarnkeit, wenn nicht schon stellenweise für ihre Durchführung (Naumann 1997). Dabei kann diese Akzeptanzproblematik in allen Bereichen, in denen Bildungs­maSnahmen evaluiert werden - z.B. in der betrieblichen Weiterbildung oder in den Hochschulen - zum Tragen kommen.

Zusammenfassend läSt sich resümieren, daS für eine erfolgreiche Evaluation eine systematische und reflektierte Heran- und Vorgehensweise unabdingbar ist. Steht man vor der Aufgabe, ein Evaluationsprojekt zu initiieren, dann bestehen die ersten Schritte darin, ein Evaluationsprofil zu entwickeln. Dieses sollte, beispielsweise mit Hilfe Rit­ters erkenntnistheoretischen Fragen, die wesentlichen Forderungen für effektive Eva­luationsprojekte abdecken. Dabei geht es hauptsächlich urn die Klärung der Fragen was, wie, wer, warum und wozu (wann) Evaluation im speziellen Kontext stattfindet. Sind die Antworten gefunden, dann kann die Umsetzung beginnen.

Nach AbschluS von Evaluationsprojekten sollten die dabei gemachten Erfahrungen - im Sinne einer Metaevaluation - nach Möglichkeit aufbereitet und zusammengefaBt werden. Diese retrospektive Beurteilung der Evaluation durch alle Beteiligten sollte am Ende eines Evaluationsprozesses stehen. Dies hat die Funktion, den ProzeS noch ein­mal in seiner Gesamtheit zu betrachten. Für Teilbereiche des Evaluationsprozesses, die nicht so positiv verlaufen sind, bietet sich die Möglichkeit ihrer Optimierung. Evalua-

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Evaluation - eine Herausforderung für die Lekre? 265

torinnen und Evaluatoren könnten so Ursachenanalysen betreiben und sich einer offen artikulierten Kritik stellen (Lohnert & Rolfes 1997).

"Zauberwort Evaluation" - Evaluation und Hochschule

Evaluationen werden auch im Kontext der Hochschulen zu immer selbstverständliche­ren Bestandteilen des Bildungsprozesses. Dabei ist die Lage an den deutschen Hoch­schulen oft durch drohende oder bereits durchgeführte Mittelkürzungen im Bereich Forschung und Lehre und die Problematisierung der Konkurrenzfáhigkeit der Univer­sitätsausbildung im nationalen und internationalen Rahmen gekennzeichnet. Vor die­sem Hintergrund rücken Fragen nach Methoden und Instrumentarien zur Sicherung und Verbesserung der Qualität von Studium und Lehre zunehmend in das Zentrum der Diskussion. "Evaluation heiBt das Zauberwort, das derzeit aus unterschiedlichsten Mo­tiven und von unterschiedlichen involvierten Ebenen gebraucht wird" (Lohnert & Rol­fes 1997, S. 9).

Evaluation betrifft verschiedene Zielgruppen und Beteiligte, die von jeweils spezi­fischen Motiven geleitet werden. Die Heterogenität der Ausgangspunkte der Beteilig­ten und ihrer Motive erschwert es, das genuine Ziel der Qualitätssicherung und -ver­besserung zu erreichen. Jedoch kann in einer offenen Atmosphäre die Durchführung von Evaluationen einen ProzeB fortwährenden Voneinander-Lernens anstoBen und die Möglichkeit zur Entwicklung von neuen Kommunikationsformen und Modellen der Zusammenarbeit gewährleisten. Die Chance von Evaluationen liegt somit darin, daB sie als iterativer ProzeB zu einer kontinuierlichen Aktualisierung und Verbesserung von Studium und Lehre führen kann. Es bleibt aber anzumerken, daB diese hochge­steckten Ziele zunächst nur in einem längeren zeitlichen Rahmen angestrebt werden können (Lohnert & Rolfes 1997).

Rindermann weist darauf hin, daB Lehrevaluationsresultate bei entsprechender Zu­sammensetzung der Evaluationsmethoden nicht nur einzelne Dozenten und Dozentin­nenüber didaktische Desiderata informieren können, sondern auch Rückschlüsse auf curriculare Defizite und problematische Rahmenbedingungen zulassen (Rindermann 1997).

Der Schwerpunkt sollte auf die Entwicklung von Lösungsvorschlägen gelegt wer­den. Erst wenn solche auf Konsens angelegte Verfahren keinerlei Veränderungen für die Lehre in einem Fachbereich nach sich ziehen, sollten provokative Verfahren in Er­wägung gezogen werden (Rindermann 1997). Eine Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung von Lehrevaluationen könnte ihre Initiierung durch die Hochschulleh­renden selbst oder das Aufgreifen studentischer Initiativen durch Hochschullehrende darstellen (Naumann 1997).

Auch im Kontext von Hochschulen ist eine abschlieBende retrospektive Analyse und Beurteilung der Evaluation in Form einer Metaevaluation wünschenswert, urn in einem diskursiven ProzeB die Ergebnisse der Evaluation und die gewonnenen Erfah­rungen aus dem EvaluationsprozeB gemeinsam zu diskutieren.

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266 Bettina Meier

Evaluation - eine Herausforderung für die Lehre ?

Zusammenfassend läBt sich feststellen, daB das Einbeziehen von Lehrveranstaltungs­beurteilungen ein Mittel zur Qualitätssicherung der Aus- und Weiterbildung darstellen kann. Dies gilt sowohl für den Kontext Hochschule als auch für die betriebliche Perso­nal- und Organisationsentwicklung. Dabei können Erfahrungen aus Evaluationspro­jekten, die im Hochschulbereich gewonnen wurden, auch für die betriebliche Bil­dungsarbeit genutzt werden.

Insgesamt kann Evaluation neben den Aspekten der Qualitätssicherung als ProzeJ3 dazu beitragen, miteinander ins Gespräch zu kommen, Kritikfáhigkeit zu lemen und diese auch einzuüben. Eine Möglichkeit, diesen ProzeB zu initiieren, könnte der Ver­such sein, bei Evaluationen mehr Mut zu Interpretationen zu zeigen, urn in einem ge­meinsamen DiskussionsprozeB einen Lösungsweg für ein Problem zu finden.

Fragen wie: wer solI und kann die Qualität von Lehrveranstaltungen beurteilen, was solI beurteilt werden, in welcher Form solI das geschehen, was geschieht mit den Ergebnissen, schaffen zum einen Unsicherheiten und führen zudem oft zu Ängsten und Abwehrhaltungen bei den Betroffenen (Lohnert & Rolfes 1997).

Grundsätzlich sollten bei der Durchführung von Lehrveranstaltungsevaluationen die Einsicht in die positiven Aspekte eines Feedbacks für das eigene Tun relevant sein und die Evaluation sollte in einer Art und Weise erfolgen, die es den Betroffenen erlaubt, Kritik anzunehmen und Verbesserungen durchzuführen (Lohnert & Rolfes 1997).

Oftmals ist zu beobachten, daB Lehrende Evaluation als "persönliche Beleidigung" betrachten und sich durch die Darstellung der Evaluationsergebnisse angegriffen füh­len. In den seltensten Fällen wird das Ergebnis einer Evaluation als Feedback ange­nommen und als Rückmeldung verstanden.

Es müBte sich jedoch nicht nur bei den betroffenen Lehrenden (bzw. den Verant­wortlichen z.B. für ein Projekt oder eine MaBnahme) die Sichtweise ändem, sondem auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmem. Diese können aktiv und konstruktiv wesentlich zur Qualitätssicherung beitragen, und sind nicht nur (wie das manchmal z.B. bei einer Fragebogenuntersuchung den Anschein hat) dazu da, über die Lehrenden zu richten. Das innovative Moment von Evaluationsprojekten müBte oftmals noch deutlicher herausgestellt werden, denn auch ein "schlechtes" (bzw. negatives) Evalua­tionsergebnis kann für alle Beteiligten positiv sein, und kann (und sollte) Ausgangs­punkt für neue Ideen oder Überlegungen sein.

Evaluation beschränkt sich damit nicht nur auf die Überprüfung des Lemerfolgs, sondem kann als Intention verstanden werden, die pädagogische Praxis bei allen Arten von BildungsmaBnahmen zu verbessem, und beinhaltet in diesem Verständnis ein sehr wichtiges innovatives Moment.

AbschlieBend kann festgehalten werden, daB Evaluation ein groBes Potential für die Lehre - sei es in studentischen Lehrveranstaltungen oder in betrieblichen Weiter­bildungsmaBnahmen - beinhaltet. Die darin enthaltene Chance und auch Herausforde­rung muB jedoch von den Beteiligten erkannt und dann auch genutzt werden. Denn Evaluation bietet beispielsweise im betrieblichen Umfeld eine Möglichkeit, bestehende Stärken klarer zu erkennen und diese im Zuge einer stärkeren Akzentuierung weiter auszubauen. Aus diesen Gründen sollte eine "Krise" auch als Chance und Herausfor­derung begriffen werden.

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Evaluation - eine Herausforderung für die Lehre? 267

"Die Bewertung von MaBnahmen, Organisationsformen, oder Einzelpersonen macht nur dann Sinn, wenn auf der Grundlage dieser Ergebnisse praktische Konsequenzen ein­geleitet werden, etwa die Auswahl der, besseren ' Altemative oder die Durchführung von ,Verbesserungen' durch Interventionen." (Wottawa & Thierau 1990, S. 74)

Literatur

Grün, D. (1997): Interessenvielfalt und Interessenkonflikte bei der Lehrbewertung an Hochschulen - Lehr­evaluation an der Freien Universität Berlin. In: Dekan der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln (Hrsg.): Evaluation: Weg - Ausweg - Irrweg?: Dokumentation des Fakultätstages (1. Februar 1996). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, S. 41-57

Lohnert, B. & Rolfes, M. (1997): Handbuch zur Evaluation von Lehre und Studium an Hochschulen. Hannover: Zentrale Evaluationsagentur der niedersächsischen Hochschulen (ZevA) (Schriftenreihe "Evaluation der Lehre" 3/97)

Naumann, J. (1997): Die Akzeptanzproblematik bei der Evaluation universitärer Lehre. In: Moosbrugger, H. & Frank, D. (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Evaluation universitärer Lehre. Frankfurt am Main: Institut für Psychologie, S. 59-68 (Arbeiten aus dem Institut für Psycholo­gie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Riezlern-Reader V, Heft 6, 1997)

Radier, D. (1997): Methodische Fallstricke bei der Beurteilung von Hochschullehrern durch Studierende. In: Moosbrugger, H. & Frank, D. (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Evalua­tion universitärer Lehre. Frankfurt am Main: Institut für Psychologie, S. 69-81 (Arbeiten aus dem In­stitut für Psychologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Riezlern-Reader V, Heft 6, 1997)

Rindermann, H. (1997): Lehrveranstaltungsbewertungen: Erfahrungen und ihre Nutzung für die Fakul­tätsentwicklung. In: Altrichter, H.; Schratz, M. & Pechar, H. (Hrsg.): Hochschulen auf dem Prüfstand: Was bringt Evaluation für die Entwicklung von Universitäten und Fachhochschulen? Innsbruck, Wien: Studien-Verlag, S. 179-196

Ritter, U. P. (1993): Evaluation: erstes Scheitern und Perspektiven. In: Berendt, B. & Stary, J. (Hrsg.): Evaluation zur Verbesserung der Qualität der Lehre und weitere Ma6nahmen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 180-186 (Blickpunkt Hochschuldidaktik, Band 95)

Thierau, H. & Wottawa, H. (1990): Evaluationsprojekte: Wissensbasis oder Entscheidungshilfe? In: Zeit­schrift für Pädagogische Psychologie, 4(1990)4, S. 229-240

Webier, W.-D. (1993): Evaluation als geeigneter Ansto6 zur Reform? In: Berendt, B. & Stary, J. (Hrsg.): Evaluation zur Verbesserung der Qualität der Lehre und weitere Ma6nahmen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 31-40 (Blickpunkt Hochschuldidaktik, Band 95)

Wesseler, M. (1993): Evaluation zur Verbesserung der Qualität des Lernens. In: Berendt, B. & Stary, J. (Hrsg.): Evaluation zur Verbesserung der Qualität der Lehre und weitere Ma6nahmen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 187-191 (Blickpunkt Hochschuldidaktik, Band 95)

Wottawa, H. (1991): Zum Rollenverständnis in der Evaluation und der Evaluationsforschung. In: Empiri­sche Pädagogik, 5(1991)2, S. 151-168

Wottawa, H. & Thierau, H. (1990): Lehrbuch Evaluation. Bern u.a.: Huber Wottawa, H. & Thierau, H. (1998): Lehrbuch Evaluation. 2., vollst. überarb. Aufl., Bern u.a.: Huber

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Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung

Reinhard Pekrun

1. Begriff und Stellenwert van Evaluatian

"Evaluation" ist zu einem Modewort geworden, und die Vielfait der Verwendungswei­sen und Definitionsversuche zu diesem Begriff scheint kaum noch überschaubar zu sein. Auf den ersten Blick könnte man deshalb in Versuchung geraten, denjenigen Autoren zuzustimmen, die Abstinenz von Bemühungen zur Definition anraten, da der Begriff beliebig verwendbar und von geringem Kommunikationswert sei (Übersichten zu Evaluationsbegriffen in Glass & Ellett 1980; Wottawa & Thierau 1998). Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, daB es durchaus einen gemeinsamen Kern üblicher Be­griffsverwendungen gibt: Wenn von Evaluation gesprochen wird, handelt es sich in al­ler Regel urn eine mehr oder minder systematische Beurteilung des Wertes eines Sach­verhalts (im weitesten Sinne).

Bei Evaluation in der Weiterbildung handelt es sich urn die Beurteilung des Wertes einer WeiterbildungsmaBnahme bzw. einzelner Aspekte dieser MaBnahme (curriculare Ziele und Inhalte, verwendete Lernmedien, Lern- und Transferwirkungen etc.). Eine solche Qualitätsprüfung stellt einen zentralen Bestandteil von Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung in der Personalentwicklung dar (Eigier, Jechle, Kolb & Winter 1997; Feuchthofen & Severing 1995; Reinmann-Rothmeier, Mandl & Prenzel 1994; Thierau, Stangel-Meseke & Wottawa 1992; Will, Winteler & Krapp 1987). Dies gilt für ei ne Evaluation anhand pädagogischer Kriterien wie auch für die ökonomisch ori­entierte Evaluation der finanziellen Kosten und Nutzen einer WeiterbildungsmaBnah­me. Finanzielle Kosten/Nutzen-Ana1ysen sind ein wesentliches Element von Bildungs­controlling, also der Steuerung von Weiterbildung anhand ökonomischer Prinzipien. Allgemein kann die "Steuerung" eines Prozesses Zielsetzung, Planung, Implementie­rung, ProzeBüberwachung, Ergebniskontrolle und Ergebnisnutzung umfassen; der Be­griff "Evaluation" bezieht sich auf die Überwachungs- und Kontrollanteile von Steue­rung.

Eng verwandt ist der Evaluationsbegriff auch mit dem Begriff Diagnostik. Unter "Diagnostik" ist allgemein die Erfassung und Beurteilung von Sachverhaltsmerkmalen zu verstehen. Dabei kann es sich auch urn eher neutrale Analysen handeln, bei denen Werturteile nicht beabsichtigt sind oder nicht im Vordergrund stehen (z.B. Analysen der Begabungs- und Interessenprofile von Lernern für wissenschaftliche Zwecke). Bei Evaluation hingegen handelt es sich urn wertbezogene Urteile. In einem begriffssyste­matischen Sinne läBt sich "Evaluation" deshalb als Teilgebiet von "Diagnostik" auffas­sen.

Betriebe benötigen heute zunehmend MaBnahmen der Fort- und Weiterbildung, die in maBgeschneiderter Weise den spezifischen Notwendigkeiten von Arbeitsplätzen und

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270 Reinhard Pekrun

Berufskarrieren angepaBt sind und dem Tempo ihrer Veränderung Rechnung tragen. Zusammen mit der Unterschiedlichkeit betriebsinterner und -externer Anbieter sorgt dies für eine erhebliche MaBnahmenvielfalt, die bisher wenig systematisiert und für den einzelnen Betrieb häufig kaum noch überschaubar ist. Aufgrund der raschen Ex­pansion des Weiterbildungsmarktes innerhalb ei nes relativ kurzen Zeitraums fehlt es darüber hinaus oft an qualifizierten Trainern und didaktisch hochwertigem Unterrichts­materia!. Aus pädagogischer Sicht ergibt sich daher noch deutlicher als in der schuli­schen und hochschulischen Bildung die Notwendigkeit, auch im Weiterbildungsbe­reich die Qualität von BildungsmaBnahmen zu überprüfen und zu steigern (zur Evalua­tion im schulischen Bildungswesen z.B. Baumert & Lehmann 1997; Pekrun & Fend 1991). Angesichts der Mittelsummen, die heute in diesen Bereich der Personalentwick­lung investiert werden, gilt dies aber ebenso aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Perspektive.

2. Ziele und Gestaltung van Evaluatian in der Weiterbildung

Qualitätsurteile über BildungsmaBnahmen können auf unterschiedlichem Wege zustan­de kommen, sich unterschiedlicher Formate bedienen und in verschiedener Weise Verwendung finden. Urn Evaluation handelt es sich bereits, wenn Kursteilnehmer in einem ED V-Training Eindrücke vom Training sammeln und bei Gelegenheit ihrem Abteilungsleiter berichten. Urn Evaluation handelt es sich ebenso, wenn von externen Experten in systematischer Weise Inhalte, Akzeptanz und Wirkungen verschiedener Varianten eines solchen Trainings untersucht werden, die Ergebnisse der Firmenlei­tung rückgemeldet werden und anschlieBend für die Wahl zwischen Anbietern oder für die Gewinnung allgemeinerer pädagogischer SchluBfolgerungen genutzt werden.

Evaluation kann also sehr unterschiedlich gestaltet werden. Angesichts der relati­ven Jugend der Evaluationsforschung (vg!. Lange 1983; Wottawa & Thierau 1998) ist es nicht verwunderlich, daB die VielfaIt verwendeter Formen bisher kaum befriedigend systematisiert worden ist. Entsprechend vielfältig und teils verwirrend sind die Be­griftlichkeiten. Einige auch für den Weiterbildungsbereich wichtige, z.T. nach wie vor kontrovers diskutierte Unterscheidungen sind die folgenden (Übersicht in Tab. 1; vgl. Wottawa & Thierau 1998).

Ziele van Evaluatian

Qualitätsurteile können unterschiedlichen Zwecken dienen. In der Weiterbildung ste­hen vor allem die folgenden Ziele im Vordergrund: (a) Beurteilung des pädagogischen oder ökonomischen Wertes einer MaBnahme, urn über ihren Einsatz entscheiden zu können (entscheidungsorientierte Evaluation); (b) Evaluation von Bestandteilen der MaBnahme, urn sie zu optimieren (entwicklungsorientierte Evaluation); (c) Evaluation mit dem Ziel der Legitimierung der MaBnahme (legitimationsorienterte Evaluation); (d) Evaluation mit dem Ziel der Gewinnung verallgemeinerbarer SchluBfolgerungen (theorie- und wissenschaftsorientierte Evaluation).

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Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung 271

Auch summative und formative Evaluation dienen unterschiedlichen Zielen. Diese von M. Scriven (1967, 1972) eingeführte Unterscheidung bezieht sich nicht nur auf die Ziele, sondern gleichzeitig auch auf den Zeitpunkt der Evaluation: Während summati­ve Evaluation schluBfolgerungs- und entscheidungsorientiert ist und nach Beendigung der MaBnahme durchgeführt wird, findet formative Evaluation bereits vor und wäh­rend der Durchführung statt und dient zu ihrer fortlaufenden Optimierung. Ein Beispiel für summative Evaluation wäre die Analyse des postinstruktional feststellbaren Lerner­folgs bei unterschiedlichen Varianten eines Trainings, urn eine Entscheidung zwischen diesen Varianten treffen zu können. Urn formative Evaluation hingegen würde es sich handeln, wenn das Lernmaterial für ein Training bereits während der Durchführung auf seine Wirkungen hin analysiert wird (z.B. durch Teilnehmerbefragung) und jeweils rechtzeitig vor Weiterführung der MaBnahme optimiert wird.

Die terminologische Kombination von Ziel und Zeitpunkt, die mit den Begriffen summativer und formativer Evaluation verbunden ist, macht diese begriffliche Unter­scheidung problematisch (vgl. auch Henninger, in diesem Band). Sie lädt näm1ich zu dem MiBverständnis ein, postinstruktionale (und insofem "summative") Evaluation sei immer schluBfolgerungs- und nicht entwicklungsorientiert, während - umgekehrt - ProzeBeva­luation ("formative" Evaluation) grundsätzlich entwicklungs-, aber nicht schluBfolge­rungsorientiert sei. Tatsächlich aber dient postinstruktionale Evaluation häufig zur an­schlieBenden Optimierung der betreffenden MaBnahme, auch wenn eine solche Verbesse­rung dann jeweils erst in der nächsten Durchführung greifen kann; umgekehrt kann Pro­zeBevaluation der Implementierungskontrolle dienen, ohne zur Veränderung der MaB­nahme während ihrer Durchführung AniaB zu geben. ProzeB- wie auch Post-Treatment­Evaluation können also ergebnis- oder veränderungsorientiert angelegt sein.

Unter historischer Perspektive läBt sich in der Evaluationsforschung ein Trend von Forderungen nach summativ angelegter, Realität analysierender, aber nicht verändern­der Evaluation hin zu veränderungsorientierter Evaluation ausmachen. Summative Evaluationen kennzeichneten die Bildungsforschung der 60er und 70er Jahre und wa­ren typisch für eine Wissenschaftshaltung, die Kontaminationen von vorgefundenen Untersuchungsobjekten durch Messung, Beurteilung und urteilsabhängige Verände­rung zu mini mieren suchte. Wissenschaft aber sollte wohl tunlichst so definiert wer­den, daB die Analyse vorfindbarer Realität nur eine ihrer Aufgaben darstellt, die Ent­wicklung systematischer Methoden zur Verbesserung solcher Realität aber eine zweite, ebenso legitime. Für weiterbildungsrelevante Disziplinen wie Pädagogik und Bil­dungsökonomie gilt dies in besonderem MaBe. Folglich haben sich in der Folgezeit auch in der Evaluationsforschung Ansätze gleichberechtigt etabliert, für die verände­rungsorientierte, "formative" Elemente entscheidend sind.

Unter einer integrativen Perspektive lassen sich Ansätze beiderlei Art heute je nach Zielsetzung auch innerhalb einzelner Evaluationsprojekte gut miteinander kombinie­ren. Von den jeweiligen Zielen der Evaluation hängt es ab, wie theorie- und verände­rungsorientierte, summative und formative Elemente jeweils zu kombinieren sind: Sy­stematische MaBnahmenentwicklung profitiert von formativen Elementen, die Ent­wicklungszeiten verkürzen; für die Gewinnung generalisierbarer SchluBfolgerungen benötigt man summative Elemente.

Beispiel für kombiniert formativ-summatives Vorgehen. Ein Beispiel für ein kom­biniertes Vorgehen liefert der von Reinmann-Rothmeier, Mandl & Prenzel (1994) vor-

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272 Reinhard Pekrun

gelegte Leitfaden für Evaluation. Dieser Leitfaden sieht vor, zunächst die Ziele einer Ma8nahme zu präzisieren (in den Bereichen Lem-, Transfer- und Untemehmensziele). Es schlie8t sich eine formative Ph ase an, in der von Experten Qualitätsanalysen von Inhait, didaktischer Struktur und Medieneinsatz der Ma8nahme sowie Wirkungsanaly­sen zu Akzeptanz, Lemerfolgen und Lemtransfer durchgeführt werden. Beides dient zur unmittelbaren Verbesserung der Ma8nahme. In einer anschlie8enden summativen Ph ase wird eine emeute, abschlie8ende Wirkungsanalyse vorgenommen, die sich wie­derum auf Akzeptanz, Lemerfolg und Transfer bezieht. Darüber hinaus werden in die­ser Ph ase Wirkungen auf Untemehmensebene sowie Kosten-Nutzen-Verhältnisse der Ma8nahme untersucht. Präzisiert wird der Leitfaden in Gestalt eines Vorschlags zur Qualitätssicherung eines computer-basierten Trainings zur Handhabung von MS-DOS­Software.

Tabelle 1: Formen der Evaluation in der Weiterbildung

Ziele

Wissenschaftsbezug

Evaluator

Gegenstände

Zeitpunkte

Methodik

Analyseebene

entscheidungs-/entwicklungs-/legitimations-/theorieorientierte Evaluation summative vs. formative Evaluation

Evaluationsforschung/wissenschaftsgestützte Evaluation/andere Formen

Selbst- vs. Fremdevaluation; interne vs. externe Evaluation

Evaluation von Zielen, Bedarf, Kontext, Input, Implementierung, Output Individueller Output: Lernerfolg, Transfererfolg Betrieblicher Output: Organisation, Lernkultur, Kosten/Nutzen

antizipatorische/ProzeB-/Ergebnis-Evaluation

systematische vs. unsystematische, geschlossene vs. oftene Evaluation experimentelle vs. nicht-experimentelle Evaluation quantitative vs. qualitative Evaluation Befragung/BeobachtunglTestverfahren/finanzielle Kosten-Nutzen-Analysen

Evaluation vs. Meta-Evaluation

Evaluation: Wissenschaft oder Praxis?

Unterschiedliche Auffassungen gibt es zu der Frage, inwieweit Ma8nahmen zum Er­reichen von Evaluationszielen jeweils als Wissen schaft, Praxis auf wissenschaftlicher Basis oder nicht-wissenschaftliche Vorgehensweisen anzusehen sind (vg!. Glass & EI­lett 1980; Sechrest & Figueredo 1993; Wottawa & Thierau 1998). Am sinnvollsten scheint es, je nach Zielstellung Ma8nahmen aller drei Arten als potentiell sinnvoll an­zuerkennen.

Evaluation als Bestandteil von Wissenschaft. Wissenschaft hat die Gewinnung syste­matischer Aussagen zum Ziel, denen Eigenschaften wie Objektivität, Prüf- und Belast­barkeit, (relative) Widerspruchsfreiheit, Wahrheitsgehalt sowie - in nomothetischen Wissen schaften - Generalisierbarkeit zuzusprechen sind. Wenn mit Evaluation derarti­ge Schlüsse angestrebt werden, dient sie wissenschaftlichen Zwecken ("Evaluations­forschung"). Dies wäre z.B. dann der Fall, wenn eine Reihe von Weiterbildungsma8-nahmen evaluiert werden, die sich Prinzipien des situierten Lemens und authentischen Lemmaterials bedienen, urn verallgemeinerbare Schlüsse zur Verwendbarkeit solcher Lemprinzipien und Materialien zu ziehen.

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Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung 273

Evaluation aufwissenschaftlicher Basis. Von wissenschaftsgestützer Evaluation ist zu sprechen, wenn wissenschaftliche Methoden und Kriterien verwendet werden (nach wissenschaftlichen Kriterien aufgebaute Fragebögen zu Akzeptanz und Motivations­wirkungen, Testverfahren zur Kontrolle des Lernfo1gs etc.). Der Vortei1 wissenschafts­gestützter Evaluation für die Praxis liegt im Gewinn an Objektivität, Präzision und da­mit an Verwendbarkeit der resu1tierenden Aussagen.

Andere Formen der Evaluation. In der Praxis finden sich viele Formen von Eva1uation, die nicht oder nur in geringem MaBe wissenschaftlich gestützt sind, von unsystemati­scher Eindrucksbildung bis hin zu unterschied1ichen Formen der Kostenbilanzierung. Keineswegs muB eine Eva1uation immer auf wissenschaftlichen Methoden gründen, urn nütz1ich zu sein: Ob sich der Einsatz wissenschaftsgestützer Verfahren lohnt oder z.B. unsystematische Teilnehmerbefragung durch Vorgesetzte oder Trainer hinreicht, hängt von der Zielstellung und den jeweiligen Kosten/Nutzen-Re1ationen ab. Wenn Qua1itätsdefizite von BildungsmaBnahmen hohe betrieb1iche Verluste oder Risiken er­zeugen oder zum Ausbleiben angestrebter Gewinne führen, dürfte Qua1itätssicherung anhand wissenschaftsbasierter Verfahren den Aufwand wert sein. Ein besonders häufi­ges Beispiel sind MaBnahmen zur Vermitt1ung betriebswichtiger Basisqualifikationen (z.B. im EDV-Bereich), die aufgrund unzureichender didaktischer Qualität nicht zu den erwünschten Transferwirkungen im betrieblichen Alltag führen. Lohnend ist wis­senschaftsgestützte Evaluation häufig auch dann, wenn man den langfristigen, in der Regel finanziell nicht präzise ermittelbaren EinfluB von Qualitätssicherung auf Weiter­bi1dung realistisch in Rechnung stellt.

Evaluation bei Qualitätssicherung nach ISO/EN/DIN 9000 ff. In der ISO-Normenreihe 9000 ff. werden formale Anforderungen an betriebliche Systeme des Qualitätsmana­gements definiert, die zunächst für den Produktionsbereich formu1iert worden waren. Die abstrakte Formulierung dieser Anforderungen erlaubt z.T. eine Übertragung auf den Dienstleistungsbereich und damit auch auf die betriebliche Weiterbildung. Aller­dings setzt dies eine bereichsspezifische Präzisierung voraus (vgl. K1über & Löwe 1995). Evaluation wird in dieser Normenreihe als wesentliche Komponente von Qua-1itätsmanagementsystemen definiert (dies gilt z.B. für die Qualitätsprüfungs-Elemente 10, 11 und 12 der von ISO 900 I definierten 20 Elemente von Qualitätsmanagement; Klüber & Löwe 1995).

Die von Gesellschaften wie CERTQUA seit einigen Jahren angebotene Zertifizierung von Qua1itätsmanagementsystemen nach ISO 9000ff. beruht auf einer Evaluation der in dem betreffenden Betrieb implementierten Systeme. Bei solcher Evaluation handelt es sich urn ein Bündel unterschiedlicher Verfahren (Qualitätsaudits, Erstellen und Analyse von Qualitätsmanagement-Handbüchem etc.). Das Vorgehen ist vergleichs­weise aufwendig und bürokratisch angelegt, kann aber zur Weckung von Qualitätsbe­wuBtsein und zu einer evaluationsgestützten Optimierung von Betriebsabläufen in der Weiterbildung führen. Verfahren dieser Art dürften sich vor allem dort lohnen, wo be­reits eingeführte, in gröBerem MaBstab eingesetzte MaGnahmen und Einrichtungen der Weiterbildung vorhanden sind. Angesichts der hohen Akzeptanz von ISO- und DIN­Normen liegt der potentielIe Nutzen gleichzeitig in einer Steigerung von sichtbarer Le­gitimierung und Kundenbindung (vgl. zu möglichen Vor- und Nachteilen die Erfah­rungsschilderungen in Feuchthofen & Severing 1995).

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Subjekte der Evaluation: Auftraggeber und Evaluatoren

Evaluation von WeiterbildungsmaBnahmen kann unterschiedliche Auftraggeber haben und von unterschiedlichen Personen durchgeführt werden. In der betrieblichen Weiter­bildung wird Evaluation mei st vom jeweiligen Betrieb in Auftrag gegeben. Anregun­gen können aber auch von auBen kommen (also von Kammern, Verbänden, Wissen­schaftlern etc.). Die Durchführung der Evaluation kann in der Hand von Personen lie­gen, die selber nicht an der betreffenden MaBnahme teilnehmen (Fremdevaluation), oder von den Teilnehmern selbst durchgeführt werden (Selbstevaluation; vgl. Stahl 1995). Fremdevaluation kann von Mitarbeitern des Betriebs oder von auBenstehenden Experten durchgeführt werden; es kann sich also urn interne oder urn externe Evaluati­on handeln. Häufig sind bei externer Fremdevaluation die Chancen am gröBten, sachli­che, unvoreingenommene Einschätzungen zu erhalten (ein direkter Vergleich von in­temer und externer Evaluation findet sich z.B. in der Studie von Berthold, Gebert, Rehmann & v. Rosenstiel1980; s.u. Abschnitt 3, Evaluationsbeispiell).

Wegen ihrer potentiell gröBeren Interessenneutralität und Objektivität standen Methoden der externen Fremdevaluation bisher im Vordergrund der Diskussion. Für groBangelegte Vergleichsuntersuchungen zu Bildungssystemen handelt es sich urn die Methode der Wahl (vgl. Arnold, 1999; Baumert & Lehmann 1997). Dennoch gewin­nen Formen der Selbstevaluation heute gerade im Bereich der Erwachsenen- und Weiterbildung zunehmend an Bedeutung. Selbstevaluation läBt sich als Bestandteil ei­nes kritisch-selbstreflexiven Qualitätsmanagements auffassen, das kongruent ist zu pädagogischen Forderungen nach einer Förderung selbstgesteuerten Lernens und Be­rufshandelns von Erwachsenen. Ungeachtet möglicher Objektivitätsprobleme ist Selbstevaluation auch mit Vorteilen wie Teilnehmerorientierung und Aufwandsreduk­tion verknüpft. Die Probleme möglicher Verzerrungen durch Selbsttäuschungen lassen sich z.T. durch die Konstruktion geeigneter Instrumente und durch die Entwicklung ei­nes kritischen QualitätsbewuBtseins auffangen (Stahl 1995). Im übrigen lassen sich beide Arten von Evaluation auch gewinnbringend miteinander verschränken. Dies ist z.B. immer dann der Fall, wenn von externen Evaluatoren Selbstauskünfte von Teil­nehmern zur Einschätzung einer MaBnahme eingeholt werden (anhand von Interviews, Fragebögen etc.) und anschlieBend aggregiert werden (z.B. Mandl & Reinmann­Rothmeier im Druck).

Gegenstände von Evaluation

Die Evaluation einer MaBnahme kann sich auf unterschiedliche Aspekte der MaBnah­me richten. Wichtige Gegenstände von Evaluation sind Ziele, Bedarf, Kontext, Input, ImplementierunglDurchführung und Output von MaBnahmen (vgl. Wottawa & Thierau 1998).

Ziele, Bedarf und Entwicklung von Qualitätsbewufltsein. Bei einer Evaluation der Ziele einer WeiterbildungsmaBnahme ist zu untersuchen, inwieweit diese Ziele mit überge­ordneten Zielsetzungen in Einklang stehen. Zu analysieren ist, inwieweit die curricula­ren Ziele der MaBnahme allgemeinen pädagogischen Zielen der Erwachsenenbildung entsprechen (z.B. Kompetenzzuwachs in bereichsübergreifenen "Schlüsselqualifika-

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Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung 275

tionen", Fähigkeiten zur Selbstregulation von Berufshandeln und Lemen), und inwie­weit sie einen Beitrag der MaBnahme zur Erreichung der Produktions- und Ertragsziele des Betriebs vermuten lassen. Eine Evaluation des Bedaifs an Fort- und Weiterbildung ist entscheidend für die MaBnahmenplanung und sich ergebende Kosten-/Nutzen-Rela­tionen. Bedarfsanalyse, Bedarfsweckung und entsprechende Informationskampagnen sind zentrale Bausteine der notwendigen Steigerung eines veränderungsorientierten be­trieblichen QualitätsbewuBtseins (EigIer, Jechle, Kolb & Winter 1997).

Kontext, Input und Implementierung. Eine Evaluation des Kontextes hat zum einen die betriebsintemen oder -externen Settings zu evaluieren, in deren Rahmen die Bildungs­maBnahme stattfindet ("Lemfeld"; Eigler, Jechle, Kolb & Winter 1997), darüber hin­aus aber auch die situativen Gegebenheiten der Arbeitsplätze, an denen Gelemtes um­zusetzen ist ("Funktionsfeld"). Zum Input einer MaBnahme zählen investierte Kosten, Merkmale der Unterrichtenden (Lehrkompetenzen, Persönlichkeit), Merkmale der Ler­ner (Vorwissen, Motivation etc.), curriculare Inhalte und verwendete Instruktionsmedi­en. Aus pädagogischer Perspektive richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst häufig auf eine Evaluation des Curriculums. Für den Erfolg eines Curriculums aber sind Merkmale der Lehrer und Lemer, die das Curriculum in Lemprozesse umzusetzen ha­ben, ebenso entscheidend.

Häufig zu sehr vemachlässigt wird die Evaluation der Implementierung von MaB­nahmen der Weiterbildung. Analysen der Leistung schulischer BildungsmaBnahmen haben gezeigt, daB ein Schei tem oft nicht auf Mängel des Curriculums oder der ver­wendeten Lehrmaterialien und Medien zurückgeht, sondem auf mangelnde Umsetzung durch die Beteiligten (vg!. Strittmatter & Bedersdorfer 1991; Treiber 1982). Wenn -beispielsweise - Lehrer sich im Unterricht nicht urn den Lehrstoff kümmem und Schüler nicht aufmerksam sind (Problematik reduzierter Lehr-Lem-Zeiten), ist ein Ausbleiben von Lemerfolgen nicht verwunderlich (Treiber 1982).

Entscheidend ist deshalb eine Evaluation der Realisierung der MaBnahme durch die Trainer und ihrer Akzeptanz und faktischen Nutzung durch die Teilnehmer (Anwe­senheit, Lemzeiten, Mediennutzung etc.). Implementierungsprobleme können vor al­lem dort eine Rolle spielen, wo innovative Formate und Medientools eingeführt wer­den, für deren Akzeptanz und Nutzung hergebrachte Verhaltensgewohnheiten und motivationale Barrieren überwunden werden müssen (vgl. Mandl, Reinmann-Roth­meier & Gräsel 1998). Ein weiteres Problem kann in mangeinder Eigenmotivation von Teilnehmem liegen. In beiden Fällen wäre der SchluB zu ziehen, daB Bedarfsweckung und Steigerung von QualitätsbewuBtsein notwendig sind, bevor mit einem effizienten Einsatz der MaBnahme gerechnet werden kann.

Individueller Output: Lemen und Transfer. Wie umfassend die Evaluation der bisher genannten Facetten auch ausfällt: Eine Analyse des Outputs (der "Produkte") der MaBnahme dürfte in aller Regel zur Evaluation von Weiterbildung zählen. Wirkungen können unterschiedliche Arten von Lemeffekten betreffen und auf unterschiedlichen Systemebenen angesiedelt sein. Auf der Seite individueller Lemerfolge können nicht nur kognitive Qualifikationsgewinne ei ne Rolle spielen (Zuwachs an deklarativem, prozeduralem und metakognitivem Wissen), sondem auch Veränderungen affektiver und motivationaler Art (z.B. Gewinn an Lemfreude). Entscheidend dürfte darüber hin­aus aber der Transfer in den Berufsalltag der Teilnehmer sein, also die individuellen

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Transfererfolge einer MaBnahme. Im Sinne einer realistischen Einschätzung des Nut­zens einer MaBnahme ist eine Transferanalyse als zentrale, unverzichtbare Aufgabe von Weiterbildungsevaluation anzusehen.

Output auf Betriebsebene: Betriebsabläufe, Lernkultur, Gewinnsteigerung. Auf der betrieblichen, überindividuellen Ebene liegt eine entscheidende, von Output-Evalua­tion zu untersuchende Wirkung in direkten betrieblichen Gewinnmaximierungen durch effizienteres Berufshandeln von Mitarbeitem. Daneben würde es sich lohnen, in stärke­rem MaBe als bisher üblich auch Einflüsse auf langfristig orientierte Veränderungen von Betriebsabläufen und Betriebskulturen zu analysieren. Betrachtet man Betriebe als "lemen de Organisationen", die in zukunftsoffener Weise nach dynamischer Quali­tätsoptimierung im Sinne einer Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts streben, so liegt eine zentrale Wirkung von Weiterbildung in der Entwick­lung betrieblicher Lemkulturen.

Output auf gesellschaftlicher Ebene. Weiterbildung kann nicht nur dem Einzelnen und seinem Betrieb zugute kommen, sondem auch darüber hinaus Wirkungen zeitigen, also beispielsweise auf soziale Umwelten (z.B. Familien), auf ganze Wirtschaftszweige oder auf die Entwicklung auBerwirtschaftlicher gesellschaftlicher Systeme (Beispiel: Förde­rung neuer Kommunikations- und Demokratiekulturen durch Entwicklung von Fähig­keiten zu mündiger Informationsnutzung in der medienorientierten Weiterbildung). Fol­gen dieser Art und zugeordnete MaBnahmen der Qualitätssicherung werden für das schu­lische und hochschulische Bildungswesen gegenwärtig intensiv diskutiert (vg!. Mandl, Reinmann-Rothmeier & Gräsel 1998). Im Weiterbildungsbereich hingegen steht die Entwicklung und Durchführung entsprechender Evaluationsprojekte erst am Beginn.

Gesamtqualität der MafJnahme. Bei der Abschätzung der Gesamtqualität einer MaB­nahme sind Urteile zu unterschiedlichen Aspekten zueinander ins Verhältnis zu setzen. Entscheidend ist dabei die Frage, ob sich die für die Gewinnung dieser Einzelurteile verwendeten Kriterien tatsächlich ins Verhältnis setzen lassen, ob sie also kompatibel sind oder nicht.

Evaluation von BildungsmaBnahmen bezieht sich meist entweder auf pädagogische oder auf ökonomische Kriterien. Dementsprechend ist zwischen pädagogisch orien­tierter Evaluation einerseits und ökonomischer Evaluation (als Bestandteil von Bil­dungscontrolling) andererseits zu differenzieren. Diese beiden Arten von Ansätzen ste­hen in der Regel unverbunden nebeneinander. Für eine realistische Nutzen-Kosten­Einschätzung wäre es notwendig, Urteile zu Kriterien beiderlei Art gleichermaBen zu berücksichtigen. Die Frage, wie dies geschehen könnte, ist bisher nicht befriedigend beantwortet. Insbesondere bereitet die Tatsache Probleme, daB es keine gemeinsame Metrik gibt: Der Wert von Lernerfolgen z.B. läBt sich nur begrenzt anhand finanzieller MaBstäbe messen, zumal Lernprozesse im Zuge kumulativen Lernens häufig erst mit­tel- und langfristig wirksam werden.

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Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung 277

Zeitpunkte von Evaluation

Alle genannten Aspekte von BildungsmaBnahmen können vor Beginn der MaBnahme, während ihrer Durchführung oder danach untersucht werden. Unterschieden werden deshalb antizipatorische Evaluation, Prozej3evaluation und Ergebnisevaluation (vgl. Wottawa & Thierau 1998). Dabei bezieht sich der Begriff "Ergebnisevaluation" nicht auf die Wirkungen einer MaBnahme, sondem auf den Erhebungszeitpunkt. Weniger miBverständlich wäre es, von post-instruktionaler Evaluation zu sprechen.

Zeitpunkt und Gegenstand der Analyse sind im Prinzip unabhängig voneinander. So kann sich z.B. auch eine antizipatorische Evaluation auf die (vermuteten) Wirkun­gen einer MaBnahme beziehen. Vor allem bei Ma8nahmen, die mit hohen Kosten oder Risiken verbunden sind, ist eine systematische antizipatorische Evaluation sinnvoll. Mit Ausnahme des technischen und medizinischen Bereiches (Brückenbau, Operatio­nen etc.) wird von den Möglichkeiten solcher vorausschauenden Evaluation bisher we­nig Gebrauch gemacht. Zwar sind Entscheidungen für die Durchführung von MaB­nahmen auch im Bildungsbereich immer von Vermutungen über ihren Wert getragen; eine genauere Betrachtung aber überlä8t man häufig der Wirkungsanalyse, obschon etwas Systematik bereits in der Entscheidungs- und Implementierungsphase gut getan hätte.

Methodik der Evaluation

Evaluation kann mehr oder weniger systematisch erfolgen. Unsystematisch ist Evalua­tion dann, wenn sie in nicht geplanter, wenig strukturierter Weise je nach situativen Bedürfnissen spontan stattfindet und ihre Ergebnisse ebenso spontan genutzt und kommuniziert werden. Solche Evaluation findet im Alltag ständig statt; von der Aus­wahl eines Gesprächsthemas bis zum Kauf von weniger wichtigen Alltagsgegenstän­den. Systematisch ist Evaluation, wenn sie geplant und strukturiert abläuft. Auch sol­che Evaluation findet sich im Alltag (z.B. beim langfristig geplanten, durchorganisier­ten Kauf eines Hauses), im übrigen aber in allen Formen wissenschaftlicher Evaluati­on. Femer kann es sich urn geschlossene oder offene Evaluation handeln (Beywl 1991). Bei geschlossener Evaluation werden Ziele, Kriterien und Methoden der Eva­luation vor ihrem Beginn festgelegt, bei offener Evaluation hingegen erst im Zuge der Evaluation entwickelt. Dies ist beispielsweise dann sinnvoll, wenn die Evaluation auch eine Zielevaluation der MaBnahme unter Einbezug der individuellen Ziele ihrer Teil­nehmer beinhalten solI.

Bei systematischer Evaluation ist der Ablauf von der Zielsetzung über die Unter­suchungsplanung bis zum Einsatz von Erhebungsmethoden und der Analyse und Ver­wertung der Resultate deutlich gegliedert. Für die Gestaltung solcher Evaluation steht prinzipiell das gesamte Instrumentarium der zuständigen Wissenschaften zur Verfü­gung. Vor allem bezüglich Untersuchungsplan (Design) und Erhebungsmethodik steht man vor kritischen methodischen Entscheidungen.

Untersuchungsplan. Von experimenteller Evaluation ist zu sprechen, wenn der Einsatz oder einzelne Aspekte einer Ma8nahme systematisch variiert werden, urn ihre Wirksamkeit zu überprüfen, wobei Durchführungsbedingungen (Setting, Lemmaterial

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etc.) und Personen (Weiterbildner, Lemer) bei den unterschiedlichen experimentellen Varianten bis auf die variierten Aspekte äquivalent zueinander sind. Einfachster Pro­totyp wäre ein Design mit einer Experimentalgruppe, die sich der MaBnahme unter­zieht, und einer Kontrollgruppe, die dies nicht tut. Der Vorteil eines experimentellen Designs ist, daB Ergebnisunterschiede auf die jeweils variierte kritische GröBe zurück­geführt werden können.

In der Praxis der Weiterbildung ist ein so1ches Design allerdings selten realisierbar. So läBt sich z.B. eine Zufallszuordnung von Teilnehmem zu Gruppen, die bei hinrei­chender StichprobengröBe für näherungsweise Äquivalenz der Gruppen sorgen kann, kaum jemals befriedigend bewerkstelligen. Systematische Vergleiche aber lassen sich glücklicherweise auch dann durchführen, wenn die Äquivalenzforderung zwar verletzt ist, diejenigen Variablen, we1che Nicht-Äquivalenz bedingen, aber kontrolliert werden. In einem so1chen Fall handelt es sich urn ein quasi-experimentelles Design (s.u. Ab­schnitt 3, Beispiel 1).

In vielen Fällen schlieBlich stehen der Vergleich mit einer Kontrollgruppe oder Vergleiche zwischen altemativen Varianten einer MaBnahme entweder nicht im Zen­trum des Interesses, oder Kontrollgruppe bzw. MaBnahmenvarianten stehen nicht zur Verfügung. In so1chen Fällen handelt es sich urn nicht-experimentelle Designs. Nicht­experimentelle Designs sind kostengünstiger und experimentellen Untersuchungen keineswegs in jedem Fall unterlegen. Die Methodik von nicht-experimentellen Designs und zugeordneten Strategien der Datenanalyse hat in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht, die es erlauben, die Wirksarnkeit von interessierenden Variablen auch ohne gezielte Manipulation zu erfassen (z.B. in Bedingungsanalysen anhand von Strukturgleichungsmodellierungen; vgl. Kline 1998).

Erhebungsmethodik, Datenanalyse. Eine grundsätzliche Unterscheidung betrifft die Verwendung quantitativer vs. qualitativer Verfahren. Der relative Wert von quan­titativer vs. qualitativer Evaluation wird nach wie vor kontrovers diskutiert (Sechrest & Figueredo 1993). So1che Kontroversen lassen sich auflösen, wenn man berücksichtigt, daB sich Verfahren beiderlei Art innerhalb von Evaluationsprojekten gewinnbringend kombinieren lassen und dann näher analysiert, für we1che Einsatzzwecke und Teilfra­gestellungen sie jeweils am besten geeignet sind. So lassen sich z.B. Aufschlüsse zu den Gründen mangeInder Akzeptanz eines Trainings anhand von qualitativen Einzel­interviews mit Teilnehmem organisieren, während ein experimenteller Vergleich des relativen Lemgewinns bei zwei Trainingsvarianten eher auf quantitative Verfahren zu­rückzugreifen hat.

Eine Evaluation von BildungsmaBnahmen kann sich quantitativer und qualitativer Varianten von Beobachtung, Testverfahren und Befragungsmethoden (Interviews, Fra­gebögen) bedienen. Anders als Evaluationen im Schulbereich, die auch in Deutschland seit längerem standardisierte Verfahren der Leistungsmessung verwenden, haben sich Projekte in der Weiterbildung allerdings bisher mei st auf den Einsatz von weniger aufwendigen Befragungsinstrumenten und die Erhebung von finanziellen Kennziffem gestützt. Dies bietet eine Reihe von Vorteilen; so sind z.B. bei der Erfassung von sub­jektiven Phänomenen wie der Akzeptanz einer MaBnahme und ihrer affektiv-moti­vationalen Wirkungen Befragungsinstrumente unverzichtbar. Wenn Befragungen zur Erfassung von Unterrichtsqualität und Lemleistungen eingesetzt werden, sind aller­dings auch mögliche Probleme zu berücksichtigen.

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Besonders intensiv sind solche Probleme in der Forschung zu studentischen Eva­luationen von universitären Lehrveranstaltungen untersucht worden. Ein zentrales Re­sultat der experimentellen Forschung zu solchen Evaluationen wurde bereits in den 70er Jahren sichtbar: Die Benotung von Studenten nimmt EinfluB auf ihre Einschät­zungen der Lehrqualität. Ähnliches gilt für eine Reihe weiterer Variablen, die mit der tatsächlichen didaktischen QuaIität einer Veranstaltung wenig zu tun haben (z.B. Teil­nehmererwartungen; Perry, Abrami, Leventhai & Check 1979). Heftig urnstritten ist gegenwärtig, wie stark und damit praxisrelevant validitätsmindernde Effekte dieser Art tatsächlich sind (vgl. die Kontroverse zwischen Greenwald & Gillmore 1997, und Marsh & Roche 1997). Zwar sind Befunde zur studentischen Lehrevaluation nicht oh­ne weiteres über den Bereich der universitären Bildung hinaus verallgemeinerbar; rechnen muB man aber auch im Weiterbildungsbereich mit Problemen dieser Art.

Meta-Evaluation: Qualitätssicherung von Evaluation

Eine systematische Evaluation ist aufwendig. Folglich stellen sich für MaBnahmen der Evaluation in ähnlicher Weise Fragen nach ihrem Kosten/Nutzen-Verhältnis und ihrer Optimierbarkeit, wie dies im Rahmen von Evaluation für die evaluierten MaBnahmen gilt. Aufgabe von Meta-Evaluation (Evaluation der Evaluation) ist es, solche Fragen zu beantworten. Alle Aspekte von Evaluation (Ziele, Methoden, Resultate, Kosten etc.) können zum Gegenstand von Meta-Evaluation werden, und ebenso wie Evaluation selbst kann auch Meta-Evaluation mehr oder minder wissenschaftIicher Art sein, intern oder extern lokalisiert sein, zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden (vor, wäh­rend, nach der Evaluation) und sich unterschiedlicher Methoden bedienen. Meta­Evaluation als eine Spezialform von Evaluation kann sich also derselben Gestal­tungsprinzipien bedienen wie alle anderen Formen von Evaluation; nur ihr Gegenstand ist in anderer Weise spezifiziert.

Für die Praxis der Weiterbildung ist Meta-Evaluation aus summativer Perspektive wesentlich, urn das Kosten/Nutzen-Verhältnis einer Evaluation einschätzen zu können, und unter formativer Perspektive, urn ihre Methodik und damit ihren Nutzen zu opti­mieren. Ein Beispiel ist Evaluation von Qualitätssicherung anhand der Normenreihe ISO/ENIDIN 9000 ff. (s.o.). Auch für die wissenschaftliche Entwicklung ist Meta­Evaluation wesentlich, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ergibt sich erst aus der Qualitätsüberprüfung von Evaluation, in welcher Weise wissenschaftsgestützte Evaluationsmethoden sinnvoll weiterzuentwickeln sind. Zum anderen kann eine Meta­Evaluation der Resultate von Evaluationen dazu dienen, allgemeinere Schlüsse zu Pro­zessen und Wirkungen der betreffenden BildungsmaBnahmen zu ziehen ("Meta­Analyse" empirischer Resultate; Hunter & Schmidt 1991).

3. Ablaufvon Evaluation und Beispiele

Die skizzierten Varianten von Evaluation können in vielfältiger Weise miteinander kombiniert werden, so daB sich in der Praxis eine groGe Fülle an Möglichkeiten für die Gestaltung einer Evaluation ergibt. Angesichts des Mangels an allgemein akzeptierten

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Richtlinien für solche Gestaltung bieten sich Evaluatoren erhebliche Freiräume für methodisch kreatives Handeln. Allerdings sind fast allen Gestaltungsvarianten syste­matischer Evaluation bestimmte ProzeBelemente gemeinsam, zu denen vor allem die folgenden zählen (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: ProzeBelemente von Evaluation ...

Auftraggeber .. • WeiterbildungsmaBnahme .. .. • Evaluationsziele .. .. • ... Evaluationsstrategie • Durchführung + Auswertung • Berichtlegung + Nutzung • Meta-Evaluation

(1) Auftraggeber und Maj3nahme. Am Beginn einer Evaluation stehen Auftraggeber und zu evaluierende MaBnahme. Vor ihrem Einsatz sind häufig erst eine Analyse bzw. Weckung des Bedarfs durchzuführen (vgl. Eigler, Jechle, Kolb & Winter 1997; Tippelt 1994). 1st der Bedarf geklärt, folgen Entscheidungen zwischen vorliegenden Altemati­ven bzw. die Konstruktion einer auf die betrieblichen Bedürfnisse zugeschnittenen neuen MaBnahme. Bereits hier sollte antizipatorische Evaluation beteiligt sein, wäh­rend prozeB- und postinstruktionale Evaluation erst nach Beginn der MaBnahme ein­setzen.

(2) Zielklärung. Vor Beginn der Evaluation ist es sinnvoll, mit dem Auftraggeber so­wie möglichst auch mit Teilnehmem der MaBnahme in expliziter Weise die jeweiligen Nutzenerwartungen abzuklären, entsprechende Zielhierarchien zu entwickeln und aus ihnen konkrete Evaluationskriterien abzuleiten (Kosten der MaBnahme, Akzeptanz, motivationale Effekte, kognitiver Lemerfolg, Transfer, Wirkungen auf betrieblicher Ebene etc.). Bei offener Evaluation kann diese Abklärung im Zuge der Evaluation fortgesetzt werden. Von den Zielen der Evaluation hängt es ab, welche der im letzten Abschnitt dargestellten Evaluationsformen jeweils angemessen sind.

(3) Evaluationsstrategie. Nach der Klärung von Zielen und Kriterien ist zu planen, an­hand welcher Untersuchungsdesigns, Erhebungsverfahren, Auswertungsmethoden und Formen der Berichtlegung die Evaluation durchzuführen ist und in welcher zeitlichen Reihung die einzelnen Schritte abzuarbeiten sind (Zeitplan). Für summative Formen der Evaluation ist es häufig ratsam, diese Planung bis in die Details der genannten Punkte hinein zu präzisieren, urn eine realistische Zeitplanung zu ermöglichen und die

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Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung 281

Objektivität und Zuverlässigkeit resultierender Aussagen zu optimieren. Allerdings können sich auch bei summativer Evaluation während der Durchführung Möglichkei­ten zu ihrer weiteren Optimierung ergeben, die man nicht ungenutzt lassen sollte, so­weit die Logik des jeweiligen Untersuchungsplans nicht zu sehr gefáhrdet wird (z.B. Verbesserung eines Fragebogens für einen zweiten Erhebungszeitpunkt nach Kritik durch die Teilnehmer; Einsatz eines zusätzlichen Evaluationsinstruments bei unerwar­tet hoher Testmotivation). Planungsformen dieser Art finden sich im Bereich der schu­lischen und hochschulischen Evaluation (z.B. bei der TIMMS-Studie; Baumert & Lehmann 1997) bisher häufiger als im Weiterbildungsbereich.

Bei formativer, also prozeBbegleitender Evaluation hingegen ist eine möglichst präzise Planung zwar ebenfalls hilfreich; die se aber hat veränderungsoffen zu sein und Rückkopplungsschleifen von Optimierungen der MaBnahme und zugeordneten Modi­fikationen der Evaluationsinstrumente vorzusehen.

(4) Durchführung und Auswertung. Steht die Strategie fest, können die Evaluation durchgeführt und die anfallenden Daten ausgewertet werden. Für die Interpretation der Daten ist es wesentlich, auch die Umstände der Durchführung zu dokumentieren.

(5) Berichtlegung, Nutzung und Meta-Evaluation. Im FalIe von summativer Evaluation sind die Resultate den Evaluationszielen entsprechend nach AbschluB der Evaluation aufzubereiten und zu interpretieren, urn sie für anschlieBende Entscheidungen, Opti­mierungen usw. nutzbar zu machen. Bei formativer Evaluation hingegen müssen be­reits Zwischenresultate rasch verfügbar sein und unmittelbar in Optimierungen der MaBnahme umgesetzt werden. Nach AbschluB einer oder mehrerer Evaluationen ist es sinnvoll, in Relation zu den entstandenen Kosten ihren Ertrag abzuschätzen (Meta­Evaluation). Femer können Befunde mehrerer gleichartiger Evaluationsprojekte zur Gewinnung generalisierter, meta-analytischer Aussagen zu MaBnahmen der betreffen­den Art verwendet werden.

Im Unterschied zu anderen Bereichen des Bildungswesens scheint systematische Evaluation in der Weiterbildung im deutschsprachigen Raum bisher eher selten zu sein (z.B. Berthold, Gebert & Rosenstiel 1980; Manstetten 1996; Reinmann-Rothmeier & Mandl im Druck; Thierau 1991; Wenninger & Nold 1995; vgl. Wottawa & Thierau 1998). Anhand der folgenden beiden, gut dokumentierten Studien wird exemplarisch dargestellt, welche Gestaltungsvarianten für eine Evaluation von betrieblicher Weiter­bildung eine Rolle spielen können (vgl. auch Reinmann-Rothmeier, Mandl & Prenzel 1994).

Beispieli : Evaluation eines Führungskräftetrainings

Ziel der Studie von Berthold, Gebert, Rehmann & v. Rosenstiel (1980) war es, an Füh­rungskräften des unteren und mittieren Managements (N = 68) Inhalte und Wirkungen eines Kommunikations- und Kooperationstrainings formativ und summativ zu überprü­fen. Das Training wurde im Zuge der Evaluation fortlaufend optirniert und im Rahmen eines quasi-experimentellen MeBwiederholungs-Designs zwei Trainingsgruppen ange­boten, die mit einer Kontrollgruppe verglichen wurden. Alle drei Gruppen wurden zuvor parallelisiert. Vor und nach Durchführung des Trainings wurden eine Reihe von Frage-

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bogen- und Interviewverfahren eingesetzt, mit denen Einschätzungen durch Teilnehmer, Mitarbeiter und Vorgesetzte erhoben wurden. Die summativen Resultate zeigten keine Verhaltensänderungen in der Kontrollgruppe, hingegen günstige Verhaltensänderungen in den beiden Trainingsgruppen. Diese Änderungen fielen in der Selbsteinschätzung deutlicher aus als in den Fremdeinschätzungen, und sie verringerten sich mit zunehmen­dem zeitlichen Abstand zum Training. Zudem fanden sich Effekte der Evaluationsart: Bei interner Evaluation durch einen der Trainer berichtete ein deutlich höherer Prozentsatz der Teilnehmer von Lernerfolgen, als wenn ein externer Psychologe die Befragung durchführte. Die Autoren folgern, daB das Training insgesamt wirksam war und daB Out­put-Evaluation extern, multimethodal sowie langfristig angelegt sein sollte.

Beispiel2: Evaluation einer Lernsoftware

Von Reinmann-Rothmeier und Mandl (im Druck) wurde in zwei nicht-experimentellen Untersuchungen (N = 6/36 Meister- und Technikerschüler) eine Lernsoftware zu "In­formations- und Kommunikationstechniken zur Betriebsführung im Handwerk" eva­luiert, die für den individuellen Weiterbildungseinsatz im Arbeitsalltag von Handwer­kern konzipiert ist. Die Evaluation bezog sich jeweils auf ein ausgewähltes Modul die­ser Software. In der ersten Untersuchung wurden halbstrukturierte Interviews verwen­det, in der zweiten Untersuchung ein Fragebogen und eine Gruppendiskussion, und zwar jeweils im AnschluB an die Auseinandersetzung mit dem betreffenden Software­Modul. Die Resultate zeigen in beiden Untersuchungen, daB die Lernsoftware über­wiegend auf Akzeptanz stieB und ihre technische und didaktische Gestaltung überwie­gend positiv beurteilt wurden. Weniger günstig wurden dagegen Praxisbezug und Möglichkeiten des Transfers in den Berufsalltag eingeschätzt, wofür in der Gruppen­diskussion fehlende Authentizität der verwendeten Praxisbeispiele verantwortlich ge­macht wurde. Die Autoren leiten das Plädoyer ab, im Sinne von Paradigmen situierten Lernes für höhere Authentizität bei der Gestaltung von Lernsoftware zu sorgen.

Vergleich der beiden Studien

Die Studie von Berthold u.a. belegt den Nutzen einer experimentell orientierten, multi­methodalen Strategie. Dies gilt sowohl für die Befunde zu den Wirkungen des unter­suchten Trainings wie für die Befunde zu Methodeneffekten (stärkere Effekte in der Selbst- als in der Fremdeinschätzung, Interviewereffekte). Gleichzeitig belegt die Stu­die aber auch, daB ei ne solche quasi-experimentelle Untersuchung typischerweise ei­nen beträchtlichen Aufwand beinhaltet. Das Vorgehen von Reinmann-Rothmeier und Mandl hingegen ist nicht-experimentell und beschränkt sich auf Teilnehmerbefragun­gen, so daB Methodenartefakte nicht kontrollierbar sind. Dennoch ergeben sich wert­volle, in der Gestaltung von Lernmaterial direkt umsetzbare Befunde. Gleichzeitig ist das gewählte Vorgehen leichter implementierbar und weniger aufwendig. Allgemein läBt sich beim Vergleich unterschiedlicher Evaluationsprojekte aus meta-evaluatori­scher Perspektive schlieBen, daB methodisch unterschiedliche Vorgehensweisen je­weils spezifische Vor- und Nachteile mit sich bringen, so daB eine Verordnung ein­heitlicher Rezepte zur Gestaltung von Evaluation nicht sinnvoll ist.

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4. Ausblick: Desiderata für Evaluation und Evaluationsforschung

Die Weiterbildung bedarf in verstärktem MaGe systematischer Evaluation und der hier­für notwendigen Ausbildung von Evaluatoren. Wesentliche Voraussetzung ist, daG die bildungsorientierte Evaluationsforschung, die sich bisher vor allem urn das schulische Bildungswesen bemüht hat, sich auch im Weiterbildungsbereich stärker für die Kon­struktion von Evaluationsmethoden und die Entwicklung von Qualitätsstandards und Verfahren der Meta-Evaluation engagiert.

Bedarf an Evaluation von Weiterbildung. Die betriebliche Weiterbildung im deutsch­sprachigen Raum variiert in ihrer Qualität erheblich. Nur durch intensivere, systemati­sche Bemühungen urn Qualitätssicherung läGt sich für die notwendige Erhöhung der Qualität sorgen. Die bisherige Situation hat P. Eichenberger (1990) treffend mit dem Dikturn "Millionen für Bildung, Pfennige für Evaluation" gekennzeichnet. Diese Si­tuation gilt es zu ändem. Evaluation sollte in verstärktem MaGe eingesetzt werden, wobei Kriterien der Betriebs- und Teilnehmerorientierung gleichermaGen zu beachten wären und im Sinne eines multimethodalen Vorgehens über bisher übliche Akzeptanz­und Wirkungsbefragungen von Teilnehmem hinaus auch Test- und Beobachtungsin­strumente eingesetzt werden sollten. Dies gilt sowohl für die Fremd- wie für die Selbstevaluation: Nicht nur Befragungsinstrumente, sondem auch Methoden der Testung und Beobachtung lassen sich in der Selbstevaluation einsetzen. Wesentlich wären schlieBlich auch Analysen zu den Langzeitwirkungen von Weiterbildung.

Ausbildung von Evaluatoren. Qualitativ hochwertige Evaluation im Weiterbildungsbe­reich setzt professionelle, interdisziplinär orientierte Kompetenzen auf seiten der Eva­luatoren voraus. Stärker als z.B. in den USA mangelt es hieran im deutschsprachigen Raum. Hochschulen und Weiterbildung im Evaluationsbereich sind gefordert, für die Ausbildung von professionellen Evaluatoren zu sorgen (vgl. Wottawa & Thierau 1998).

Entwicklung von Evaluationsmethodik. Die Debatte über angemessene Formen der Evaluation war lange Zeit durch z.T. heftige Kontroversen zwischen Protagonisten un­terschiedlicher "Paradigmen" der Evaluation gekennzeichnet (vgl. Glass & Ellett, 1980; Sechrest & Figueredo 1993). In diesen Debatten wurde häufig unterstellt, daG sich die Vielfait möglicher Evaluationsformen auf einige wenige Modelle reduzieren lasse. So wurde z.B. summative Evaluation so diskutiert, als sei sie typischerweise mit einem geschlossenen, experimentellen und quantitativen Vorgehen verknüpft, das sich primär an traditionellen Qualitätskriterien wissenschaftlichen Vorgehens orientiere (wie unparteiischer Neutralität, Objektivität, Zuverlässigkeit etc.), hingegen Teilneh­merinteressen, lokale und situative Gegebenheiten, quantitativ nicht faGbare MaGnah­menaspekte und mögliche Veränderungswirkungen von Evaluation vemachlässige. Die Gegenposition läGt sich entsprechend durch ein Favorisieren von gleichzeitig for­mativen, offenen, qualitativen und teilnehmerorientierten Vorgehensweisen kenn­zeichnen (vgl. Sechrest & Figueredo 1993).

Debatten dieser Art spiegein allgemeinere Kontroversen urn angemessene Metho­dologien in Sozialwissenschaften, Pädagogik und Psychologie wider. Übersehen wird dabei die oben erläuterte Tatsache, daG die zentralen Dimensionen unterschiedlicher Evaluationsformen sachlogisch weitgehend voneinander unabhängig und mithin je

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nach Zielstellung frei kombinierbar sind: Summative Evaluation kann zur Veränderung von MaSnahmen dienen, Evaluation kann gleichzeitig teilnehmer- und betriebsorien­tiert sein, experimentelle Evaluation kann sich qualitativer Methoden bedienen, quan­titative und qualitative Verfahren können gewinnbringend innerhalb ein und desselben Untersuchungsschrittes kombiniert werden etc. Macht man sich frei von den Scheu­klappen überkommener, ideologieartiger methodologischer Positionen, so stellt sich anstel1e von Altemativen der genannten Art die Frage, für welche Evaluationsziele je­weils welche Kombinationen von Evaluationsformen angemessen sind.

Aufgabe zukünftiger Evaluationsforschung sollte es auch im Weiterbildungsbe­reich sein, systematische Antworten auf diese Frage zu generieren. Angesichts der Komplexität von Evaluationsaufgaben kann und sollte dies nicht zu rezeptartigen Emp­fehlungen führen. Fundierte Leitlinien für angemessene Methodenwahl aber sollten dem Praktiker an die Hand gegeben werden können (Beispieie: Fink 1995; Reinmann­Rothmeier, Mandl & Prenzei 1994). Im Weiterbildungsbereich dürfte zukünftig ei ne methodische Integration von pädagogisch und ökonomisch orientierten Formen der Evaluation besonders wesentIich sein. Auch die Entwicklung von multimethodalen Strategien und von Strategien zur Erfassung individueller und betrieblicher Langzeit­folgen von Weiterbildung sol1te vorangetrieben werden.

Meta-Evaluation und Qualitätskriterien für Evaluation. DaS unterschiedliche Formen von Evaluation in vieIfältiger Weise kombinierbar sind, könnte den Eindruck methodi­scher Beliebigkeit suggerieren. Wenn Evaluation ihre Ziele erreichen sol1, ist es tat­sächlich aber keineswegs gleichgültig, in welcher Wei se sie durchgeführt wird. Stan­dards für die Einschätzung und Sicherung der Qualität von Evaluation liegen für eine Reihe von Formen und Teilbereichen vor. Dies gilt z.B. für die Gestaltung von expe­rimenteII orientierten Untersuchungsplänen, für diagnostische Gütekriterien von Erhe­bungsverfahren (wie Objektivität, ReliabiIität und Validität) und für formale Aspekte von Qualitätssicherung im Sinne der Normenreihe ISOlENfDIN 9000 ff. Für andere Bereiche hingegen steckt die Entwicklung von Qualitätsstandards noch in den Kinder­schuhen. Auch an Standards zur Einschätzung der Gesamtqualität von Evaluations­projekten mangelt es bisher. Beispiele für solche Standards sind "Objektivität" und "Faimess" resultierender Aussagen (Glass & Ellett 1980; Amold 1999).

Eine qualitätsorientierte Entwicklung von Leitlinien für die Gestaltung von Eva­luation setzt das Vorhandensein solcher Qualitätsstandards voraus. Auch ist die Ent­wicklung solcher Standards eine wesentliche Voraussetzung, urn auf der Ebene von Meta-Evaluation Kosten, Nutzen und Qualität von Evaluationsprojekten abschätzen zu können. Angesichts knapper Ressourcen dürften nicht nur die Evaluation von MaS­nahmen der Weiterbildung zukünftig zunehmend wichtiger werden, sondem ebenso Fortschritte in der Qualitätssicherung solcher Evaluation. Zukünftige Evaluationsfor­schung sollte sich also intensiv für die Entwicklung solcher Standards engagieren.

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Evaluation in der betrieblichen Weiterbildung 285

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Kapitel5: Zur Legitimation der Weiterbildung

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Qualität der Argumente, mit denen das Erfordernis lebenslangen Lernens begründet wird

Belmut Beid

Von lebenslangem Lemen kann in zwei Bedeutungen gesprochen werden, die bereits aus logischen Gründen auseinanderzuhalten sind, und zwar erstens im Sinne einer Tat­sachenfeststellung und zweitens im Sinne einer Empfehlung oder Forderung. Lebens­langes Lemen zu fordern wäre (nur) sinnvoll, wenn Adressaten dieser Forderung unter den Umständen, unter denen sie normalerweise leben, eine Altemative dazu hätten, al­so auch nicht oder nicht lebenslang lemen könnten. Aber diese Altemative besteht nicht. Menschen können - wenn überhaupt! - wohl nur gewaltsam daran gehindert werden, lebenslang zu lemen, d.h. Erfahrungen kognitiv zu verarbeiten. Und lebens­langes Lemen als Tatsache lediglich festzustellen, ist trivial und wohl kaum geeignet, diesem Sachverhalt jene Aufmerksamkeit zu verschaffen, die er gegenwärtig findet. Unter dieser Voraussetzung lebenslanges Lemen zufordern kann nur bedeuten, in prä­zisierungsbedürftiger Weise über die (triviale) Tatsachenfeststellung hinauszugehen, daB Menschen lebenslang lemen, allerdings ohne lebenslanges Lemen als Tatsache auBer Kraft zu setzen. Das kann dadurch geschehen, daB der Begriff "Lemen" abwei­chend vom Fach- und Alltagssprachgebrauch als intentional gesteuerte, metakognitiv kontrollierte, mehr oder minder systematische Aktivität definiert, also nur auf einen Teil dessen angewendet wird, was Lemtheoretiker als "Lemen" bezeichnen. Mit dieser Feststellung korrespondiert die Tatsache, daB lebenslanges Lemen erst im Zusammen­hang mit der Diskussion urn die zunehmende Bedeutung organisierter Weiterbildung zu einem Thema öffentlicher Aufmerksamkeit geworden ist. Diese Tatsache darf nicht darüber hinwegtäuschen, daB auch das lebenslange Lemen dieses engeren Verständ­nisses, also das intentionale Weiterlemen, nicht erst nach den zeitlichen Abläufen oder formellen Abschlüssen der für das Weiterlemen jeweils vorausgesetzten (grundlegen­den) Lemprozesse beginnt. Diese Feststellung ist wichtig, weil Weiterbildung häufig als (zu) unabhängiger Sektor des Bildungswesens angesehen, konzipiert und realisiert wird.

Zu den wichtigsten BestimmungsgröBen der Forderung lebenslangen Lemens ge­hört seine Zweckbestimmung. In grober Orientierung unterscheide ich fünf thematisch bedeutsame Zweckbestimmungen lebenslangen Lemens, die sich allerdings nicht scharf voneinander abgrenzen, jedoch bildungspraktisch und bildungspolitisch akzen­tuieren lassen. Im einzelnen geht es darum,

I. in der grundlegenden Bildung Erreichtes kumulativ weiterzuführen, 2. in der grundlegenden Bildung Versäumtes nachzuholen, 3. interindividuelle Bildungs-Ungleichheit auszugleichen,

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4. im Lauf der Zeit "überholte" Qualifikationen durch neue zu "ersetzen" und 5. durch Weiterbildung Ermöglichtes oder zu Ermöglichendes in der grundlegenden

Bildung "einzusparen".

Bei der Erfüllung dieser Zwecke kommen regulative Prinzipien zur Geltung, die ich in zwei thematisch bedeutsamen Unterscheidungen idealtypisch gegenüberstelle:

die selbstbestimmte und in nennenswertem MaBfreiwillige sowie

diefremdbestimmte und weitgehend erzwungene Weiterbildung.

Unterschieden werden können ferner

die affirmative, den jeweiligen bildungsabhängigen sozialen oder betrieblichen Status rechtfertigende und

die kritisch-konstruktive, die Entwicklung autonomer Urteils- und Handlungskompe­tenz ermöglichende und fördernde Weiterbildung.

Warum sind diese Unterscheidungen bedeutsam? Weiterbildungserfordernis und Wei­terbildung sind in hohem MaB auch, aber nicht nur Indikatoren, Resultate oder Mittel humanitären, sozialen und qualifikatorischen Fortschritts. In Wirklichkeit können sie ebenso oft und ebenso sehr Symptom und Ergebnis defizitärer, restriktiver oder ver­fehlter Gesellschafts-, Wirtschafts- und Bildungspolitik sein. Dazu gehören u.a. ver­meidbare Fehlprognosen gesellschaftlichen Qualifikationsbedarfs, unintelligente For­men "orientierungsloser" Qualifizierung oder ebenso unintelligente Restriktionen im Grundbildungsbereich. leh komme darauf zurück. Auch wenn man nicht davon aus­geht, daB die Überwindung der angedeuteten Mängel organisierte Weiterbildung erüb­rigt, so kann davon aber dennoch eine wesentliche Qualitäts- und Effektivitätssteige­rung organisierter Weiterbildung erwartet werden. Da im Kontext bildungs- und quali­fikationstheoretischer Diskurse die programmatische Komponente dominiert, richte ich meine besondere Aufmerksarnkeit auf die Probleme und Defizite, die bereits in der Begründung des Weiterbildungserfordernisses deutlich werden. Denn sie werden in der Weiterbildungsdiskussion nicht nur stark vernachlässigt oder gar ignoriert, sondern in ihrer tatsächlichen Funktion auch fehlinterpretiert.

Das gravierendste Problem sehe ich darin, daB die immer allgemeinere und abstrakte­re Weiterbildungsforderung dazu beigetragen hat und argumentationsstrategisch dazu verwendet wird, genau jene Grundbildungsversäurnnisse zu bagatellisieren oder gar zu rechtfertigen, von denen Weiterbildungsbereitschaft und der Weiterbildungserfolg jedoch in hohem MaB abhängen. Eine Reihe bildungs- und gesellschaftspolitischer Empfehlun­gen läuft zu undifferenziert und ohne lehr-Iern-theoretische Fundierung und Begründung darauf hinaus, grundlegende Lernprozesse sachlich und zeitlich einzuschränken, weil es ohnehin (!) erforderlich sei, lebenslang weiter- und umzulernen. Von solchen Restriktio­nen Betroffene werden auf zukünftige Lerngelegenheiten vertröstet.

Von mindestens ebenso groBer Bedeutung ist der qualitative Aspekt skizzierter Re­striktionen. Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien begründen die Befürchtung, daB in der schulischen Grundlegung lebenslangen Lernens - entgegen geläufiger Be­teuerung - doch primär "für die Schule" gelernt und die Verwendungs- bzw. An­schluBtauglichkeit des Wissens vernachlässigt wird. Neuere Erkenntnisse internationa­ler Lehr-Lern-Forschung sind bisher nur unzureichend in den schulischen Alltag ein­gedrungen. Das Lemen in komplexen, problemzentrierten oder gar authentischen Ler-

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Qualität der Argumente, mit denen lebenslanges Lemen begründet wird 291

numgebungen, die bereits schulische Reflexion und Verwendung erworbenen und ver­netzten Wissens in multiplen Kontexten, die metakognitive Steuerung und KontrolIe selbstbestimmten Lernens oder die kumulative statt bloB additive Wissensgenerierung sind nicht einmal in der hochschulischen Lehrerausbildung, geschweige denn im grundlegenden Schulunterricht geläufig oder selbstverständlich. Die nur beispielhaft skizzierten Versäumnisse haben einen paradoxen Doppeleffekt: Sie begründen das Weiterbildungserfordernis und sie beeinträchtigen den Erfolg lebenslangen Weiterler­nens.

Derartige Restriktionen erfolgen häufig nicht nur aus durchsichtigen Einsparungs­gründen. Die Geschichte bildungspolitischer Verlautbarungen enthält eine Fülle von Hinweisen auf das gesellschaftliche Interesse an Ungleichheit unter den Menschen (Mattern & WeiBhuhn 1980, S. 157ff.), und zwar auch hinsichtlich jener Ansprüche auf günstige soziale Plazierung und Honorierung, die aus Lernerfolgen im System hö­herer grundlegender Bildung abgeleitet zu werden pflegen. "Überqualifikation" - und damit kann nur eine individu ell mögliche, aber gesellschafts-, beschäftigungs- oder bildungspolitisch unerwünschte und praktisch zu verhindernde Qualifikation gemeint sein - galt und gilt weithin als problematisch bzw. unerwünsch( Darüber kann die neue Diskussion über gestiegene Bildungsansprüche an alle Menschen nicht völlig hinwegtäuschen. Zum einen wird die Lernfähigkeit derer, denen organisierte Lerngele­genheiten bereitgestellt werden (sollen), stets in Abhängigkeit von Art und Niveau ei­nes external definierten Qualifikationsbedarfs bzw. -anspruchs ermittelt und durchaus auch in sozial selektiver Absicht daran bemessen (fáhig wozu?). Zum anderen hat eine Kompetenz umso gröBere Chancen, als "Überqualifikation" beurteilt zu werden, je stärker sie inhaltlich von der unmittelbaren, material und formal jeweils erwünschten Verwendungstauglichkeit abweicht. Ob beabsichtigt oder nicht: frühzeitig vorenthalte­ne Lerngelegenheiten verhindern die Entwicklung von Kompetenzen, die geeignet sind, gehobene gesellschaftliche Plazierungs- und Honorierungsansprüche zu begrün­den. Und sie beeinträchtigen die Bedingungen der Möglichkeit und Bereitschaft, in der Bildungsgrundlegung Versäumtes nachzuholen.

"An sich" respektable Bemühungen, Strukturprobleme nicht nur des Arbeitsmark­tes, sondern auch des Beschäftigungssystems in den Griff zu bekommen, erscheinen nicht völlig ungeeignet, jene Idee einer Bildungsbevorratung wieder zu beleben, die bereits in den 70er Jahren dieses Jahrhunderts eine groBe Rolle gespielt hat und sich auf die Formel bringen läBt: "Eine Bildung ist bes ser als keine". Das überaus berech­tigte Bestreben, möglichst allen Heranwachsenden einen Platz im Bildungs- oder Be­schäftigungssystem zu verschaffen, begünstigt "Fehlqualifizierung", die keineswegs in jeder Hinsicht als "verfehlt" bewertet zu werden verdient, die andererseits aber doch die Gefahr einschlieBt, vermeidbare (!) Lernumwege oder insbesondere auch falsche, d.h. mit modernen Erkenntnissen der Lehr-Lern-Forschung unvereinbare Lernprozesse

Vgl. dazu bereits Schleiermacher 1826/1957, S. 39: "Es ist nicht zu leugnen, daB in sehr vielen Staa­ten, wo groBe und bestimmte Differenzen in der Gesellschaft stattfinden, ei ne groBe Neigung ist, nicht nur die se Ungleichheit als angestammt anzusehen, sondern auch darauf zu halten, daB die ein­mal gesteckten Grenzen nicht überschritten werden. Es ist dies in vielen einzelnen Fällen schon so weit gegangen, daB man bestimmt verboten hat, der Jugend, die zu einer anderen Klasse gehört, ge­wisse Kenntnisse mitzuteilen, weil sie doch davon keinen Gebrauch machen könnte." Vgl. auch B1ankertz 1982, S. 56ff.; v. Friedeburg 1994, S. 8; beispielhaft: Bullinger 1995, S. 24.

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zu begünstigen. Die ausufemde Diskussion urn sogenannte Schlüsselqualifikationen benennt das Problem, sie löst es bisher jedoch keineswegs (vg!. dazu u.a. Dörig 1994; Renkl 1994; Weinert 1998).

Leichtfertig in Kauf gen ommen wird Fehlqualifizierung dort, wo Heranwachsende oder auch Auszubildende - ohne Rücksicht auf absehbare Entwicklungen des Beschäf­tigungssystems - als kostengünstige Arbeitskräfte betrachtet und behandelt werden. Jedoch Bildungssystem und individuelle Qualifizierung müssen sich den absehbaren betrieblichen Bedingungen der Qualifikationsverwertung keineswegs kritiklos unter­werfen, aber sie können sich auch nicht bedenkenlos darüber hinwegsetzen. Von der material und formal "richtigen" Qualifikation und deren Verwertbarkeit in unvorher­sehbaren Produktionsprozessen hängt für all diejenigen, die auf ei ne ertragreiche Ver­wertung ihrer Qualifikation angewiesen sind, alles ab, was in unserer Gesellschaft mit der Erwerbstätigkeit verbunden ist. Die absehbare Entwicklung der Qualifikationsver­wertungsbedingungen ins Kalkül zu ziehen, bedeutet nicht, sich direkt auf manifeste Anforderungen zu fixieren. Vnter dieser Voraussetzung kommt es in der Qualifizie­rung nicht auf direkte und unmittelbare Anwendbarkeit des Gelemten, sondem auf dessen AnschluBfähigkeit für permanentes und selbstbestimmtes Weiterlemen an.

Freilich können Bildungs- und Qualifikationsdefizite und daraus "abgeleitete" Weiterbildungserfordemisse auch dadurch "entstehen", daB die lembedeutsamen An­forderungen an konkreten Arbeitsplätzen sich (technisch oder arbeitsorganisatorisch) verändem und die vorhandene (als solche nicht notwendig "überholte") Kompetenz im Hinblick auf neue Handlungsaufgaben obsolet geworden ist. Bei diesem allzu einfa­chen Erklärungsschema geraten einige Voraussetzungen aus dem Blick, deren Ver­nachlässigung eine rein symptomorientierte Nach- oder Vmqualifikation begünstigt. Zur Klärung dieser Voraussetzungen wären u.a. folgende Fragen zu beantworten: Worin genau bestehen die durch Weiterbildung auszugleichenden Qualifikationsdefi­zite? Wer ist Subjekt der Bestimmung und Begründung des für die Defizitdiagnose un­entbehrlichen Beurteilungskriteriums, und wem genügt die durch lebenslanges Wei­ter lemen nachzubessemde Qualifikation aus welchen Gründen nicht? Wie ist die be­triebliche Arbeit organisiert, die den Nachzuqualifizierenden offensichtlich daran ge­hindert hat, an der Neuentwicklung der Arbeitsorganisation konstruktiv zu partizipie­ren und in dieser Organisation die erforderlichen Kompetenzen zu entwickeln? Wurde es in der betrieblichen Personalentwicklung versäumt, Beschäftigte als Subjekte dieser Entwicklung zu begreifen und zu beteiligen; wurden sie statt dessen von der Mitwir­kung an dies er Entwicklung ausgeschlossen und als Objekt des daraus "abgeleiteten" Anspruchs behandelt, entstandene bzw. entstehende Defizite durch Weiterbildung aus­zugleichen? Freilich laufen alle diese Fragen auf ei ne Radikalisierung der damit ange­sprochenen Probleme hinaus, und es läBt sich sicher auch keine Beantwortung dieser Fragen denken, die ein Weiterbildungserfordemis völlig dispensieren würde. Die bei­spieihaften Fragen dienen der Verdeutlichung manifester und potentielIer Probierne. Auf eine Kurzformel gebracht geht es urn die Frage, wie weit das Weiterbildungser­fordemis aus Versäumnissen betrieblicher Organisationsentwicklung resultiert oder wie weit bestehende oder zu entwickelnde (und privatisierbare) WeiterbildungsmaB­nahmen die Entstehung oder das Fortbestehen derartiger Versäumnisse begünstigen. Wenn das Handlungsfeld dementiert, was das Lemfeld postuliert, können dadurch auch jene Qualifikationselemente negativ beeinträchtigt werden, die sich als besonders

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Qualität der Argumente, mit denen lebenslanges Lernen begründet wird 293

anschluBbedeutsam erwiesen haben. Sie finden keine Anwendungs- und keine Bewäh­rungsgelegenheit. Die nahezu allein herrschende Frage, "Welche wie qualifizierten Menschen ,braucht' eine bestimmte Arbeitsorganisation hier und heute?" ist durch die Frage zu ergänzen: "Welche Arbeitsorganisationen brauchen qualifizierte bzw. kom­petente Menschen?". Die Substanz der Antwort auf die erste Frage hängt wesentlich davon ab, ob und wie die zweite Frage beantwortet wird. Wer die zweite Frage ver­nachlässigt, denkt und handelt nicht nur "inhuman", sondern durchaus auch unökono­misch. Wo HumanisierungsmaBnahmen und konkrete Menschen zum bloBen Mittel der Produktivitätssteigerung "werden", verlernen sie, sich als Subjekte der Definition und Erfüllung individueller und betrieblicher Zwecke zu begreifen und zu betätigen. Nur als Personen, die praktisch erfahren, daB und wie sie an der Bestimmung und Er­füllung gesellschaftlicher und betrieblicher Arbeitsaufgaben mitwirken, können sie auch lebenslang Subjekte selbstbestimmter Kompetenzentwicklung sein. Der Erfolg lebenslangen Lernens hat nicht nur die lernabhängige individuelle Weiterbildungsbe­reitschaft und Weiterbildungsfähigkeit und auch nicht nur die zuvor skizzierte Qualität entscheidungs- und handlungsabhängiger Lernumgebungen bzw. Lerngelegenheiten, sondern in gleichem MaB die "entsprechende" Gestaltung gesellschaftlicher und be­trieblicher Bedingungen dafür zur Voraussetzung, daB entwickelte Kompetenzen ein Betätigungsfeld und zugleich Gelegenheit zur Weiterentwicklung finden.

Eng damit zusammen hängt ein anderes Problem, dessen Vernachlässigung im idealistischen Bildungsverständnis begründet sein mag. Nicht nur - falls man Wert auf diese Unterscheidung legt - Qualifikation, sondern auch Bildung muB sich für das Bil­dungssubjekt auch lohnen bzw. rechnen dürfen. Der mit (keineswegs nur finanziellem) Aufwand verbundenen Anstrengung darf bzw. muB ein Ertrag gegenüberstehen, der in unserer Gesellschaft sehr viel mit der auch ökonomischen und sozialen Verwertbarkeit erworbener Kompetenzen auf dem betrieblichen oder überbetrieblichen Arbeitsmarkt zu tun hat. Mangelnde Weiterbildungsbereitschaft, eine Voraussetzung dafür, daB le­benslanges Lemen sinnvoll gefordert werden kann, mag durch Bezugnahme auf alle möglichen intern alen und extern alen Voraussetzungen erklärt werden (z.B. durch mangeindes, aber doch niemals unabhängiges Weiterbildungsinteresse, durch das [fortgeschrittene] Lebensalter, durch Geschlechtszugehörigkeit u.v.a.m.). Sie kann aber auch und häufig sogar in besonderem MaB darin begründet sein, daB die extern alen ge­sellschaftlichen oder betrieblichen Bedingungen oder sogar die Chancen der Qualifi­kationsverwertung fehlen. Durch die Bereitstellung oder ErschlieBung versus das Vor­enthalten solcher Qualifikationsverwertungsbedingungen kann die Weiterbildungsbe­reitschaft und -aktivität hoch selektiv beeinträchtigt oder gar manipuliert werden. Die­ser Funktionszusammenhang hat aber nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale Komponente. Auf der einen Seite geht es urn eine realistische und legitime Ko­sten-Nutzen-Kalkulation des Qualifizierungssubjektes. Auf der anderen Seite geht es urn die Nutzungskalkulation dessen (des Betriebes, des Staates oder auch "der Gesell­schaft"), der in der Lage ist, die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit verwertba­ren Qualifikationserwerbs zu beeinflussen oder gar zu gewährleisten. Das beginnt mit der diagnostischen Bestimmung oder Verbrämung des Punktes, bis zu dem ein Mensch noch als lernfähig gilt und bis zu dem es "deshalb" als vertretbar gilt, durch zusätzlich Investitionen in die Bereitstellung und Gestaltung von Lerngelegenheiten weitere Ler­nerfolge zu ermöglichen. Denn diese Punkte können nicht unabhängig vom ökono-

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misch und politisch und häufig dann erst auch pädagogisch definierten Bedarf an Qua­lifikationen bestimmt werden. Kennzeichnend dafür ist folgendes Beispiel: In einem Tagungsbericht über "Kooperation in der Weiterbildung" (Flüter & Zedler 1994) wird zwischen "Bildungsanbietem" und "Bildungsnachfragem" unterschieden. Bildungsan­bieter sind darauf spezialisierte Dienstleistungsuntemehmen, z.B. Volkshochschulen oder Kammem. Wer aber ist "Bildungsnachfrager"? Wer auf den vielleicht nahelie­gen den Gedanken kommt, es könnten vielleicht Beschäftigte, also Bildungssubjekte selbst sein, der hat sich getäuscht. Bildungsnachfrager sind - nach dem zitierten Be­richt - Untemehmen. Und den Bildungsbedarf bestimmen sie. Von den Beschäftigten als Bildungssubjekten ist in diesem Dokument an keiner einzigen Stelle die Rede. Da­für umso mehr von den Bedürfnissen der Betriebe und von jener betrieblichen Kosten­Nutzen-Relation, die als zentrales Beurteilungskriterium berufsbedeutsamer Weiterbil­dung angesehen wird (vg!. dazu auch Posth 1989, S. 19ff. und kritisch: Frieling 1994, S. 12ff.). In formalisierter und extrem vereinfachender Argumentation: Der Aufwand, der erforderlich ist, urn ein Qualifikationsdefizit durch Weiterlemen zu beseitigen, darf (aus der Sicht eines jeweiligen Kalkulationssubjektes) nicht gröBer sein als der Nach­teil, der aus diesem Defizit resultiert.

Das geradezu exponentielle Informationswachstum auf allen Wissensgebieten hat die Auffassung begünstigt, zukünftig komme es immer weniger auf inhaltliches Wis­sen an. Statt dessen nehme die Bedeutung formaier Kompetenzen stark zu. Dieser Um­stand rechtfertige auch die curriculare Reduzierung grundlegender (inhaltlicher) Bil­dung. So wenig davon ausgegangen werden kann, daB in der grundlegenden Bildung ein auf alle unabsehbaren Wissensverwendungssituationen und -anforderungen um­standslos oder gar mechanisch übertragbares Wissen und Können erworben wird, so wichtig ist andererseits die Erkenntnis, daB jeweiliges Vorwissen (insbesondere "Do­mänenwissen") (vg!. Alexander, Kulikowich & Schulze 1994) in einem bestimmten Gegenstandsbereich zu den wichtigsten Voraussetzungen erfolgreichen Weiterlemens gehört (vg!. u.a. Glaser 1984; Weinert 1998, S. 115ff.). Wer glaubt, zeit- und kosten­aufwendige inhaltliche Bildung oder Qualifizierung durch formale Schulung reduzie­ren oder gar ers et zen zu können, trägt dazu bei, den Erfolg der Weiterbildung und so­gar die dafür vorausgesetzte Bereitschaft zum organisierten Weiterlemen zu ruinieren.

Individuelle Qualifikationsdefizite können auch aus der allgemeinen Anhebung des Qualifikationsniveaus einer Bevölkerung resultieren, gleichsam als Folge der soge­nannten Bildungsexpansion. Die Entstehung dieser Defizite und des daraus resultie­renden Weiterbildungserfordemissen kann auBerdem durch das Versäumnis verursacht oder begünstigt werden, Bildungsbenachteiligten (worin auch immer diese Benachtei­ligung begründet sein mag) material und formal günstigere Lemgelegenheiten zu ver­schaffen. Bildungspolitische, bildungsorganisatorische und bildungspraktische Bemü­hun gen zur Lösung dieses Problems sind unübersehbar; sie rechtfertigen es jedoch nicht, die Problematik damit auch schon für erledigt zu halten.

Insbesondere scheint der Weiterbildungsbereich ungeeignet, jene interindividuelle Bildungsungleichheit auszugleichen, die im Kontext grundlegender Bildung entstanden bzw. ausgeprägt worden ist, und zwar aus mindestens zwei GrÜnden. Erstens sind -wie bereits ausgeführt - Bereitschaft zur Weiterbildung und Erfolg in der Weiterbil­dung weitgehend eine Funktion der Bildungsvoraussetzungen. Weinert erinnert in die­sem Zusammenhang an das "Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben; wer am

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Qualität der Argumente, mit denen lebenslanges Lemen begründet wird 295

Anfang über günstigere Lemvoraussetzungen verfügt, profitiert mehr vom (weiterfüh­renden) Unterricht als andere", wodurch Unterschiede zwischen den besseren und schlechteren Lemem im Verlauf der Zeit progressiv zunehmen (Weinert 1998, S. 110). Zweitens haben diejenigen, die als vergleichsweise bes ser gebildet oder qualifiziert gelten, entsprechend günstigere Gelegenheiten, ihre Kompetenzen gesellschaftlich und insbesondere beruflich zu verwerten, so daBsich nur oder vor allem für sie zusätzlicher Weiterbildungsaufwand lohnt. "Weiterbildung (kommt) bislang gerade denen am we­nigsten zugute ... , die in ihren Bildungschancen - wie auch in anderen Lebenschancen - am stärksten benachteiligt sind" (Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 740).

Aus den bisherigen Ausführungen geht bereits hervor, daB die scheinbar pädagogi­sche Empfehlung, lebenslang gezielt zu lemen, ihre gesellschaftspolitische Bedeutung und Aktualität makro- und mikroökonomischen Nutzenerwägungen verdankt. Das ist allerdings (nur) dann ein Problem, wenn die individuelle Kompetenzentwicklung von kurzfristigen ökonomischen Verwertungsinteressen beeinträchtigt wird, wenn Qualifi­kation und Qualifizierte (einseitig) als Mittel der Produktivitäts- und Rentabilitätsstei­gerung betrachtet und "benutzt" werden. Auch wenn man in Betracht zieht, daB die Autonomie der Adressaten des Weiterbildungspostulats und also der Subjekte lebens­langen Lemens durch das erwähnte Verwertungsbestreben nicht aufgehoben wird, so sollte man dabei aber doch nicht übersehen und unterschätzen, daB die ökonomischen und politischen Bedingungen der Möglichkeit hochgradig manipulierbar sind, etwas Bestimmtes (nicht) erfolgreich zu lemen oder auch bereits gezielt und selbstbestimmt lemen zu wollen. Damit zusammen hängen entscheidungsabhängige Zwänge, unter denen Menschen nicht primär lemen, was sie im verallgemeinerbar begründeten eige­nen Interesse lemen wollen, urn ihre autonome Urteils- und Handlungskompetenz zu entwickeln, sondem vor allem dasjenige lemen wollen oder gar "müssen", was sie nach bloB externaier Maj3gabe lemen und wollen sollen, urn zu können und zu tun, was jeweils von ihnen verlangt wird.

Wer die in der Programmatik und in der Praxis lebenslangen Lemens lauemden Gefahren kennt - so der praktische Zweck dieses Beitrags - hat gröBere Chancen, ih­nen zu entgehen oder entgegenzuwirken. Aber schon die Gelegenheit, die beispielhaft skizzierten Gefahren kennenzulemen, stellt ein erstes, bis heute nicht befriedigend ge­löstes Weiterbildungsproblem dar: Genau diejenigen - so meine Befürchtung - die am mei sten von den skizzierten Gefahren bedroht sind, erhalten am wenigsten Gelegen­heit, diese Gefahren auch nur kennenzu lemen , geschweige denn, damit in kritisch­konstruktiver Weise umzugehen.

Literatur

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296 He/mut Heid

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Unter Mitwirkung von T. Schulze hg.v. E. We niger, Düsseldorf und München We inert, F. E. (1998): Neue Unterrichtskonzepte zwischen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, pädagogi­

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Die Autorinnen und Autoren

Prof Dr. Dr. h.c. Frank Achtenhagen, Dipl.-Hdl. Martina Naft: Georg-August-Univer­sität Göttingen, Seminar für Wirtschaftspädagogik, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen

Prof Dr. Klaus Beek, Dipl-Päd. Thomas Bienengräber, Dipl.-Hdl. Kirsten Parehe­Kawik: Projektgruppe des LehrstuhIs für Wirtschaftspädagogik, Johannes Gutenberg Universität Mainz, FB 03: Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Jakob-WeIder-Weg 9, 55099 Mainz

Dr. phil. Axel Bolder: Wissenschaftlicher Projektleiter am ISO in KöIn. Institut zur Er­forschung sozialer Chancen, KuenstraBe IB, 50733 Köln

Prof Dr. Dr. h.c. muit. Rolf Dubs: Professor für Wirtschaftspädagogik an der Uni ver­sität St. Gallen, Guisanstr. 9, CH-9010 St. Gallen

Prof Dr. Hermann Ebner: Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft insbesondere Wirt­schaftspädagogik an der Universität Mannheim, 633131 Mannheim

Dipl.-Päd. Wolf gang Gallenberger, Angelika Gaufer, Peter Datz, Thomas Neubert: Projektgruppe des LehrstuhIs Prof. Dr. Helmut Heid, Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, 93040 Regensburg

Prof Dr. Hans Gruber: Professor für Pädagogik an der Universität Regensburg, Insti­tut für Pädagogik, 93040 Regensburg

Dipl.-Päd. Christian Harteis: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Prof. Dr. Helmut Heid, Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, 93040 Regensburg

Prof Dr. Helmut Heid: Professor für Pädagogik an der Universität Regensburg, Insti­tut für Pädagogik, 93040 Regensburg

Dr. Wolf gang Hendrieh: Wissenschaftlicher Angestellter am Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik an der Bildungswissenschaftlichen Hochschule - Universität Flensburg. Munketoft 3, 24937 Flensburg

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298 Die Autorinnen und Autoren

PD Dr. phil. Michael Henninger: Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Empi­rische Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilians­Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München

Dr. phil. Susanne Kraft: Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Prof. Dr. Helrnut Heid, Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, 93040 Regensburg

Prof Dr. Franz Lehner: Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Re­gensburg, Institut für Wirtschaftsinformatik, 93040 Regensburg

Prof Dr. Detlev Leutner: Professor für Pädagogische Psychologie an der Pädagogi­schen Hochschule Erfurt, Lehrstuhl für Instruktionspsychologie, Postfach, 99006 Er­furt

Dr. phil. Doris Lewalter, Prof Dr. Andreas Krapp, Dr. phil. habil. Klaus-Peter Wild: Projektgruppe an der Univsersität der Bundeswehr Neubiberg, Institut für Psychologie und Erziehungswissenschaft, Wemer-Heisenberg-Weg 39, 85577 Neubiberg

Dipl.-Päd. Bettina Meier: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Prof. Dr. Helmut Heid, Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, 93040 Regensburg

Prof Dr. Reinhard Pekrun: Professor für Psychologie an der Universität Regensburg, Institut für Psychologie, 93040 Regensburg

Prof Dr. Manfred Prenzel, Dipl.-Psych. Barbara Drechsel, Anke Kliewe, Dipl.-Psych. Klaudia Kramer, Nicola Röber: Projektgruppe am Institut für die Pädagogik der Na­turwissenschaften (IPN), Universität Kiel, Olshausenstr. 62, 24098 Kiel

PD Dr. Gabi Reinmann-Rothmeier, Prof Dr. Heinz Mandl: Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München

Dipl.-Päd. Barbara Röj3er: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Prof. Dr. Helmut Heid, Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, 93040 Regensburg

Prof Dr. Alexander Thomas: Professor für Psychologie an der Universität Regens­burg, Institut für Psychologie, 93040 Regensburg

Prof Dr. RudolfTippelt: Professor für Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Univer­sität München, Institut für Allgemeine Pädagogik, Leopoldstr. 13,80802 München