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27 Lebendige Prozesse verstehen Zum Chemieunterricht in der Oberstufe Anschauung und Phänomen Was ist das Besondere am Chemieun- terricht der Waldorfschule? Schüler, die als „Quereinsteiger“ diesen Unterricht erleben, machen oft interessante Erfahrungen. Vor allem muss der gänzliche Verzicht auf die Atomvorstellungen und auf die chemischen Formeln auffallen. Man stellt sich zunächst die Frage, ob und wie Chemie ohne diese Hilfsmittel verstanden und gelernt werden kann. Auf der anderen Seite ist ein beson- derer Umgang mit den Natur- und den Stofferscheinungen erkennbar. Besonderer Wert wird auf die sorgfältige Beobachtung der Stoffe in ihren Eigenschaften und Um- wandlungsprozessen gelegt. Es wird viel Zeit dafür in Anspruch genommen, dass die Schüler sich intensiv mit den Naturphäno- menen auseinandersetzen können. Die Experimente werden sehr detailliert be- schrieben und aufgezeichnet. Auffallen wird vielleicht auch, dass auf eine Erklä- rung des Beobachteten am gleichen Tag verzichtet wird. Vielmehr werden die Er- fahrungen der Schüler am nächsten Morgen noch einmal hervorgeholt und im Gespräch wird es dann zu einer gemeinsamen Ur- teilsbildung kommen. – Anhand einiger Beispiele, vor allem aus der Chemieepoche der Klasse 9, möchte ich die Art und Wei- se, wie man solche Betrachtungen durch- führt, erläutern. Traubenzucker – Grundstoff des Lebens Thema der Chemieepoche in der 9. Klasse ist schwerpunktmäßig die Organi- sche Chemie. Man kann die Epoche auch „Pflanzenchemie“ nennen, weil es vor allen Dingen darum geht, Stoffbildungsprozesse, die im inneren der Pflanzen sich ereignen, zu verfolgen. Im Mittelpunkt unserer Be- trachtungen steht der Traubenzucker (die Glucose), der am Anfang einer Reihe von Umwandlungsprozessen in der Pflanze steht, wodurch letztlich alle organischen Substanzen gebildet werden. Darüber hin- aus ist der Traubenzucker der Stoff, der durch seine „Verbrennung“ im Zuge der sogenannten „inneren Atmung“ (Dissimi- lation) die für die Aufrechterhaltung sämt- licher biochemischen Prozesse notwendige Energie bereitstellt. Wie kommt es zur Bildung der Gluco- se? Sie bildet sich durch einen Prozess, bei dem sich im pflanzlichen Organismus der Wasserstoff – aus der Spaltung des Was- sers, welches über die Wurzeln alle Organe der Pflanze erreicht – mit dem Kohlendi- oxid verbindet, einem Gas, welches Be- standteil der Luft ist und über die Blätter in das Innere der Pflanze gelangt. Dieser Vor- gang der Photosynthese (Assimilation) kann nur dann stattfinden, wenn das Son- nenlicht darin beteiligt ist. Macht man sich diesen Vorgang be- wusst, kommt man unweigerlich ins Stau- nen: Das Leben schafft offensichtlich die materiellen Bedingungen, die Stoffe, die für seine eigene Aufrechterhaltung sorgen. Schwer ist dann nachzuvollziehen, dass das Leben angeblich aus toter Materie zufällig entstanden sein soll. Der Traubenzucker wird zu einem Rätsel, das durchschaut werden muss: Wieso wird gerade dieser Stoff gebildet? Was hat er mit dem Leben, in dessen vielfältige Prozesse er hineinge- schleust wird, zu tun?

Lebendige Prozesse Lebens verstehen - waldorfcampus-hn.de Herbst Chemie.pdf · Bildung des Traubenzuckers als kosmische Energie beteiligt. Was geschieht, wenn der Traubenzu-cker noch

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Lebendige ProzesseverstehenZum Chemieunterricht inder Oberstufe

Anschauung und PhänomenWas ist das Besondere am Chemieun-

terricht der Waldorfschule? Schüler, die als„Quereinsteiger“ diesen Unterricht erleben,machen oft interessante Erfahrungen. Vorallem muss der gänzliche Verzicht auf dieAtomvorstellungen und auf die chemischenFormeln auffallen. Man stellt sich zunächstdie Frage, ob und wie Chemie ohne dieseHilfsmittel verstanden und gelernt werdenkann. Auf der anderen Seite ist ein beson-derer Umgang mit den Natur- und denStofferscheinungen erkennbar. BesondererWert wird auf die sorgfältige Beobachtungder Stoffe in ihren Eigenschaften und Um-wandlungsprozessen gelegt. Es wird vielZeit dafür in Anspruch genommen, dass dieSchüler sich intensiv mit den Naturphäno-menen auseinandersetzen können. DieExperimente werden sehr detailliert be-schrieben und aufgezeichnet. Auffallenwird vielleicht auch, dass auf eine Erklä-rung des Beobachteten am gleichen Tagverzichtet wird. Vielmehr werden die Er-fahrungen der Schüler am nächsten Morgennoch einmal hervorgeholt und im Gesprächwird es dann zu einer gemeinsamen Ur-teilsbildung kommen. – Anhand einigerBeispiele, vor allem aus der Chemieepocheder Klasse 9, möchte ich die Art und Wei-se, wie man solche Betrachtungen durch-führt, erläutern.

Traubenzucker – Grundstoff desLebens

Thema der Chemieepoche in der 9.Klasse ist schwerpunktmäßig die Organi-sche Chemie. Man kann die Epoche auch„Pflanzenchemie“ nennen, weil es vor allenDingen darum geht, Stoffbildungsprozesse,die im inneren der Pflanzen sich ereignen,zu verfolgen. Im Mittelpunkt unserer Be-trachtungen steht der Traubenzucker (dieGlucose), der am Anfang einer Reihe vonUmwandlungsprozessen in der Pflanzesteht, wodurch letztlich alle organischenSubstanzen gebildet werden. Darüber hin-aus ist der Traubenzucker der Stoff, derdurch seine „Verbrennung“ im Zuge dersogenannten „inneren Atmung“ (Dissimi-lation) die für die Aufrechterhaltung sämt-licher biochemischen Prozesse notwendigeEnergie bereitstellt.

Wie kommt es zur Bildung der Gluco-se? Sie bildet sich durch einen Prozess, beidem sich im pflanzlichen Organismus derWasserstoff – aus der Spaltung des Was-sers, welches über die Wurzeln alle Organeder Pflanze erreicht – mit dem Kohlendi-oxid verbindet, einem Gas, welches Be-standteil der Luft ist und über die Blätter indas Innere der Pflanze gelangt. Dieser Vor-gang der Photosynthese (Assimilation)kann nur dann stattfinden, wenn das Son-nenlicht darin beteiligt ist.

Macht man sich diesen Vorgang be-wusst, kommt man unweigerlich ins Stau-nen: Das Leben schafft offensichtlich diemateriellen Bedingungen, die Stoffe, diefür seine eigene Aufrechterhaltung sorgen.Schwer ist dann nachzuvollziehen, dass dasLeben angeblich aus toter Materie zufälligentstanden sein soll. Der Traubenzuckerwird zu einem Rätsel, das durchschautwerden muss: Wieso wird gerade dieserStoff gebildet? Was hat er mit dem Leben,in dessen vielfältige Prozesse er hineinge-schleust wird, zu tun?

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Schaut man genauer auf den Trauben-zucker, wird man feststellen, dass es sichum einen Stoff mit recht gegensätzlichenEigenschaften handelt. Einerseits ist derTraubenzucker ein Stoff, welcher in festerForm die Gestalt von Kristallen einnimmt.Der kristalline Zustand entspricht in derNatur einer ganz bestimmten Qualität: ImKristall zeigt sich die Materie, wie sie ei-nem klaren Ordnungsprinzip folgt, wie siesich gewissermaßen als Abbild einer abso-luten Ordnung organisiert. Der Traubenzu-cker kann aber noch mehr. Erhitzen wirihn, so zeigt er sich uns von einer ganzanderen Seite: er kommt leicht in den flüs-sigen Zustand (Schmelzpunkt bei 146 °C).Dabei verändert er seine Farbe, er wirdallmählich gelb bis er am Ende ganz braunerscheint. Dabei können wir feststellen,dass Wasser entweicht. Führen wir denVersuch zuende, bekommen wir eineschwarz-glänzende Substanz, die sich beinäherer Betrachtung als Kohlenstoff, einesder ca. 100 uns bekannten Elemente, identi-fizieren lässt. Versuchen wir den Trauben-zucker im Wasser zu lösen, stellen wir fest,dass er darin sehr gut löslich ist. In diesemStoff zeigt sich also sowohl die Tendenzklare, feste Formen einzunehmen, als auchdie Eigenschaft in einen Zustand überzuge-hen, in dem die Qualitäten des Flüssigenherrschen. Zwei Stoffe, der Kohlenstoffund das Wasser, sind offensichtlich imTraubenzucker innig miteinander verwo-ben. Die Bezeichnung „Kohlenhydrat“ fürden Zucker kommt auch daher.

Polaritäten des LebendigenWir haben bisher einige Eigenschaften

betrachtet, die zunächst einmal wie neben-einander stehen. Was für das Verstehen desTraubenzuckers aber fehlt, ist das Erlebeneines inneren Zusammenhangs, der dieseErscheinungen zu einem Ganzen zusam-menfügt. Wenn zwei Stoffe, der Kohlen-

stoff und das Wasser, so innig miteinanderim Traubenzucker verwoben sind, wäreinteressant, die Eigenschaften dieser beidenStoffe näher kennen zu lernen.

Der Kohlenstoff ist dasjenige Element,welches das Grundgerüst sämtlicher orga-nischen Substanzen bildet. Erhitzen wirvorsichtig ein Pflanzenblatt, ohne dass esverbrennt, erhalten wir am Ende eineschwarze Masse, in der sämtliche Struktu-ren des Blattes erhalten geblieben sind.Diese Substanz, die Kohle, besteht zumgrößten Teil aus Kohlenstoff. Diesem Ele-ment verdankt offensichtlich das Lebenseine Grundqualitäten. In der Pflanze er-scheinen sie als ein enormer Reichtum anallen möglichen Formbildungen. Keineinziges Blatt innerhalb einer Pflanzegleicht absolut einem anderen. Besonders

gut sind beispielsweise die Blattmetamor-phosen an einjährigen Pflanzen zu beo-bachten. Goethe hat in seiner „Metamor-phose der Pflanze“ die Gesetzmäßigkeitenin den Formbildungsprozessen der Pflanzeexakt beschrieben. Andererseits können wirerkennen, dass Pflanzen doch auch in sich

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beständige Formen haben. „Man hat hiereine Haupteigenschaft des Kohlenstoffs vorsich: die Fähigkeit, sich durch das Lebenformen zu lassen und die entstandenenFormen festzuhalten“ (Fritz Julius: Grund-lagen einer phänomenologischen Chemie,1988)

Lässt sich das anhand weiterer Eigen-schaften des Kohlenstoffs bestätigen? DerKohlenstoff kommt in der Natur vor allemin zwei Formen vor: Die eine ist der Gra-phit, die andere der Diamant. Das sindStoffe, die sehr gegensätzliche Eigen-schaften besitzen, es handelt sich jedochum das gleiche Element. Betrachten wir dieEigenschaften des graphitischen Kohlen-stoffs (das ist die Kohlenstoffform, die inder Kohle enthalten ist), sehen wir, dassdieses Element zwischen zwei Extremen

lebt: Einerseits ist der Kohlenstoff als Gra-phit eines der weichsten Elemente. Imgemahlenen Zustand wird er sogar alsSchmiermittel benutzt. Reibt man ihn zwi-schen den Fingern, hat man den Eindruck,als hätte man es mit einer Art von Flüssig-keit zu tun. Selten kommt Kohlenstoff in

Form von Kristallen vor. Es ist ein Ele-ment, bei dem offensichtlich die Bildungvon starren Formen gehemmt ist. DieDichte des Graphits ist dementsprechendrelativ gering (2,27 g/cm3).

Man würde erwarten, dass ein solchesElement durch Erwärmung relativ leicht inden flüssigen Zustand zu überführen seinmüsste. Das ist aber nicht der Fall. DerGraphit hat seinen Schmelzpunkt bei3500oC, den höchsten von allen Elementen!Der Kohlenstoff „will“ der Wirksamkeitder Wärme trotzen und mit aller Kraft imfesten Zustand bleiben! Auch die Farbe desGraphits weist auf den verdichtenden, zent-rierenden Charakter: das Schwarz strahltnichts aus, es „verschluckt“ eher das Licht.– Das alles ergänzt und bestätigt das Bild,das wir vom Kohlenstoff haben. Er verei-nigt tatsächlich zwei gegensätzliche Fähig-keit: einerseits weich und formbar zu sein,gepaart mit der Fähigkeit die erlangtenFormen festzuhalten. –

Nun zum Wasser, einem Stoff, welcherBedingung für alles Leben ist. Sämtlichebiochemischen Prozesse finden im wässri-gen Milieu statt und das Leben selbst ist imWasser entstanden. Wasser ist ständig inBewegung und besitzt, solange es flüssigist, keine eigene Form, sondern kann alleFormen einnehmen.

Was ergibt sich, wenn Kohlenstoff undWasser im Traubenzucker aufeinanderwirken? Das bewegliche, formlose Wasserwird durch die Verdichtungstendenz desKohlenstoffs so beeinflusst, dass es zuFormen gerinnen kann. Und der Kohlen-stoff kann, beeinflusst durch die Beweg-lichkeit des Wassers, sich in lebendigeProzesse einbinden. Wir haben also eineSubstanz vor uns, die dem Leben die stoff-liche Voraussetzung geben kann, um sichdarin zu manifestieren. Die starke Kristalli-sationsfähigkeit des Zuckers wird nun auf-grund des darin wirkenden Kohlenstoffsverständlich. Genauso aber auch seine gute

Der Graphit

Der Diamant

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Löslichkeit als Ergebnis der starken Ver-wandtschaft des Traubenzuckers mit demWasser. Auch der süße Geschmack desZuckers wird verständlich, wenn man sichdie Voraussetzung für seine Bildung be-wusst macht: das Sonnenlicht ist an derBildung des Traubenzuckers als kosmischeEnergie beteiligt.

Was geschieht, wenn der Traubenzu-cker noch stärker von den Kräften, die zuVerdichtung führen, ergriffen wird? Esentstehen Stoffe, die aufgrund ihrer stärke-ren Verwandtschaft mit den verdichtendenQualitäten des Kohlenstoffs viel wenigerim Wasser löslich sind als der Traubenzu-cker: das sind die Stärke und die Zellulose.Stärke ist im kalten Wasser unlöslich, beimErhitzen entsteht eine klebrige Substanz(Stärkekleister). Die Stärke quillt auf, bleibtaber immer noch im Wasser unlöslich. Unddie Zellulose, als Hauptbestandteil desHolzes, weist die entfernteste Verwandt-schaft mit dem Wasser auf. Holz ist prak-tisch die höchste Verdichtungsstufe desTraubenzuckers! Beide, sowohl die Stärkewie auch die Zellulose, entstehen, indemaus dem Traubenzucker Wasser ausgeson-dert wird.

Erklärungsversuche mit Modell-vorstellungen

Wie begegnet man dem im späterenVerlauf der Oberstufe, in den Klassen 11und 12, bei der Behandlung der modernenAtomlehre und der „Formelchemie“? Be-trachten wir noch einmal den Kohlenstoff.Der Graphit wird wie folgt dargestellt:

Jedes „Kügelchen“ stellt ein „Kohlenstoff-atom“ dar. Die dazwischenliegenden Stri-che deuten auf die Verbindungen (Elek-tronenpaarbindungen) zwischen den ein-zelnen Kohlenstoffatomen. Mit der Dar-stellung in Schichten soll das Strukturmo-dell „erklären“, weshalb der Graphit diesemerkwürdige, nicht ganz zum dreidimensi-onalen Kristall geronnene Struktur besitzt,seine Fähigkeit feine Schuppen zu bilden,die ihm, wie oben beschrieben, den Cha-rakter einer Flüssigkeit verleihen. Diedichte Vernetzung dagegen weist auf dieweitere Eigenschaft dieses Elements hin,die uns in der Betrachtung deutlich gewor-den ist, nämlich die besondere Qualität,zentrierend und formhaltend zu wirken –was auch in den folgenden Strukturformelnals gesteigerte Fähigkeit erscheint, sich mitsich selbst zu verbinden.

Betrachten wir den Traubenzucker, dieGlucose. Eine der möglichen Darstellungs-arten als Chemische Formel ist diese:C6H12O6. Sechs Kohlenstoffatome sind mitsechs Sauerstoffatomen und mit zwölfWasserstoffatomen verbunden. Gehen wirdavon aus, dass das Verhältnis von Wasser-stoff zu Sauerstoff im Wasser 2:1 ist, hättenwir ein Verhältnis von Kohlenstoff zuWasser wie 1:1. Einem Kohlenstoffatomentspricht rein rechnerisch ein MolekülWasser.

Die Strukturformel des Traubenzuckerswird folgendermaßen dargestellt (EinKohlenstoffatom wird mit dem Symbol C,aus lat. Carbon, dargestellt. Wir „sehen“die häufige Verbindung des Kohlenstoffs„mit sich selbst“.)

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Die Stärke sieht etwas komplizierteraus:

Und die Zellulose:

Was hier mit Hilfe der Strukturformelndargestellt wird, ist die stärkere Vernetzungvon Glucose-Molekülen, was letztlichnichts anderes ist als das, was wir durch die

phänomenologische Betrachtung der Stoffeerfahren haben: die stärkere Verdichtung,die sich in den Qualitäten der Stoffe zeigt.

Der Unterschied allerdings ist, dass essich hier um eine konstruierte Modellvor-stellung handelt, der keine Erfahrungzugrunde liegt. Sie versucht die Eigen-schaften der Stoffe zu erklären, ohne aberzu einem lebendigen Verstehen der Natur-erscheinungen zu gelangen. Um die Natur-phänomene als sinnvoll erleben zu können,bedarf es der anderen, oben beschriebenenintensiven Beschäftigung mit den Erschei-nungsformen der Materie. – Für eine wei-terführende Auseinandersetzung mit dieserFragestellung empfehle ich das Buch„Chemie verstehen“, herausgegeben vonDr. Ernst-Michael Kranich, dem ich vieleAnregungen verdanke.

Mavrikios Adamis (L)

„Wenn man nur mal seinen Teller abstellen könnte...“ Die 12. Klasse mit „Graf Öderland“