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Leseprobe FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015 | 2016

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Geschichten vom guten Umgang mit der Welt

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LESEPROBE

FUTURZWEI. Stiftung ZukunftsfähigkeitRosenstraße 1810178 [email protected]

www.fischerverlage.de

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Die Textauswahl dieser Leseprobe

stammt von den Herausgeberinnen

und dem Herausgeber.

Der Almanach ist ab dem 27. November 2014

im Buchhandel erhältlich.

ISBN 978-3-596-03049-1 ca. T (D) 16,99

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FISCHER Taschenbuch © S. FISCHER Verlag GmbHFrankfurt am Main 2014

Umschlaggestaltung: buxdesign, MünchenSatz: Stefan Gelberg

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Der FUTURZWEI

Zukunftsalmanach 2015/16

Geschichten vom guten Umgang mit der Welt

Schwerpunkt Material

Herausgegeben vonHarald Welzer,

Dana Giesecke undLuise Tremel

FISCHER Taschenbuch

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AUSZUG AUS DEM

Vorwort von Dana Giesecke, Luise Tremel und Harald Welzer

Auch dieser zweite Zukunftsalmanach, zwei Jahre nach Er-scheinen des ersten Bandes, ist wieder ein Buch geworden, von dem man nicht weiß, was es eigentlich ist. Eine Samm-lung interessanter Gegengeschichten, eine Utopie in Frag-menten, eine politische Programmschrift, ein Kompendium des Möglichen? Zu allem ein: ja, stimmt. Wir denken sowie-so, dass der Weg in eine reduktive Moderne – also in eine Gesellschaft, die ihren zivilisatorischen Standard bei erheb-lich weniger Material- und Energieverbrauch, bei drastisch verringertem Konsum und deutlich erhöhter persönlicher Autonomie bewahrt – , dass ein solcher Weg nur einer sein kann, in dem sich Postwachstumsstrategien, aufklärerische Traditionen und sinnvolle Techniknutzung auf intelligente, oft auch unerwartete Weise kombinieren. Die moralische Intelligenz, die uns vorschwebt, setzt nicht auf Effizienzer-höhung, Innovation und Vernetzung, sondern auf Praxiswis-sen, Nutzung des Vorhandenen, Innehalten und Verringe-rung von Effizienz. Oder sagen wir es doch ganz altmodisch: auf Lebens- und Überlebensklugheit.

Dazu finden sich in diesem Almanach ein einleitender Essay von Harald Welzer sowie 82 Geschichten des Gelin-gens. 17 der beschriebenen zukunftsfähigen Projekte tauch-ten schon im ersten Almanach auf. In den vergangenen zwei Jahren ist jedoch so viel passiert, dass es sich lohnte, diese Initiativen noch einmal zu besuchen und ihre Geschichten

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fortzuschreiben: Sie hatten mit Schwierigkeiten zu kämpfen, haben größere Erfolge eingefahren oder viele Nachahmer gefunden. Insgesamt 33 Geschichten dieses Buches sind Teil des Schwerpunkts Material und handeln von einem ande-ren Umgang mit Stoffen in Produktion, Konsum oder Ent-sorgung bzw. Wiederverwendung. Sie korrespondieren eng mit dem Schwerpunktessay von Dana Giesecke und Luise Tremel, der einen Bogen von der Rohstoffgewinnung über die Güterwarenproduktion und den Hyperkonsumismus bis zur Behandlung von Resten spannt. Es folgt eine Stoffge-schichte von Armin Reller und Joshena Dießenbacher, die verdeutlicht, wie stark der Nachhaltigkeitsdiskurs das The-ma »Material« immer noch vernachlässigt. Den Abschluss des Schwerpunkts bilden fünf Erzählungen aus den Jahren 2041/42. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller Inger-Maria Mahlke, Andreas Stichmann, Sandra Gugic, Leif Randt und Grit Kalies zeigen Zukünfte unter Bedingungen radikal reduzierten Ressourcenverbrauchs.

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AUSZUG AUS DEM ESSAY

Zukunftspolitik von Harald Welzer

EntSchEiDEnD iSt DAS KUltUrMoDEll

Das Kulturmodell der Moderne ist expansiv, praktisch wie normativ, und zieht seinen Erfolg daraus, dass sich die Le-bens- und Überlebensverhältnisse der Menschen im Modus des Expansiven verbessert haben: Mehr Nahrung, mehr Wohnraum, mehr Bildung, mehr Mobilität, mehr Gesund-heit, mehr Energie etc. sind die gleichermaßen empirischen wie emotionalen Ergebnisse dieses expansiven Kulturmo-dells. Das Wesen kapitalistischer Wirtschaft liegt in der Erzeugung von Mehrwert, und damit kann sie nur um den Preis der Selbstaufgabe aufhören. In dieser Logik liegt es aber auch, dass keine Innovation an sich die Entwick-lungsrichtung beeinflusst. Die Einführung »erneuerbarer Energien« wird im Rahmen des gegebenen Kulturmodells lediglich eine zusätzliche Energiequelle in einem prinzipiell unendlich steigerungsbedürftigen Energieangebot darstel-len – ganz abgesehen davon, dass die Entsorgung unbrauch-barer Panele von Sonnenkollektoren, die »Vermaisung« der Landschaft und der Bedarf an Stahl, Seltenen Erden und Beton für Windräder alles andere als eine rückstandsfreie und emissionslose Energieversorgung bedeuten. Ein 155

Meter hohes Windrad, das in die Landschaft gestellt wird, wiegt knapp 7000 Tonnen und erfordert ein Fundament aus 1400 Kubikmetern Stahlbeton im Boden [FAS v. 29. 12. 2013]

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– das blendet der Zauberbegriff »erneuerbar« aus. Es ist offenbar nur noch eine Frage des jeweiligen ökopolitischen Geschmacks, ob man den scheinbar naturgesetzlich steigen-den Energiebedarf mit Hilfe fossiler oder atomarer Energie realisiert, oder mit mehr Fracking oder mit mehr »Erneuer-baren« oder, am besten, mit allem zusammen.

Einer Technologie, die das Potential zur Verringerung der ökologischen Kosten hat, käme eine ganz andere Rol-le zu, stünde sie im Rahmen eines Kulturmodells, das nicht auf Expansion setzte, sondern auf Reduktion: Da würde die Entscheidung zwar zugunsten der »Erneuerbaren« aus-fallen, aber sie würde gefällt werden im Zusammenhang eines insgesamt verringerten und eben nicht immer weiter gesteigerten Energiebedarfs. Ein reduktives Kulturmodell würde ja statt des Paradigmas des »immer mehr« eines des »immer weniger« formulieren und kulturelle Präferenzen immer dort setzen, wo weniger Material- und Energieeinsatz erforderlich ist, um auskömmliche Lebens- und Überlebens-bedingungen zu gewährleisten. Solange man nicht das Mo-dell transformiert, sondern nur einzelne seiner Bestandteile, arbeitet es kontinuierlich in derselben expansiven Richtung weiter. Eindrucksvoll zu beobachten war dies am Beispiel der Aufmerksamkeitsökonomie des Klimawandels.

Man muss nur einmal die öffentliche Wahrnehmung der globalen Erwärmung und die politische Handlungsbereit-schaft von 2007 mit der heutigen vergleichen, um zu sehen, wie sich ein Zukunftsproblem in einen allenfalls bedauerli-chen Sachverhalt verwandelt hat, der wie selbstverständlich dem Primat der Ökonomie nachgeordnet wird. Dafür reich-

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te ein Zeitraum von sieben Jahren. Seit dem Schock, den die Berichte des IPCC im Jahr 2007 ausgelöst haben und der selbst Angela Merkel als »Klimakanzlerin« mit roter Wet-terjacke in der Arktis erschienen ließ, hat sich die Besorgnis peu à peu ins luftleer reine Nichts verflüchtigt. Seitdem ist in jedem Jahr mit Ausnahme des Weltwirtschaftskrisenjahres 2009 die global ausgestoßene Menge an Treibhausgasen wie gewohnt angestiegen, aber es war gerade »die Krise«, die die Aufmerksamkeit von den langfristigen Überlebenspro-blemen auf die kurzfristigen der Finanzwirtschaft umlenkte. Im seither herrschenden Rettungsklima ist der Klimawandel von der politischen Tagesordnung verschwunden.

Die von Hans Joachim Schellnhuber aberwitzig als »viel-leicht bedeutendste Konferenz der Menschheitsgeschich-te« [Passadakis/Müller, S. 26] bezeichnete internationale Klimakonferenz von Kopenhagen 2009 verlief ergebnislos, der vielgepriesene europäische Emissionshandel hat sich als Pleite erwiesen, und auf der Klimakonferenz in Warschau im Jahr 2013 schließlich wurde der Widerwille der Regie-rungen, sich auf ein verbindliches Ziel der Emissionsreduk-tion zu einigen, manifest. Hier wurde das bislang wenigstens noch symbolische Einverständnis aufgekündigt, dass man dringend Maßnahmen gegen die fortschreitende Klimaer-wärmung ergreifen sollte. Der Klimawandel ist final von der Tagesordnung der Weltpolitik abgesetzt worden.

Anders gesagt: mit der Konferenz von Warschau sind die Bemühungen, der Expansion der fossil befeuerten Weltwirt-schaft wenigstens hinsichtlich der CO2-Emissionen Grenzen zu setzen, Makulatur. Man muss hier nur erwähnen, dass die

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Klimaforschung davon ausgeht, dass bis 2050 nur noch etwa 565 Gigatonnen CO2 emittiert werden können, will man diesseits unbeherrschbarer Erwärmungsfolgen bleiben. Was an fossilen Ressourcen aber noch im Boden und unter den Ozeanen liegt, liefert locker das fünffache Potential an CO2, und selbstverständlich bildet es die Geschäftsgrundlage der Mineralölwirtschaft, dieses Potential auch zur Freisetzung zu bringen. Das Scheitern von Warschau bedeutet schlicht und einfach, dass das Primat der Ökonomie sich gegen alle Besorgnisse durchgesetzt hat, wie man denn wohl mit drei, vier, fünf Grad mehr durch den Rest des gerade begonne-nen Jahrhunderts kommen soll. Die entwickelten Volkswirt-schaften brauchen genauso wie die Wachstumswirtschaften der sogenannten Schwellenländer eine beständige Dosi-serhöhung an Energie, wenn ihre Geschäftsmodelle weiter funktionieren sollen. Und gegen diesen simplen Sachverhalt sind alle wissenschaftlichen Einsprüche offenbar genauso ohnmächtig wie die ohnehin marginalen Protestbewegun-gen.

Mit der Weigerung, dem Primat des Ökonomischen auch nur irgendeine Grenze zu setzen, ist ja zugleich das Rennen eröffnet, wer in einer Welt der unbegrenzten Aus-beutung von Ressourcen und ungehemmten Vermüllung am längsten in der Komfortzone bleiben kann. Da haben die ökonomisch machtvollen Gesellschaften aber erhebliche Vorsprünge vor denen, die ein bisschen sehr spät auf den ka-pitalistischen Trichter gekommen sind oder an der falschen Stelle der Welt liegen oder sogenannte failed states sind, in denen weder Schutzrechte für die Bewohner existieren noch

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Barrieren für die Aneignung von Land, Wasser und Rohstof-fen aller Art. Und die absehbar radikalere Aufteilung der Welt in Gewinner und Verlierer ist für die, die noch für ein paar Jahrzehnte die besseren Karten haben, keineswegs eine schlechte Nachricht.

Denn die expansiven Strategien werden desto mehr in-tensiviert, je deutlicher die Knappheiten zunehmen, die ja ökonomisch grundsätzlich wünschenswert sind. Je knapper die Ressource, desto größer die unbefriedigte Nachfrage, desto höher der erzielbare Preis. Je mehr sich das Gewicht zuungunsten der Nachfrager verschiebt, desto erfreulicher wird die Geschäftsgrundlage für den Anbieter. Deshalb ist Mangel prinzipiell nicht schlecht für den Umsatz. Mit diesem Prinzip war die kapitalistische Ökonomie bislang extrem erfolgreich: Und auch wenn diese Wirtschaftsform längst begonnen hat, ihre eigenen Voraussetzungen zu kon-sumieren, funktioniert sie bei absehbaren Knappheiten ra-santer denn je zuvor.

Denn dann gilt es, jetzt noch soviel wie möglich herauszu-holen. Auf diese Weise wirkt der Alarmismus der Klimafor-scher sogar als Brandbeschleuniger, macht er doch deutlich, dass die Party womöglich bald vorbei sein könnte. Vielleicht löst das das Rätsel, wieso unablässig »Erdgipfel« und Klima-konferenzen zur Rettung des Planeten stattfinden, obwohl das noch nie zu einer wirklichen Veränderung, geschweige denn zu einer Trendumkehr geführt hat.

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ZWEI GESCHICHTEN DES GELINGENS

Akkordarbeit fürs Karmavon Josefa Kny

Sein Projekt Hartz-IV-Möbel hat sein Herz für die Open-Source-Idee geöffnet. Das ist ein paar Jahre her. Inzwischen stellt Van Bo Le-Mentzel sich die ganz große Frage, wie gutes Wirtschaften aussehen kann – und findet die Antwort in der Crowd.

Andris wohnt in einem alleinstehenden Haus mit Blick über den Berliner Urbanhafen. Er trägt Zeitungen aus und war bis vor Kurzem wohnungslos. Jetzt lebt er im Luxus, denn sein Anwesen erfüllt alle Bedürfnisse. Er wohnt auf fünf Quadratmetern, verfügt über ein WohnEsszimmerKüchen-Bad und ein Schlafzimmer mit Fensterfront. Das Unreal Estate House, in dem er schläft, isst und liest, gehört Andris nicht. Den Bau des Hauses haben viele Menschen finanziert. Die fünf Quadratmeter gehören ihnen allen zusammen. Van Bo Le-Mentzel gefällt das: Nichts besitzen, alles teilen. Er hat das Unreal Estate House entworfen und die 3000 Euro Materialkosten via Crowdfunding eingetrieben. Nicht für sich, sondern für die Crowd und im Moment eben für An-dris, weil die Crowd gut findet, dass er dort wohnen kann.

Van Bo Le-Mentzel ist Architekt und mittlerweile auch Möbeldesigner und engagierter Wirtschaftskritiker. Wäh-rend Sie diese Zeilen lesen, angelt er mindestens drei neue Projekte aus dem Ideenmeer in seinem Kopf. Le-Mentzel

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tweetet und bloggt, gibt Workshops, hält Vorträge, tritt ständig neue Projekte los. Nebenbei hat er einen Vollzeit-job in einem Architekturbüro, eine Frau und einen kleinen Sohn. Er könne das alles vereinbaren, sagt er, während er entspannt Kaffee schlürft: weil er ein Prinzip erfunden habe, das seine Zeit verdoppelt. Die meisten To-dos koordiniert er täglich zwischen 13 und 14 Uhr – in seiner Mittagspause. Echtzeit, ungleich Le-Mentzel-Zeit.

Mit Möbeln fing 2010 alles an. Der junge Mann hatte kaum Geld, aber wollte seiner Freundin ein schönes Regal schenken. Also lernte er in einem Volkshochschulkurs das Tischlern und baute sein erstes Holzmöbel. Das gefiel. Er entwarf weitere Stücke frei nach Bauhaus-Vorbild, darunter den vielseitig einsetzbaren Berliner Hocker zu zehn Euro Materialwert und den gemütlichen 24 Euro Chair. Möbel, die sich alle leisten können: Hartz-IV-Möbel genannt. Die Baupläne stellte der Designer kostenfrei ins Internet. Auch das Unreal Estate House hat einen solchen Bauplan; den bis-lang anspruchsvollsten.

Bis heute haben Alt- und Neuheimwerker Le-Mentzels Anleitungen gut 20 000-mal von seinem Blog heruntergela-den. Ein Viertel von ihnen lebt in prekären Verhältnissen, schätzt der Open-Source-Fan, genau wie er zu Beginn des Möbelprojekts. Auf den einzigen Verdienst – das bisschen Renommee – wollte Le-Mentzel damals nicht verzichten und zumindest als Urheber der Entwürfe erwähnt werden. Heute ist ihm das Copyright egal, solange niemand ande-res mit seinen Entwürfen Geld verdient. Bei denen, die das nicht tun, reicht es ihm, wenn das Bauen die Menschen ein

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Stück glücklicher macht; wenn gutes Karma fließt. Er be-obachtet gern, wie sich die Möbelstücke durch die Ideen anderer wandeln. Die neuesten Kreationen schickt er sofort hinaus in die Crowd, ein Wort, das er ständig benutzt.

Die Crowd ist für Van Bo Le-Mentzel der Schlüssel zu einer freien Arbeits- und Lebensweise. Sie findet in Onli-ne-Netzwerken zusammen, und sie findet sich ständig neu. Seine Crowd sind inzwischen knapp 18 000 Menschen, die auf facebook seine Seite »Konstruieren statt konsumieren« mögen, rege ihre Ideen teilen und sich gegenseitig unterstüt-zen. Dazu kommen mehrere Hundert Follower auf twitter und einige Tausend im E-Mail-Verteiler. »Die sozialen Netz-werke machen eine faire, hierarchielose Kommunikation möglich«, findet Le-Mentzel. Die virtuelle Crowd funktio-niert aber auch im realen Leben: So steht das Unreal Estate House gerade nur in Berlin, weil es jemand von München, wo es vor der Pinakothek der Moderne aufgebaut worden war, hierher gefahren hat. Vermittlung via Internet.

Wiederum online hat Van Bo Le-Mentzel ein paar Hun-dert Leute gefunden, denen es so geht wie ihm: Er liebt Chucks, das legendäre Basketballschuhmodell. Allerdings gehört die Marke zum Sportartikelhersteller Nike, und der produziert bei weitem nicht so fair, wie Le-Mentzel es gern hätte. Also machte der Berliner sich selbst daran, eine Her-stellung loszutreten, die ökologisch unbedenkliche Mate-rialien verwendet und die Arbeiterinnen gerecht entlohnt. Über die Crowdfunding-Webseite startnext fand er genü-gend Leute, die die Karma Chakhs, wie er sein Alternativ-modell getauft hatte, finanzieren wollten, und einige, die die

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Initiative mit ihrem Wissen unterstützten: sich mit Fair Trade auskannten, Kontakte zu Fabriken herstellten usw. Deshalb habe er die Produktion auch nicht alleine organisiert, sagt Le-Mentzel: »Das hat die Crowd gemacht.« Und sie hat es gut gemacht: Die erste Lieferung hat die Schuh-, Menschen-, Natur- und Internetfreunde im Sommer erreicht.

Die Karma Chakhs kommen frei von Gewinnerwartun-gen zu denen, die sie haben wollen – aber mit deren Hil-fe. »Man könnte sagen, ich leite eine globale Möbel- und Schuhmanufaktur«, beschreibt Le-Mentzel lachend seine Rolle. Aber darum ginge es gar nicht. Vielmehr darum, dass Wirtschaften gutes Karma bringe. Für Le-Mentzel beweisen die Karma Chakhs, dass die traditionelle Wertschöpfungs-kette, die einen Anfang mit einem Ende verbindet, ausge-dient hat: Der Konsument, der früher wartend am Schluss stand, macht heute überall mit, wird Teil der Produktge-schichte und muss damit Verantwortung übernehmen.

Geld ist dabei nur Mittel zum Zweck. Für seine Work-shops und Vorträge nimmt Le-Mentzel keins. Er freut sich, wenn Wissen oder Unterstützung für seine Crowd-Projekte herausspringen. Er würde gern ganz ohne Geld leben, aber im Moment sei das noch nicht realistisch – mit Familie und allem. Es waren seine Hartz-IV-Möbel, die ihn vor einigen Jahren mit Eigentumsfragen in Berührung brachten. Inzwi-schen widmet der 37-Jährige sich unter gleicher Fragestel-lung Größerem. Mit seinen Initiativen sucht er Antworten für die sieben Ws: für den freien Umgang mit Wissen, mit Wohn- und mit Wolkenraum, mit Wärme, Wasser, Wohler-gehen und Wegeführung.

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Fragt man Van Bo Le-Mentzel, was er in den letzten zwei Jahren gelernt hat, fallen ihm sofort drei Dinge ein: »Er-stens: Die Crowd ist intelligenter als ich. Zweitens: Lass es zu, dass die, für die du etwas machst, auch aktiv mitmachen. Und drittens: Scheitern ist okay. Die Hauptsache ist, über-haupt mal anzufangen.« Für den Designer ist Erfolg, wenn das, was er heute tut, auch den Kindern seines kleinen Soh-nes ein gutes, freies und gerechtes Leben ermöglicht – seine ganz konkrete Definition von Enkeltauglichkeit.

Um das zu schaffen, arbeitet er – natürlich – schon an neuen Ideen. Das Crowd Book etwa wird eine Layoutvor-lage, damit jeder und jede mit einem haushaltsüblichen Drucker eigene Bücher herstellen und bestehende Werke verbessern kann. Darauf brachte ihn die Debatte um die ras-sistischen Begriffe in den Pippi-Langstrumpf-Büchern, über deren Erhalt oder Ersatz bis dato nur der Verlag entscheiden kann. Außerdem versucht Van Bo Le-Mentzel, das DStipen-dium zu initiieren, eine Art gruppenfinanziertes Grundein-kommen für vollzeitehrenamtlich Engagierte.

Während Le-Mentzel rotiert, zündet Andris in seinem Minihaus vielleicht gerade die Indie-Pendant Lamp an, das allerneueste Hartz-IV-Möbelstück, und schaut hinaus aufs sanft funkelnde Wasser. Beides ist gut fürs Karma. Und ge-nau darum geht es.

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Brot, Salz und Gemeinwohlvon Annette Jensen

Früher verkaufte Joachim Weckmann Brötchen auf Flohmärk-ten, heute leitet er eine der größten Biobäckereien Berlins, den Gemeinwohlbetrieb Märkisches Landbrot. Die Bauern bestimmen die Lieferpreise, Energiebilanz und Mitarbeiterzu-friedenheit sind vorbildlich.

Die Liebe zum Brot entflammte in der mütterlichen Küche. Schon als Grundschüler war Joachim Weckmann bezau-bert vom Blick in die Backröhre und vom Duft ringsherum. Und auch, wenn er heute eine sehr erfolgreiche Biobäckerei leitet, steht seine Liebe an erster Stelle. »Das Brot ist der Chef«, sagt der 60-Jährige mit dem markanten grauen Voll-bart und dem Sonnensticker am Lederjackenrevers. Für Se-kunden unterbricht er seinen Redefluss, der Satz klingt nach im holzgetäfelten Besprechungszimmer des Märkischen Landbrots.

»Damit das Brot gut werden kann, gehört das, was der Bauer braucht, ins Zentrum«, davon ist Weckmann über-zeugt. Deshalb besucht er seine Getreideproduzenten regel-mäßig und stapft mit ihnen durch die Felder. Jeden Sommer gibt es im Märkischen Landbrot einen runden Tisch mit al-len Landwirten, die das Unternehmen beliefern. Dort brin-gen Weckmann und seine Mitarbeiter in Erfahrung, welchen Preis die Bauern aktuell benötigen, um anständig wirtschaf-ten und gut leben zu können. Zur Zeit erhalten sie 500 Euro für eine Tonne Weizen; auf dem Weltmarkt schwankte der

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Preis im vergangenen Jahr zwischen 180 und 250 Euro. »Der Fixpreis gilt, so lange bis sich jemand meldet und sagt, dass es nicht mehr reicht«, erläutert Christoph Deinert, seit ein paar Jahren Weckmanns Co-Geschäftsführer. Alle Anlie-gen der Landwirte werden bei solchen Treffen besprochen, zum Beispiel, wer zu welcher Zeit liefern möchte. »Ziel ist es, dass am Ende alle zufrieden sind«, sagt Weckmann.

In seinem Weg von der mütterlichen Küche auf den Chef-sessel der größten Demeter-Bäckerei Deutschlands spiegelt sich ein Stück deutscher Kulturgeschichte. Nachdem sich der Spross einer Kaufmannsfamilie zunächst genötigt gese-hen hatte, Betriebswirtschaft zu studieren, setzte er sich bald aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin ab und begann zu bak-ken, noch ohne Backstube und Ausrüstung. Seine Brötchen verkaufte er in Kneipen und auf Flohmärkten, bald fand er Gleichgesinnte und gründete ein Backkollektiv. Man ver-stand sich gleichermaßen als Ökos und Hippies, diskutierte dauernd über Politik und war froh, keinen Chef zu haben. Weil der magere Einheitslohn nicht zum Überleben reichte, verdingte sich Joachim Weckmann tagsüber als Lkw-Fahrer, während er nachts mit einer Kaffeemühle Getreide schrote-te, Teig knetete und über Vollwerternährung redete. Seinen hohen Qualitätsansprüchen folgten Taten: So tuckerten er und seine Mitstreiter regelmäßig zur Engelhardt-Brauerei in Berlin-Charlottenburg, um Fässer mit frischem Tiefenwas-ser abzuzapfen.

»Nach einem Jahr Schwarzarbeit haben wir dann le-galisiert, einen Bäckermeister eingestellt und eine Lizenz beantragt«, erinnert sich Weckmann. Fünf Jahre lang sam-

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melte die Gruppe gemeinsam Erfahrungen und stritt über Ansprüche und Ideologien, dann entschied sich das Kol-lektiv für »Zellteilung«. Als Anfang der 1980er-Jahre der Traditionsbetrieb Märkisches Landbrot zum Verkauf stand, war für Weckmann der Moment der Eigenständigkeit ge-kommen: Er lieh sich Geld von einem Freund aus seiner Männerrunde, beantragte ein Existenzgründungsdarlehen, baute das Unternehmen zum Biobetrieb um und übernahm die Leitung.

Die Bäckerei steht seit ein paar Jahren in einem ge-sichtslosen Gewerbegebiet in Berlin-Neukölln. Auf dem Hof plätschert ein aus rundlichen Steinbecken bestehen-der Feng-Shui-Brunnen, der in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper wirkt. Jede Nacht fahren rund 8000 Brote in Demeter-Qualität daran vorbei. Das Mehl dafür wird je-weils am Vortag hergestellt, in zwei traditionellen Mühlen, in denen auch Max und Moritz ihr Unwesen treiben könn-ten. Weil Licht und Sauerstoff die im Korn enthaltenen Vi-talstoffe zerstören, gilt es, das geschrotete und gemahlene Korn so schnell wie möglich zu verarbeiten, erklärt Joachim Weckmann: »Deshalb haben wir das Müller- und Bäcker-handwerk zusammengeführt.«

In der großen Backhalle nebenan schieben mit Schirm-mützen und weißen Kitteln bekleidete Männer riesige, auf Räder montierte Teigschüsseln vor sich her. Die Zutaten dosieren sie mit Hilfe eines Computers: Nichts als Korn und andere Naturstoffe kommen hier ins Brot; das Wasser stammt heute aus einem eigenen, 80 Meter tiefen Brunnen. »Da sind garantiert keine Medikamentenrückstände drin«,

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versichert Christoph Deinert, der beim Märkischen Land-brot für alle technischen Anlagen zuständig ist.

Armdicke Knethaken durchwalken den Teig, der zwi-schendurch immer wieder ruhen muss, um die angemessene Reife zu erlangen. Fünf der 25 Beschäftigten in der Back-stube tragen einen Meistertitel, denn es braucht viel Erfah-rung, um ohne jede künstliche Backhilfe gleichmäßig gute Produkte herzustellen. Regelmäßig setzen sich die Bäcker-meister zusammen und diskutieren über Verbesserungsmög-lichkeiten, aber auch von den anderen 24 Beschäftigten sind Vorschläge hoch willkommen. So kam ein Kollege vor ein paar Monaten auf die Idee, wie der Verbrauch von Teigscha-bern um 90 Prozent zu senken sei. Nun werden die Plastik-kratzer mehrfach nachgeschliffen, bevor sie im Müll landen.

Energietechnisch ist das Unternehmen ebenfalls vorbild-lich: Die Solaranlage auf dem Dach liefert Strom, die Ab-wärme der Backstube heizt die Büros und das Spülwasser. Und auch beim Transport achtet die Biobäckerei darauf, das Klima so wenig wie möglich zu belasten: Die Zutaten kom-men fast ausschließlich aus der Berliner Umgebung, und ein erheblicher Teil der Lieferwagen fährt mit Erd- oder Biogas. Als erster Berliner Betrieb hat das Märkische Landbrot 2011 eine Gemeinwohlbilanz erstellt, bei der anders als bei einer herkömmlichen Betriebsbilanz ökologische Nachhaltigkeit ebenso wie Solidarität und Transparenz bewertet werden. Für seine »Reduktion von Umweltbelastungen« bescheinig-ten die externen Prüfer dem Betrieb 95 von 100 möglichen Punkten. Auch für seinen Umgang mit den Lieferanten erhielt das Märkische Landbrot Traumnoten. Am meisten

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Verbesserungsbedarf sehen die Auditoren noch bei der in-nerbetrieblichen Demokratie und Transparenz.

Betriebsrat Patrick Hannemann hingegen hat schon jetzt wenig auszusetzen an den Arbeitsbedingungen. Wer Interes-se zeige, erläutert er, reise auf Unternehmenskosten nach Si-zilien, Tunesien oder in die Türkei, um von dort Impulse für den heimischen Betrieb mitzubringen. Hannemann selbst durfte unter anderem aus Japan berichten. Auch die Bezah-lung sei beim Märkischen Landbrot völlig okay: »Wir sind hier mit Sicherheit die bestverdienenden Berliner Bäcker.« Rund 13,50 Euro Stundenlohn erhalten qualifizierte Kräfte, der Mindestlohn liegt bei zehn Euro.

Der Chef Joachim Weckmann verdient etwa fünfmal so-viel wie der Mitarbeiter mit dem niedrigsten Lohn. »Den Widerspruch, heute Alleininhaber zu sein, muss ich aushal-ten; gesellschaftspolitisch ist das ja Junkertum«, sagt Weck-mann und macht kurz den Eindruck, sich nach den alten Freakzeiten der 1970er-Jahre zurückzusehnen. Doch vorbei ist vorbei. Heute treibe ihn kein politischer Anspruch mehr an, sondern die spirituelle Kraft, den Menschen und der Erde dienen zu wollen, sagt Weckmann: »My work is my yoga.«

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AUSZUG AUS DEM ESSAY

Die Materialschlacht: Was sie kostet und was sie bringt von Dana Giesecke und Luise Tremel

AUSGEblEnDEtES

Zupfen wir uns ein ganz »normales« T-Shirt aus dem Klei-derschrank. Wir haben uns im Laden in das Teil verguckt und werden uns auf Nimmerwiedersehen verabschieden, wenn wir es aus unserer Garderobe aussortieren. Aber was haben wir nicht vor Augen? Wir sehen weder den Anbau genmanipulierter Baumwolle mithilfe von Pestiziden und chemischem Dünger noch die Verarbeitung in asiatischen Preisdumping-Betrieben. Wir sehen den Transport um den halben Erdball nicht und schlussendlich auch nicht, unter welchen Umständen das Teil entsorgt werden wird. Doch wir – in diesem Fall in der Rolle der Konsumentinnen – ste-hen mit unserem beschränkten Blickfeld nicht allein auf wei-ter Flur. Auch Spezialisten betrachten selten den gesamten Lebenszyklus eines industriell hergestellten Gegenstandes. Rohstoffexpertinnen isolieren Materialeigenschaften oder denken über globale Stoffströme nach; Logistiker optimie-ren Transportketten; Konsumforscherinnen blicken auf Trends und Märkte; Werbemenschen streichen das Image bunt oder grün an, und Abfallspezialisten grübeln über die bestmögliche Verwertung. Allesamt dienen sie dem Wirt-schaftswachstum, jeweils nach ihrer eigenen Logik. Dabei würde der Blick von der Geburt der Materialien für ein in-

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dustriell gefertigtes Produkt bis zum Tod desselben auf der Deponie sofort ein Ungleichgewicht zu Tage bringen: näm-lich, dass auf der einen Seite alles rausgeholt wird, bis nichts mehr da ist – weder Rohstoffe noch Natur – , während sich auf der anderen Seite alles einst Genutzte auftürmt, bis alle Ökosysteme mit Plastik und Gift verstopft sind. Dazwi-schen liegen – abgelöst von Ursprung und Ende – immer effizienter, also menschen- und naturverachtender werden-de Produktionsprozesse und ein zügelloser Konsum mit sich ständig verkürzenden Nutzungszeiten. Alle diese Probleme einmal zu einem Strauß zu binden, in ihrem Zusammenhang zu betrachten, das wollen wir hier versuchen. Damit wird sich die Darstellung von dem unterscheiden, was sonst den Ansatz von FUTURZWEI ausmacht, nämlich positive Vor-stellungen von einer anderen Zukunft zu ermöglichen. Sehr verkürzt gesagt: Wir werden auf den folgenden Seiten darle-gen müssen, wie abwegig das business as usual ist. Bei allem Schwarzmalen wollen wir aber trotzdem FUTURZWEI bleiben und auch Möglichkeiten des Umgangs mit Material vorstellen, die uns enkeltauglich erscheinen.

»Material« ist hier Schwerpunkt, weil seine Teile meist gesondert betrachtet werden und einmal zusammenge-fügt gehören, das wurde schon gesagt. Wir haben »Mate-rial« aber auch deshalb zum Schwerpunkt gemacht, weil es der Bereich ist, in dem Öko weh tun wird – was genau der Grund dafür ist, dass es aus dem Ökodiskurs weitge-hend ausgeblendet wird. Im politischen (Nachhaltigkeits-) Diskurs geht es global primär um Kohlendioxid, lokal vor allem um die sogenannte Energiewende und um die allseits

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beliebten Bio-Lebensmittel. Erneuerbare Energien und Bio-Essen gut zu finden ist aber einfach. Denn da wird das eine Schlechte (fossile oder atomare Energie, konventionell angebaute Nahrung) durch das andere Gute (Ökostrom, Ökogemüse) ersetzt. Infrastruktur wird angepasst, zur Not wird es etwas teurer. Fertig, Versorgung gesichert. Auf eine Verzichtsdebatte kann verzichtet werden, Energie und Es-sen sind ja jetzt grün. Lieber spricht man doch über die wirtschaftlichen Chancen der Ergrünung, über neue Wachs-tumsmärkte, über den globalen Wettbewerb, in dem nun mal auch die Biowirtschaft steckt [etwa Fücks].

Unseren Umgang mit Material zu thematisieren, hinge-gen, kann unangenehm werden. Denn wenn »nachhaltiger« Konsum nicht reicht, weil wir insgesamt zu viele Ressourcen verbrauchen und uns mit dem Ausgemusterten zumüllen, heißt das, wir müssen weniger konsumieren. Das tangiert unseren Lebensstil in ganz anderem Maße als etwa der Ver-tragswechsel von Atom- zu Ökostrom oder die Dämmung eines Hauses zur Energieeinsparung. Die Erkenntnis, dass für weitere Konsumsteigerungen und Wachstumsphantasi-en keine Ressourcen zur Verfügung stehen, ist harte Kost für eine mental wie wirtschaftlich auf Expansion gestellte Gesellschaft [Welzer (2011)]. In Anbetracht aller Erkennt-nisse über die ökologischen und sozialen Auswirkungen des derzeitigen Warenkonsums müssten Experten, Politikerin-nen sowie Öffentlichkeit sich eigentlich einigen auf ein »So weit und nicht weiter«. Stattdessen steht in der öffentlichen Debatte fast außer Frage, dass der private Konsum auch in den kommenden Jahren nicht abnehmen darf. Ohne Kon-

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sum keine robuste Wirtschaft. Und auch wenn es schon zehn Jahre her ist, hätte die Neujahrsansprache des damali-gen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zum Jahr 2004 auch Angela Merkels Vorlage für den Jahresauftakt 2014 sein können. Schröder appellierte an das bundesrepublikanische Volk, durch das eigene Konsumverhalten zum Aufschwung beizutragen: »Vergessen Sie nicht, dass Sie es zu einem gro-ßen Stück selbst in der Hand haben, wie es mit der Wirt-schaft in Deutschland weitergeht. Auch Sie ganz persönlich können Konjunkturmotor sein: Ihr Vertrauen in die Zukunft entscheidet mit über den Arbeitsplatz Ihres Nachbarn.« [zit. nach o. A./FAZ ]

Durchaus: Ob die Nachbarin ihre Anstellung bei Kar-stadt oder Schlecker behält, ist uns nicht egal. Aber recht-fertigt das Argument Arbeitsplätze-wie-wir-sie-kennen wirk-lich, dass am anderen Ende der Welt in 70-Stunden-Wochen ohne jeden Gesundheitsschutz giftige Chemikalien verwen-det werden? Vor kurzem erhielten die Autorinnen in einem Imbiss ein kostenloses Rubbellos von Coca-Cola, zu gewin-nen war ein in Plastik verpackter Stoff-Eisbär, made in Chi-na. Nein, danke, sagten wir freundlich, wir rubbeln nicht, wir brauchen den Bären nicht. Überhaupt sind wir gegen die Produktion von unnötigem Billigkram in China. »Coca-Cola schafft aber Arbeitsplätze«, blökte die Inhaberin zurück. In diesem Sinne wollen wir nicht nur an der Oberfläche rub-beln, sondern ernsthaft fragen: Ist für den Arbeitsplatz bei Coca-Cola tatsächlich in Kauf zu nehmen, dass wir die Le-benschancen heutiger, eisbärproduzierender Chinesen so-wie die Lebensvoraussetzungen zukünftiger Generationen

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auf der gesamten Welt konsumieren? Und nebenbei auch noch die der echten Eisbären?

Wie es werden könnte: Erzählungen aus den Jahren 2041/42

AUSZUG AUS DER ERZÄHLUNG

Am Ende des Tunnelsvon Inger-Maria Mahlke

Der erste Gleiter war voll, erst der nächste zeigte zwei freie Plätze an. Er hielt seine Handfläche vor den Türöffner, gab die Strecke ein, die Anzeige war defekt, Ressourcenverbrauch 0 stand dort, statt des auf seinem Konto verbleibenden Bud-gets nur eine lange Reihe xxxxx. Die ID-Nummer stimmte, er berührte die Störungsfläche, die Anzeige wurde dunkel, dafür ging die Tür auf, egal, dachte er. Sein Ressourcenkon-to war eh über jede Kritik erhaben.

Er hatte keine Lust, Deniz zu antworten, versetzte die Algo in den Ruhezustand, traute sich nicht, die Augen zu schließen, letzte Woche war er eingeschlafen, erst an der Endhaltestelle hatte ihn jemand geweckt. Im Fensterdisplay das feuchte Grün der Wiesen, der Regen zu fein, als dass die Kamera ihn einfangen könnte. An den Hängen wuchsen Äpfel und Birnen, in Reihen hintereinander, weiter unten, in den Tälern, Orangen und Mandeln, die keine längere Kälte-periode brauchten, um im Frühjahr auszuschlagen.

Hinter den Bäumen rötliche Schindeln, letztes Fachwerk,

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nicht denkmalgeschützt, der Rückbau in der Region war fast abgeschlossen, die meisten älteren Siedlungen abgetragen, die Materialien neu verbaut. Die Grundstücke waren noch immer erkennbar, wenn die Fläche nicht landwirtschaftlich genutzt wurde. Weniger dichte Vegetation, sinnlos verteil-te Hölzer, wildgewordene Heckenreste zeigten an, wo einst Meins von Deins getrennt gewesen war. Anna-Lena würde wieder umziehen müssen, kam ihm in den Sinn. Sie lebten in einer Partnersiedlung, ohne Ein-Personen-Wohnstätten.

Der Wald war noch nicht gesperrt, die Wettbüros hatten letzte Woche die Quoten veröffentlicht. Die meisten tippten auf den Nonnenspinner als Plage des kommenden Jahres.

Und wir? Sechs weiße Buchstaben, ein Fragezeichen, unvermittelt und nur für Sekunden vor dem Wiesengrün, dann blockte der Spamschutz. Immer wieder schafften es die Freien Gruppen, die Dinger so zu programmieren, dass sie kurz zu sehen waren.

Sie wurden mehr. Am Semesteranfang, bei seiner Begrü-ßungsrede, hatte eine Studentin in der ersten Reihe geses-sen, Bitte vergib mir nicht stand vorne auf ihrem Jumpsuit. Vor einigen Jahren hätte sie sich das nicht getraut. Harmlos, jede Bewegung produziert eine Gegenbewegung, sagten sei-ne Kollegen.

Er war sich nicht so sicher. Die Medien begannen, sich für sie zu interessieren, berichteten von öffentlichen Ressourcenpass-Verbrennungen, Altelektronik-Sammlern. Letzte Woche hatte er sich beim Frühstück durch eine Fo-toserie über die Dörferbewegung im Osten geklickt. Zwei Mädchen, vier Jungen in Retro-Sepia. Sie waren alle An-

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fang Zwanzig, hockten auf einer Matratze, ihre Rücken in die Zimmerecke geschmiegt. Kein Strom, kein Wasser, da-für sehr viel leerer Raum um sie herum, sehr viel leere Luft. Mehr als sie gewohnt waren, die erste Generation, die von Anfang an mit der 20-Quadratmeter-Regel groß geworden war. Zu acht oder zu zehnt kampierten sie in noch nicht zurückgebauten Häusern, die einmal von einer einzigen Familie bewohnt worden waren. Verstanden das Konzept der nach ihrer Funktion ausdifferenzierten Räume, Schlaf-zimmer, Wohnzimmer, Esszimmer gar nicht. Waren über-fordert, hatten im Endeffekt weniger Raum, als sie es in ihrer Wohnstatt gehabt hätten. 20 Quadratmeter für einen Erwachsenen, 35, wenn zwei zusammenlebten, und zehn zusätzliche Quadratmeter pro Kind boten genügend Platz; er hatte damals der Fraktion angehört, die 15 für ausrei-chend hielt. Der Himmel über dem Sensertal war ein Stück aufgezogen, letzte Sonnenstrahlen fielen durch die Lücke, färbten die Wolkenränder rötlich, die Dachbegrünungen der Siedlung Böblingen II weich orange. Er verspürte den Drang, dort hinzustürmen, ins warme Licht, das irgendwie suggerierte, es gäbe noch etwas zu erreichen. Das Licht am Ende des Tunnels musste wegen Energieknappheit abgeschal-tet werden, wir bitten die daraus entstehenden Unannehm-lichkeiten zu entschuldigen, hatte früher an der Wand seiner WG-Küche gehangen.

Er kannte die Vorwürfe der Freien Gruppen. Erpressen lassen hätten sie sich von den spätindustrialisierten Staaten. Die Zukunft der nächsten Generationen weggegeben, als sie der globalen Pro-Kopf-Verteilung der natürlichen Ressour-

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cen zugestimmt hatten. Ihr habt nicht für uns gekämpft.Falsch, wollte er jedes Mal brüllen, ohne die Große Ver-

gebung gäbe es Euch gar nicht. Ihr wart nicht dabei, in den panischen Wochen des Kalten August, als sich fast die hal-be Bevölkerung des zentralen Afrika aufgemacht hatte und wahlkämpfende Innenpolitiker in Europa von der atomaren Lösung sprachen. Hamsterkäufer die Läden leerten, in den Schulen der Bau einfacher Wasserfiltervorrichtungen durch-genommen wurde und in den jetzt zurückgebauten Gärten heimliche Schießübungen stattfanden. Als die Körper Hun-derttausender morgens fliegenbesetzt und aufgetrieben an den Stränden eingesammelt und entsorgt werden mussten.

20-Jährige in Retro-Sepia kannten den Selbstekel nicht. Hatten nicht abgestumpft jeden Abend Menschen verhun-gern, ertrinken, einander abschlachten sehen. Die eigene Ungerührtheit vermerkt. Meist verdrängt, dass gehungert, ertrunken, abgeschlachtet wurde, damit man abgestumpft jeden Abend zusehen konnte. Die Materialien und Energie-träger dazu hatte. Kein Kannibalismus mehr hatte eines der Schlagworte gelautet, auf dem Weg zur Großen Vergebung. Vor den Ressourcen sind alle Menschen gleich.

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AUSZUG AUS DER ERZÄHLUNG

Goofvon Andreas Stichmann

Goof B schaut sich um, guckt, dass keiner guckt. Goof B zieht einen losen Glasziegelstein aus der Wand. In dem dahinter versteckten Döschen befindet sich Rouge vom Schwarzmarkt, Luxus-Rouge. Aber an einem Tag wie heu-te darf man sich etwas gönnen. Und sie neigt nun mal zur Blässe. Sie sieht viel frischer aus mit etwas Rouge auf den Wangen.

Von draußen kommen die Rufe spielender Kinder. Sie geht in den Garten, um die Wäsche abzunehmen. Auf der Wäschespinne hängen ein Yakyak und die zwei Handtü-cher, die ihre Mutter und sie besitzen. Weil eine warme Brise weht, dreht sich die Wäschespinne, auch die in den Nach-bargärten drehen sich, und die Wäschespinnendynamos sur-ren leise. Energie, Energie, Energie …

Im Garten zu ihrer Linken sitzt der zurückgebliebene Nachbarsgoof, der ihr immer etwas Angst macht. Sommer-sprossig, fett und hässlich. Er schnurrt und schnurrt und macht das Geräusch des Dynamos nach, und man weiß nicht, wie er das meint. Als er sie sieht, macht er den Mund auf und klopft sich auf den Kopf, so dass ein hohler Ton entsteht. Pock pock pock pock pock. Egal. Eines Tages wird sie mit ihm reden. Heute nicht.

Milde blickt sie nach links zu den anderen kleinen Goofs. Die geben ein schöneres Bild ab, denn sie werfen einen ro-ten Dynamoball hin und her. Je länger sie werfen, desto le-

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bendiger wird der Ball. Er beginnt zu leuchten. Er beginnt zu schweben. Am Ende kommt eine wunderschöne, helle Viertonmelodie aus ihm heraus, und er kreist einige Minu-ten lang über den Köpfen. Eine gute Sache, der Dynamo-ball. Die Kinder verinnerlichen spielerisch das dynamische Prinzip.

Wenn Goof B mal welche bekommt, sollen die auch so einen haben. Mit bunten Farben.

Dieser dicke kleine Goof auf der anderen Seite, der steht für die Abweichung – und ihre Abweichung besteht darin, ein Versteck mit Schwarzmarktartikeln zu haben. Sie besitzt Rouge und eine silberne Brosche und eine Flasche Wodka. Aber ist sie deshalb ein schlechter Goof? Darf man nicht drei Luxusartikel besitzen?

Man darf. Drei darf man, entscheidet sie. Außerdem bringt sie jeden Tag ihre Mutter zum Windspiel und holt sie auch wieder ab, das hat sie noch nie vergessen, sie ist pflicht-bewusst, sportlich und hilfsbereit.

»BEEE? BEE? WO BLEIBST DU DENN? WAS TRÖDELST DU WIEDER?«

Da kräht sie schon! Da kräht ihre Mutter! Sie ist mit ih-ren 110 eigentlich noch gut zu Fuß, sie könnte auch alleine zum Windspiel, aber bitte – wenn sie will, wird sie gebracht. B nimmt ihre Mutter am Arm.

Reparaturwerkstätten, aus denen Reparaturgeräusche kommen. Aus einem umgekippten Holzeimer am Weges-rand kriechen Schnecken. Fußgänger und Fahrradfahrer. Der tägliche Weg in die Mitte der Stadt.

»LÄUTEN DIE GLOCKEN SCHON, BEE? ICH

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HÖR GAR KEINE GLOCKEN?«»Es gibt keine Glocken mehr, Mama. Du denkst wieder,

dass wir in Ulm sind. Wir wohnen lange schon in Gooftown, Mama. Wir gehen nicht zur Kirche, wir gehen zum Wind-spiel. Das hat keine Glocken.«

»WINDSPIEL? WARUM WINDSPIEL?«Die Windspiel-Töne, die in der Luft liegen, kann ihre

Mutter mit ihren alten Ohren nicht mehr hören. Sie erklin-gen ja auch nur hin und wieder, im Rhythmus des Windes, sphärisch und leicht.

Glitzernd ragt das gläserne Windspiel auf der runden Rasenfläche in der Mitte Gooftowns empor. Zu jeder Ta-ges- und Nachtzeit darf man hineingehen, dem Wind zu-hören und mit ihm summen. Ja, das Summen ist wichtig, nicht nur für die Alten, ein Goof aus der Gründergenera-tion hat einmal gesagt: Wir Goofs sollten wie Bienen sein! WIR GOOFS SOLLTEN UNS WOHLFÜHLEN WIE SUMMENDE BIENEN!

Und auch wenn ihre Mutter es gar nicht mehr versteht: Das gemeinsame Seniorensummen im Windspielhaus wirkt sich heilsam auf sie aus. Es ist das WIR-Gefühl, um das es dabei geht. Das WIR ist die Religion. Das WIR-Gefühl im Summen. Der kollektive Ton.