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14 l STADTKULTUR l DER LANDBOTE l DONNERSTAG, 11. MÄRZ 2010 Blanc & Noir Truffes au Champagne Neueste Création Blanc & Noir Truffes au Champagne Confiserie Sprüngli Telefon 044 224 47 11 [email protected] www.spruengli.ch ANZEIGE «Genau das ist es!», habe er gesagt, als er das zu ebener Erde liegende Ate- lier am Lindspitz gesehen habe, «hell und geräumig», hier könne er arbei- ten. Ricardo Flores Saldaña fühlt sich in seinem Arbeitsraum sichtlich wohl; der Raum ist, obwohl er zwischen zwei stark befahrenen Strassen liegt, so et- was wie eine Oase der Ruhe und Krea- tivität. Der Eindruck entsteht durch die Skulpturen, die im Atelier stehen. Es sind Figuren aus Holz oder Stein; in der einen erkennt man eine Frauenfi- gur, andere Skulpturen sind offen für Deutungen. Ihre Oberfläche lebt von der Maserung des Holzes oder von den Farben des Steins. Es sind Gebilde von hoher Perfektion, nicht nur was ihre Oberflächenbearbeitung anbelangt, sondern auch in der Ausgewogenheit der Volumina. Viele tragen geheim- nisvoll klingende Namen «Xochitl» oder «Lol-ha», andere wie «Macho» sind weniger erklärungsbedürftig. Die Titel der Skulpturen stammen aus Flores Saldañas Heimat – oft aus einer der indianischen Sprachen Me- xikos. «Ich habe mich mit den antiken Kulturen Mexikos intensiv beschäf- tigt», erklärt der Künstler. Dennoch sprechen seine Figuren eine ganz eige- ne, zeitgenössische Formsprache, die dann und wann das Figürliche streift, oft aber bleiben sie reine Form. Ein Perfektionist mit Charme Der heute 40-jährige hat einen weiten Weg zurückgelegt. Geboren wurde er in Mexiko Stadt, seine Kinder- und Ju- gendjahre verbrachte er im Bundes- staat Chiapas. Nein, er stamme nicht aus einer armen Familie, betont er, in der Schweiz würde man wohl sagen «Mittelstand», auch wenn der Begriff nicht ganz zutreffe. Er überlegt immer wieder, bespricht sich auf Spanisch mit seiner Frau, «Mein Deutsch ist noch nicht das beste, doch wenn ich über mich und meine Kunst spreche, will ich mich präzise ausdrücken können», seine Frau übersetzt zuweilen aus dem Spanischen. Er hat sie für das Ge- spräch ins Atelier gebeten – damit es mit der Verständigung auch wirklich klappt. Präzision ist ihm nicht nur in seinen Werken wichtig, sondern auch im alltäglichen Ausdruck. Flores Saldaña studierte an der Uni- versität Veracruzana in Xalapa Bil- dende Kunst mit Schwerpunkt Bild- hauerei. Das klingt vielversprechend, dennoch: Ein Künstlerdasein in Mexi- ko ist äusserst hartes Brot. Der Absol- vent arbeitet als Zeichner auf archäo- logischen Ausgrabungen, unterrichtet Zeichnen und Werken an Primar- und Oberstufenschulen, erhält eine Stelle als Dozent an der Hochschule für Bil- dende Kunst in Chiapas. «Das Leben in Mexiko ist ausserordentlich schwie- rig», erklärt er. Auch ein Hochschul- dozent lebt kein leichtes Leben, auch wenn er in Mexiko zu so etwas wie dem Mittelstand gehört. Die Preise sind enorm hoch, die Löhne niedrig. «In Mexiko ist es für Künstler daher leichter, wenn sie sich in Gruppen for- mieren», erklärt er. Ohne Solidarität keine Kunstszene, oder mit Solidarität eine bessere Kunstszene. Eine Gruppe Kunstschaffender findet sich in Xala- pa zusammen; die Mitglieder unter- stützen sich mit Ideen, aber auch ganz konkret, indem sie gemeinsame Aus- stellungen organisieren. Er hat diese Zusammenarbeit und den ideellen Austausch unter Freunden und Künst- lern sehr geschätzt: «Das macht die Kunst lebendig.» Seine Frau, eine Schweizerin, lernt Flores Saldaña an der Uni in Chiapas kennen. Die beiden heiraten, kurz dar- auf läuft sein Arbeitsvertrag mit der Uni aus, und so ziehen sie nach Xalapa im Bundesstaat Veracruz, suchen dort Arbeit, vergeblich. Eine schwierige Zeit, wie beide sagen. Die Ersparnisse gehen zur Neige, die beiden beschlies- sen, in die Schweiz zurückzukehren. «Ich wollte schon immer mal nach Ita- lien, in das Land der schönen Künste», sagt Flores Saldaña und schmunzelt, «die Schweiz liegt ja grad nebenan.» Mit einem Koffer voller Kleider und einem Koffer voller Werkzeug kam das Paar 2006 in Winterthur an und bei einer Freundin unter. Harter Weg, reichlich Früchte «Zu Beginn war es schon hart hier», räumt Flores Saldaña ein, «die Men- schen sind so vollkommen anders als in Mexiko.» Heimweh, ja, das kennt er. Mittlerweile fühlt er sich jedoch zu Hause hier in der Schweiz, in Win- terthur. Er lacht und sagt:» So ist halt das Leben, mal einfacher und mal schwieriger. Ich bin von Grund auf ein sehr fröhlicher Mensch. Was mir nicht immer leichtfällt, ist, Kontakte zu knüpfen, da ich eher eine introvertierte Person bin, doch wo Kontakte zustan- de kamen, ist man mir stets mit grosser Offenheit begegnet», sagt er. Auch in dem Bauhandwerkbetrieb, in dem er heute zu fünfzig Prozent arbeitet, sei er wie in einer Familie aufgenommen worden. «Es war ein harter Weg, aber heute kann ich reichlich Früchte ern- ten», blickt er auf die vier zurücklie- genden Jahre in der Schweiz zurück. Er geniesst es, hier zu sein. «Endlich ist der Druck weg, den der Überlebens- kampf erzeugte.» Hier ist laut dem Künstler alles gut organisiert. Man kann Materi- al beschaffen, für eine Bohrmaschine muss man anders als in Mexiko keinen ganzen Monatslohn hinblättern. Hier erhalte er Werkzeug von sehr guter Qualität, dies wirke sich auf die Quali- tät seiner Skulpturen aus. Ob er in sei- nem Atelier die Künstlergemeinschaft von früher nicht vermisst? «Ich arbei- te gerne auch für mich, ich muss mich ganz auf mein Werk fokussieren kön- nen», sagt er. Gerne tauscht er sich mit anderen Künstlern hier in Winterthur aus, der Austausch und die Beziehun- gen seien sehr wichtig. Pädagoge aus Leidenschaft Ausserdem beginnt Flores Saldaña wieder, in seinem Atelier Bildhauerei zu unterrichten. «Ich will nicht nur fer- tige Dinge zeigen, ich will auch etwas von meinem Erfahrungsschatz weiter- geben.» Er hat seine eigene Lehrme- thode entwickelt, die sich nicht stur nach Büchern und Theorien richtet, sondern den Menschen und seine Be- dürfnisse in den Mittelpunkt stellt. «Was braucht ein Mensch», das sei die zentrale Frage, wenn er Kunst unter- richte. «Wichtig für mich als Lehrer ist mein Gegenüber, der Schüler oder die Schülerin. Was wollen sie Ausdrücken und wie können sie es? Gemeinsam suchen wir dann den Weg, um das zu materialisieren, was sie innerlich be- wegt.» Wenn Flores Saldaña vom Un- terricht spricht, redet er sich so richtig ins Feuer, er erzählt in immer flüssiger werdendem Deutsch, wie er Kindern mit motorischen und Schulschwierig- keiten in Rikon Werkunterricht erteilt hat, wie er sie fördern konnte. In Winterthur wünscht sich Flores Saldaña eine offenere Kunstszene und dass vermehrt auch an Orten aus- gestellt wird, die nicht offiziell aner- kannt sind. Etwas Mut zum Risiko. «Wenn man Kunst an ungewohnten Orten ausstellt, macht dies die Kunst spannender – und das Publikum neu- gieriger.» Und was braucht denn der Mensch für sein Leben, ausser Offen- heit und Neugierde? lCHRISTINA PEEGE «Austausch macht Kunst lebendig» Ricardo Flores Saldaña schafft Skulpturen voller Magie und von höchster Präzision. Der Künstler mit mexikanischen Wurzeln lebt gerne in Winterthur, denn hier ist das Leben gut organisiert. Das komme seiner Kunst zugute, sagt er. Ricardo Flores Saldaña lebt und arbeitet gerne in Winterthur. Er hat das Lachen nicht verlernt, auch wenn das Leben hier nicht immer ganz einfach ist. Bild: Marc Dahinden OUTSIDEINSIDE INTERNATIONALE KUNST Wie Kunstschaffende aus aller Welt  Winterthur sehen und beleben Sie sind die Ostgeburt der Hölle. Die Alte Kaserne zeigt Comix und Sequenzen aus der Ostschweiz. Anschauen! Verein zur Förderung sequenzieller Grafik, das tönt schon mal gut. Noch besser: «Wir legen keinen Wert auf grosse Namen und keinen Wert auf Hundert-mal-Gesehen.» Am besten aber ist der Imperativ: «Wir fördern!» So stellt sich der Verein Sequenz aus St. Gallen vor, der sich Abfolgen aller Art verschrieben hat: im Trickfilm und mit Bildergeschichten, in der Kunst und auch ausserhalb von ihr, also qua- si überall. Überall ist St. Gallen, Ostschweiz. Die Sequenz-Ausstellung in der Alten Kaserne zeigt die «Ostgeburt der Höl- le». Alles ist extra gemacht für Win- terthur samt Büchlein. Ein Querschnitt durch das Ostschweizer Illustrations- und Comicschaffen: 14 Zeichnerinnen und Zeichner hat der Verein ausge- wählt, um das Spektrum des Schaffens zu zeigen. Es führen ganz verschie- dene Wege durch diese Landschaft, vom Chrüsimüsi über kleine Filme bis zum Klebepunktroman. Da ist einmal Speicher, hier wohnt Theres Senn, Jg. 1968; die Illustrato- rin bringt wunderhübsch ins Bild, was sich zwei Riesenschlangen so zu sa- gen haben. «Kannst du mir sagen, was Weisheit ist?», fragt die eine. «Komm herein, ich sags dir gleich. Erzähl mir aber zuerst die neuesten Geschichten über Alfons, die interessieren mich brennend.» Türe auf, Türe zu, das ist schon der ganze Witz. Er funktioniert übrigens auch mit Waschmaschinenre- parateuren und Heiligenschein, zwei Skeletten und einer Blaskapelle, einer Kinderschaukel und anderen kritz- ligen Gestalten aus dem Kugelschrei- bergebiet. So geht es weiter: mit Wattwil, das Anna Furrer, Jahrgang 1980, ist; sie liefert die titelgebende Ausgeburt der Hölle, Fig. 1 bis 34: das Ying und Yang zeigt sich in der Unterwelt. In diesen Bereich wagt sich auch Lika Nüssli, *1973, vor, in «Sehnsucht, wieder ein Versuch» geraten ihre Figuren über den Rand in die Leere hinein, und es ist ein Leuchten in diesen Bildern, auch wenn sie von der Hölle erzählen. Jedes Vorankommen fordert hier seinen Tribut. Kreuz und quer geht es durch die sequenzielle Landschaft, wir sind weiter auf 1000 m ü. M. in Tro- gen (mit Annette Pecar), in Wil (Fio- na Schär), immer wieder natürlich in St. Gallen (mit Matthias Noger, Jona- than Németh, Sascha Tittmann, Vero- nika Brusa), dann auch in Schaffhau- sen (Meret Wüst), Flawil (Ray Hegel- bach), Schwellbrunn (Sabine Schwyter- Küfer). Und alles drängt doch zuletzt nach Winterthur, nicht nur mit Beni Merk, der hier wohnt, und Rahel Ni- cole Eisenring, die hier geboren ist: An der Vernissage am Dienstag waren vor lauter Menschen die Bilder an den Wänden gar nicht zu sehen. Und die einzelnen Stationen lassen sich, so unterschiedlich sie auch sind, als eine Sequenz lesen: vom Umgang mit dem Bildervorrat in den Köpfen. Und alle Werke zusammen ergeben einen Film: über den Alltag und die Sehnsucht nach dem anderen, über Klötze, die hier im Wege stehen, und Punkte, die für sich genommen eine Romanze sind. Einfach: La Condition humaine, gezeichnet, gemalt, gefilmt. Und überall: ist das Herz eingeschrie- ben. (bu) Ostgeburt der Hölle Ausstellung im Bistro der Alten Kaserne, bis   1. April. Der Katalog, der ein schönes Büchlein  ist und Comix und Sequenzen aus dem Osten  der Schweiz versammelt, kostet 10 Franken. www.sequenz.net Vom Leuchten am Rand des Abgrunds

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Harter Weg, reichlich Früchte internationale kunSt Blanc & Noir Truffes au Champagne www.sequenz.net Ausserdem beginnt Flores Saldaña wieder, in seinem Atelier Bildhauerei zu unterrichten. «Ich will nicht nur fer­ l    der landbote    l    donnerStag, 11. märz 2010 ricardo Flores Saldaña lebt und arbeitet gerne in Winterthur. er hat das lachen nicht verlernt, auch wenn das leben hier nicht immer ganz einfach ist. Bild: marc dahinden anzeige

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14  l  Stadtkultur    l   der landbote   l   donnerStag, 11. märz 2010

Blanc & Noir Truffes au Champagne

Neueste

Création

Blanc & Noir Truffes au Champagne

Confi serie Sprüngli Telefon 044 224 47 11 [email protected] www.spruengli.ch

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«Genau das ist es!», habe er gesagt, als er das zu ebener Erde liegende Ate­lier am Lindspitz gesehen habe, «hell und geräumig», hier könne er arbei­ten. Ricardo Flores Saldaña fühlt sich in seinem Arbeitsraum sichtlich wohl; der Raum ist, obwohl er zwischen zwei stark befahrenen Strassen liegt, so et­was wie eine Oase der Ruhe und Krea­tivität. Der Eindruck entsteht durch die Skulpturen, die im Atelier stehen.

Es sind Figuren aus Holz oder Stein; in der einen erkennt man eine Frauenfi­gur, andere Skulpturen sind offen für Deutungen. Ihre Oberfläche lebt von der Maserung des Holzes oder von den Farben des Steins. Es sind Gebilde von hoher Perfektion, nicht nur was ihre Oberflächenbearbeitung anbelangt, sondern auch in der Ausgewogenheit der Volumina. Viele tragen geheim­nisvoll klingende Namen «Xochitl» oder «Lol­ha», andere wie «Macho» sind weniger erklärungsbedürftig.

Die Titel der Skulpturen stammen aus Flores Saldañas Heimat – oft aus einer der indianischen Sprachen Me­xikos. «Ich habe mich mit den antiken Kulturen Mexikos intensiv beschäf­tigt», erklärt der Künstler. Dennoch sprechen seine Figuren eine ganz eige­ne, zeitgenössische Formsprache, die dann und wann das Figürliche streift, oft aber bleiben sie reine Form.

Ein Perfektionist mit CharmeDer heute 40­jährige hat einen weiten Weg zurückgelegt. Geboren wurde er in Mexiko Stadt, seine Kinder­ und Ju­gendjahre verbrachte er im Bundes­staat Chiapas. Nein, er stamme nicht aus einer armen Familie, betont er, in der Schweiz würde man wohl sagen «Mittelstand», auch wenn der Begriff nicht ganz zutreffe. Er überlegt immer wieder, bespricht sich auf Spanisch mit seiner Frau, «Mein Deutsch ist noch nicht das beste, doch wenn ich über mich und meine Kunst spreche, will ich mich präzise ausdrücken können», seine Frau übersetzt zuweilen aus dem Spanischen. Er hat sie für das Ge­spräch ins Atelier gebeten – damit es mit der Verständigung auch wirklich klappt. Präzision ist ihm nicht nur in seinen Werken wichtig, sondern auch im alltäglichen Ausdruck.

Flores Saldaña studierte an der Uni­versität Veracruzana in Xalapa Bil­dende Kunst mit Schwerpunkt Bild­hauerei. Das klingt vielversprechend, dennoch: Ein Künstlerdasein in Mexi­

ko ist äusserst hartes Brot. Der Absol­vent arbeitet als Zeichner auf archäo­logischen Ausgrabungen, unterrichtet Zeichnen und Werken an Primar­ und Oberstufenschulen, erhält eine Stelle als Dozent an der Hochschule für Bil­dende Kunst in Chiapas. «Das Leben in Mexiko ist ausserordentlich schwie­rig», erklärt er. Auch ein Hochschul­dozent lebt kein leichtes Leben, auch wenn er in Mexiko zu so etwas wie dem Mittelstand gehört. Die Preise sind enorm hoch, die Löhne niedrig. «In Mexiko ist es für Künstler daher leichter, wenn sie sich in Gruppen for­mieren», erklärt er. Ohne Solidarität keine Kunstszene, oder mit Solidarität eine bessere Kunstszene. Eine Gruppe Kunstschaffender findet sich in Xala­pa zusammen; die Mitglieder unter­stützen sich mit Ideen, aber auch ganz konkret, indem sie gemeinsame Aus­stellungen organisieren. Er hat diese Zusammenarbeit und den ideellen Austausch unter Freunden und Künst­lern sehr geschätzt: «Das macht die Kunst lebendig.»

Seine Frau, eine Schweizerin, lernt Flores Saldaña an der Uni in Chiapas kennen. Die beiden heiraten, kurz dar­auf läuft sein Arbeitsvertrag mit der Uni aus, und so ziehen sie nach Xalapa im Bundesstaat Veracruz, suchen dort Arbeit, vergeblich. Eine schwierige Zeit, wie beide sagen. Die Ersparnisse gehen zur Neige, die beiden beschlies­sen, in die Schweiz zurückzukehren. «Ich wollte schon immer mal nach Ita­lien, in das Land der schönen Künste», sagt Flores Saldaña und schmunzelt, «die Schweiz liegt ja grad nebenan.» Mit einem Koffer voller Kleider und einem Koffer voller Werkzeug kam das Paar 2006 in Winterthur an und bei einer Freundin unter.

Harter Weg, reichlich Früchte«Zu Beginn war es schon hart hier», räumt Flores Saldaña ein, «die Men­schen sind so vollkommen anders als in Mexiko.» Heimweh, ja, das kennt er. Mittlerweile fühlt er sich jedoch zu Hause hier in der Schweiz, in Win­terthur. Er lacht und sagt:» So ist halt das Leben, mal einfacher und mal schwieriger. Ich bin von Grund auf ein sehr fröhlicher Mensch. Was mir nicht immer leichtfällt, ist, Kontakte zu knüpfen, da ich eher eine introvertierte Person bin, doch wo Kontakte zustan­

de kamen, ist man mir stets mit grosser Offenheit begegnet», sagt er. Auch in dem Bauhandwerkbetrieb, in dem er heute zu fünfzig Prozent arbeitet, sei er wie in einer Familie aufgenommen worden. «Es war ein harter Weg, aber heute kann ich reichlich Früchte ern­ten», blickt er auf die vier zurücklie­genden Jahre in der Schweiz zurück. Er geniesst es, hier zu sein. «Endlich ist der Druck weg, den der Überlebens­kampf erzeugte.»

Hier ist laut dem Künstler alles gut organisiert. Man kann Materi­al beschaffen, für eine Bohrmaschine muss man anders als in Mexiko keinen ganzen Monatslohn hinblättern. Hier erhalte er Werkzeug von sehr guter Qualität, dies wirke sich auf die Quali­tät seiner Skulpturen aus. Ob er in sei­nem Atelier die Künstlergemeinschaft von früher nicht vermisst? «Ich arbei­te gerne auch für mich, ich muss mich ganz auf mein Werk fokussieren kön­nen», sagt er. Gerne tauscht er sich mit anderen Künstlern hier in Winterthur aus, der Austausch und die Beziehun­gen seien sehr wichtig.

Pädagoge aus LeidenschaftAusserdem beginnt Flores Saldaña wieder, in seinem Atelier Bildhauerei zu unterrichten. «Ich will nicht nur fer­

tige Dinge zeigen, ich will auch etwas von meinem Erfahrungsschatz weiter­geben.» Er hat seine eigene Lehrme­thode entwickelt, die sich nicht stur nach Büchern und Theorien richtet, sondern den Menschen und seine Be­dürfnisse in den Mittelpunkt stellt. «Was braucht ein Mensch», das sei die zentrale Frage, wenn er Kunst unter­richte. «Wichtig für mich als Lehrer ist mein Gegenüber, der Schüler oder die Schülerin. Was wollen sie Ausdrücken und wie können sie es? Gemeinsam suchen wir dann den Weg, um das zu materialisieren, was sie innerlich be­wegt.» Wenn Flores Saldaña vom Un­terricht spricht, redet er sich so richtig ins Feuer, er erzählt in immer flüssiger werdendem Deutsch, wie er Kindern mit motorischen und Schulschwierig­keiten in Rikon Werkunterricht erteilt hat, wie er sie fördern konnte.

In Winterthur wünscht sich Flores Saldaña eine offenere Kunstszene und dass vermehrt auch an Orten aus­gestellt wird, die nicht offiziell aner­kannt sind. Etwas Mut zum Risiko. «Wenn man Kunst an ungewohnten Orten ausstellt, macht dies die Kunst spannender – und das Publikum neu­gieriger.» Und was braucht denn der Mensch für sein Leben, ausser Offen­heit und Neugierde? lCHRISTINA PEEGE

«Austausch macht Kunst lebendig»Ricardo Flores Saldaña schafft Skulpturen voller Magie und von höchster Präzision. Der Künstler mit mexikanischen Wurzeln lebt gerne in Winterthur, denn hier ist das Leben gut organisiert. Das komme seiner Kunst zugute, sagt er.

ricardo Flores Saldaña lebt und arbeitet gerne in Winterthur. er hat das lachen nicht verlernt, auch wenn das leben hier nicht immer ganz einfach ist. Bild: marc dahinden

OUTSIDEINSIDEinternationale kunStWie kunstschaffende aus aller Welt Winterthur sehen und beleben

Sie sind die Ostgeburt der Hölle. Die Alte Kaserne zeigt Comix und Sequenzen aus der Ostschweiz. Anschauen!

Verein zur Förderung sequenzieller Grafik, das tönt schon mal gut. Noch besser: «Wir legen keinen Wert auf grosse Namen und keinen Wert auf Hundert­mal­Gesehen.» Am besten aber ist der Imperativ: «Wir fördern!» So stellt sich der Verein Sequenz aus St. Gallen vor, der sich Abfolgen aller Art verschrieben hat: im Trickfilm und mit Bildergeschichten, in der Kunst und auch ausserhalb von ihr, also qua­si überall.

Überall ist St. Gallen, Ostschweiz. Die Sequenz­Ausstellung in der Alten Kaserne zeigt die «Ostgeburt der Höl­le». Alles ist extra gemacht für Win­terthur samt Büchlein. Ein Querschnitt durch das Ostschweizer Illustrations­

und Comicschaffen: 14 Zeichnerinnen und Zeichner hat der Verein ausge­wählt, um das Spektrum des Schaffens zu zeigen. Es führen ganz verschie­dene Wege durch diese Landschaft, vom Chrüsimüsi über kleine Filme bis zum Klebepunktroman.

Da ist einmal Speicher, hier wohnt Theres Senn, Jg. 1968; die Illustrato­rin bringt wunderhübsch ins Bild, was sich zwei Riesenschlangen so zu sa­gen haben. «Kannst du mir sagen, was Weisheit ist?», fragt die eine. «Komm herein, ich sags dir gleich. Erzähl mir aber zuerst die neuesten Geschichten über Alfons, die interessieren mich brennend.» Türe auf, Türe zu, das ist schon der ganze Witz. Er funktioniert übrigens auch mit Waschmaschinenre­parateuren und Heiligenschein, zwei Skeletten und einer Blaskapelle, einer Kinderschaukel und anderen kritz­ligen Gestalten aus dem Kugelschrei­bergebiet.

So geht es weiter: mit Wattwil, das Anna Furrer, Jahrgang 1980, ist; sie liefert die titelgebende Ausgeburt der Hölle, Fig. 1 bis 34: das Ying und Yang zeigt sich in der Unterwelt. In diesen Bereich wagt sich auch Lika Nüssli, *1973, vor, in «Sehnsucht, wieder ein Versuch» geraten ihre Figuren über den Rand in die Leere hinein, und es ist ein Leuchten in diesen Bildern, auch wenn sie von der Hölle erzählen.

Jedes Vorankommen fordert hier seinen Tribut. Kreuz und quer geht es durch die sequenzielle Landschaft, wir sind weiter auf 1000 m ü. M. in Tro­gen (mit Annette Pecar), in Wil (Fio­na Schär), immer wieder natürlich in St. Gallen (mit Matthias Noger, Jona­than Németh, Sascha Tittmann, Vero­nika Brusa), dann auch in Schaffhau­sen (Meret Wüst), Flawil (Ray Hegel­bach), Schwellbrunn (Sabine Schwyter­Küfer). Und alles drängt doch zuletzt nach Winterthur, nicht nur mit Beni

Merk, der hier wohnt, und Rahel Ni­cole Eisenring, die hier geboren ist: An der Vernissage am Dienstag waren vor lauter Menschen die Bilder an den Wänden gar nicht zu sehen.

Und die einzelnen Stationen lassen sich, so unterschiedlich sie auch sind, als eine Sequenz lesen: vom Umgang mit dem Bildervorrat in den Köpfen. Und alle Werke zusammen ergeben einen Film: über den Alltag und die Sehnsucht nach dem anderen, über Klötze, die hier im Wege stehen, und Punkte, die für sich genommen eine Romanze sind. Einfach: La Condition humaine, gezeichnet, gemalt, gefilmt. Und überall: ist das Herz eingeschrie­ben.  (bu)

ostgeburt der Hölleausstellung im Bistro der alten kaserne, bis  1. april. der katalog, der ein schönes Büchlein ist und Comix und Sequenzen aus dem osten der Schweiz versammelt, kostet 10 Franken.

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Vom Leuchten am Rand des Abgrunds