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29 Eine Milliarde für Güllen… Die zwölfte Klasse spielt „Der Besuch der alten Dame“ „…geschrieben von einem, der nicht so sicher ist, ob er anders handeln würde…“ Friedrich Dürrenmatt Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstel- lern nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine ersten großen Erfolge hatte er als Verfasser spannender Kriminalromane: „Der Richter und sein Henker“ (1952) und „Der Ver- dacht“ (1953). Mit den Stücken „Der Be- such der alten Dame“ (1956) und „Die Physiker“ (1962) gelang ihm dann der Durchbruch zum Weltruhm. Die Resonanz dieser Werke beim Pub- likum war enorm. Ein Beispiel: „Schau- spielhaus Zürich, 29. Januar 1956. Urauf- führung von Friedrich Dür- renmatts Der Besuch der alten Dame. Noch nie habe ich ein Theaterstück so aufgeregt und gespannt verfolgt wie dieses. Ich sitze neben meiner Großmutter und Erika irgendwo im Parkett. Dieses schon seit der ersten Szene auf dem Güllener Bahnhof packende, komödiantisch groteske Drama bleibt für mich unter allem bisher auf der Theaterbühne Gesehe- nen das absolute Spitzenerlebnis… Ich gehe betäubt in die Pause. Es folgt die zweite Hälfte mit dem befürchteten Ende. Wir fahren nach Hause. Oben im Teezim- mer debattieren Erika und Katja noch bis tief in die Nacht leidenschaftlich über die- ses ‚zeitlose Lehrstück über die Macht des Geldes und die Käuflichkeit der Men- schen‘, wie Erika es nennt.“ So erlebte Frido Mann, ein Enkel Thomas Manns, als Fünfzehnjähriger (!) dieses Theaterstück. Im Laufe der Zeit feierte es Triumphe auf allen großen Bühnen der Welt. Es wurde auch sehr bald in den Kanon der Schullek- türen aufgenommen und behauptet seinen Platz dort seit einem halben Jahrhundert bis in unsere Zeit. Opfer vor dem Goldenen Kalb Die Story: Ein Kollektiv begeht einen scheußlichen Mord an einem seiner Mit- glieder und erkauft sich damit Wohlstand und Reichtum, die Erlösung aus der Armut. Wir befinden uns in Güllen, einer Klein- stadt mit 5056 Einwohnern, 52 Prozent davon sind Protestanten, 45 Prozent Ka- tholiken, 3 Prozent sonstige. Sie besitzt eine gotische Kathedrale mit einem be- rühmten Portal, das jüngste Gericht dar- stellend, ein Stadthaus, das Hotel „Zum Goldenen Apostel“ und ein humanistisches Gymnasium. Industrie: Wagnerwerke, Bockmann, die Platz-an-der-Sonne- Hütte. Goethe soll in der Stadt übernachtet haben, Brahms ein Quartett kom- poniert und Berthold Schwarz das Pulver erfun- den haben! Die einstige „Kultur- stadt, eine der ersten in Europa“ (!) ist jedoch aus unerfindlichen Gründen seit Jahren zu einem verelendeten, verwahrlos- ten und bedeutungslosen Nest verkommen. Eine Verschwörung der Freimaurer? Der Juden? Der Hochfinanz? So die Mutma- Friedrich Dürrenmatt

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Eine Milliarde fürGüllen…Die zwölfte Klasse spielt„Der Besuch der alten Dame“

„…geschrieben von einem,der nicht so sicher ist,

ob er anders handeln würde…“Friedrich Dürrenmatt

Der Schweizer Schriftsteller FriedrichDürrenmatt (1921-1990) zählt zu denwichtigsten deutschsprachigen Schriftstel-lern nach dem Zweiten Weltkrieg. Seineersten großen Erfolge hatte er als Verfasserspannender Kriminalromane: „Der Richterund sein Henker“ (1952) und „Der Ver-dacht“ (1953). Mit den Stücken „Der Be-such der alten Dame“ (1956) und „DiePhysiker“ (1962) gelang ihm dann derDurchbruch zum Weltruhm.

Die Resonanz dieser Werke beim Pub-likum war enorm. Ein Beispiel: „Schau-spielhaus Zürich, 29. Januar 1956. Urauf-führung von Friedrich Dür-renmatts Der Besuch deralten Dame. Noch nie habeich ein Theaterstück soaufgeregt und gespanntverfolgt wie dieses. Ich sitzeneben meiner Großmutterund Erika irgendwo imParkett. Dieses schon seitder ersten Szene auf demGüllener Bahnhof packende,komödiantisch groteskeDrama bleibt für mich unterallem bisher auf der Theaterbühne Gesehe-nen das absolute Spitzenerlebnis… Ichgehe betäubt in die Pause. Es folgt diezweite Hälfte mit dem befürchteten Ende.

Wir fahren nach Hause. Oben im Teezim-mer debattieren Erika und Katja noch bistief in die Nacht leidenschaftlich über die-ses ‚zeitlose Lehrstück über die Macht desGeldes und die Käuflichkeit der Men-schen‘, wie Erika es nennt.“ So erlebteFrido Mann, ein Enkel Thomas Manns, alsFünfzehnjähriger (!) dieses Theaterstück.Im Laufe der Zeit feierte es Triumphe aufallen großen Bühnen der Welt. Es wurdeauch sehr bald in den Kanon der Schullek-türen aufgenommen und behauptet seinenPlatz dort seit einem halben Jahrhundert bisin unsere Zeit.

Opfer vor dem Goldenen KalbDie Story: Ein Kollektiv begeht einen

scheußlichen Mord an einem seiner Mit-glieder und erkauft sich damit Wohlstandund Reichtum, die Erlösung aus der Armut.Wir befinden uns in Güllen, einer Klein-stadt mit 5056 Einwohnern, 52 Prozentdavon sind Protestanten, 45 Prozent Ka-tholiken, 3 Prozent sonstige. Sie besitzteine gotische Kathedrale mit einem be-rühmten Portal, das jüngste Gericht dar-stellend, ein Stadthaus, das Hotel „ZumGoldenen Apostel“ und ein humanistisches

Gymnasium. Industrie:Wagnerwerke, Bockmann,die Platz-an-der-Sonne-Hütte. Goethe soll in derStadt übernachtet haben,Brahms ein Quartett kom-poniert und BertholdSchwarz das Pulver erfun-den haben!

Die einstige „Kultur-stadt, eine der ersten inEuropa“ (!) ist jedoch ausunerfindlichen Gründen seit

Jahren zu einem verelendeten, verwahrlos-ten und bedeutungslosen Nest verkommen.Eine Verschwörung der Freimaurer? DerJuden? Der Hochfinanz? So die Mutma-

Friedrich Dürrenmatt

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ßungen der Verzweifelten. Aber jetzt end-lich keimt neue Hoffnung: Claire Zacha-nassian (bürgerlich: Klara Wäscher), ehe-malige Güllenerin, die in der Fremde alsMilliardärin zur reichsten Frau der Weltavancierte, wird erwartet. Nach 45 Jahrenkehrt die verlorene Tochter der Stadt zu-rück, um dem Ort ihrer Kindheit und Ju-gend einen Besuch abzustatten. „Wird sieuns retten und unsere Wirtschaft sanieren?“

In dieser Situation gebührt dem KrämerAlfred Ill, dem anscheinend beliebtestenBürger der Stadt und designierten Nachfol-ger des Bürgermeisters, eine Schlüsselrolle.Der Bürgermeister spricht es aus: „Siewaren mit ihr befreundet, Ill, da hängt allesvon ihnen ab.“ Ill: „Ich weiß, die Zachanas-sian soll mit ihren Millionen herausrü-cken.“

Endlich ist sie da. Ganz Güllen ist ver-sammelt. Mit einem riesigen Tross im Ge-folge nimmt sie Quartier im „GoldenenApostel“. Was aber soll denn das? Sie hateinen Sarg, einen leeren Sarg mitgebracht!Egal, das Wiedersehen mit Alfred Ill ver-läuft so unerwartet positiv nach Plan, dassdieser dem Lehrer gleich zuflüstern kann:„Sehen Sie, Herr Lehrer, diehab ich im Sack.“ Anschlie-ßend suchen die beiden ihreehemaligen Liebesnester nocheinmal auf und erinnern sichan selige Zeiten. Sie: „Es warso wunderbar, all die Tage, dawir zusammen waren.“

Am Abend dann derKnaller. Sie sei bereit, eineMilliarde springen zu lassen,fünfhundert Millionen für dieStadt und fünfhundert Millio-nen verteilt auf alle Familien.Im Gegenzug dafür wolle sieGerechtigkeit! Allfred Illnämlich habe seinerzeit derSchwangeren gegenüber dieVaterschaft vor einem besto-

chenen Gericht abgeleugnet, sie damitöffentlich zur Hure gemacht und damit ausder Stadt getrieben. Jetzt sei die Stunde derAbrechnung gekommen: „Eine Milliardefür Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.“

Da scheint sie sich jedoch gründlichverrechnet zu haben. Der Bürgermeistersteht auf, bleich und würdig: „Frau Zacha-nassian: Noch sind wir in Europa, nochsind wir keine Heiden. Ich lehne im Namender Stadt Güllen das Angebot ab. Im Na-men der Menschlichkeit. Lieber bleiben wirarm denn blutbefleckt.“ Riesiger Beifall.Darauf sie: „Ich warte.“

Und? Sehr bald fangen die ersten an,auf Kredit zu leben und nach einigen Mo-naten ist die gesamte Stadt und jeder ein-zelne bereits derart verschuldet, dass sieimmer mehr von Ill abrücken, anfangenabfällig über ihn zu reden und allmählichgar keine andere Möglichkeit mehr sehenals ihn zu opfern. Der Arzt deklariert denMord zuletzt offiziell als Herzschlag. Clai-re überreicht den Scheck. Die Stadt ver-

Da bei Drucklegung des Heftes die Aufführungnoch nicht stattgefunden hat, haben wir einigeBilder aus der Probenarbeit eingefügt. (Red.)

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wandelt sich in eine glitzernde Großstadt-metropole im Tanz um das goldene Kalb.

Der Ort der Handlung

Durch den Besuch der alten Dame na-mens Claire Zachanassian – vgl. Zaharoff(griech. Waffenhändler), Onassis (griech.Reeder) und Gulbenkian (armen.-engl.Ölmagnat) – bekommen es die bisherkreuzbraven, jetzt aber verelendeten Gülle-ner mit einer gewaltigen Macht zu tun. DerLehrer drückt es so aus: „Schauerlich, wiesie aus dem Zuge stieg, die alte Dame mitihren schwarzen Gewändern. Kommt mirvor wie eine Parze, wie eine Schicksalsgöt-tin. Sollte Klotho heißen, nicht Claire, dertraut man es noch zu, dass sie Lebensfädenspinnt.“ Es ist eine Macht, die ihnen dieAussicht eröffnet, alles irdische Elend inunvorstellbares Glück zu verwandeln. Inder alten Dame tritt den Bewohnern Gül-lens eine Art Inkarnation des materiellenReichtums gegenüber, deren Verlockung sogroß ist, dass ihr die gesamte Stadt aus-nahmslos erliegt. Die Ermordung des bis-her „beliebtesten Bürgers der Stadt“ als

Preis für das irdische Paradies – zunächstfür die Bewohner eine unvorstellbare Zu-mutung – gewinnt Zug um Zug an innererBerechtigung, alle moralischen Skrupelverflüchtigen sich und verwandeln sich inZustimmung zu einer notwendigen, ja ge-rechten Tat. Der Bürgermeister auch jetztwieder stellvertretend für alle: „Wer reinenHerzens die Gerechtigkeit verwirklichenwill, erhebe die Hand.“ Alle erheben dieHand.

Als Zuschauer wird man sich nun viel-leicht fragen: „Wo liegt denn dieses Gül-len? Das kenn‘ ich überhaupt nicht. DieseGüllener sind ja nun wirklich eine Ausge-burt dumpfer Instinkthaftigkeit und vorzi-vilisatorischer Verhaltensweisen. In Heil-bronn z.B. könnte ich mir ein solches Er-eignis überhaupt nicht vorstellen!“

Friedrich Dürrenmatt würde hier wider-sprechen. Denn er will mit seinem Stück jakeineswegs einen Einzel-Unfall tragischerVerirrung darstellen, vielmehr weist erseinem Stück allgemeine Bedeutung zu.Dies ist schon daran erkennbar, dass „dieMilliarde“ der alten Dame nicht als Werteiner bestimmten Landeswährung ausge-

wiesen ist und dass sie insofern jedesbeliebige nationale Etikett tragenkönnte. Ferner werden die Reprä-sentanten der Kleinstadt Güllen(Kollektiv) von Dürrenmatt deutlicherkennbar nicht als Individuen ge-zeichnet, sondern viel eher als Ty-pen, als Symbolfiguren für jeweilsgrundlegende Werte der abendländi-schen Kultur und des modernenRechtsstaates.

So fungiert z.B. der Lehrer alsVertreter des Humanismus. AlsRektor des Gymnasiums unterrichteter Musik, Griechisch und Latein:„Seit zwei Jahrzehnten pflanze ich indieser verarmten Gemeinde die zar-ten Keime der Humanität … Dennich bin ein Humanist, ein Freund der

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alten Griechen, ein Bewunderer Platos …Aber ich weiß noch mehr. Auch ich werdemitmachen. Ich fühle, wie ich langsam zueinem Mörder werde. Mein Glaube an dieHumanität ist machtlos.“ Folglich ist er es,der in einer groß angelegten Schlussrededen Mord an Ill zu einer von den Idealendes Abendlandes getragenen Tat der Ge-rechtigkeit ummünzt.

Der Bürgermeister als Repräsentant desStaates („Wir leben schließlich in einemRechtsstaat.“) ist es, der im Namen desKollektivs Claires unmoralisches Angebotzunächst entrüstet ablehnt, Ill dann aberden Selbstmord nahelegt und am Schlussdie Hinrichtung in die Wege leitet.

Auch der Pfarrer als Vertreter desChristentums („Wir sind schwach, Christenund Heiden … Flieh, führe uns nicht inVersuchung, indem du bleibst.“) versagt inähnlicher Weise, indem er an der Hinrich-tung schließlich als „geistlicher Beistand“teilnimmt.

Wo liegt also Güllen? „Der Besuch deralten Dame ist eine Geschichte, die sichirgendwo in Mitteleuropa in einer kleinenStadt ereignet“, so Dürrenmatt zum Ort desGeschehens. Das heißt, was sich in Güllenereignet hat, würde sich unter den gegebe-nen Umständen so oder so ähnlich überallereignen. Dem „Fall Güllen“ komme alsoexemplarische Bedeutung zu. Die Grund-konstellation lautet: Ein Kollektiv in Not(Gefahr, Armut, politische Krise o.ä.) er-liegt dem Verführer und erkauft sich dieRettung gegen Preisgabe der Seele. Ge-schichtlicher Beleg: Nicht nur der Natio-nalsozialismus.

Individuum und Kollektiv„Aber“, sagt nun hoffentlich jemand,

„wir Menschen sind doch keine Idioten derGeschichte, wir sind doch lernfähig, wirkönnen doch aus der Geschichte lernen unduns hüten usw.!“ – Hier würde Dürrenmatt

pessimistisch erwidern: Nein! Zu unüber-schaubar, zu undurchdringlich und kom-plex ist das gesellschaftliche Gefüge unddas Zusammenleben der Menschen gewor-den. Wir sind zu sehr Gefangene anonymerProzesse und Strukturen, die uns lähmenund lenken. Er formuliert das an einerStelle folgendermaßen: „In der Wursteleiunseres Jahrhunderts, in diesem Kehrausder weißen Rasse, gibt es keine Schuldigenund auch keine Verantwortlichen mehr.Alle können nichts dafür und haben esnicht gewollt. Alles wird mitgerissen undbleibt in irgend einem Rechen hängen. Wirsind zu kollektiv schuldig, zu kollektivgebettet in die Sünden unserer Väter undVorväter …“

Das Kollektiv aber ist nicht einsichtigoder lernfähig, das widerspricht seinemWesen. Es ist als gesellschaftliches Phä-nomen unselbständig, unpersönlich undinsofern der Verführung durch „Rattenfän-ger“, Populisten oder Diktatoren und derenIdeologien schutzlos ausgeliefert. Ziel kannalso nur sein, sich dem Kollektiv zu ver-weigern und selbstbestimmt seinen eigenenWeg zu gehen.

Alfred Ill geht diesen Weg, aber auftragische Weise. Er hat nämlich inzwi-schen, nachdem er durch „eine Hölle“ ge-gangen ist, zu sich gefunden, indem erseine frühere Schuld an Claire erkannt hat,sich dazu auch bekennt und zur Sühnebereit ist. Jedoch geschieht dies bei ihmnicht eigentlich aus Selbsterkenntnis, son-dern aus einer Situation der Schwächeheraus. Er hat einfach keine Kraft mehr,sich der geballten Macht des Kollektivsentgegen zu stellen: „Ich kämpfe nichtmehr.“ Als jedoch der Bürgermeister ihmgerade jetzt nahelegt, den Konflikt für „unsalle“ auf elegante Weise zu lösen, indem er„als Ehrenmann selbst mit dem LebenSchluss“ mache, weist er das zurück undtritt dadurch bewusst aus dieser verschwo-renen Gemeinschaft aus. „Aber euer Han-

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deln (den Mord) kann ich euch nicht ab-nehmen“, erwidert er dem Bürgermeister.

Der Höhepunkt – also die Ermordung –ereignet sich dann im Theatersaal (!) zum„Goldenen Apostel“. Die Gemeindemit-glieder versammeln sich im Bewusstsein„reinen Herzens die Gerechtigkeit zu ver-wirklichen, damit unsere Seelen nichtSchaden erleiden“. Dann bilden sie eineGasse. Der Polizist reißt Ill in die Höhe:„Steh auf du Schwein. Los geh.“ Die Gas-se, wie es in der Regieanweisung heißt,verwandelt sich in einen Menschenknäuel,lautlos, der sich ballt, der langsam nieder-kauert bis er sich nach einiger Zeit wiederlockert. Daraufhin Claire Zachanassianzum Bürgermeister: „Hier der Scheck.“

Damit ist der Besuch der alten Damebeendet. Sie reist wieder ab. Den jetzt nichtmehr leeren Sarg tragen ihr ihre Dienerhinterher. „Konjunktur für eine Leiche“,lautet ihr zynischer Kommentar. Die Gül-lener jubeln „der Wohltäterin“ zu und sin-gen in einem großen Schlusschor das hoheLied auf ihr neues Babylon:

Es bewahre uns aberein Gottin stampfender, rollender Zeitden Wohlstand …Nacht bleibe fernverdunkele nimmermehr die Stadtdie neuerstandene prächtigedamit wir das Glück glücklich genießen.

Ein offenes Ende? Der Lehrer scheintzu ahnen, was auf die Güllener zukommenwird. Bereits in der Gewissheit, dass aucher langsam zu einem Mörder werde, sagt erzu Ill: „Ich weiß, dass auch zu uns einmaleine alte Dame kommen wird, eines Tages,und dass dann mit uns geschehen wird, wasnun mit Ihnen geschieht.“

„Uns kommt nur noch dieKomödie bei“

In einem Werkstattgespräch mit HorstBienek* geht Friedrich Dürrenmatt daraufein, wie er in seiner eigenen Theaterkunstzu der Beziehung Bühnengeschehen (Fikti-

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on) und Wirklichkeit stehe: „ …dass ichmir nicht zutraue, mit einem Theaterstückdie Wirklichkeit wiedergeben zu können;dazu halte ich die Wirklichkeit für zu ge-waltig, für zu anstößig, für zu grausam undzu dubios und vor allem für zu undurch-sichtig. Ich stelle mit einem Theaterstücknicht die Wirklichkeit dar, sondern stellefür den Zuschauer eine Wirklichkeit auf.“In dieser Bühnenwirklichkeit – etwa in„Der Besuch der alten Dame“ oder „DiePhysiker“ – konfrontiert er sein Publikummit den tiefsten Abgründen der menschli-chen Seele, hält ihm einen Spiegel erschre-ckender Möglichkeiten menschlichen Han-delns vor Augen.

Dass seine Stücke aber dennoch – odergerade deswegen – einen so riesigen Erfolghatten, liegt mit Sicherheit auch an derForm ihrer Darbietung. Dürrenmatt gewann

als Theaterautor eine besondere Einstellungzur Komödie, die er eine moderne Formder dramatischen Kunst nennt. Denn siesetze voraus, dass die Gemeinschaft keinRecht habe, in einen feierlichen Chor aus-zubrechen. Dies eigne der Tragödie an, inder die Gemeinschaft idealisiert werde. Inder Komödie dagegen werde die Gemein-schaft kritisch betrachtet. Er nennt seineStücke Tragikomödien, weil sich in ihnenKomisches und Ernstes verbinden: Siestellen eine verzerrte, aus den Fugen gera-tene Welt dar. Das Witzige, Komödienhafteist eine Art Verkleidung, die das Publikumdazu bringt, sich mit einem ernsthaftenThema auseinanderzusetzen.

Gustav Meck (L)

*Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schrift-stellern, dtv 1965.

Konzertankündigung der Jungen Waldorf-Philharmonie Süddeutschland

Schüler, die in Eigenregie den Beethovensaal der Liederhalle Stuttgart mieten? Und dieOrganisation eines Orchesterprojekts meistern? – Die Junge Waldorf-Philharmonie Süd-deutschland (JWPS) findet dieses Jahr zum siebten Mal statt und wie jedes Jahr endet dieProbenphase mit zwei krönenden Abschlusskonzerten, die amSa. den 06. November im Saal der Freien Waldorfschule ÜberlingenSo. den 07. November im Beethovensaal der Liederhalle Stuttgart stattfinden.Auf dem Programm stehen:2. Sinfonie, D-Dur, op.73 von Johannes BrahmsKonzert Nr. 1 für Klavier und Orchester, e-Moll op. 11, von Frédéric Chopin.Kommende Herbstferien wird die Freie Waldorfschule auf den Fildern wieder von musikbe-geisterten Jugendlichen aus ganz Süddeutschland (und darüber hinaus) bevölkert sein.Organisiert wird die JWPS von einem zehnköpfigen Schülerteam, unterstützt von zwei E-hemaligen. Die musikalische Leitung übernimmt zum sechsten Mal der international aner-kannte Dirigent Patrick Strub. Solist ist David Meier, welcher schon die verschiedenstenPreise bei Musikwettbewerben gewann.Unser Ziel ist es, junge und begabte Musiker zusammenzuführen und ihnen die Möglich-keiten zu geben, auf hohem Niveau zu musizieren und ihr Können der Öffentlichkeit zupräsentieren.Deshalb möchten wir Sie ganz herzlich zu unseren Konzerten einladen. Indem Sie unserKonzert besuchen, bereiten Sie nicht nur sich selbst eine Freude, sondern Sie ermöglichendamit ein Fortbestehen der Jungen Waldorf-Philharmonie.Wir freuen uns auf ihren Besuch!