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Masarykova univerzita
Filozofická fakulta
Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky
Magisterská práce
Michael Ende
Zwischen Surrealismus und Phantastik -
Der Spiegel im Spiegel
Autor práce: Růžena Sedlářová
Vedoucí práce: PhDr. Jaroslav Kovář, CSc.
Brno 2010
2
Ich erkläre, dass ich meine Diplomarbeit selbstständig geschrieben und ausschließlich die im
Literaturverzeichnis angeführte Literatur verwendet habe.
Růžena Sedlářová
3
Danksagung
Ich möchte an dieser Stelle Herrn PhDr. Jaroslav Kovář, CSc. für die fachliche Betreuung
meiner Diplomarbeit, seine Beratung und Hilfsbereitschaft herzlich danken aussprechen.
Zugleich danke ich der Bayerischen Staatsbibliothek in München, die mir das Studium der
Materialien zu meiner Arbeit ermöglicht hat.
4
Inhalt 1. Vorwort ........................................................................................................................................................... 6
2. Surrealismus .................................................................................................................................................... 7
2.1. Begriffsbestimmung ..................................................................................................................................... 7
2.1.1. André Bretons Manifest des Surrealismus ........................................................................................ 8
2.2. Gab es einen deutschen Surrealismus? ......................................................................................................... 9
2.3. Michael Ende und Surrealismus? ............................................................................................................... 10
3. Michael Ende und Edgar Ende ...................................................................................................................... 11
3.1. Edgar Ende zwischen Surrealismus und magischem Realismus ................................................................ 11
3.2. Die Motive der Entstehung des Buches „Der Spiegel im Spiegel“ oder Edgar Ende als Inspiration ......... 12
3. Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth - Der Titel ........................................................................................ 14
3.1. Der Spiegel im Spiegel ............................................................................................................................... 14
3.2. Ein Labyrinth ............................................................................................................................................. 16
3.2.1.Der Minotaurus ................................................................................................................................ 16
4. Die formale Seite ........................................................................................................................................... 18
4.1. Der Erzähler ............................................................................................................................................... 19
5. Die Rezeption ................................................................................................................................................ 20
6. Michael Ende zur Interpretation und dem Verständnis des Buches .............................................................. 22
7. Die Geschichten im Einzelnen ...................................................................................................................... 24
7.1. Verzeih mir, ich kann nicht lauter sprechen. .............................................................................................. 24
7.2. Der Sohn hatte sich unter der kundigen Anleitung seines Vaters und Meisters Schwingen erträumt. ....... 27
7.3. Die Mansardenkammer ist himmelblau, die Wände, die Decke, die paar Möbel ...................................... 30
7.4. Die Bahnhofskathedrale stand auf einer großen Scholle ............................................................................ 33
7.5. Schweres schwarzes Tuch .......................................................................................................................... 36
7.6. Die Dame schob den schwarzen Vorhang ihres Kutschenfensters beiseite ................................................ 38
7.7. Der Zeuge gibt an, er habe sich an einer nächtlichen Wiese befunden ...................................................... 40
7.8. Der marmorbleiche Engel saß unter den Zuhörern im Gerichtssaal ........................................................... 41
7.9. Moordunkel ist das Gesicht der Mutter ...................................................................................................... 44
7.10. Langsam wie ein Planet sich dreht ........................................................................................................... 45
7.11. Das Innere eines Gesichts, mit geschlossenen Augen, sonst nichts ......................................................... 47
7.12. Die Brücke, an der wir schon seit vielen Jahrhunderten bauen ................................................................ 50
7.13. Es ist ein Zimmer und zugleich eine Wüste ............................................................................................. 52
7.14. Die Hochzeitsgäste waren tanzende Flammen ......................................................................................... 54
7.15. Über die weite graue Fläche des Himmels glitt ein Schlittschuhläufer .................................................... 55
7.16. Dieser Herr besteht nur aus Buchstaben ................................................................................................... 57
7.17. Eigentlich ging es um die Schafe ............................................................................................................. 59
7.18. Mann und Frau wollten eine Ausstellung besuchen ................................................................................. 61
7.19. Dem jungen Arzt war gestattet worden .................................................................................................... 63
7.20. Nach dem Bureauschluß ........................................................................................................................... 65
7.21. Der Bordellpalast auf dem Berge erstrahlte in dieser Nacht .................................................................... 69
7.22. Der Weltreisende beschloss, seine Wanderung ........................................................................................ 72
7.23. An diesem Abend konnte der alte Seefahrer ............................................................................................ 74
5
7.24. Unter einem schwarzen Himmel liegt ein unbewohnbares Land ............................................................. 76
7.25. Hand in Hand gehen zwei eine Straße hinunter ....................................................................................... 80
7.26. Im Klassenzimmer regnete es unaufhörlich ............................................................................................. 83
7.27. Im Korridor der Schauspieler trafen wir einige hundert Wartende an...................................................... 86
7.28. Das Feuer wurde von neuem eröffnet ...................................................................................................... 89
7.29. Der Zirkus brennt ..................................................................................................................................... 92
7.30. Ein Winterabend, der Himmel ist zartrosa, kalt und weit ......................................................................... 94
8. Zusammenfassung ......................................................................................................................................... 96
8.1. Surrealismus in dem Spiegel im Spiegel .................................................................................................... 96
8. 2. Die Hauptmotive ....................................................................................................................................... 98
8.3. Die Personen ............................................................................................................................................ 102
8.4. Die Tabelle der sich immer wiederholenden Motive ............................................................................... 104
8. 5. Die überwiegenden Tendenzen in den Motiven ...................................................................................... 106
9. Bibliographie ............................................................................................................................................... 107
9.1. Primärliteratur .......................................................................................................................................... 107
9.2. Sekundärliteratur ...................................................................................................................................... 107
9.3. Internetquellen .......................................................................................................................................... 108
6
1. Vorwort
Meine Arbeit hat zum Ziel, die Erzählungen Michael Endes aus dem Band Der Spiegel im
Spiegel. Ein Labyrinth vorzustellen, zu analysieren und zu interpretieren. Damit will ich
eine weniger bekannte Seite der schöpferischen Tätigkeit des vor allem als Kinder- und
Jugendbuchautor bekannten Künstlers zeigen. Es sind an das erwachsene Publikum gerich-
tete Erzählungen, die bislang wenig interpretative Aufmerksamkeit fanden und deswegen
möchte ich diese Lücke füllen. Bedeutsam ist hierbei für mich auch die Frage, ob Endes
Erzählungen surrealistischer Natur sind und wenn ja, in welchem Umfang.
7
2. Surrealismus
2.1. Begriffsbestimmung
Surrealismus1 ist eine sich nach dem ersten Weltkrieg bildende Kunstbewegung, die den
Seelenzwiespalt darzustellen versucht. Sie versucht den Sturz der Realität in der Über-
Realität, in der Tiefenwelt der Träume und des Unbewussten zu fördern.
Der Wichtigkeit des Traumes wird große Bedeutung zugeschrieben. Es ist einer der Zent-
ralgedanken des Surrealismus. Antonin Artaud versteht Surrealismus als „den Hunger nach
einem reinen Leben, der durch eine Harmonie aus Traum und Wirklichkeit in einer Art ab-
soluter Wirklichkeit gestillt wird.“2 Der Traum wurde „ein Katalysator zur Vereinigung
zweier Welten“.3
Guillaume Appollinaire sagt, dass es um „das Sichtbarmachen des Surrealen, jener Schat-
tenseite des Realen geht und um das Verschaffen des Zugangs zu dem Universum des Un-
bewussten.“4
Hans Ulrich Gumbrecht5 sieht im Surrealismus „eine wesentliche Konfrontation des Sub-
jekts mit den Dingen der Welt, welche kalt geradezu brutal wirken kann, weil es zu keiner-
lei Justierung oder Anpassung auf der einen oder anderen Seite kommt.“
Den Surrealismus soll mithin nahezu alles fasziniert haben. Alles, was abseits der eingefah-
renen Wege des Denkens lagert: „Mystik, der Dalai Lama und die Schulen des Buddha,
Schizophrenie und Spirituelles, der archaische Blick wie alchimistische Zauberformeln.“6
Wichtig ist auch das Thema der „Kindheit als ein Ort der Heimkehr“. Ein Ort, wo sich das
Ureigene befindet.7
1 Aus dem Französischen: wird meistens als Über-Realismus übersetzt
2 Kohtes, Michael: Der Rausch in Worten. Marburg, 1987. S. 14.
3 Grimminger, Rolf: Literarische Moderne. Hamburg, 1995.
4 Kohtes, Michael: Der Rausch in Worten. Marburg, 1987. S. 16.
5 Gumbrecht, Hans Ulrich: Surrealismus als Stimmung, S. 23-34; in Friederike Reents, Anita Meier: Surrea-
lismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. 6 Kohtes, Michael: Der Rausch in Worten. Marburg,1987. S. 18.
8
Das Denken hat nach Aragon nicht mehr sprachlich, sondern ausschließlich in Bildern zu
erfolgen: „Es gibt im Grunde keine Art zu denken, die nicht ein Bild ist. […] und man kann
kurz und bündig sagen, dass das Bild der Weg aller Erkenntnis ist.“8
„Jeder Mensch“, so Jean Cocteau, „ist eine Nacht (trägt eine Nacht in sich), und die Arbeit
des Künstlers besteht darin, diese Nacht ins Tageslicht zu bringen.“9
Die wichtigsten surrealistischen Techniken sind also nach Yves Duplessis10
der Humor, das
Wunderbare, der Traum, der Wahnsinn, die surrealistischen Gegenstände, das erlesende
Leichnam und die automatische Niederschrift.
2.1.1. André Bretons Manifest des Surrealismus
André Breton formuliert in seinem surrealistischen Manifest11
folgende Definition des Sur-
realismus:
„SURREALISMUS, Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es
mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszu-
drücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethi-
schen Fragestellungen. [. . .] Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit
gewisser, bis heute vernachlässigter Assoziations-Formen, an die Allgewalt des Traums, an das ab-
sichtsfreie Spiel des Gedankens. Er zielt darauf hin, die anderen psychischen Mechanismen zu zer-
stören und ihre Stelle einzunehmen zur Lösung der wichtigsten Lebensprobleme. [. . .]“
Andre Breton geht es in seinem Manifest darum, die Herrschaft der Logik zu überschreiten.
Die Arbeit Sigmund Freuds ist für den Surrealismus sehr wichtig, vor allem in dem Bereich
der Traumarbeit und Traumdeutung:
„Freuds Entdeckungen gebührt unser Dank. [...] Mit vollem Recht hat Freud seine Kritik auf das Ge-
biet des Traums gerichtet. Es ist in der Tat ganz unzulässig, dass dessen beträchtlicher Anteil an der
psychischen Tätigkeit, dass dieser beträchtliche Anteil des Traums, sage ich, noch so wenig Auf-
7 Ebd. S. 19.
8 Aragon, Louis: Le Paysan de Paris, 1926.
9 Kohtes, Michael: Der Rausch in Worten. Marburg,1987. S. 24.
10 Duplessis, Yves: Der Surrealismus. Hamburg. 1960.
11 Breton, Andre: Der surrealistische Manifest. 1924.
9
merksamkeit hat erlangen können.“12
Breton fragt sich: „warum sollte ich dem Traum nicht zugeste-
hen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der eigenen Gewissheit nämlich, der
während der Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Expo-
nenten des Traums nicht noch mehr erwarten als ich von einem täglich höheren Bewusstseinsgrad
erwarte? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen?“ 13
Und damit schreibt er eine besonders wichtige Rolle den Träumen zu, die dazu dienen soll-
ten, andere Ebenen unseres Seins kennenzulernen, die in sich verborgenen Antworten tra-
gen, die man in der Logik der Vernunft nie finden könnte. So ruft er nach „schlafenden
Logikern und schlafenden Philosophen.“ 14
Er schreibt zugleich der Imagination eine große
Rolle zu:
„Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre Rechte einzutreten. Wenn die Tiefen unse-
res Geistes seltsame Kräfte bergen, befähigt, diejenigen der Oberfläche zu mehren oder sie siegreich
zu bekämpfen, so haben wir allen Grund, sie aufzufangen, sie zuerst aufzufangen und danach, wenn
nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen.15
2.2. Gab es einen deutschen Surrealismus?
Die Frage nach dem deutschen Surrealismus haben sich deutsche Germanisten während
einer wissenschaftlichen Tagung im Juli 2008 gestellt16
. Gab es in der Geschichte der deut-
schen Literatur überhaupt einen Surrealismus? Kann man die aus Frankreich ausgehende
künstlerische Strömung auch in Deutschland finden? Im Rahmen der Tagung erörterten sie
dann Möglichkeiten und Grenzen des deutschen Surrealismus.
In der deutschen Literaturgeschichte werden einige Schriftsteller dem Surrealismus zuge-
ordnet. Elisabeth Langgässer, Ernst Jünger, Egon Vietta, Rudolf Schlichter und andere be-
kamen im Laufe der Zeit die Etikettierung des Surrealismus. Aus vielen Tagungsbeiträgen
ergibt sich jedoch, dass die genannten Schriftsteller eher einer anderen Zuordnung entspre-
chen. Die Wissenschaftler gelangten zu der Auffassung, es wäre zutreffender, diese eher als
Supranaturalist, Überrealist oder Super-Realist zu bezeichnen.
12
Ebd. 13
Ebd. 14
Ebd. 15
Ebd. 16
Die Vorträge wurden herausgegeben in: Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der deutschspra-
chigen Literatur. Berlin, 2009.
10
Hans Ulrich Gumbrecht17
vertritt in seinem Beitrag über den kunstgeschichtlichen und rein
geschichtlichen Hintergrund die Auffassung, dass der Begriff des Surrealismus nicht auf
die deutsche Situation und die dominanten kunstgeschichtlichen Tendenzen passt.
Karl Heinz Bohrer geht noch weiter und behauptet, es gäbe „keinen deutschen Surrealismus
oder keinen deutschsprachigen Surrealismus.“18
Dagegen sieht z.B. Christian Benne „Robert Walser als einen Autor mit den ausgeprägtes-
ten Affinitäten und Parallelen zu den poetischen Verfahren des Surrealismus.“ 19
Tamara Evans meint sogar, Walser sei „ein Vorläufer der Surrealisten. „
20
Die gegenläufigen Äußerungen zeigen folglich, dass es in der deutschen Literaturgeschichte
umstritten ist, ob deutsche Schriftsteller dem Surrealismus zugeordnet werden können und,
ob der Surrealismus als Epoche in Deutschland zu finden ist.
2.3. Michael Ende und Surrealismus?
Endes Geschichtensammlung wird oft als „surrealistisch“ bezeichnet. Nach den oben aus-
geführten Bedenken über die Existenz eines deutschen Surrealismus stellt sich jedoch die
Frage, ob Michael Endes Erzählungen eine solche Zuordnung rechtfertigen, in Gänze oder
zumindest ansatzweise? Das werde ich nun in dem praktisch-analytischen Teil meiner Ar-
beit beantworten und begründen.
17
Gumbrecht, Hans Ulrich: Surrealismus als Stimmung, S. 23-34 in Friederike Reents, Anita Meier: Surrea-
lismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. 18
Bohrer, Karl Heinz: Deutscher Surrealismus; in Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der
deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. 19
Benne, Christian, Schrieb je ein Schriftstellen so aufs Geratewohl?: der surrealistische Robert Walser, S.
23-34, in Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. 20
Evans Tamara S.: Robert Walsers Moderne, Bern. Stuttgart 1989, S.31.
11
3. Michael Ende und Edgar Ende
3.1. Edgar Ende zwischen Surrealismus und magischem Realis-
mus
Edgar Ende, dem Vater Michael Endes, werden oft mehrere Etikettierungen zugeschrieben.
Er wurde von Franz Roh 1952 zunächst als magischer Realist und fünf Jahre später dann
als deutscher Surrealist klassifiziert.21
Seine Kunst weist auch die Merkmale der Pittura
Metafisica auf.22
Peter Boccarius, der lebenslang Michael Endes Freund war, bezeichnet
dessen Bilder auch als surrealistisch.23
Michael Ende selbst sagt über seinem Vater: „Ich bin in Malerateliers aufgewachsen als
Sohn eines Surrealisten.“24
Edgar Endes Bilder wurden oft im Rahmen einer surrealistischen Ausstellung präsentiert,
sowohl regional als auch international25:
1952 - Konstanz, Kunstverein Wessenberghaus, Internationale Surrealisten-Ausstellung
1952 - Karlsruhe, Badischer Kunstverein, Internationale Surrealisten-Ausstellung
1952 - Saarbrücken, Saarland Museum Surrealistische Malerei in Europa - Peinture
surréaliste en Europe
1972 – München, Haus der Kunst, Surrealismus 1922-1942
1974 – Paris, Musée des Arts Décoratifs, Surrealismus 1922-1942
1978 - Köln, Galerie Dreiseitel Surrealismus: Arbeiten auf Papier
1980 – Hamburg, Galerie Levy, Surrealisten und verwandte Strömungen im 20. Jahrhun-
dert
21
Zit. n. Fluck, Magischer Realismus´ in der Malerei des 20. Jahrhunderts, S. 68. 22
Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. S. 115. 23
Boccarius, Peter: Michael Ende: Der Anfang der Geschichte. München, 1995. 24
Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael, „Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und das
Werk des Malers Edgar Ende, Stuttgart, 1985. 25
<<http://www.edgarende.de/Home.htm>> (29.10.2010)
12
3.2. Die Motive der Entstehung des Buches „Der Spiegel im
Spiegel“ oder Edgar Ende als Inspiration
Michael Ende hat sein Buch Der Spiegel im Spiegel seinem Vater Edgar gewidmet. Micha-
el Ende hat in der Sammlung literarisch das umgesetzt, was sein Vater zuvor künstlerisch in
Form von Bildern abgebildet hatte. Ohne die Kenntnis der Kunst seines Vaters lässt sich
seine Sammlung von labyrinthischen Geschichten nicht verstehen. Die Bildideen seines
Vaters findet man immer wieder in seinen Geschichten eingewoben und so bilden sie eine
wichtige Brücke zwischen dem Schaffen beider Künstler.
„Die Kunst des Vaters war für Michael Ende der Ausgangspunkt seines eigenen poetischen Kon-
zepts. Edgar und Michael Ende sind zwei Ausnahmeerscheinungen, die nur gemeinsam zu begreifen
sind. Wie bei dem Phänomen des Spiegels, der sich in einem Spiegel spiegelt: Niemand kann wirk-
lich erkennen, welcher Spiegel sich da in welchem Spiegel widerspiegelt.“26
Michael Ende wurde sehr früh, bereits mit 14, 15 Jahren künstlerisch tätig. Hier spielte der
Einfluss seines Vaters eine große Rolle:
"Ich habe geradezu Gedichte nach Bildern meines Vaters gemacht. [...] Da habe ich versucht, dassel-
be in Worten zu machen, was er auf dem Bild gemacht hat. [...] Damals entstand eine ganze Reihe
von Gedichten, in denen ich versucht habe, Themen, die mein Vater auf seinen Zeichnungen oder in
seinen Bildern hatte, in Worten zu musizieren. Nicht, indem ich das Bild beschrieb, sondern indem
ich einfach versuchte, das, was er auf dem Bild gemalt hatte, eben auf eine andere Weise zu machen.
Also wir haben uns da gegenseitig sehr angeregt, ja er hat es sehr anregend gefunden. [...] Ich werde
mir immer mehr bewusst, im Laufe meines Lebens, wie viel ich meinem Vater zu verdanken habe. In
meiner ganzen Grundauffassung von Kunst überhaupt. Und auch die ganze Welt, in die er mich halt
eingeführt hat". 27
Genauso wie es bei Edgar Endes Gemälden der Fall ist, ist es auch in Der Spiegel im Spie-
gel. Ein Labyrinth der Fall:
„Während es mir gerade darum zu tun ist, Bildergeschichten zu finden, die genau das offenlassen,
d.h. die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden zu machen. In diesem Sinne hat sich
26
<< http://www.edgarende.de/Home.htm>> (28.10.2010) 27
Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael: Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und das
Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart, 1985.
13
auch mein Vater mal geäußert, in einem Brief oder in irgendeiner seiner Notizen, wo er sagt, dass ein
Bild erst fertig wird im Betrachter.“ 28
Die Geschichte wird erst durch die Fantasie des Lesers bei dessen Lektüre des Werkes voll-
endet.
28
Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael: Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und das
Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart, 1985.
14
3. Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth - Der Titel
3.1. Der Spiegel im Spiegel
Das Bild des Spiegels im Spiegel begleitet den Leser durch die ganze Geschichtensamm-
lung. Dieses Motiv lässt sich auf mehreren Ebenen zugleich beobachten.
1. Der Leser findet sich in dem Buch persönlich wieder. Die kreierte Welt in den Erzäh-
lungen wird zu einer Welt, die unserer wirklichen Welt den Spiegel vorhält. Durch surrea-
listische Bilder, rohe Landschaften und phantastische Motive versucht Michael Ende eine
andere Wirklichkeit zu zeigen, in der sich jeder Leser wiederfinden kann. So können die
Geschichten durch den jeweiligen Leser selbst weitererzählt werden, wie sich Michael En-
de das auch wünschte.
2. Eine Geschichte spiegelt sich in der anderen wider. Michael Ende verwendet immer
wieder ein Bild, das er auch schon zuvor in einer oder mehreren anderen Geschichten ver-
wendet hat. Und so spiegeln sich die einzelnen Geschichten in den anderen wider. Dies
lässt sich u.a. sehr gut in der Erzählung Im Korridor der Schauspieler trafen wir einige
hundert Wartende an beobachten. Dort wird ein Szenar eines Theaterstücks erzählt, das ein
alter Mann spielen sollte. Das Szenario, das er schildert, ähnelt sehr der Geschichte des
alten Bettlers aus der Erzählung Der Bordellpalast auf dem Berge erstrahlte in dieser
Nacht.
In der Geschichte Der Zirkus brennt findet man das Motiv aus Die Mansardenkammer ist
himmelblau: der Clown betritt das Haus, in dem sich vorher der Student und der Diener
befanden. Der Clown befindet sich so in dem Zimmer, in dem der Tisch mit allen Verhan-
delnden steht, an dem der Student einschläft. Es sind oft kurze Teile von vorherigen Ge-
schichten oder auch nur Gegenstände, Orte, Personen oder Tiere, die dann wieder an einer
anderen Stelle im Buch erscheinen.29
29
Treffend hat dieses Widerspiegeln des „Bildes im Bild“ auch die Mediabühne dargestellt und zwar in einer
Form von gemalten Bildern in Rahmen. Das eine Bild befindet sich spiegelnd in dem anderen. Ein Bild
wächst aus dem anderen heraus und gehört in das vorherige Bild und in dem neuen Bild findet sich wieder ein
neues Bild, usw. Es ist wie eine Reise durch einzelne Bilder, die alle gemeinsam ein ganzes Bild bilden. -
<<http://www.mediabuehne.de/>> (6.8.2010)
15
3. Der Spiegel Edgar Endes im Spiegel Michael Endes und umgekehrt
Das ganze Buch ist seinem Vater Edgar und dessen Kunst gewidmet. Dessen Bilder spie-
geln sich fortlaufend in Michael Endes Kurzgeschichten. „Niemand kann wirklich erken-
nen, welcher Spiegel sich da in welchem Spiegel widerspiegelt.“30
So spiegelt sich Edgar
Ende als Person und Künstler in seinem Sohn als Person und Künstler zugleich wider und
umgekehrt. Michael Ende hat schon von Kindheit an versucht, mit Worten das beschreiben
zu können, was sein Vater in den Gemälden dargestellt hat, aber eben auf seine literarische
Art und Weise. Michael Ende dazu: „Also wir haben uns da gegenseitig sehr angeregt, ja er
hat es sehr anregend gefunden.“31
Worte und Gemälde spiegeln sich und sind in ihrer Inter-
pretation untrennbar verbunden. Das Buch „Der Spiegel im Spiegel“ lässt sich folglich nur
begreifen, wenn man sich auch mit der Kunst des Vaters befasst. Peter Boccarius schreibt
hierzu, „Man muss wohl in der Welt Edgar Endes, des Malers surrealistischer Bilder, zu
Hause sein, um mit den grandiosen Wortgemälden des Spiegel im Spiegel umgehen zu
können.“32
Edgar Ende hat sogar im Jahre 1948 ein Bild gemalt mit dem
Titel Das Spiegelbild:
Das Spiegelbild (Der Taucher)
Öl auf Leinwand, 1948
140 x 60 cm
30
<< http://www.edgarende.de/Home.htm>> (28.10.2010) 31
Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael: Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und das
Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart, 1985. 32
Boccarius Peter: Michael Ende. Der Anfang der Geschichte. München, 1995.
16
3.2. Ein Labyrinth
Für den Untertitel Ein Labyrinth hatte Ende gute Gründe. In zwei Geschichten kommt das
Bild des Labyrinths direkt vor: in der ersten Erzählung, in dem Hor in einem Labyrinth
herumirrt und in der zweiten befindet sich der Leser gleich in einer Labyrinthstadt.
Das Labyrinth lässt sich auch als ganzen Rahmen oder Aufbau für die Sammlung verste-
hen. Ein Labyrinth der Geschichten, die sich immer wieder irgendwo treffen und wieder
verlieren. Gestalten und Gegenstände irren wiederholend durch das ganze Buch.
Das Labyrinth lässt sich auch in der Ausweglosigkeit der Situation in vielen Geschichten
erkennen.
Ein Labyrinth kann man auch im Sinne des Verborgenen verstehen, das kompliziert durch
alle möglichen Gefühle und die Dunkelheit ans Tageslicht aus dem Unterbewussten durch
die Geschichten getragen wird.
Das Labyrinth ist einer der beliebten Motive des Surrealismus. Walser z.B. als Vertreter
des Surrealismus verwendet auch eine Art „labyrinthische Schreibweise. Ein genaueres
Verständnis des gewöhnlich missverstandenen Labyrinthbegriffs soll zu einem der zentra-
len Verfahren und Topoi surrealistischer Literatur führen, der écriture automatique.“ 33
Christian Benne schreibt: „Die Surrealisten waren fasziniert von der Figur des echten Laby-
rinths, vom dunklen Sinn seines Zentrums, von der Einheit aus klarster Ordnung seiner
Struktur und der Unberechenbarkeit des weggesperrten Minotauros.“34
3.2.1.Der Minotaurus
Das Thema des Labyrinths ist mit der Gestalt des Minotauros aus der griechischen Mytho-
logie fest verbunden und tritt als wichtiges Symbol bei den Surrealisten auf. Es bildet sich
33
Benne, Christian, Schrieb je ein Schriftstellen so aufs Geratewohl?: der surrealistische Robert Walser, S.
57, in Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. 34
Ebd. S. 58
17
sogar eine Gruppe um die surrealistisch orientierte Zeitschrift Minotauroe,35
die u.a. von
André Breton herausgegeben wurde. Bei den Surrealisten spielte das Labyrinth eine große
Rolle. Vor allem sind sie aber an dem Minotauros interessiert, den das Labyrinth verborgen
hält und den es zu finden gilt. Bei Masson sind Minotauros und Labyrinth oft ein und die-
selbe Figur. Robert Walser ist dagegen weniger an dem Minotauros interessiert, sondern
viel mehr an dem Labyrinth selbst, an dessen Bauplan, „Wegen und den Verfahren, die
noch jeden Leser zum Theseus machen.“36
Die Mahler Pablo Picasso, André Masson, Salvador Dalí und andere dem Surrealismus
nahestehende Künstler haben den Minotauros und das Labyrinth in ihren Gemälden darge-
stellt.
35
http://thenonist.com/index.php/thenonist/permalink/minotaure/>> (11.10.2010) 36
Christian Benne in: Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Ber-
lin, 2009.
18
4. Die formale Seite
„Dreißig Visionen Michael Endes mit achtzehn Zeichnungen seines Vaters Edgar Ende
strahlen ihre magische Kräfte aus.“37
Ist der Satz, der an der Rückseite der Ausgabe des Der
Spiegel im Spiegel aus dem Jahr 2008 von Weiterbrecht Verlag steht.
Die Geschichtensammlung besteht aus 30 verschiedenen Geschichten Obwohl sie alle eine
eigene Handlung und eigene Figuren haben, bilden sie dennoch eine Einheit. Die gemein-
samen Motive, Orte, Bilder, Gestallten oder Symbole findet der Leser in verschiedenen
Geschichten immer wieder. Die Geschichten haben keine Titel Sie werden in der Inhaltsan-
gabe mit dem Anfang des ersten Satzes der jeweiligen Geschichte benannt.
Viele Geschichten reihen dort aneinander, wo die vorherige Geschichte gerade geendet hat,
entweder durch die Gestalten, eine Landschaft, einen Gegenstand oder durch einen anderen
sichtbaren Zusammenhang. Die einzelnen Motive knüpfen meist sehr deutlich aneinander
an.
Der Leser hat das Gefühl, dass es sich um eine Kollage handelt. Die zusammengeklebten
Assoziationen bilden nicht reale, sondern surreale, traumhafte, phantastische, irrationale
Welten, Bilder und Zusammenhänge. Diese Technik erinnert an die Kollagentechnik der
surrealistischen Gemälde. In den Bildern begegnen sich Gegenstände und Personen, als ob
man sie in einer neuen, unlogischen, einer noch unbekannten Art und Weise zusammen-
klebt. Der Autor als Künstler ist in hierbei in seinem Wirken sowohl an sein als auch das
kollektive Unterbewusstsein angebunden. Daraus entstehen seine Geschichten. Hierdurch
wird eine Art Traumrealität erzeugt. Sie kommt dem Leser als eine Reise durch die Tiefen
des Unterbewusstseins des Autors vor. Es ist aber nicht nur eine Reise durch das Unterbe-
wusstsein des Autors, sondern auch eine durch das Unterbewusstsein des Lesers, wie Mi-
chael Ende in seinem Briefwechsel mit Werner Zurfluh bemerkt.38
37
Die Rückseite des Buches: Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München 2008. 38
Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
19
Der Autor wurde hierbei deutlich durch das künstlerische Schaffen seines Vaters inspiriert,
der ein surrealistischer Maler war. Sein Buch hat er seinem Vater gewidmet, der in seinem
Leben eine bedeutsame und innige Rolle spielte.
Daher unterscheidet sich dieses Werk in literarischer Hinsicht auch erheblich von Michael
Endes sonstigen Werken. Der vor allem als Kinder- und Jugendbücherautor bekannte
Schriftsteller bedient sich hier bewusst surrealistischer Methoden der Assoziationen und
des Unterbewusstseins.
4.1. Der Erzähler
Es gibt in seinem Buch kein einziges Ich und auch keine Person eines Helden, der in allen
Geschichten wiederkehrt. In jeder Geschichte ist es eine andere Person, zumeist jedoch
nicht in der Form eines Ich-Erzählers. Ausschließlich in der ersten Geschichte spricht Hor
zu dem Leser als Ich-Erzähler. In der Hor-Geschichte als auch in der Planeten-Geschichte
duzt der Erzähler den Leser, zieht ihn damit in das Buch herein und nimmt ihn mit auf seine
Reise. In einigen Geschichten tritt ein Wir-Erzähler auf.
Der Werner Zurfluhr äußert sich auch zu den Erzählweisen in dem Buch:
„Die handelnden Gestalten sind multipersonal, wodurch der Effekt der Abruptheit entsteht, ja beina-
he eine Art Zerrissenheit. Zwar fehlt der 'rote Faden' keineswegs, aber er läuft weder explizit noch
implizit (was meines Erachtens ungemein wichtig ist) über das Ich als Bewusstseinsträger bzw. als
bewusste Wesenheit. Dadurch überwiegt die Schwerelosigkeit des Raumes und manche Szenen wir-
ken beinahe schon bedenklich tragisch.“39
39
Werner Zurflur aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
20
5. Die Rezeption
Der Spiegel im Spiegel ist im Jahr 1984 entstanden. Für das Buch hat Michael Ende zehn
Jahre gebraucht und er hat es vor Momo begonnen und nach der Unendlichen Geschichte
fertig geschrieben.
Michael Ende ist es mit diesem Buch gelungen, wie er persönlich schreibt,
„selbst gutwillige Leser und Kritiker gründlich zu irritieren. […] Man hatte mich doch zum Weih-
nachtsmann der Nation ernannt und vermisste nun bitterlich den "tröstlichen Aspekt" und die "Bot-
schaft". Ich bekam sogar nicht wenige Briefe mit dem Tenor: "O Gott, lieber Michael Ende, was ist
Ihnen denn nur Schreckliches passiert, dass Sie plötzlich so negativ und depressiv geworden sind?"
Man hatte sich so daran gewöhnt, vom Autor an der Hand genommen und durch die Geschichte ge-
führt zu werden - natürlich mit der Gewissheit, dass alles gut ausgehen werde - dass man es als regel-
rechten Verrat von Seiten des Autors empfand, dass dieser plötzlich dem Leser zumutete, sich selb-
ständig und ohne helfende Hinweis einen Weg durch das Spiegel-Labyrinth zu suchen.“40
Der Spiegel im Spiegel wurde in 13 Sprachen übersetzt.
Das Buch wurde auch als Grundlage für ein Hörbuch mit dem gleichnamigen Titel genutzt.
Es beinhaltet eine Auswahl von Geschichten aus dem Buch und wurde im Januar 2003 un-
ter dem Label New classical advanture veröffentlicht. Der Sprecher ist Dieter Mann und
die Gitarre wird von Arndt Werner Bethke und Klaus Feldmann gespielt.
Auf der Grundlage der Motive von Michael Endes´ Erzählungen wird es ein mediales Thea-
terstück mit dem Titel Der Spiegel im Spiegel von dem Künstlerduo Mediabühne geben.41
Im Jahr 2001 gab es eine Ausstellung in dem Berliner Museum Zitadelle Spandau mit dem
Titel: Der Spiegel im Spiegel. Edgar und Michael Ende. Dort fanden Lesungen statt und
viele Themen und Fantasiegestalten aus den Büchern Michael Endes wurden mittels der
dort ausgestellten surrealistischen Bildern seines Vaters wieder belebt.42
40
Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010) 41
<< http://www.mediabuehne.de/>> (4.10.2010) 42
<<http://www.berlinonline.de/berliner-
zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2001/0414/magazin/0028/index.html>> (29.10.2010)
21
Der Weitbrecht Verlag veröffentlichte diese Äußerungen über das Buch:43
„Völlig surrealistische Visionen zwischen Diesseits und Jenseits ... Für jeden, der’s gern ein
bissel mystisch hat: Unbedingt empfehlenswert!“ Anne-K. Arnold in der Thüringer Allge-
meinen Zeitung
„In den Traumvisionen findet man sich z. T. wieder, es sind Träume, die quälen und die
zuweilen recht grausam sind. Doch der aus Garmisch gebürtige Autor versteht es, in einer
sehr meditativen Sprache das sogenannte ›Bild jenseits des Bildes‹ festzuhalten.“ Radio
Tirol
„Jede dieser Geschichten ist ein verschlüsseltes Gleichnis, für das Ende keine Lösungsmög-
lichkeit anbietet. Dem Leser bleibt es selbst überlassen, den Inhalt zu deuten, mit seiner
eigenen Erfahrungswelt auszufüllen.“ Cornelia Stadler in der Augsburger Allgemeinen Zei-
tung
„Keine schönen Träume einer phantastischen Gegenwelt, sondern Alpträume. Ein anderer
Ende? Nicht unbedingt. Träume, Wünsche und Hoffnungen hängen für ihn zusammen, sie
bilden jene Sphäre, die sich der Realität entzieht und doch nicht einfach von ihr losgelöst
ist.“ Volker Hage in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
43
<<http://www.amazon.de/Spiegel-im-Michael-Ende/dp/3522716205>> (2.10.2010)
22
6. Michael Ende zur Interpretation und dem Ver-
ständnis des Buches
Der Autor selbst äußert sich in verschiedenen Quellen zu seinem verschlüsselten Werk Der
Spiegel im Spiegel. Er will dem Leser damit zeigen, wie sein Buch verstanden und gelesen
werden sollte:
„Für mich ist ein Buch so etwas Ähnliches wie ein Dialog mit dem Leser. Und die Brücke dazu ist
die Geschichte, die ich geschrieben habe. Und wenn das Buch richtig ist, wenn es als Brücke funkti-
onieren soll, dann muss es ermöglichen, dass der Leser seinen Teil mitbringt, sonst bleibt das Ganze
lediglich ein Gespräch von oben nach unten. "[...] Aber genau das möchte ich vermeiden. […] Es ist
sowohl bei meinem Vater als auch bei mir immer ein Ziel gewesen, dass das Bild beziehungsweise
die Geschichte erst fertig wird im Betrachter respektive im Leser. Und vielleicht liegt darin sogar ein
neuer Kunstansatz, ein neuer Ansatz von Literatur- und Poesieverständnis. Man hat sich heute ein
bisschen daran gewöhnt, dass der Autor jemand ist, der hauptsächlich sich erklärt, der seine Weltan-
schauung, seine Gedanken, seine Gefühle genau erklärt. [...] Im Großen und Ganzen verharrt der jet-
zige Leser in einer konsumtiven Haltung. Während es mir gerade darum zu tun ist, Bildergeschichten
zu finden, die genau das offenlassen, d.h. die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden
zu machen. In diesem Sinne hat sich auch mein Vater mal geäußert, in einem Brief oder in irgendei-
ner seiner Notizen, wo er sagt, dass ein Bild erst fertig wird im Betrachter. Es darf vorher noch nicht
fertig sein. Wenn es an der Wand schon fertig ist, dann ist es verschlossen, dann ist es zu.“44
Im Briefwechsel zwischen ihm und Werner Zurfluhr äußert sich Michael Ende zu diesem
Thema folgend:
„Nehmen Sie bitte die Geschichten in diesem Buch nicht zu sehr als autobiographische Mitteilungen
meinerseits. Im Grunde handelt es sich auch nicht um den Versuch die "andere" Wirklichkeit mög-
lichst getreu zu schildern. Vielmehr wollte ich einen Vorstoß wagen in der Richtung, in der die mo-
derne Musik oder die moderne Malerei schon längst viel weiter gegangen war als die erzählende Li-
teratur. Selbst in der Lyrik und in der Dramatik ist man schon seit Jahrzehnten zu Formen gekom-
men, die nichts mehr "abbilden", sondern für sich selbst stehen, ihre eigene Wirklichkeit haben wie
ein Bild von Klee. Ich wollte versuchen, Geschichten zu schreiben, die man lesen sollte, wie man
moderne Musik hört oder wie man ein Mobile von Calder betrachtet. Natürlich setzt das auch eine
andere Bewusstseinshaltung und ein sich Loslösen von traditionellen Erwartungen voraus. Was ich
44 Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael, Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und das
Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart, 1985.
23
sagen will, ist dies: Es waren hauptsächlich künstlerisch-formale Fragen, die mich zum Schreiben
dieses Buches veranlassten, nicht so sehr das Bedürfnis, mich selbst mitzuteilen.“45
Zum Thema der Interpretation sagt der enge Freund Michael Endes Peter Boccarius folgen-
des:
„Man muss wohl in der Welt Edgar Endes, des Malers surrealistischen Bilder, zu Hause sein, um mit
den grandiosen Wortgemälden des „Spiegel im Spiegel“ umgehen zu können, um seine dunklen, sat-
ten Farben, diese unbarmherzigen, melancholischen Gaukler-Visionen und rätselhaften, ungreifbaren
Traumgeschehnisse jenseits der Tageslogik schätzen zu können.“46
Werner Zurfluh äußert sich auch in einem Brief an Michael Ende zu der Frage des Verste-
hens eines solchen Textes in unserer Kultur:
„Jede Art von Beziehung zu nichtalltäglichen Wirklichkeiten wirkt für die westeuropäische techno-
kratische Gesellschaft bedrohlich, denn derartige Wechselwirkungen sind nicht primär intersubjektiv
nachvollziehbar, sondern individuell. Berührungen zu anderen Wirklichkeitsebenen sind zudem we-
der standardisiert wiederholbar und messbar noch objektivierbar und direkt kommunizierbar - und
widersprechen deshalb prinzipiell dem geltenden Weltbild.“ 47
45
Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010) 46
Boccarius, Peter: Michael Ende. Der Anfang der Geschichte. München, 1995. 47
Werner Zurfluh aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
24
7. Die Geschichten im Einzelnen
7.1. Verzeih mir, ich kann nicht lauter sprechen.
Inhalt
In einem großen leeren Haus lebt, seitdem er sich daran erinnern kann, ein Riese Namens
Hor. Das Haus hat keinen Ausgang und die Fenster führen wieder nur in ein anderes Zim-
mer. Er schläft auf dem Boden und isst die Substanz aus den Wänden, die auch essbar ist.
Das Besondere ist, dass alles, was man sagt, sich zugleich als Echo durch das Haus verbrei-
tet und dort für die Ewigkeit herumirrt. Es ist für Hor sehr unangenehm und es bereitet ihm
große Pein. So lernte er sehr leise zu sprechen, unter der Grenze des Hörbaren.
So spricht Hor auch zu dem Leser. Er duzt ihn sogar und sagt: „die ihr eins mit mir
seid...“48
Es ist die einzige Geschichte, in der teilweise die Ich-Form verwendet wird. Hor
weiß nicht, ob er von dem Leser erhört wird oder nicht. So bittet er den Leser, Verschwie-
genes selbst zu ergänzen49
. Der Leser soll sich durch die leise Stimme wie auf der Grenze
zwischen Traum und Wirklichkeit vorkommen: „Und du wirst auf dem schmalen Grat zwi-
schen Schlafen und Wachen des Gleichgewicht halten müssen – oder schweben wie die,
denen oben und unten das gleiche bedeutet.“50
Zeit kann er nicht messen. Tag und Nacht gibt es nicht. Er kann sich nur selten an die Räu-
me erinnern, in denen er schon vor langer Zeit war. Manchmal denkt er, dass sich die Räu-
me ständig verändern. Ob dort auch andere wohnen, kann Hor nicht ausschließen.
Hor erhofft sich immer, irgendwann an die äußerste Wand zu gelangen und hat das Gefühl
von einer anderen Welt zu träumen, in der er aber nie zuvor gewesen war. Man kann das
nicht wirklich Träumen nennen, sondern eher plötzliches Erinnern. Er ist mal von der Stille
48
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008. S. 12. 49
„Für mich ist das Buch so etwas Ähnliches wie ein Dialog mit dem Leser. Und die Brücke dazu ist die
Geschichte, die ich geschrieben habe. Und wenn das Buch richtig ist, wenn es als Brücke funktionieren soll,
dann muss es ermöglichen, dass der Leser seinen Teil mitbringt, sonst bleibt das Ganze lediglich ein Gespräch
von oben nach unten. "[...] Aber genau das möchte ich vermeiden.“ - Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Mi-
chael, Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und das Werk des Malers Edgar Ende, Stuttgart,
1985. 50
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. München, 2008. S. 10.
25
erfüllt, mal von Gefühlen und Erlebnissen überfüllt. Er fragt sich deswegen, ob er nur einer
ist, oder ob es mehrere von ihm gibt, die vielleicht außerhalb der Mauer leben. Er weiß
nämlich nicht, woher er das alles weiß, wovon er träumt.
Interpretation
Diese und die letzte Geschichte können als Rahmen für die ganze Sammlung angesehen
werden. Hor führt uns als Erzähler in das Buch hinein. Er spricht zu dem Leser aus der Ge-
schichte heraus und nimmt ihn mit auf die Reise durch die traumähnlichen Geschichten.
Der Traum
Diese Geschichte spielt sich in einem Haus ab. Aus psychoanalytischer Sicht ist das Haus
ein wichtiges Symbol in der Traumdeutung. Es spiegelt uns selbst, unser Inneres. Es könnte
auch den inneren Kosmos des Autors symbolisieren, aber der Autor will sein Buch ja als
einen Erfahrungs- und Entdeckungsprozess für den Leser verstanden wissen. Der Autor
bietet so den Lesern an, mit ihm in die Räume des Labyrinths einzutreten. Die Räume sind
leer. Auf der einen Seite geben sie unserer Vorstellungskraft in der Traumwelt vielerlei
Möglichkeiten, aber auf der anderen geben sie dem Leser auch ein Gefühl des Verloren
seins.
Hor träumt Geschichten, von denen er nicht weiß, woher sie kommen. Wenn man die letzte
Geschichte gelesen hat, weiß man, dass Sie offenbar von den Personen kommen, die ab und
an in das Labyrinth reinkommen. Hor wird eins mit ihnen. So behält er viele Erinnerungen
von verschiedenen Leuten aus verschiedenen Zeiten, weil er ewig lebt. In der Innenwelt des
Riesen kann man eine Art kollektiven Bewusstseins erahnen, welches uns der Autor zeigen
will. Wenn Hor und das Haus zugleich unser Unterbewusstsein symbolisieren, könnte es so
sein, als ob sich dort das kollektive Unbewusstsein versammeln würde.
Hor verkörpert auch die Einsamkeit, die in der Realität immer deutlicher in unserer Kultur
zu spüren ist. Eine Kultur, die durch unabhängige und individuelle Menschen gekennzeich-
net ist.
Man kann aus diesem Haus nicht raus und es erinnert uns an die griechische Mythologie
und den Minotaurus. In der gleich danach folgenden Geschichte geht es um die Daidalos
26
Ikarus Geschichte. Daidalos war der Architekt von dem Labyrinth für Minotaurus. So
knüpft hier eine Geschichte an die andere mit dem Motiv des Daidalos. Zugleich geht es in
der nächsten Geschichte um das Labyrinth und um die Unmöglichkeit, diesem zu entrinnen.
27
7.2. Der Sohn hatte sich unter der kundigen Anleitung seines
Vaters und Meisters Schwingen erträumt.
Inhalt
In einer Labyrinthstadt gibt es einen jungen Sohn, der aus der Stadt weggehen möchte. Er
verwendet dafür Flügel, die nur aus Träumen bestehen. Die Flügel sind dadurch leicht und
zerbrechlich. Als er zur Mauer geht, welche er überfliegen will, trifft er verschiedene Leute
an, die alle sehr unglücklich sind. Einer dieser Unglücklichen gibt ihm ein Netz, in das je-
der der Unglücklichen seinen Kummer einwebt. So wird er immer schwerer und schwerer,
so dass er, als er wegfliegen möchte, dies nicht mehr kann.
Interpretation
Es ist eine Art Daidalos und Ikarus Geschichte. Daidalos hat selbst das Labyrinth in der
Mythologie für den Minotauros gebaut, der dort gefangen gehalten wurde. In der Mytholo-
gie werden die Flügel mit künstlerischer Geschicklichkeit aus Federn gebaut, hier entstehen
sie nicht aus der Materie, sondern aus Träumen. Die Flügel sind dadurch genauso unfest
wie im Daidalos und Ikarus. Dort waren sie mit Wachs zusammengeklebt, hier geschieht es
mittels innerer Freude und langjähriger Suggestion. Genau wie in der klassischen Geschich-
te gelingt es nicht, aus dem Labyrinth zu fliehen. Der Junge findet zwar keinen Tod, aber
sein Meister, also sein Vater wird hart bestraft und der Junge bleibt bis zum Ende seines
Lebens hoffnungslos und unglücklich.
Man kommt aus dem Labyrinth nicht raus, weil es nach dem Gesetz des Labyrinths unmög-
lich ist. Doch das Gesetz selbst ist widersinnig: „Nur wer das Labyrinth verlässt, kann
glücklich sein, doch nur der Glückliche vermag ihm zu entrinnen.“ 51
Derjenige, dessen Glück nicht von jemandem oder etwas anderem abhängt, könnte das La-
byrinth tatsächlich verlassen. Dem Sohn ist es nicht gelungen, weil er sein Glück von seiner
Geliebten und von anderen Menschen abhängig machte, denen er begegnete. Er hatte sein
Glück nicht wahrlich in seinem Inneren getragen. Seine Flügel waren so illusorisch wie
auch seine Glückseligkeit. Seine Flügel waren nicht echt, denn sie waren erträumt. Seine
51
Ebsg. S.13
28
Glückseligkeit hing von seiner Geliebten und auch von seiner Zukunft ab, die natürlich
noch nicht eingetreten war und so konnte er nicht wahrhaft glückselig sein.
Es kann leicht passieren, dass im Kontakt mit einer negativen Realität und mit unglückli-
chen Menschen der Sohn nicht in seiner Glückseligkeit bleiben konnte. Das war die Prü-
fung für den Jungen, um zu zeigen, dass nur derjenige, der verstanden hatte, was wahre
Glückseligkeit bedeutet, das Labyrinth verlassen konnte. In dem Moment aber, sobald es
einem gelingt die wahre Glückseligkeit in der Gegenwart zu finden, bräuchte man eigent-
lich nicht mehr das Labyrinth zu verlassen, weil sein Glück nicht mehr von der Umgebung
oder dem Ort abhängig ist. So kann man dieses Labyrinth als ein Labyrinth der Gedanken
und unserer eigenen Unbewusstheit verstehen.
Abhängige, also bedingte Liebe zu äußeren Ereignissen wird in der Geschichte zu einem
persönlichen Gefängnis, aus dem nur die Unabhängigkeit in die Freiheit führt. Bedingungs-
lose Liebe bedeutet Freiheit, sie ist unbegrenzt und ewig. Die innere Freiheit eröffnet die
Möglichkeit, aus dem Labyrinth herauszukommen.
Der Mensch trägt in sich ein Labyrinth von Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Erwartun-
gen. Das Labyrinth ist ein Symbol für innere psychische Verwirrtheit, denn die fühlt sich
oftmals auch wie ein Labyrinth von Gedanken an, aus dem man nicht heraus kann. Jeder
hat sein eigenes Labyrinth und es hängt nur davon ab, ob wir gelernt haben, unseren inne-
ren Kompass zu verwenden oder nicht, um aus dem Labyrinth den richtigen Weg zu fin-
den. Gedanken oder Gefühle irren ohne jeglichen Kompass in uns herum, ohne zu richten
oder Ordnung bringen. Genauso wie in diesem Labyrinth auch, denn dort bewegen sich die
Straßen und Häuser auch ohne jegliche Anordnung. Man kann sich von den Gedanken und
dem Labyrinth erst dann befreien, wenn man frei von ihnen ist - leer. Das hat sein Vater,
der Meister, vergessen ihn zu lernen – die Art der Meditation und Kontemplation, in der
er seine tiefe und eigene Glückseligkeit finden könnte.
Die Prüfung des Jungen bestand darin, leer sein zu können, in dem Sinne, dass nichts von
außen ihn beeinflussen (füllen) kann, weder positiv noch negativ. Er sah seine Geliebte
nicht. Daher war er nicht so stark von der Liebe erfüllt, wie normalerweise Er war mit
Trauer und Negativität konfrontiert und somit unglücklich belastet. Sein Glück war illuso-
risch und durch Trauer ersetzt.
29
Das Bedeutsame an der Geschichte ist wieder das Motiv des Scheiterns und die Unmög-
lichkeit des Herausgelangens aus dem, was gegeben ist. Es ist eine Geschichte über Hoff-
nungslosigkeit und den Tod der Ideale. Es geht um einen unverwirklichten Traum, um
Konfrontation der Realität mit dem Traum, mit der erträumten Realität.
Die Tür zu seiner Geliebten trug die Nummer 401 genau wie in anderen Geschichten. Und
sie hängt mit der himmelblauen Farbe des Zimmers der Geliebten sowie des Studenten in
der nächsten Geschichte zusammen.
Edgar Ende hat auch ein Bild mit der Daidalos Ikarus Thematik:
Ikarus, 1955, Öl auf Leinwand, 90 x 70 cm
30
7.3. Die Mansardenkammer ist himmelblau, die Wände, die De-
cke, die paar Möbel
Inhalt
Ein Student sorgt sich in seiner himmelblauen Mansarde um seine zukünftige Miete, da der
vorherige Besitzer gestorben ist. Er rechnet irgendwelche spezielle Relativitätstheorien in
seiner kleinen bescheidenen Mansardenkammer, um sich für sein Examen vorzubereiten.
Da er ganz unruhig ist, geht er heraus aus seinem Zimmer hinein in verkommene Räume,
um zu erfahren, wie es mit ihm weitergehen wird. Es ist überall sehr viel Staub und Spin-
nengewebe. Er trifft einen alten Diener, der mit einem großen Staubwedel herum putzt und
etwas vor sich hinmurmelt. Hier treffen sich in Gestalten der Student mit einem bereits al-
ten Mann, der vom Leben enttäuscht ist. Jemand, der über das Leben nachdenkt. Zunächst
über den Anfang, ob es überhaupt Sinn macht, etwas anzufangen oder, ob es einen Anfang
überhaupt gibt. Der Alte spricht über Erkenntnis, Objektivität und philosophiert auch über
weitere Themen.
Sie kommen zu einem großen Saal, indem eine Erbschaft verhandelt wird. Man sieht, dass
die Verhandlung schon eine ganze Ewigkeit andauert, da überall Staub und Spinngewebe
sind. Die Erben bewegen sich nicht und sind still, da keiner sich den anderen zum Feind
machen will.
Dazu ist das Haus noch voller Angehörige der einzelnen Beteiligten. Diese errichten sich in
dem Haus aus den alten Möbeln Bungalows und Hütten. Auf dem Parket wird ein Feuer
entzündet, um sich zu wärmen und so fürchtet man irgendwann einen großen Brand.
Der Diener beschwert sich, dass er von allen Herrschaften als persönlicher Diener betrach-
tet wird und, dass es sehr anstrengend ist, weil er sogar für diesen oder jenen spitzeln muss.
Für ihn, als einen Mann der Vernunft, der aus dem Denken lebt, sei dies die Hölle.
Der Diener lebt in der Unsicherheit, ob ihn der neue mögliche Besitzer herausschmeißen
wird. Dennoch tut er alles dafür, bei den Erben einen guten Eindruck zu hinterlassen, da er
nicht weiß, wer sein künftiger Herr wird.
31
Um den Diener zu trösten, will der Student ihm bei der Arbeit helfen. Er nimmt den Staub-
wedel und beginnt abzustauben. Dabei versinkt er wieder in Gedanken über seine Formel
der speziellen Relativitätstheorie. Und dabei schläft er am Tisch ein.
Interpretation
Diese Geschichte knüpft an die vorherige mit dem blauen Zimmer an, in dem die Geliebte
des Jungen wohnte. Hier erscheint das Haus wieder als ein Ort, an dem sich man befindet
und welches irgendwie verschlossen ist. Aus dem man nicht raus kommen kann, genau wie
aus dem Labyrinth. Man begegnet hier wieder dem Thema der Unfähigkeit, den Lauf der
Dinge zu verändern und sich aus einer Situation zu befreien. Der Student weiß nicht viel
über das Haus und die Realität draußen. Er lebt in seiner Welt der Theorie in seinem
Zimmer und lernt seine speziellen Relativitätstheorien. Alle Gestalten dieser Geschichte
leben in der Welt der Theorie, sind im ewigen Nachdenken oder im Nichthandeln aus Sorge
und Angst. Es erinnert einen an das universitäre theoretische Milieu. So sieht es auch Wer-
ner Zurfluh und findet sich dort wider: „In einem Provisorium hängen bleiben, und, ich
dachte es mir, schließlich doch den Staubwedel übernehmen, dies wäre für mich beinahe
zur Falle, zum Fallen in den Staub des universitären und gesellschaftlich sanktionierten
circulus vitiosus geworden.52
Der alte Diener philosophiert die ganze Zeit über die Problematik des Anfangs und die
Erben überlegen, überhaupt anzufangen oder weiter zu verhandeln. Hieraus lässt sich die
Erkenntnis ziehen, wenn man gar nicht anfängt, bewegt man sich nirgendwo. Es passiert
nichts. Alle hängen in der Luft. Und die Erben vergeuden dadurch ihr Leben mit einer
ungeklärten Erbschaft. Sie lauern aus Angst und Sorge vor einer Entscheidung oder Akti-
on. Es ist eine Kritik an der Habgier von Menschen, die dazu führen kann, dass man sich im
Leben um nichts anderes kümmert als um seinen Besitz. Das Leben zerfließt so zwischen
den Fingern.
Auch in dieser Geschichte ist die Situation wieder eine ohne Ausweg, sowohl für den Die-
ner, den Studenten als auch alle anderen Beteiligten. Erneut erscheinen die Themen der
Sinnlosigkeit und des Opferdaseins, weil man die Dinge wiederum nicht ändern kann.
Die Verwandten der Verhandelnden zünden aus den Möbelstücken ein Feuer in dem Haus
an, was gegen jede Logik verstößt. Man befürchtet einen Brand, der gleich ausbrechen
52
Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
32
könnte. Die gleiche Thematik findet der Leser in der anschließenden Geschichte wieder.
Die Hauptperson darin ist ein Feuerwehrmann. Die Bahnhofskathedrale steht unter ständi-
ger Brandgefahr, wobei die Gefahr dort noch gesteigert wird, weil überall nur Wachs, Pa-
pier und Kerzen sind. Der Brand bricht schließlich auch tatsächlich aus.
Die Themen des Geldes und der Gier sind auch in der Bahnhofskathedrale zentrale Inhal-
te. In beiden Gesellschaften, sowohl an dem Tisch der Erben als auch in der Sekte der Ka-
thedrale vergisst man wegen des Geldes alles andere.
33
7.4. Die Bahnhofskathedrale stand auf einer großen Scholle
Inhalt
Auf einer Scholle, die neben weiteren Schollen in der Luft schwebt und sich bewegt, steht
eine Bahnhofskathedrale. Der Feuerwehrmann, der gerade aus dem Zug ausgestiegen ist,
sieht Leute um sich herum, die wie Bettler aussehen und große Mengen von Geld mit-
schleppen. Zwischen ihnen trifft er auf eine Frau, die einen großen Sack mit sich trägt. Sie
reißt ihn aus der Illusion, dass er nur an einer Zwischenstation angekommen ist und sagt
ihm, dass niemand ankommen wird, weil niemand von dieser Station weg kann, mindestens
solange der Zauber mit dem Zauber nicht aufhört.
Er hilft der Frau mit ihrer großen Tasche zur Schalterhalle. Die Schalterhalle sieht wie das
Innere der Kathedrale aus, doch in der Apsis befindet sich anstatt der Rosette eine Uhr ohne
Zifferblatt und anstelle des Altars ein riesiger Tresor, an dessen Tür sich ein umgekehrtes
Pentagramm befindet. Die Bahnhofskathedrale besteht aus Banknoten und Wachs. Überall
brennen Kerzen, was den Feuerwehrmann stark beunruhigt. Anstatt des Priesters gibt es
eine Art Börsenmakler und in sich wiederholenden Intervallen öffnet sich der Tresor, aus
dem ein Bündel mit Geld niederfällt. Sofort fallen alle Leute auf die Knie, ergreifen das
Geld und so bekam die Masse das Geld. Die Frau verlässt den Feuerwehrmann und bittet
ihn, auf ihre Tasche aufzupassen. Inzwischen will ihm ein Verkäufer die Aktien der Bahn-
hofskathedrale umsonst verkaufen, die er aber nicht haben möchte. Das Ganze soll eine
wunderbare Geldvermehrung darstellen.
Über der Kathedrale verbreitet sich ein wunderbares Singen und es singt die Frau, deren
Tasche er hat. Das, was sie singt, klingt sehr erhaben im Vergleich zu allem, was in der
Bahnhofskathedrale passiert. Er stellt aber sodann fest, dass die Tasche weg ist und ent-
schloss sich, dies der Künstlerin mitzuteilen. Sie befindet sich in der Gesellschaft von ei-
nem Mann ohne Augen und einem verunstaltetem Gesicht, mit dem sie über ihren Wunsch
des Fliehens streitet. Während dessen verursachen sie den Brand, den der Feuerwehrmann
löscht. Er erfährt hierbei von einer Bombe, die in der verlorenen Tasche steckt.
Man weiß am Ende nicht, ob die Frau weggefahren oder geblieben ist. Es wird während der
ganzen Geschichte etwas abgerechnet. Am Schluss nähert sich man der Null und so endet
das Ganze auch.
34
Interpretation
Die Geschichte über die Bahnhofskathedrale ist vor allem eine Kritik am Aktienmarkt.
Die Leute verfallen so stark der Droge des Geldes, der wundersamen Geldvermehrung und
vergessen hierdurch, dass sie nur auf einer Zwischenstation ihrer Reise sind und sie weiter
fahren wollten. Daher fahren auch keine Züge mehr von der Bahnhofskathedrale ab, da
niemand sie mehr braucht.
Wenn jemand zu fliehen versucht, gelingt es nicht, wie man in der Person der Sängerin se-
hen kann. Das verstärkt die Kritik an den falschen Versprechungen der Aktionäre und zeigt
die Ausweglosigkeit aus dieser Situation. Michael Ende gelingt es hier eine paradoxe Ver-
bindung zu den Bettlern zu erstellen, die alle großen Mengen von Geld haben, aber zu-
gleich in Lumpen gekleidet sind.
Geld verliert jeden Wert, wenn das Geld nur für den Zweck, um es zu erlangen, verfolgt
wird. Die Menschen in der Bahnhofskathedrale vergessen, wozu das Geld eigentlich da ist.
Aus Geld wird eine Religion gemacht. Man kann es auch als eine Anspielung an den Ver-
kauf im Dom während des Lebens Jesu verstehen und als Kritik an die Käuflichkeit der
Kirche. Das Geld wird hier durch das umgedrehte Pentagramm als Mittel des Satans darge-
stellt, der auf der Tür des Tresors abgebildet ist.
Die Schollen, die in der Luft herum schweben, stärken das Gefühl einer zerbrochenen und
zerrissenen Welt. Sie symbolisieren die Unmöglichkeit, aus dem Ort wegzulaufen. Der
Feuerwehrmann kann nicht weg. Er muss warten bis ein Zug kommt, wobei er nicht weiß,
ob er irgendwann ankommt.
35
Diese Berge könnten Michael Ende bei dem Motiv der schwebenden Scholle mit der Bahn-
hofskathedrale inspiriert haben.
Die Angst der Berge,1958, Öl auf Hartfaser, 70 x 99 cm
36
7.5. Schweres schwarzes Tuch
Inhalt
Ein Tänzer wartet hinter einem schwarzen Vorhang bis dieser aufgeht, um mit seiner Tanz-
nummer anfangen zu dürfen. Es passiert aber nichts und der Vorhang geht nicht auf. Er
wartet auf seinen Auftritt und dabei wechselt er ab und zu seine Pose spiegelbildlich, um
nicht so lange in der gleichen Stellung bleiben zu müssen. Er sieht keine Möglichkeit seine
Situation zu verändern bis er irgendwann vergisst, warum er eigentlich wartet. Er setzt nun
sein Warten ohne jegliches Nachdenken fort.
Interpretation
Das Thema des Vergessens eines Zieles spiegelt die vorherige Geschichte wider. Die Leute
in der Kathedrale haben auch vergessen, weswegen sie gekommen waren.
Die Geschichte des Tänzers lässt sich als eine Kritik an solchen Menschen verstehen, die
ständig verschiedene Konzepte, Regeln, Befehle, Muster, Wahrheiten, Dogmen, und Ähnli-
ches befolgen. Michael Ende zeigt die Unfähigkeit, durch solche Verhaltensweisen etwas
tun oder verändern zu können. Man opfert sein Leben einer Chimäre. Die Figur des Tänzers
ist ein Bild für Menschen, die in einer bestimmten Pose leben ohne jegliche Spontaneität.
Diese Freiheit im Handeln und Entscheiden, denkt man oft, könnte doch unserem Beruf
oder unserer gesellschaftlichen Stellung schaden. Wir denken, wir könnten ohne bestimmte
Vorgaben, Befehle und Regeln unser Leben oder unseren Beruf nicht richtig ausführen.
Dabei fließt uns das Leben zwischen den eigenen Fingern weg, ohne dass wir darüber
nachdenken, dass wir vielleicht etwas ändern könnten. Ende will aufzeigen, dass sich man-
che Dinge mit der Zeit ändern, z.B., dass eine Tanzaufführung nicht stattfindet. Wenn der
Tänzer diese nicht bemerkt, wird er seine Aufgabe nicht erfüllen können.
Endes Tänzer vergisst sogar, warum er überhaupt angefangen hat, zu warten – er hat durch
das lange Warten den Sinn seines Lebens völlig vergessen, außerstande, sich daran zu erin-
nern und diesen zu erfüllen (unerfüllter Lebenssinn).
Auch diese Geschichte endet ohne Erfüllung oder glückliches Ende. Der Protagonist
ist wieder ein Opfer.
37
Der alte Mann, der Im Korridor der Schauspieler trafen wir einige Hundert Wartende an,
auf seine Rolle wartet, erinnert auch an diesen Tänzer. Es ist das gleiche Thema wie bei
dem Tänzer, was ihn hindert, sich zu entscheiden und zu handeln, wie auch bei den Erben
am Tisch. Sie haben alle Angst, etwas falsch zu machen: In dieser Geschichte könnte dem
Tänzer durch den Kopf eine Stimme gelaufen sein: „Was wäre, wenn ich aufhören würde
zu warten, von der Bühne weggehen würde und gerade in dem Moment würde der Vorhang
aufgehen?“
38
7.6. Die Dame schob den schwarzen Vorhang ihres Kutschen-
fensters beiseite
Inhalt
Eine Dame in einer Kutsche regt sich auf, weil die Kutsche plötzlich langsamer fährt und
durch einen Menschenzug gebremst wird. Die Menschen sehen aus wie Künstler und sie
kommen mit der Dame ins Gespräch. Sie erzählen, dass sie aus dem Himmelsgebirge
kommen und dort das „Ununterbrochene Schauspiel“ aufgeführt haben. Sie spielten für den
Mond, die Sterne und die Sonne. Nun wandern sie aber, weil ihnen ein Wort verloren ging
und ihr Spiel ohne das Wort keinen Sinn mehr ergibt. Durch diesen Wortverlust zerbricht
alles auf der ganzen Welt langsam in kleine Stücke, bis sie das Wort wieder finden werden.
Die Dame wollte zunächst helfend mit dem Zug weiter ziehen, um das Wort suchen, doch
statt dessen will sie nun der Welt die Nachricht über diese Leute bringen. Hierfür verzichtet
sie auf die Reise zu einem Fest.
Interpretation
Den Vorhang der Bühne, der in der vorhergehenden Geschichte für den Tänzer verschlos-
sen blieb, schiebt jetzt die Dame in der Kutsche beiseite. Der Tänzer, also die männliche
Figur, verändert sich mit der Öffnung des Vorhangs in eine Frau, in diese Dame. Es ist die
einzige Geschichte, in der eine Frau die Hauptrolle spielt. Sie will eine Botschaft vermit-
teln. Sie hofft auf etwas. Sie macht einen Bruch gegenüber den anderen Geschichten, weil
sie sich etwas erhofft. Auf der anderen Seite bringt sie aber auch keine wirklich gute Nach-
richt, weil sie die Menschen so über eine langsam zerbrechende Welt informieren wird.
In der Suche nach dem verlorenen Wort erinnert man sich gleich an den christlichen Ur-
sprung aller Dinge aus Genesis:
„Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im An-
fang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was
gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. "53
53
Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Verse 1 - 5
39
Es ist eine Kritik am verlorenen Glauben, der alles zusammenhält und ohne den die Welt
zerbricht. Zugleich ist das Wort auch als Schöpfer und Schöpferquelle zu verstehen. Die
Künstler aus dem Gebirge hatten diese Quelle und ihre Welt verloren. Die Kunst kann ohne
eine schöpferische Quelle nicht weiter existieren und zerbricht. Es könnte auch eine Kritik
an der Kunst sein, die nicht der göttlichen Schöpferquelle entspringt?
Die Suche nach dem verlorenen Wort sieht Werner Zurfluh als die Suche nach dem
verlorenen ICH.54
Es ist zugleich eine Suche nach einem Sinn, weil ohne das Wort
der Sinn des Spieles verlorengeht.
Es ist die erste Geschichte in dem Spiegel im Spiegel, in der die eine leichte Hoff-
nung aufkeimt, etwas finden und retten zu können: „Wenn sie es finden, dann müsste
die Welt sich von einer Stunde zur anderen verwandeln. Glaubst du nicht? Wer weiß,
vielleicht werden wir irgendwann Zeuge auch dessen werden.“55
Man bemüht sich
einerseits das Wort zu finden, aber andererseits ist die Situation doch nicht so aus-
sichtsreich. Das verlorene Wort in der großen Welt zu finden, ist wie eine Nadel im
Heuhaufen zu suchen. So wird die schwache Hoffnung denn auch in der nächsten
Geschichte unbarmherzig zunichte gemacht.
54
Werner Zurfluh aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010) 55
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008. S. 53.
40
7.7. Der Zeuge gibt an, er habe sich an einer nächtlichen Wiese
befunden
Inhalt
Jemand war Zeuge einer Menschenschlachtung irgendwo am Waldrand in der Dunkelheit.
Er hatte gesehen, wie Menschen, die Lichter trugen, getötet wurden. Die Tötenden mussten
ihre Kleidung dann in dem Blut der Toten tauchen. Am Ende sieht der Zeuge ein Kreuz, an
dem gekreuzigte Person hängt. Der Zeuge fühlt auch, wie dieser nass und schwer vom Blut
wird.
Interpretation
Der schwarze Vorhang verändert sich in dieser Geschichte in eine schwarze Nacht und die
suchenden Künstler in die Schüler Jesus. Die Dame als Bote einer möglichen guten Nach-
richt aus der vorherigen Geschichte wird gekreuzt und damit wird die Hoffnung nach der
Suche des verlorenen Wortes vernichtet.
Ähnliches Motiv, nicht der Menschenschlachtung in der Nacht, sondern einen nächtlichen
Kampf auch mit Augenzeugen und Blutsträhnen hat Edgar Ende abgebildet:
Der Kampf in der Nacht,
1949
Öl auf Leinwand
75,5 x 90 cm
41
7.8. Der marmorbleiche Engel saß unter den Zuhörern im Ge-
richtssaal
Inhalt
Eine, einem Engel ähnliche Statue sitzt im Zuschauerbereich eines Gerichtssaals. Der Ge-
richtssaal sieht aus, als ob er sich irgendwo in einem außerirdischen Raum befindet. Er
schwingt in einem Dämmerlicht. Es gibt keinen Platz für den Richter in der Mitte, sondern
einen Balken und zwei Türme, auf jeder Seite einer, eine Art Rednerkanzel. Zunächst betre-
ten 12 Gestalten den Saal, die wie Chirurgen aussehen, hellgrüne Kittel, Mundschürze,
Käppchen und Gummihandschuhe tragen. Sie setzen sich allesamt zwischen die zwei Tür-
me auf den Balken und schauen den Engel an. Dann senken sie ihre Köpfe.
Anschließend marschieren zwei weitere Gestalten in den Gerichtssaal. Eine weiblich, eine
männlich. Die weibliche Gestalt versucht dem Engel irgendwelche Zeichen zu geben und
der Mann schüttelt bei dem Anblick nur den Kopf. Die Frau ist die Verteidigerin und der
Mann der Kläger. Er klagt dagegen, dass dem Kind schon erlaubt wurde, sich ohne jegliche
Erlaubnis zu verkörpern.
Als letzte tritt eine Gestalt in einem monströsen Kimono ein, deren Gesicht kalkweiß und
von grauer Mähne umgegeben ist. Sie starrt ausdruckslos vor sich hin. Es handelt sich in
dem Prozess um das Recht darüber, ob diese Person verkörpert werden darf. Die Frau ver-
teidigt dieses Recht und der Mann opponiert. Der Mann gewinnt und isst sodann die Inne-
reien der nicht verkörperten Person. Danach hat er ein ziemlich schlechtes Gewissen infol-
ge einer Auseinandersetzung mit dem Engel.
Interpretation
Nach der Menschenschlachtung in der vorherigen Geschichte und einem Augenzeugen
kommt man nun in einen Gerichtssaal hinein, in dem es viele Augenzeugen und einen To-
ten gibt.
In der Auseinandersetzung zwischen der Verteidigerin und dem Kläger verkörpert jeder
eine andere Weltanschauung: die Verteidigerin steht für die religiös-mystische und der
42
Richter die logisch-materielle. Die zwei verkörpern ein Ehepaar56
, das darüber streitet, ein
Kind zu haben oder nicht, nämlich das Kind, diese „namenlose Person nach diesen offiziel-
len Sachverständigengutachten bereits ohne jede Genehmigung ihre Verkörperung eingelei-
tet hat.“57
Es handelt sich um ein Bild, das eine Abtreibung zeigt. Das Kind war bereits in
dem Bauch der Mutter und diese will es auch behalten. Der Mann möchte dies nicht und
entscheidet sich gegen das Kind. Das Kind wird dann von chirurgenähnlichen Gestalten
getötet.
Hier wird schonungslos die Brutalität der Menschen offenbart, durch die eine Seele gehin-
dert wird, geboren zu werden. Die Haltung der Zuschauer symbolisiert eine allgemeine
Gleichgültigkeit der Menschheit gegenüber der Brutalität und dem Unrecht.
Der Schutzengel der Seele, der immerhin den Respekt des Richters findet, kann die Situa-
tion nicht positiv verändern und auch keine Hoffnung bringen. In einem späteren Moment
tropft dann Tinte wie Blut auf den Engel, der dem ganzen zuschaut und keinen Einfluss
mehr auf die Entscheidung nimmt. Die Menschen selbst sollen über den weiteren Fortgang
entscheiden. Die geistige Sphäre schaut lediglich zu.
56
Dazu auch Werner Zurfluhrs psychoanalytische Interpretation: „Vielleicht in Anbetracht der Vielzähligkeit
der Fackelträger eine Notwendigkeit, damit dann die langvorbereitete Inkarnation gebilligt werden kann. Hier
kommen aber für mich "erstmals" in Ihrem Buch ganz massiv kollektive Kräfte ins Spiel, deren Zusammen-
prall wegen der schlafenden und damit in diesem gigantesken Rahmen völlig unbewussten Frau nicht bei
klarem Bewusstsein erfasst werden kann. […] Teufel und Engel stehen einander wie absolut unvereinbare
Gegensätze gegenüber. Diese Geschichte beinhaltet noch einiges an Problemen - und die werden bestimmt in
irgendeiner Form wiederauftauchen. Unter anderem auch die Frage nach der Konfessionalität und der Religi-
osität innerhalb und außerhalb unserer Gesellschaft.
Auch die Frau als Gebärerin schläft - wo bleibt ihre Luzidität? Der mögliche Träger eines knabenhaften
männlichen Bewusstseinsprinzips ist tot(geboren). Das Weibliche erscheint chthonisch, naturhaft automati-
siert wie ein Erdrutsch, der unaufhaltsam zu Tale strömt. Ihr Mann dionysisch, brutal, schlächterisch, stur und
verständnislos, unreflektierend. Wiederum dieser auseinanderklaffende Gegensatz wie bei der vorherigen
Geschichte. Tötung aus Unwissenheit! Leben aus Unbewusstheit! Eine unglaubliche und schrecklich geradli-
nige Logik liegt in diesen Geschichten.“ - Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus
dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010) 57
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008. S. 60.
43
Edgar Ende hat auch sehr viele Bilder mit Engeln gemalt. Das ist eines der Motive, welches
immer wieder in seiner Sammlung auftaucht.
Die roten Steine, 1948, Öl auf Hartfaser , 64 x 85 cm
44
7.9. Moordunkel ist das Gesicht der Mutter
Inhalt
Diese kurze und einfache Geschichte beschreibt, dass die Mutter Kinder bekommt, der Va-
ter eine Kuh schlachtet und sich betrinkt. Betrunken schlachtet er dann aus Versehen seine
Frau. Dann gebärt die Tochter Kinder und ihr Mann begräbt den Vater.
Interpretation
Aus dem marmorbleichen Engel wird das moordunkle Gesicht der Mutter. Der Kläger und
die Verteidigerin verwandeln sich in eine Mutter und einen Vater.
Eine Geschichte über die monotonen Zyklen in einer Familie wird hier ziemlich barbarisch,
ohne jegliche Liebe und geistige Sympathie zwischen den Partnern dargestellt. Es ist eine
Geschichte über die Gleichgültigkeit zur Existenz menschlichen Lebens. Auch wird das
automatische Wiederholen von Dingen im Leben, ohne hierüber nachzudenken, themati-
siert.
Geburt – Leben – Tod werden hier als eine zyklische Wiederholung, die zu unserem Leben
auf der Erde gehört.
45
7.10. Langsam wie ein Planet sich dreht
Inhalt
In einem schlafenden Zustand des Geistes befindet sich ein Figürchen aus Porzellan, das
der Leser sein soll. Es steht inmitten eines Raumes auf einem Tisch, der sich langsam wie
ein Planet dreht. Auf dem Tisch sind ganze Landschaften. Der Tisch steht in einem Raum,
an dessen Wänden Sterne sind. Sonne und Mond befinden sich in einer Standuhr. In der
Kuppel ist die Milchstraße abgebildet.
Plötzlich wütet ein Erdbeben, das die Wand entzwei reißt. Hinter der Wand erscheint eine
Figur, die über einem Abgrund in der Luft schwebt. Ihr Gesicht ist mit einem Tuch bedeckt,
so dass sich die Form des Gesichts nur erahnen lässt.
Die Gestalt fordert Dich (die ganze Geschichte wird in Du-Form erzählt) auf, zu ihr zu
kommen und fallen zu lernen. Du bist ihr böse, dass sie in Deine Welt eingedrungen ist und
vertraust ihr nicht.
Du hoffst, das die Gestalt mit dem Riss in der Wand verschwindet, sobald Du die nächste
Runde auf dem Tisch machst. Das passiert jedoch nicht und so ist sie nach dem Umdrehen
immer noch da.
Du glaubst ihren ständigen Überzeugungen nicht, dass Du von ihr fallen lernen kannst.
„Wie kann ich wissen, dass es wahr ist, was Du sagst?“ rufst Du verzweifelt.
„Aus Dir selbst“, antwortet er, „weil ich in Dir bin und Du in mir. […]“58
„Du wirst frei sein“, sagt er, „oder du wirst nicht mehr sein.“ 59
Du willst aber deine vertraute Welt nicht verlassen, also verlässt Dich diese Gestalt und
plötzlich beginnt alles im Nebel verdeckt zu sein. Und es beginnen geistähnliche Gestalten,
alles aufzufressen. Alles um Dich herum verschwindet langsam. Sie löschen die Welt, die
Deine Wirklichkeit war. Sie löschen eine Welt, die es niemals gab. Sie werden auch Dich
auslöschen. Sie saugen Dein Blut aus.
In Deinem tiefsten Entsetzen rufst Du nach dem Blutsbruder, der aber nicht mehr da ist.
58
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008. S. 73 59
Ebd. S. 74
46
Bald ist hier nur noch der Abgrund. Alles verschwindet und es wird nichts anderes mehr
geben. Du musst fallen, ohne es jemals gelernt zu haben. Und Du wirst nach dem suchen,
was Dich halten wird und mit Deinem Blutsbruder verwandt ist.
Wenn dann alles verschwunden ist, muss er trotz aller Zweifel fallen, ohne es je gelernt zu
haben.
Interpretation
An der Wand, die Kosmos abbildet ist ein Riss, der einen Riss im subjektiven Kosmos für
die Porzellanfigur bedeutet. Ihr Zimmer war ihre ganze Welt, ihr Weltall. Durch den Riss in
der Wand kommt vom außen ein Angebot der Hilfe aus dem subjektiven Kosmos auszu-
steigen. Es überwiegt die Angst eigene Muster und Überzeugungen überzutreten und damit
verlassen. Es ist ein Angebot neue Perspektiven zu Suchen. Die Person, die helfen will,
kann das innere Ich symbolisieren, das nach dem Erwachen ruft.
Porzellan symbolisiert etwas Zerbrechliches und Unbewegliches, etwas von außen Gepfleg-
tes, was im Inneren leer ist. Um dies zu ändern soll das Figürchen aus dem Schlaf erwachen
und aus dem ruhigen sicheren Zimmer heraustreten.
Alles, was einem früher vertraut war, die Möbel, die Wände, die Gegenstände, beginnt jetzt
die Gestalten von bösen Geistern anzunehmen. Die alte Welt kann nicht mehr bestehen. Sie
hat früher Sicherheit vermittelt, jetzt ist sie zum Feind geworden. „Es ist Deine Welt, die du
selber erzeugt hast: „Aber noch haben sie Angst vor dir, ihrem Erzeuger, so scheint es we-
nigstens.“ 60
Du hast die Chance verpasst, aus ihr auszusteigen. Weil Du an ihr geklammert hast, musst
Du sterben. Es kann nur geistig gemeint sein. Ein mystischer Tod, der den Tod der Logik
und des Egos bedeutet. In Werner Zurfluhs Überlegungen wird „Das Ich nunmehr Zentrum
einer (Ober)Fläche - bis zu dem Moment, wo die große Erschütterung stattfindet und das
Ego dem (wahren) ICH begegnet! Möge der Spalt sich niemals schließen!“61
60
Ebd. S. 74 61
Werner Zurfluh aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
47
7.11. Das Innere eines Gesichts, mit geschlossenen Augen, sonst
nichts
Inhalt
„Dunkelheit, Leer.
Heimkehren.
Heimkehren, wohin?
Ich weiß es nicht mehr.
Wer – ich?
Ich bin krank vor Heimweh.
Erinnere Dich!
Dorthin, woher ich einst gekommen bin. Heim.
Hast Du eine Heimat? Bist du ihr Sohn?
Wer fragt?
Wer antwortet?“62
Jemand kehrt zurück in seine Heimat, findet aber nichts als Leere und Dunkelheit. Er gab
alles auf, um seinen Hunger nach einem Zuhause, zu befriedigen. Es gibt dort nichts. Er
begreift, er muss die Welt erst erschaffen. So gestaltet er eine Landschaft in der Nacht, sein
Haus, eine alte Frau, die strickt, sowie zwei Vermummte hinter einer Brücke, die ihm
Angst vor dem Tod bereiten.
Er beginnt Schuldgefühle zu haben, weil es sein Beruf war, Engel zu töten. Er ist dadurch
ein mächtiger Mann geworden. Er hat während seines Karriereaufstiegs sein Elternhaus
vergessen. Da er das Haus bereits als kleines Kind verlassen hatte, hat er es nun zu klein
erschaffen. Die Tür ist so schmal, dass er nicht reinkommt.
In dem Haus aber sind Ratten. Um diese loszuwerden, helfen ihm seltsame Freunde, ein
Fuchs und ein Wolf. Als der Fuchs aus dem Haus schnellt, tobt er wild herum. Die Ver-
mummten richten ihre Gewehre auf den Fuchs, doch der Niemandssohn stellt sich davor
und protestiert. So senken sie ihre Gewehrläufe wieder. Der Fuchs bringt dann ein totes
Wesen, einen struppigen Balg mit kleinen Menschenhänden.
62
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008. S. 76.
48
Er bringt das Wesen den Vermummten, die sich danach entfernen. Der Niemandssohn fühlt
Erleichterung. Die Geschichte endet mit der Morgendämmerung und dem ersten Engel auf
dem Himmel.
Interpretation
Das unbekannt springende ICH verwandelt sich jetzt in die, in Leere und Dunkelheit zu-
rückkehrende Gestalt des Niemandssohns.
Das Innere eines Gesichts, mit geschlossenen Augen, sonst nichts zeigt einen meditativen
Zustand, in dem man mit geschlossenen Augen sitzt und meditierend versucht, die eigene
Mitte zu finden. Um zur Ruhe zu kommen, muss er erst einige Hindernisse überwinden.
In der Leere wie auch in der Dunkelheit muss alles erst erschaffen werden.
Seine alte Welt musste er verlassen. Er konnte in ihr nicht mehr verbleiben. Er kehrt aus der
weiten, von ihm erschaffenen Welt in etwas, wo nichts mehr ist. Er will in seine alte Hei-
mat zurückkehren. Kindheit ist hier als Symbol von etwas unverdorbenem, noch mit sich
SELBST verbundenem. Diese Heimkehr in die Kindheit ist auch ein Motiv der Surrealis-
ten.63
Das was er tatsächlich suchte, war seine Seele, nicht seine Heimat.
Er war im Leben ein Engeljäger. Er tötete die Engelsboten, die Lichtträger. Deswegen ist
seine unbewusste Sucht, zur Unschuld zurückzukehren, so stark, dass er sein altes Leben
verlassen möchte.
Die Kraft der Imagination funktioniert ähnlich wie in einem Traum: Er denkt sich eine
neue Welt aus den Assoziationen, die gerade in ihm auftauchen. Er hat Angst vor dem Tod.
Er kreiert die Vermummten als Spiegelung seiner Angst. Das kleine struppige Wesen mit
kleinen Händchen könnte das Böse in dem noch kleinen Niemandssohn symbolisieren. Der
Tod des Egos ist so erfolgt und die Vermummten sind zufrieden. Der Niemandssohn darf
weiter leben und muss sich mit seinem Gewissen abfinden.
Nachdem er bemerkt, dass sein Leben nicht zu Ende ist, keimt Hoffnung in ihm auf. Er hat
damit das Gefühl der Hoffnung wieder gefunden, welches er gesucht hat.
Er hat auch seine kindliche Unschuld wieder gefunden. Während sich der Himmel löst,
erscheint das erste schlagende Schwingenpaar. Der Engel, den er getötet hatte, ist aufer-
standen. So ist mit dem Engel auch das reine und engelhafte Wesen in dem Niemandssohn
auferstanden.
63
Kohtes, Michael: Der Rausch in Worten. Marburg, 1987. S. 19.
49
Das Thema der Hoffnung ist auch die Überleitung zur nächsten Geschichte, in der sich die
Hoffnung zum Glauben steigert.
Edgar Ende hat mehrere Gemälde geschaffen, die einen morbiden Schicksaal der Engel
abbilden:
Der Selbstmörderengel , Öl auf Hartfaser, 1947, 45 x 70 cm
Apokalyptisches Interieur, 1953, Öl auf Leinwand, 70 x 90,5 cm
50
7.12. Die Brücke, an der wir schon seit vielen Jahrhunderten
bauen
Inhalt
Ein Volk baut eine Brücke, jedoch nur von einer Seite und sie wird nie fertig gestellt. Die
Menschen glauben, dass es auf der gegenüberliegenden Seite ein anderes Land und ein an-
deres Volk gibt, deren Angehörige ebenfalls eine Brücke zu ihnen hinüber bauen. Es ist
Teil ihrer Religion, daran zu glauben, dass es auf der anderen Seite anderes Land gibt. Wer
nicht daran glaubt, wird als Ketzer behandelt und von dem Ende der Brücke in den Ab-
grund gestürzt. Es gibt sogar eine Heirat zwischen diesen beiden Völkern. Es ist eine fiktive
Hochzeit, wobei sich die Eheleute nie treffen, weil die Brücke nie fertig wird.
Interpretation
Von einer Geschichte, die mit dem Gefühl der Hoffnung endet, wird der Leser nun zu ei-
nem Volk geführt, welches nicht nur hofft, sondern sogar an etwas glaubt, was es nie gese-
hen hat.
An einem völlig irrationalen Glauben wird gezeigt, wie Menschen handeln können, wenn
sie ein Dogma behalten wollen. Es handelt sich um eine Chimäre, die in den Köpfen dieses
Volkes existiert. Niemand kann beweisen, dass der Glaube stimmt, doch alle machen mit,
auch die, die Zweifel haben. Aus Angst heraus, in den Abgrund gestürzt zu werden, sagen
sie nichts. Die Menschen ahnen zwar, dass die Anordnung des gemeinsamen Glaubens an
ein anderes, Brücken bauendes Volk nicht der Wahrheit entspricht. Trotzdem machen sie
weiter mit und sagen nichts. Die Brücke ist so unvollkommen wie der Glaube. Die Un-
wahrheit über die Vollendung der Brücke wird nur durch den Glauben aufrecht erhalten.
Sobald jemand den Glauben in Frage stellt, wird er von den Machthabern getötet. Der Leser
wird so wieder zu den Gefühlen von Angst und Ohnmacht geführt. Es ist erneut die Ohn-
macht, nichts verändern zu können.
Mit einer fiktiven und irrationalen Hochzeit eines Bürgers des einen Landes mit einer Bür-
gerin des vermeintlich anderen Landes endet die Geschichte.
51
So führt diese Geschichte zu einem Hochzeitspaar in der nächsten Erzählung, welches sich
zwar begegnet, doch weder heiraten noch miteinander leben wird.
52
7.13. Es ist ein Zimmer und zugleich eine Wüste
Inhalt
Ein Bräutigam geht durch ein Mittagszimmer, das zugleich eine Wüste ist, von einer Tür
zur anderen Tür seiner Braut. Sie soll ihn auf der anderen Seite erwarten. Der Weg dauert
jedoch ziemlich lange. Er geht das ganze Leben bis er alt wird. Am Anfang seiner Reise, als
er noch jung ist, trifft er seine Braut, die schon sehr alt ist und so erkennt er sie nicht. Das
gleiche passiert ihm, als er ganz alt und verkommen am Ende seines Weges seine noch jun-
ge Braut trifft, die ihn auch nicht erkennt. Auf seinem Weg wird er von einem Beamten
begleitet, dessen Alter während der Reise unverändert bleibt. Dieser behauptet, dass der
anscheinend kürzeste Weg der längste sein soll. Er kann den Bräutigam hiervon jedoch
nicht überzeugen. Dieser möchte so schnell wie möglich bei seiner Braut sein und so nimmt
er den scheinbar kürzesten Weg.
Interpretation
Die vorhergehende Geschichte endet mit einer Hochzeit. In dieser Geschichte geht es ein
Leben lang um eine Hochzeit, die nie stattfindet. Ein unerreichbarer Bräutigam wie auch
eine unerreichbare Braut spielen hier wie in der vorherigen Geschichte die Hauptrollen.
Das ganze Leben hat dieser Mann mit der Suche nach seiner künftigen Frau verbracht und
somit sein Leben verpasst. Gleiches gilt auch für die Frau. Manchmal läuft man etwas hin-
terher und währenddessen läuft das Leben davon, ohne dass man es tatsächlich gelebt hat.
Es ähnelt der Situation einer Frau, die auf der ständigen Suche nach einem Prinzen auf ei-
nem weißen Pferd einsam veraltet, weil sie ihm nie begegnet.
Der suchende Mann lässt sich auch nicht von einem weisen und erfahrenen Beamten beleh-
ren. Dafür bezahlt er einen hohen Preis und verpasst das ganze Leben. Seine jugendliche
Ungeduld, alles möglichst schnell erreichen zu wollen, hat ihm nun das Gegenteil beschert:
es dauerte jahrelang bis er zu der Tür auf der anderen Seite des Zimmers kam.
Der Handlungsort der Wüste manifestiert den Durst des Begehrens des Bräutigams auf der
Suche nach Erfüllung seines Traums. Hitze und Durst sind aufgrund der Nichterfüllung
53
seines Wunsches nicht zu ertragen. Die unerträgliche Hitze leitet über in die nächste Ge-
schichte, in der alles in Feuer und Flammen brennt.
54
7.14. Die Hochzeitsgäste waren tanzende Flammen
Inhalt
Ein Schloss aus Wachs ist voller Flammen, wobei die Flammen die Hochzeitsgäste darstel-
len. Sie tanzen die ganze Nacht und bringen um sich herum alles langsam zum Schmelzen
bis dann alles verschwindet.
Interpretation
Nach mehreren Geschichten mit unerfüllten Ehen wird der Leser nun zu einer Hochzeit
geleitet, die so intensiv ist, dass sie alles verbrennt. Dieses Motiv erinnert an die Bahnhofs-
kathedrale, die ebenfalls aus Wachs war und schnell brannte.
Michael Ende verbindet hier auf paradoxale Weise eine Hochzeit mit Wachs und Flammen.
Mit einer Hochzeit fängt die Ehe an, etwas was dauerhaft sein sollte. Dagegen steht etwas
Kurzfristiges, denn die Flammen mit Wachs bilden zwar ein schönes Licht, jedoch nur vo-
rübergehend. Sobald das Feuer aufhört, tritt Kälte ein. Das passiert gleich in der nächsten
Geschichte, in der ein zugefrorener Himmel zur Szene wird.
55
7.15. Über die weite graue Fläche des Himmels glitt ein Schlitt-
schuhläufer
Inhalt
Die von allen kürzeste Geschichte erzählt von einem Schlittschuhläufer, der nicht auf einem
vereisten See, sondern auf einem zugefrorenen Himmel läuft. Unter ihm befinden sich
Menschen. Diese applaudieren. Dann entdecken sie, dass er mit seinem Schlitten Zeichen in
den Himmel eingeritzt hat. Es sieht wie eine Schrift aus, die aber niemand versteht. Es
könnte vielleicht eine Botschaft sein. Da niemand die Zeichen versteht, vergessen sie alles
bald.
Interpretation
Bei dieser Geschichte wurde Michael Ende durch das Bild Der Schlittschuhläufer inspiriert.
Es ist die einzige Geschichte, in der Michael Ende das Bild beschrieben hat. Er hat aller-
dings noch einen Teil hinzugedichtet.
Der Schlittschuhläufer, Öl auf Leinwand, 1930, 90 x 120 cm
56
Michael Ende geht in seiner Phantasie weiter als die Botschaften seines Vaters in dessen
Bild. Michael Ende sieht in dem Schlittschuhläufer einen Himmelsboten, der der Mensch-
heit etwas zu verkünden hat. Im Leben bekommen die Menschen oft Signale, die eine Be-
deutung haben, ihnen etwas zeigen oder auch vor etwas warnen wollen. Diesen Signalen
sollte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aufgrund menschlicher Unwissenheit, Ignoranz
oder auch Ungebildetheit werden Botschaften oftmals nicht verstanden. Aus Unverständnis
bleibt dann leider auch die Hoffnung aus und das Leben geht ohne Hilfe weiter.
Die unentschlüsselten Buchstaben am Himmelsfirmament verändern sich in der nächsten
Geschichte in ein männliches, nur aus Buchstaben bestehendes Wesen.
57
7.16. Dieser Herr besteht nur aus Buchstaben
Inhalt
Ein aus Buchstaben bestehender Mann besucht mit seiner Freundin, die wiederum aus
Fleisch und Bein ist, einen Jahrmarkt. Sie fordert von ihm, dass er an einem merkwürdigen
Schießstand für sie schießt, ansonsten würde sie ihn verlassen. An dem Stand hat man auf
sein Spiegelbild zu schießen, was der Mann aus Buchstaben ablehnt.
An dem Stand steht geschrieben:
„Prüfe Dich selbst!
1. Jeder Schuss ist garantiert ein Treffer.
2. Für jeden Treffer gibt es einen Gratisschuss.
3. Der erste Schuss ist gratis.“64
Der Mann schießt nicht. Deshalb verlässt ihn die Frau und zieht mit einem Metzgermeister
davon. In Folge dessen zerfällt der Nichtschütze in einzelne Buchstaben. Die Menschen
trampeln achtlos über die Buchstaben, so wie sie auf der Straße liegen.
Interpretation
Der Mann aus Buchstaben stellt das Bild eines intellektuellen Mannes dar, der sich offen-
sichtlich viele Gedanken macht und auch gut überlegt, was er tut. Eine solch abwägende
Persönlichkeit wird bei leichtsinnigen Frauen oftmals nicht hoch geschätzt. Sobald ein äu-
ßerlich attraktiver, muskulöser Mann auftaucht, bevorzugt sie diesen.
Hier werden Dummheit und Kleinsinn einer Frau gezeigt, die alles wegen ihrer kleinsin-
nigen Wünsche wegwirft. Sie handelt egoistisch, launisch und ohne Mitgefühl entsprechend
ihrer momentanen Befindlichkeit.
Der Mann hingegen hat keinen eigenen, unabhängigen Lebenswillen, der ihn am Leben
halten würde. Deswegen zerfällt er, als die Frau ihn verlässt.
Der oberflächlichen Frau wird damit die Empfindlichkeit eines Träumers oder eines Litera-
ten gegenüber gestellt, der sich viel mit Wörtern und Gedanken beschäftigt. Da niemand
64
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008. S.103.
58
seine Gedanken und sein Wissen zu schätzen weiß, hat er es schwer, in der realen Welt zu
überleben.
Dieses zeigt sich am Ende der Geschichte, als niemand es wahrnimmt, dass er zerfällt und
Menschen einfach über ihn laufen, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Es ist eine Kri-
tik an der Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit von Menschen.
Der Metzger, mit dem die leichtsinnige Frau wegläuft, versetzt dem Mann aus den Buch-
staben den Todesstoß. In der nächsten Geschichte tauchen weitere Metzger auf, deren Auf-
gabe auch das Töten ist.
59
7.17. Eigentlich ging es um die Schafe
Inhalt
Aufgrund eines Befehles müssen alle Schafe abgegeben werden. Einige werden geschlach-
tet. Was mit den anderen geschieht, weiß niemand. Ein Mann und seine Frau verstecken
ihre Schafe in einer Halle. Die Schafe werden in den Verschlägen der Halle versteckt. Wer
seine Schafe nicht abgeben will oder sein Wissen, wo sich die Schafe befinden, nicht of-
fenbart, wird selbst zum Opfer. Eines Tages erscheinen bei dem Ehepaar die Metzger und
gehen in die Halle. Sie tragen riesige Stücke Fleisch, was aber kein Schaffleisch ist. Es
sieht aus wie Fleisch von einem Mammuten. Die Metzger bemerken die Schafe nicht. Sie
marschieren zu einer Tür, die aus der Halle mit einer Treppe nach unten führt, aber nie-
mand weiß wohin. Sie singen dabei laut:
„Hol´ das Opfer! Trag das Opfer!
Wer kein Opfer bringt, wird Opfer…“65
Die Metzger kehren aber nie zurück. Als der Mann dann seine Frau sucht, nachdem sie sich
zuvor kurz getrennt hatten, findet er auch eine Frau, die wie ihre Zwillingsschwester aus-
sieht. Es zeigt sich, dass die beiden Frauen sich kennen. Er ist deswegen völlig verwirrt. Er
traut seinen Augen nicht, als er sie beide so sieht und verwandelt sich in ein Schaf. Es endet
damit, dass die Metzger zu ihm marschieren. Was dann tatsächlich geschieht, wird nicht
geschildert.
Interpretation
Die Metzger sind in dieser Geschichte die brutalen Schlachter der Schafe.
Das Schaf ist ein Symbol für die Schüler von Jesus Christus. Es ist ein Symbol der Un-
schuld, gilt aber auch als Symbol für Mittelmäßigkeit.
Die ganze Schafschlachtung erinnert an die KZ Thematik. Zugleich ähnelt sie den Prakti-
ken moderner Agrarwirtschaft, die solche „KZs“ für Tiere betreibt und in großem Stile Tie-
65
Ebd. S.107.
60
re tötet, um Fleisch zu produzieren. Es wird die Brutalität menschlichen Handelns und
menschlicher Systeme gezeigt.
Die Erzählung erinnert an die Verfolgung von Gläubigen/Christen (Schafen). So wird der
Glaube mit den Gläubigen geschlachtet und alle, die mit ihnen sympathisieren, werden
auch getötet.
Der Mann verwandelt sich am Ende in ein Schaf und wird auch getötet.
Ein ähnliches Motiv lässt sich nachfolgendem Gemälde von Edgar Ende entnehmen: Der
Tod des Schäfers. Das Hemd des gestorbenen Schäfers ist rot wie Blut und die zwei glei-
chen Gestalten erinnern an die Zwillingsschwestern.
Der Tod des Schäfers, 1951, Öl auf Leinwand, 70 x 90 cm
61
7.18. Mann und Frau wollten eine Ausstellung besuchen
Inhalt
Ein Mann und eine Frau wollen eine Ausstellung besuchen. Es ist nicht leicht in die Aus-
stellung zu kommen. Die Eintrittskarten werden von merkwürdigen, dicken Personen ver-
kauft. Die Verkäufer sind in eckigen Kiosken einbetoniert und gehören zu einer Familie.
An dem Kiosk eines Kindes hängt folgender Zettel:
„Sag nicht, was Du willst!
Frag mich, was mir fehlt?“66
Als der Mann und die Frau das Kind fragen, erfahren sie, dass dieses auch gerne in die
Ausstellung gehen würde. Es erzählt, dass es gut sei, dass die Familie nicht miteinander
spreche, weil sie sonst sowieso nur streiten würden. Es gelingt ihnen, Eintrittskarten für die
Ausstellung zu bekommen.
In der Ausstellung erwarten sie dann ungewöhnliche Exponate aller Art. Die Ausstellung
heißt: „Gegenstände“. Es sind verschiedene Gegenstände zu sehen, wie z.B. ein Schaf, ein
Staubwedel, eine brennende Fackel oder eine Bombe mit Zeitzünder.
In der Ausstellung treffen sie auf einen Kollegen des Mannes. Sie erfahren von ihm, dass es
sich um eine Kunstausstellung handelt. Der Kollege lässt sich kritisierend über diese Art
von Kunst aus. Dann treffen sie auf einen winzig kleinen Mann, der Kunstkritiker ist. Die-
ser schwärmt, wie genial doch die Kunstwerke seien.
Als dann in der Ausstellungshalle eine Bombe explodiert, füllen sich alle Räume mit Brand
und Asche. Feuerwehr und Ärzte erscheinen. Was genau passierte, erfahren sie dann von
dem kleinen Mädchen im Kiosk draußen. Das Kind weiß offensichtlich alles, auch was
drinnen passierte. Es erklärt, dass es sich um ein misslungenes Attentat handelt. Der Mann
und die Frau begreifen, dass es keinen Sinn haben würde, dem Mädchen etwas über die
Ausstellung zu erzählen, da sie ohnehin schon alles weiß.
66
Ebd. S.112.
62
Interpretation
In der vorherigen Geschichte waren die Hauptfiguren ein Mann und eine Frau mit Schafen.
In dieser Erzählung sehen der Mann und die Frau als ersten „Gegenstand“ der Ausstellung
ein Schaf.
In dieser Geschichte geht es vor allem um Kritik an der modernen Kunst. Die groteske
Ausstellung besteht aus einfachen Alltagsgegenständen. Diese sind in keiner Weise künstle-
risch bearbeitet. Der moderne Kunstkritiker sieht jedoch in dieser Ausstellung etwas Be-
sonderes und ist völlig begeistert. Die Körpergröße des Kunstkritikers ist sehr klein. Durch
seine positive Kritik erfährt er entgegen seiner Winzigkeit eine enorme Bestätigung.
In der Kunsthalle sind Gegenstände ausgestellt, die auch in anderen Geschichten vorkom-
men. Diese Ausstellung könnte als eine Parade „der Helden“ aus dem Spiegel im Spiegel
gesehen werden.
Im Gegensatz zu dieser Ausstellung mit fragwürdigem Kunstwert geht es in der nächsten
Geschichte um erhabene göttliche Kunst. Einer der Ärzte aus dieser Geschichte geleitet uns
in die nächste.
63
7.19. Dem jungen Arzt war gestattet worden
Inhalt
Ein junger Arzt darf bei einer Patientin ruhig in der Ecke sitzen und sie beobachten. Es ist
ihm aber nicht gestattet, mit ihr zu sprechen. Trotzdem bricht er die Regel und erfährt, dass
diese Frau eine Störung mit der Schwerkraft der Erde hat. Nur ständiges Essen schützt sie
vor dem Wegfliegen. Sie sitzt in einem Sessel, in den ein abscheuliches Insekt eingesperrt
ist. Dem Studenten tut diese Kreatur leid. Er zerstört den Mechanismus in dem Stuhl, damit
das Geschöpf raus kann. Es saß in dem Teil des Stuhles, in dem sich die Sprungfeder be-
fand. Die Frau fällt immer nach unten, sobald sie etwas gegessen hat, aber bald darauf fliegt
sie aufgrund ihrer Schwerelosigkeit wieder nach oben. Dadurch ist das Tier den ständigen
Stößen des Stuhles ausgesetzt.
Das freigelassene Tier flieht rasch aus dem Zimmer. Der Arzt verfolgt das Tier bis hin zu
einem Flur in einem arm aussehenden Mietshaus, wo es stehen bleibt. Es tauchen zwei ähn-
lich große Insekten auf und nach einer Weile erklingt eine leise Musik. Der Student sieht,
dass die drei Käfer miteinander musizieren. Die Musik klingt wie aus himmlischen Sphären
und treibt ihm Tränen in die Augen.
Er hört der Musik bis zur Morgendämmerung zu, als die Tiere aufhören zu musizieren. Als
er dann aus dem Haus tritt, sitzen mehrere Leute vor ihm auf Bänken. Sie sehen wie Bauern
aus, die offensichtlich auch die ganze Nacht der Musik gelauscht haben und in sich versun-
ken sind. Sie haben an ihrer Kleidung verschiedene Buchstaben. Nach seiner Meinung sind
es kyrillische Buchstaben. Als er erfahren möchte, was diese bedeuten, versteht ihn nie-
mand. Am Ende der Reihe befindet sich ein Weib, die ihre Bluse geöffnet hat. Auf ihrer
Haut ist eine Ikone. Sie zeigt ihm einen Sack gefüllt mit Eis, indem sich ein gerupfter Hahn
befindet, der kräht. Es scheint so, als ob der Hahn durch die Musik zum Leben erweckt
worden ist.
Interpretation
Die Ärzte, die nach der Explosion in der vorherigen Geschichte erschienen, tauchen jetzt in
dem Krankenhaus auf, in dem sich eine kranke Frau befindet. Die Frau leidet unter Schwe-
relosigkeit und würde jederzeit wegfliegen, wenn sie nicht an den Stuhl angebunden wäre.
64
Vielleicht ist es aber gar nicht schlecht wegzufliegen? Möglicherweise ist dies eine Paralle-
le zum Geist, der sich gerne in höhere Sphären aufschwingen möchte? Wir Menschen be-
trachten das als eine Anomalie. Vor allem die Wissenschaft vertritt die Prämisse, dass kein
Geist existiert.
Das Insekt ist in einen Krankenstuhl eingesperrt. Solch einem Insekt würde man nichts Be-
sonderes zutrauen, zumal es abschreckend und winzig klein aussieht. Doch oftmals erkennt
man Qualitäten nicht auf den ersten Blick. Dadurch werden viele unterschätzt. So wie das
Insekt, welches die göttliche Gabe hat, himmlische Musik zu erzeugen. Gegenüber der vor-
herigen Ausstellung, in der über den Kunstwert debattiert wurde, singt jetzt ein an die
Schöpferquelle angebundenes Trio. Deren Musik bringt die Menschen zur inneren Ruhe,
Einkehr und Meditation. Die Musik wirkt sogar lebenserweckend. Den toten Hahn in
dem Eis hat sie zum Leben erweckt.
In dieser Geschichte kehrt erstmals Ruhe und innerer Frieden ein.
Zudem bedient sich der Autor in dieser Geschichte der kyrillischen Schrift, die sich in
Russland und vielen slawischen Ländern verbreitet hat. Dadurch möchte der Autor viel-
leicht die Einfachheit des Lebens in diesen Ländern widerspiegeln und so mögliches Glück
aufzeigen. Den kyrillischen Schriftzeichen auf der Brust der Frau folgt in der nächsten Ge-
schichte eine in kyrillischer Sprache geschriebene Zeitung.
65
7.20. Nach dem Bureauschluß
Inhalt
Ein Mann mit Fischaugen fährt nach der Arbeit mit der Straßenbahn. Er liest Zeitungen,
wobei er Druckfehler als auch Texte in einer unbekannten Schrift entdeckt. Höchstwahr-
scheinlich ist es Kyrillisch. Langsam leert sich die Bahn und er bleibt allein zurück. Bei
seiner Fahrt ist diesmal alles anders als sonst. Er fährt durch ein Dorf, in dem die Kinder in
der Kälte spielen und, in dem es ein Denkmal mit einem Hirschen gibt, dem anstelle eines
Geweihs ein lebendiges Astwerk herausragt. Es wird immer wärmer. Er denkt nun immer
öfter, in der falschen Bahn zu sitzen. Er trifft auf seiner Reise ein weißes Pferd, das neben
der Straßenbahn läuft. Er jagt das Tier fort, damit es sich nicht verletzt. Er fährt an einer
verbrannten Steppe vorbei, wo verhungerte Sträflinge auf hohen Stelzen zu sehen sind. Er
fährt an einer Fabrikruine vorbei, an der ein alter riesiger Greis steht. Dieser hält einen
Kürbis und versucht ihm etwas zu deuten. Das versteht er aber nicht. In Kürze wechselt die
Landschaft und er sieht eine Wüste. Dort bemerkt er einen Astronauten, der Vieh mit sich
schleppt. Er fährt durch eine Wüste aus Sand und Felsen, die wie Figuren und Maschinen
ausschauen.
Die Sonne bewegt sich die ganze Zeit in die entgegengesetzte Richtung und auch die Uhr
läuft gegen den Uhrzeigersinn, bis sie völlig aufhört zu gehen.
Er gerät langsam in Panik, weil er nicht dorthin gelangt, wohin er fahren wollte. Er zieht die
Notbremse und ruft den Lokführer. Aber es bringt nichts.
Dann entscheidet er sich bewusst, alles was geschieht anzunehmen, auch weil ihm nichts
anderes übrig bleibt. Er nähert sich, während die Sonne sich schon fast am östlichen Hori-
zont befindet, an etwas, was er lange nicht erkennen kann. Dann ist ihm klar, dass die Bahn
ins Meer hinein fährt.
Interpretation
Michael Endes Kritik des Technokratismus und die "brave new world" wird in dieser
Geschichte dargestellt:
„Der naturwissenschaftliche, technologische, industrielle Fortschritt ist da und wird weitergehen -
aber wenn kein Gegengewicht auf der "anderen" Seite diese Entwicklungen ausbalanciert, dann wer-
66
den wir immer tiefer in eine buchstäblich mörderische Banalität hineinschlittern, in eine "brave new
world" der totalen Wesenlosigkeit und der totalen Bequemlichkeit - oder es kommt eben zu all den
oft genug besprochenen Katastrophen. Beides wäre gleichermaßen schlimm.67
Ein Mann, der einen Bürojob hat, muss gegen seinen Willen auf eine Reise gehen. Es ist ein
Mensch, der in seinem Leben höchstwahrscheinlich alles detailliert plant, dessen Leben
eher unauffällig und monoton verläuft. So bringt es ihn aus der Ruhe und auch aus dem
Gleichgewicht, dass er auf einmal in eine Situation gerät, gegen die er nichts unternehmen
kann. Erneut findet sich ein Darsteller Endes in der Position eines Opfers wieder.
Es ist auch erneut eine Geschichte mit einer ausweglosen Situation. Der Mann fährt ir-
gendwohin, ohne zu wissen, wohin. Anstatt nach Haus, fährt der Mann mit den Fischaugen
in das Meer hinein. Vielleicht hat er längst vergessen, wo sein wahres Zuhause ist? Da er
Fischaugen hat, kommt er vielleicht ursprünglich aus dem Meer. Vielleicht geht es hier
deswegen um eine Reise zurück in seine Heimat: das Meer. Sonne und Uhr bewegen sich
rückwärts. Dies können Bilder der Rückkehr zur Kindheit und in den Mutterleib sein. Es
wäre dann ein sich wiederholendes Motiv in diesem Buch, welches auch in Das Feuer wur-
de von neuem eröffnet vorkam. Dort wurde der Imperator auch zum Kind und in den Mut-
terleib gelegt.
Der Mann mit den Fischaugen begegnet in dieser Geschichte mehreren verschiedenen
Landschaften und Gestalten, die sich auch an anderen Stellen im Buch wiederfinden lassen,
u.a. Vater und Sohn, ein Pferd, ein Greis, eine Wüste oder auch ein Astronaut.
67
Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
67
Die Sträflinge auf hohen Stelzen erinnern an Dalis Bilder, auf denen Elefanten und Giraf-
fen sehr lange Beine haben:
Die Elefanten, 1948
Das Motiv eines im Meer fahrenden Zuges ist in diesem Gemälde Edgar Endes deutlich
erkennbar:
Nereidus, 1954, Öl auf Leinwand, 78,5 x 62 cm
68
Mehrmals taucht in dieser Erzählung das Bild einer Industrielandschaft auf. Eine solche
Industrielandschaft ist auch in diesem Gemälde Edgar Endes zu sehen:
In den Kugeln, Öl auf Leinwand, 1932, 70,5 x 91 cm
Das Motiv eines weißen Pferdes zeichnete Edgar Ende des Öfteren, z. B. hier:
Das fliegende Schiff, Öl auf Leinwand, 1933, 69 x 89 cm
Dieses weiße Pferd und der Greis tauchen auch in der nächsten Geschichte auf.
69
7.21. Der Bordellpalast auf dem Berge erstrahlte in dieser Nacht
Inhalt
Eine Hurenkönigin erwartet in ihrem Hurenpalast einen alten Bettler, der auf einem weißen
Pferd zu ihr kommt. Der Palast ist mit Metall verziert. Die Königin selbst hat eine eiserne
Maske auf ihrem Gesicht, ansonsten ist sie nackt. Sie haben sich vor vielen Jahren geliebt.
Die Hurenkönigin hat die Familie des Bettlers getötet und sein Bein hat er ihretwegen auch
verloren. Er dagegen hat ihr Reich erschaffen, weil er ihr einen Eid geschworen hatte, dem
er immer treu geblieben ist.
Der Bettler bettelte ein Tag zuvor auf der Straße und bekam viele Gaben. Die Königin will
davon etwas haben, weil es etwas wäre, was umsonst gegeben wurde. Sie äußert, sie könne
sich mit einer geschenkten Sache wärmen. Er aber hat alles schon an die Armen verschenkt.
Das verachtet sie. Es zeigt sich, dass er noch zwei übriggebliebene Gegenstände hat. Als
erstes eine Bettlerschalle aus Holz, auf der Demut und Geduld geschrieben steht. Diese will
sie nicht haben, weil sie ihm gehöre, sagt sie. Sie will wissen, was das andere ist. Der zwei-
te Gegenstand ist eine Kette mit einer schwarzen Perle als Anhänger und in der Perle ist
etwas wie eine schwarze Flüssigkeit. Diesen Gegenstand nimmt die Königin dem Bettler
aus der Hand und sie ist wie im Trance. Es ist eine Kette, die sie gut kennt. Früher, als sie
noch jung war, bekam sie diese Kette vom Teufel selbst. Sie wollte das Geschenk loswer-
den und daher hatte sie die Kette in einen Vulkan geworfen. Jetzt kehrt sie wieder zu ihr
zurück.
Der Bettler will wissen, was es mit der Kette auf sich hat und zu seinem Erschrecken er-
fährt er, dass diese die Fruchtbarkeit auf Erden auslöschen kann. Jeder Same und jede Ge-
bärmutter würden ihre Reproduktionsfunktion verlieren. Und damit würden die Menschen
aussterben. Als der alte Bettler fragt, ob sie es tun würde, bejaht sie dies für den Zeitpunkt,
wenn denn die richtige Zeit komme.
Sie spricht auch über ihren Traum, den sie letzte Nacht gehabt hatte.
„[…] ich träumte letzte Nacht von ihm. Ja ich träumte, dass Gott und der Teufel miteinander um
mich kämpften. Es war ein sehenswertes Schauspiel, glaub mir. Sie kämpften die ganze Nacht, und
ich sah von meiner Loge aus zu. Es interessierte mich wirklich, wer siegen würde. Wer, glaubst du,
behielt die Oberhand, als endlich der Morgen anbrach? Du schweigst? Du wirst doch noch weise,
mein armer Freund! Ich will es dir sagen. Gott natürlich. […] Nur dass ich da nicht mehr wusste, wer
70
von den beiden zu Anfang Gott gewesen war. Einer war nur das Spiegelbild des anderen. Aber ich
habe vergessen wer.“68
So geht der Bettler weg und die Königin lässt die Lichter in ihrem Palast löschen. Für im-
mer.
Interpretation
Das künstliche Gesicht der Hurenkönigin schützt sie vor dem Zeigen ihrer Gefühle, die sie
verraten und eventuelle Schwächen offenbaren könnten. Ihr Körper ist nackt, doch ihr Ge-
sicht ist verborgen. Normalerweise ist es bei Menschen genau umgekehrt. Sie verkörpert
einen Imperator – einen gefühlskalten Menschen ohne Herz und Schuldgefühl -, der einen
Pakt mit dem Teufel unterzeichnet hat.
Ihr gegenüber steht ein religiöser Mensch, der sich an seine moralischen Vorstellungen hält
und niemandem etwas Schlechtes zufügen könnte. Er hat seine Versprechungen erfüllt. Sie
hingegen hat seine Familie töten lassen und seinen Beinverlust zu verantworten. So stehen
sich die zwei gegenüber, sie als Symbol von Brutalität und Macht und er als Symbol von
Demut und Bescheidenheit. Die Hurenkönigin missbrauchte ihre Macht und fügte dem
Menschen, den sie früher geliebt hat, viel Unrecht zu. Der Bettler hingegen hat sein Wort
gehalten, ihr Imperium ausgebaut und ihr nie etwas Schlechtes angetan, auch nicht, um sich
zu rächen.
In dem Traum der Königin stehen sich der Teufel und Gott in einem Kampf gegenüber. Sie
kämpfen um die Hurenkönigin. Die Hurenkönigin weiß nicht mehr, wer von beiden ihre
Seele gewonnen hat, weil der eine sich in dem anderen widerspiegelt: der Teufel spiegelt
sich in Gott und umgekehrt. Michael Ende bedeutet hier, dass der Teufel auch nur aus Gott
entsteht. Der Teufel kann ohne Gott nicht existieren, weil er nur dessen Spiegelbild ist.
Der Teufel tritt in der Gestalt seiner Dienerin auf, der Hurenkönigin, und handelt mit Hilfe
der Perle der Fruchtlosigkeit. Ist sie vielleicht ein Symbol für die selbstvernichtende Ten-
denz des Menschen? Man kann darin eine Anspielung auf Atomwaffen, biologische und
chemische Waffen sehen.
Die Bordellthematik ist das verbindende Element zwischen dieser und der nächsten Ge-
schichte.
68
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. S. 146.
71
Edgar Ende malte im Jahr 1946, kurz nach Kriegsende, ein Gemälde mit einem dunklen
und einem weißen Gesicht. Die Gesichter sind spiegelbildlich gleich, doch ein Gesicht ist
hell und das andere ist dunkel. Dieser Gegensatz lässt sich auch in Michael Endes Gott-
Teufel-Symbolik in dieser Geschichte wiederfinden:
Die zwei Köpfe , (Das helle und das dunkle Gesicht - die zwei Prinzipien)
Öl auf Hartfaser, 1946, 60 x 75 cm
72
7.22. Der Weltreisende beschloss, seine Wanderung
Inhalt
Ein Weltreisender, der bereits das Merkwürdigste der Welt gesehen hat, beschließt, seine
Reise zu beenden. Ihm kommt es so vor, dass er auf seiner Reise die Zeichen zum Begrei-
fen seines Daseins wie auch seinen vorbestimmten Platz im Universum nicht gefunden hat.
Er befindet sich in einer Straße, in der er ein Bordellhaus sieht. In diesem Moment tritt ein
junges asiatisches Mädchen mit einem kleinen Wagen zu ihm, verbeugt sich sehr höflich
und möchte ihm ein Haus zeigen. Erst ist er verlegen, aber er nimmt diese Einladung aus
Mitleid zu dem Mädchen an, auch um es nicht vor den Kopf zu stoßen.
Das Haus hat eine lange Halle, in der die Wände, der Boden und die Decken mit verschie-
den gefärbten und großen polierten Steinstücken bedeckt sind. Sie zeigen ungewöhnliche
Bilder und Gesichter. Erst sieht der Mann dies nicht. Er ist noch mit der vergangenen Situa-
tion und den enttäuschenden Ergebnissen seiner Reisen beschäftigt.
In den nächsten Räumen beginnt er es wahrzunehmen. Die Wände beginnen zu ihm zu
sprechen. Er sieht dort Welten, Gegenstände, Natur und sich selbst. Alles, was er erblickt,
verwandelt sich so langsam entsprechend seiner Phantasie. Er schafft eine neue Welt für
sich. Er wird zum Schöpfer und ist zugleich auch das Geschöpf. Er gibt seine vorher ge-
dachte Wirklichkeit ab und begreift, sich jetzt der wahren Wirklichkeit zu nähern.
Als er vor einer Wand steht, die dem Lapislazuli ähnlich ist, sieht er ganze Welten, Land-
schaften und er hört die Musik des Wassers. Das Mädchen erklärt ihm, es sollen die Keime
seiner Zukunft sein. Die Musik kann niemand außer den Beiden hören. Sie kann es hören,
weil sie „Niemand“ ist. Der Mann versteht es nicht und geht weiter.
Dann kommt er zu einer Wand, an der es vier runde, hellgelbe Scheiben gibt. Nach und
nach kommt er bei jeder Scheibe zu einer Erkenntnis. Er begreift, dass er sich während die-
ses Betrachtens in seinem Inneren verwandelt hat und jetzt ein anderer Mensch ist. Sein
Blick hat sich verändert. Er kann von nun an alles viel deutlicher sehen. Er ist geruhsamer
und ausgeglichener. Demütig folgt er dem Mädchen, das ihm noch andere Räume zeigen
will, die die vorherigen Zimmer sogar noch übertreffen sollen.
73
Interpretation
Das Bordellhaus befindet sich in der Straße, wo das kleine Mädchen den Mann angespro-
chen hat. Sie hat ihn damit wahrscheinlich vor der Falle des Bordells gerettet. Dies gelang
dem kleinen Jungen in Hand in Hand gehen die zwei eine Straße hinunter leider nicht. Er
schaffte es nicht, den Astronaut vor der Trösterin zu retten.
Der Drang, den Sinn des eigenen Daseins zu entschlüsseln, ist das zentrale Thema dieser
Geschichte. Der Mann suchte den Sinn seines Lebens immer im Außen, in der Welt drau-
ßen, aber bislang nicht in seinem Inneren. Sein Inneres wird ihm dann von dem kleinen
asiatischen Mädchen gezeigt. Sie lehrt ihn, sein eigenes Wesen zu sehen, indem sie ihn in
ihre magische Welt der Leere eintreten lässt. In eine Welt des Nichts. Sie selbst nennt sich
Niemand. Erst dadurch konnte der Mann sehen, was er in sich trägt.
Der Ursprung des Mädchens in Asien ist eine Anspielung an den Zen-Buddhismus. Sie tritt
auf wie ein Zen-Meister, der seinem Schüler Leere und Stille beibringen möchte, was die
zentralen Lehren dieser Philosophie sind.
Bei den vier runden hellgelben Scheiben wacht der Mann aus seinem seelischen Schlaf auf.
Drei von den Scheiben zeigen Motive, die mit dem Element des Wassers verbunden sind.
Das Wasserelement steht symbolisch für Gefühle, Emotionen und Empfinden.
Das Mädchen unterlässt es, bei diesen Scheiben etwas zu erklären. Sie lehrt, zu sein und zu
betrachten. Das Mädchen und der Mann sind beide still. Wenn Stille im Inneren ist, dann
kommt „das Gefühl einer geradezu kosmischen Einsamkeit, das jeder einzelne heute erlebt.
Jeder versucht sich jedem zu erklären, und je mehr man erklärt, desto weniger versteht man
einander.“69
Die Geschichte spielt in einer Hafenstadt und auf den Steinen an den Wänden finden sich
Bildermotive mit dem Element des Wassers. Das Wasserelement ist die Verbindung zu der
nächsten Geschichte.
69
Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
74
7.23. An diesem Abend konnte der alte Seefahrer
Inhalt
Ein Seefahrer sitzt in dem sehr hohen Mastkorb eines Schiffes. Er will nach unten zu dem
Kapitän klettern, da der Wind ziemlich stark geworden ist. Er will nie wieder nach oben
zurückkehren. Er war so lange in dem Korb, dass er sich nicht mehr erinnern kann, wann er
nach oben geklettert ist. Auf dem Weg nach unten trifft er einen Seiltänzer mit einer Balan-
cierstange. An den beiden Enden der Stange hängt jeweils ein Korb. In jedem Korb befin-
det sich ein mächtiger Vogels- oder Engelsfittich. Der Seiltänzer tut kund, er sei aus dem
Himmel gefallen und suche nun sein Gleichgewicht.
Sie beginnen zu streiten, weil sich ihre Wege kreuzen und sie so nicht weiter gehen können.
Keiner will nachgeben. Sie kämpfen und am Ende des Kampfes hält der Seefahrer die Ba-
lancierstange in seiner Hand und der Seiltänzer klettert mit dem Fernrohr des Seefahrers
nach oben.
Interpretation
Der Autor thematisiert mit dieser Erzählung die Sinnlosigkeit von Streitigkeiten. Es zeigt
sich, dass den Streitenden im Endeffekt sogar egal war, wohin sie eigentlich wollten. Nach
dem Streit nimmt dann der eine den Weg des anderen und umgekehrt und gehen weiter.
Das zeigt, dass sich viele von ihrem Weg oder von ihrem eigentlichen Ziel abbringen las-
sen.
Der Seiltänzer suchte seine Balance und den Weg in den Himmel. Er sieht aus wie ein ge-
fallener Engel mit allen seinen Fittichen. Es ist wieder eine ungewöhnlich negative Rolle
des Engels. Es ist nicht der hoffnungsvolle Engel, der göttliche Bote, der alle Fähigkeiten
hat, die die Fähigkeiten eines Menschen überschreiten. Sondern es ist ein Engel, der seinen
Weg zum Himmel verloren hat und diesen nun sucht.
Das Motiv des Seiltänzers tritt auch in der nächsten Geschichte in der Gestalt eines Künst-
lers auf.
75
Edgar Ende hat oft ausschließlich Engels- oder Schwanfittiche gemalt:
Der geflügelte Berg, (Die Hymne), Öl auf Leinwand, 1947, 70 x 90 cm
Linie unendlich, 1951, Öl auf Leinwand, 89,5 x 70 cm
76
7.24. Unter einem schwarzen Himmel liegt ein unbewohnbares
Land
Inhalt
Inmitten der Ruine einer Stadt befindet sich ein Kind auf einem Jahrmarkt. Dort findet ein
besonderes Theater statt. Das Kind wird aufgefordert an diesem außergewöhnlichen Thea-
terstück teilzunehmen. Es soll mit seiner Vorstellungskraft die Verkörperung einer Person
bewirken und sich hierzu einen Seiltänzer vorstellen. Anstelle des Seiltänzers verkörpert
sich dann ein Pagad, ein Magier und dieser nennt sich Ende. Das Kind hat niemanden und
auch kein Zuhause. Deswegen beschlossen sie beide miteinander eine bessere Welt zu fin-
den oder eine solche gemeinsam zu erschaffen. Der Magier gibt dem Kind den Namen Mi-
chael und die Geschichte endet mit dem Bild: „Sie halten sich Hand in Hand, und man weiß
nicht genau. Wer führt wen?“70
Interpretation
Diese Geschichte ist eine Anspielung an die Person des Autors selbst. Er möchte eine neue
bessere Welt erschaffen so wie die beiden Gestalten in seiner Erzählung. Das Innere des
Autors wird durch seinen Namen wörtlich in die Geschichte implantiert. Der Magier heißt
Ende und das Kind heißt Michael. Dieses Duo vereint sich in der Person des Autors. Ein
weiser, durch das Leben erfahrener Magier, Schöpfer und Künstler verbindet sich mit der
Seele eines kleinen unverdorbenen Kindes, das rein, voller Hoffnung und Glaube ist.
Das Theater wird in der Geschichte ausführlicher beschrieben. Es ist darin zu sehen, wie
Michael Ende sein eigenes Schaffen empfindet. Er vergleicht das Theater des Magiers mit
einem Dreimaster:
„Im Vergleich zur brutalen und strumpfsinnigen Zielstrebigkeit eines Dampfschiffs ist ein
Dreimaster schön und sensibel, wenn auch natürlich etwas antiquiert wie alles Noble.“71
70
Ebd. S. 166. 71
Ebd. S. 162.
77
Das Dampfschiff soll eine Kunst darstellen, die aus dem Streben entsteht, auch wenn viel-
leicht kein oder nur wenig Talent vorhanden ist. Der Dreimaster symbolisiert einen Künst-
ler, der höchstwahrscheinlich in seiner eigenen Welt lebt. Dessen Welt ist nicht so fort-
schrittlich, so wenig wie es ein Dampfschiff ist. Dafür ist es eine Welt, in der Feinfühligkeit
und Ästhetik zu Hause sind.
Weiter äußert sich Michael Ende über seine Art des Schreibens durch die Wörter des Ma-
giers. Der Magier sagt, dass das, was im Theater gezeigt wird,
„wird Sie weder klüger noch tugendhafter machen, denn unser Theater ist weder Schule noch Kirche.
Das Unglück der Welt wird durch unsere Darbietung nicht vermindert – allerdings auch nicht ver-
mehrt, das ist immerhin schon viel! Wir haben keinerlei Absichten, nicht einmal die, Sie zu betrügen.
Wir argumentieren nicht. Wir wollen nichts beweisen, nichts anklagen, nichts aufzeigen. Ja wir wol-
len Sie nicht einmal von der Wirklichkeit unserer Vorstellung überzeugen, falls Sie es vorziehen, sie
für Phantasie zu halten.72
Die Leser – Autor - Beziehung
Die Verkörperung des Magiers mit Hilfe eines kindlichen Zuschauers zeigt die Unmöglich-
keit der Existenz des Autors ohne den Leser. Sonst wäre jedes Buch, das er schreibt ohne
den Leser „nur zweidimensional und ständig in Gefahr, in ein Häuflein Buchstaben zu zer-
fallen. „73
Er nutzt die Vorstellungskraft seiner Leser oder auch Zuschauer. Ohne sie könnte keines
seiner Werke tatsächlich existieren. Daher sollte das Kind seine Vorstellungskraft nutzen,
um einen Pagad, einen Magier zum Leben zu erwecken.
Es wird ein Kind als Retter ausgewählt.
Möglicherweise ist hierin Endes tiefe Überzeugung zu sehen, dass nur die einem Kind in-
newohnende Imaginationskraft uns von einem ausschließlichen Leben im Verstand befreien
kann. Allein mit seiner Vorstellungskraft ist das Kind in der Lage, neue Welten zu schaffen.
Ohne Träume und Imagination wäre die Welt im Verstand und Automatismus verloren.
72
Ebd. S. 161 73
Ebd. S.162
78
Das Bild des Seiltänzers:
„Und geht es ihm überhaupt darum, von der einen Seite auf die andere zu kommen? Sind nicht sogar
die Seiten vertauschbar? Wofür also, bedenken Sie das bitte, setzt es seine sowieso schon fragwürdi-
ge Existenz aufs Spiel? Und das immer und immer wieder?74
Dieses Bild zeigt, dass es nicht nur um die Erreichung von Zielen im Leben gehen soll,
sondern auch um die Fähigkeit, das Leben zu leben, ohne ständig Angst zu haben und alles
planen zu müssen. Es geht um das Sein.
Die Vorstellung:
Ende nutzt in dieser Erzählung den Begriff der „Vorstellung“ gleich in dreifacher Hin-
sicht:
„Vielen Dank jedenfalls“, sagt der Mann mit dem Hut, „dass du mich dir vorgestellt hast. Dadurch
kann ich mich dir nun vorstellen. Und damit ist die Vorstellung zu Ende.“
„Schon?“ fragt das Kind. „Und was machen wir jetzt?“
„Jetzt“, antwortet der Mann auf der Rampe und schlägt die Beine übereinander, „jetzt fangen wir et-
was an.“75
- Die Vorstellung - Theaterstück
- Die Vorstellung – bei der Begegnung
- Die Vorstellung – Imagination
Ende spricht in einem der Briefe aus der Korrespondenz mit Werner Zurfluh die Themen
der Alltagsrealität und der Imagination an:
„Ich befinde mich da in einer sonderbaren Situation. Ich sitze seit Jahren, oder besser gesagt seit
Jahrzehnten (ich bin fast sechzig) sozusagen festgebannt auf der Schwelle zwischen beiden Wirk-
lichkeiten. Eine Rückkehr in den naiven Glauben an die Alltagsrealität ist mir nicht möglich. Es
macht mich oft geradezu ratlos vor Erstaunen, wie fraglos viele Menschen diese Alltagsrealität "für
bare Münze" nehmen.“76
74
Ebd. S. 163 75
Ebd. S. 165 76
Aus dem Briefwechsel zw. Michael Ende und Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
Online: << http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010)
79
Die Katastrophe:
Bereits der erste Satz: Unter einem schwarzen Himmel liegt ein unbewohnbares Land, deu-
tet eine Katastrophe an. Die Geschichte spielt sich in einer zerstörten Stadt ab. Darin sind
die Ängste Michael Endes sowie kollektiv unbewusste Ängste um die Zukunft der Mensch-
heit in Folge von Bewaffnung und Kriegen zu sehen.
Die folgende Geschichte fängt mit dem Bild an, mit dem diese Geschichte endet. In beiden
Geschichten gehen eine große und eine kleine Gestalt Hand in Hand.
Ein Land, welches völlig zerstört ist, hat Edgar Ende auch gemalt. Er widmete sich diesem
Thema in mehreren Bildern, u. a. im Bild Der Prophet:
Der Prophet, 1954, Öl auf Leinwand, 71 x 91 cm
80
7.25. Hand in Hand gehen zwei eine Straße hinunter
Inhalt
Ein Dschinn geht mit einem Knaben durch eine Straße. Der Dschinn ist dunkel wie die
Nacht und der Junge ist jung wie der Morgen. Der Dschinn evoziert die Dunkelheit der
menschlichen Seele. Das Kind hingegen sieht ganz weiß und wie mit einem Heiligenschein
aus.
Die Straße, auf der sich die zwei befinden, ist alt, verfault und stinkig. Der Junge soll hier,
ohne es zu ahnen, seine erste Lektion bekommen. Er weiß erst nicht, warum und worüber er
gelehrt werden soll. Der Dschinn sagt dem Jungen, dass er derjenige sein soll, dem gehol-
fen werden soll. Auf der Straße treffen sie bald einen Straßenkehrer, der dem Jungen er-
zählt, dass es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer gibt:
„Aber siehst Du, es sind immer nur die Geschichten der Sieger, sie gehen gut aus, so oder so. Aber
die Geschichten der Verlierer sind auch wahr, nur werden sie bald vergessen. Vielleicht weil die Ver-
lierer sie selbst vergessen. Daher kommt das. […] Mir scheint trotz allem, du kennst in Wahrheit nur
eine einzige Geschichte, mein Kind, nur die Geschichte des hundertsten Prinzen, der das Rätsel zu
lösen vermag, aber nicht die der neunundneunzig vor ihm, die zugrunde gehen, weil es ihnen nicht
glückt. Und fast alle ihre Geschichten enden hier in dieser Straße.“77
In einer Straße namens Hurenstraße wohnen die Trösterinnen. Sie handeln nicht mit Liebe
und Geld, sondern mit etwas ganz anderem. Ein Astronaut kommt in die Straße, der völlig
erschöpft bei einer Trösterin endet. Sie ist auf eine besondere Art und Weise stumm so wie
der Astronaut blind ist, wobei beide sprechen und sehen können. Die Trösterin wird ihm
sein Leid nehmen, doch er wird dadurch alles vergessen und zu einem Niemand.
Der Astronaut fühlt sich unbefriedigt auf seiner Suche. Einmal im Leben hat er sogar das
Paradies gesehen, aber es waren nur Ruinen vom Paradies. Dadurch hat er seine Hoffnung
verloren.
Der Junge fragt am Anfang der Geschichte nach dem Guten und Bösen. Der Dschinn sagt
ihm am Ende der Geschichte, dass wenn die Hoffnung verloren geht, das Böse beginnt.
77
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008. S.172
81
Interpretation
Ideale
Der Junge glaubt an Märchen und Helden und kennt weder Hoffnungslosigkeit noch Schei-
tern oder Nichterfüllung. Die Nacht, in der sich die Geschichte abspielt, soll seine erste
Lektion über die dunklen Seiten der Existenz sein. Seine Ideale sollen den verlorenen und
nicht erfüllten Idealen älterer und erfahrener Menschen gegenüber gestellt werden. In dieser
Geschichte wird dem Kind sein naiver, sein kindlicher Glauben genommen. Erfahrene
Menschen zeigen ihm die Kehrseite der Heldengeschichten, die von gescheiterten Helden,
von denen in den Märchen nicht erzählt wird.
Hoffnungslosigkeit:
Der kleine Junge fragt den Dschinn, warum er ihm nicht gehorcht und warum er keine
Angst vor ihm hat. Er antwortet dem Jungen,:
„Hätte ich Angst, dann hätte ich Hoffnung.“ Er spricht weiter: „Nein, ich habe keine Angst vor dir,
Kleiner. Vor dem, der du jetzt bist, noch nicht. Und vor dem, der du sein wirst, nicht mehr. Der näm-
lich wird mir recht geben.“78
Enttäuschung, Sinnlosigkeit,
Die älteren Personen in dieser Geschichte sind der Auffassung, dass es unausweichlich ist,
im Leben Enttäuschung zu erfahren. Das Kind wird so mit der erlebten Realität dieser Per-
sonen konfrontiert. Die Trösterin sagt zu dem Astronauten:
„Glaubst du, es macht einen Unterschied, ob du dich noch einen Tag, noch ein Jahr, noch hundert
Lichtjahre weiterschleppst? Nichts wird sich mehr ändern. Weiter kommst du nicht mehr, soweit du
auch gehst.“79
Der Straßenkehrer erzählt dem Jungen von einem gescheiterten Helden und zerstört damit
dessen Illusionen.
Der Dschinn bringt den Jungen in eine Hurenstraße, in der es Frauen sind, die gescheiterten
Männern ihre Erinnerungen nehmen und sich dadurch sättigen.
78
Ebd. S.174 79
Ebd. S.174
82
Utopie
Michael Ende vertritt die Überzeugung, dass in dem 20. Jahrhundert eine Utopie fehlt. Er
spricht dieses Thema auf einer Konferenz in der Schweiz an. Dort versucht er die Teilneh-
mer von der Notwendigkeit der Entwicklung neuer Ideen und Utopien zu überzeugen.80
Das kleine Kind symbolisiert die Utopie. Die durch das Leben ermüdeten und enttäuschten
Gestalten wollen es vom Gegenteil überzeugen. Sie wollen es lehren, dass das Leben ein
Ort der Enttäuschung und ohne Hoffnung ist. Sie versuchen dem Kind beizubringen, dass
die Welt ein Ort ist, an dem nichts so geschieht, wie wir es uns vorgestellt haben.
Das durch den Mangel an Phantasie gestorbene Paradies
Dem Astronaut begegnet im Weltall ein Ort mit der Überschrift Paradies. Dort ist alles so
gut wie ausgestorben. Ein einziger versteinerter Baum steht dort noch. Ein Tier, das einer
Spinne ähnelt, erklärt, dass wegen der Ungläubigkeit der Menschen, kein Leben mehr im
Paradies existiert und niemand mehr dorthin kommt. Da die Menschen nicht mehr an das
Paradies glauben, kann es nicht mehr existieren. Dies ist ein sich wiederholendes Thema im
Spiegel im Spiegel. Das Thema des verloren gegangenen Glaubens.
Das Paradies ist auch das verbindende Element zur nächsten Geschichte.
80
Ein Auszug aus S. 16 bis 18 der japanischen Version von Phantasie, Kultur, Politik. Protokoll eines Ge-
sprächs, Erhard Eppler, Michael Ende & Hanne Tächl, 1982, Weitbrecht Verlag in K. Thienemanns Verlag
(japanischer Titel: Olive-no mori de katariau, Iwanami shoten, 1994, as Ende zenshu Book 15)
83
7.26. Im Klassenzimmer regnete es unaufhörlich
Inhalt
In einem Klassenzimmer, in dem es regnet, sitzen sechs Schüler. Es sind jeweils zwei Frau-
en, Männer und Kinder. Diese teilen sich auf in einen Beamten, einen Arzt, eine alte dicke
Frau, eine Braut, ein Mädchen und ein Engel. Auf dem Tisch vor der Tafel liegt ein Knabe
im Seiltänzerkostüm mit einem roten Punkt auf der Stirn.
Sie warten auf den Lehrer, doch niemand weiß, wie lange sie schon warten und, ob der
Lehrer überhaupt kommt. Während dessen führt das kleine Mädchen mit dem Engel ein
Gespräch über das Paradies, welches der kleine Engel seltsamerweise gar nicht kennt. Das
Mädchen sagt über das Paradies:
„Ich weiß, dass es immer nebenan ist […] Dazwischen ist nur eine Wand, manchmal aus
Stein, manchmal aus Glas, manchmal aus Seidenpapier. Aber immer ist es nebenan.“81
Dann heilen oder wecken sie den liegenden Knaben im Seiltänzerkostüm auf, in dem sie
Regenschirme über ihn halten. Es zeigt sich, dass der Knabe mehr weiß als alle anderen. Er
kennt den Weg aus dem Klassenzimmer. Er äußert, es sei ein Traum, aus dem man heraus
kommen kann. Er erklärt die Kunst des Träumens und der Traumwandlung.
Die Traumwandlung „heißt eine neue Geschichte erfinden und dann selbst in sie hinüber
springen.“82
Oder „Habt ihr schon bemerkt, dass es genügt, für ein paar Minuten die Augen
zu schließen? Wenn man sie wieder öffnet, ist man schon in einer anderen Wirklichkeit.
Alles wandelt sich immerfort.“83
Der Knabe stellt sich vor, dass sie an der Tafel eine Bühne zeichnen, mit geöffneten Vor-
hängen und einem langen Korridor mit vielen Türen dahinter. Sie alle springen in das Bild
auf der Tafel. Hinter ihnen schließt sich dann der Vorhang und wird durch den Regen von
der Tafel abgewischt.
81
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrint. S. 184. 82
Ebd. S. 187. 83
Ebd. S. 186.
84
Interpretation
In dieser Geschichte zeigt sich erneut eine ausweglose Situation. Zunächst kann niemand
die Klasse verlassen und kein Lehrer erscheint. Sie warten sehr lange, doch nichts tut sich.
Dann aber kommt die Erlösung durch den Knaben, der sich traut und das Wissen zur
Veränderung der Situation in sich trägt. Er ist ein Held und Erlöser.
Er ähnelt dem kleinem Michael und dem Seiltänzer Ende zugleich in der Geschichte Unter
einem schwarzen Himmel liegt ein unbewohnbares Land. Die zwei haben sich entschieden
eine Welt zu suchen, die besser sein sollte, als die ursprüngliche. Und wenn sie keine sol-
che finden, dann werden sie eben eine neue Welt selber erschaffen. Genau so, wie dies der
kleine Knabe im Seiltänzerkostüm in dieser Erzählung macht. Er schafft durch das Traum-
wandeln neue Realitäten. Da er seine Träume beliebig wandeln kann, ist er jederzeit in der
Lage, in eine andere Welt zu wechseln, wenn er sich dies wünscht. Auf seiner Stirn trägt er
einen roten Punkt. In der indischen Religion im Hinduismus werden die Erleuchteten mit
einem roten Punkt als Symbol des geöffneten dritten Auges auf der Stirn bemalt. Damit
wird er hier als erleuchteter Meister in der Lehre des Traumwandelns gekennzeichnet.
Normalerweise gelten Engel als Retter und Beschützer. Der Engel in dieser Geschichte
weiß hingegen nicht einmal, was ein Paradies ist. Seine Flügel sind zerbrochen, als ob er
gefallen wäre und sie dabei zerstört hätte. Der gefallene Engel, der kein Paradies kennt
ist eine weitere Andeutung an einen nicht existierenden Himmel in Michael Endes Augen
in der modernen Gesellschaft. Hiermit zeigt der Autor den verlorenen Glauben und verlore-
ne Hoffnung, dass es einen Himmel geben könnte.
Ende verwendet ein interessantes Bild des Paradieses nebenan in dieser Erzählung. Das
Paradies existiert immer nur nebenan und nie dort, wo wir uns gerade befinden. Dieses Bild
ist desillusionierend und symbolisiert wieder einmal Hoffnungslosigkeit.
85
Eine Inspiration für diese Geschichte lässt sich in diesem Gemälde von Edgar Ende erken-
nen:
Die Schule , Öl auf Leinwand, 1932, 70,3 x 90 cm
86
7.27. Im Korridor der Schauspieler trafen wir einige hundert
Wartende an
Inhalt
Die Schüler der Traumwandlung sind durch die Tafel mit dem Bild des Korridors mit den
vielen Türen hindurch gegangen. Diese Geschichte fängt nun ebenfalls mit einem Korridor
an. Sie wird in der Form eines Wir-Erzählers geschildert und die Erzähler könnten die Per-
sonen aus dem Klassenzimmer sein.
Ein alter Mann, der auf einem Schimmel sitzt, wird gefragt, welche Rolle er spielen soll
und worauf er wartet. Er wartet schon seit langem auf sein Kostüm. Er erzählt die Ge-
schichte, in der er spielen soll. Er nennt sie ein wirkliches Theater, ein Märchen und ein
Mysterienspiel. Seine Rolle ist die eines Königs, der seit langem auf seinem Thron sitzt. Er
ist jedoch nicht frei und kann auch nicht weg, da sein Bein mit einer schweren eisernen
Kette an dem Thron festgebunden ist. Eines Tages, nach einem durch den Schreiber ange-
führten Aufstand, wollen sie ihn von seinem Thron stürzen. Das gelingt ihnen nicht und so
schneiden sie ihm das Bein ab. Er wird von Lumpensammlern gefunden und geheilt. Er eilt
dann in die Berge, um sich vor dem neuen König zu verstecken, der ihn töten lassen würde,
wenn er wüsste, dass er noch lebt.
Er erhält von den Lumpensammlern Pfeile und Bogen. Die verwendet er, um wilde Tiere zu
jagen, damit er etwas zu Essen hat. Dann bemerkt er enttäuscht, dass er nur noch sieben
Pfeile hat und wird wütend auf Gott. Er steigt auf den höchsten Gipfel, schießt seine restli-
chen Pfeile in den Himmel und wartet. Nach längerer Zeit erscheinen sieben Gestalten auf
schneeweißen Pferden. Die Pfeile stecken in den Brustkörben der Männer. Sie ziehen die
Pfeile aus ihren Körpern heraus und geben sie ihm zurück. Als er die Pfeile berührt, verfär-
ben sich diese in Gold. Er weiß allerdings nicht, wer die sieben Gestalten waren. Um dies
zu erfahren, müsste er die Rolle bekommen und das Theater spielen.
Während er seine Geschichte erzählt, kommen neue Leute, zunächst ein Mann, dann eine
Frau und anschließend ein Kind. Sie bringen ihm alle ein Kostüm zum Anprobieren. Er
probiert zunächst eine weibliche Königsrobe, dann ein Kinderkostüm mit nur einem Bein
und am Ende ein Pilotenkostüm. Er will aber weder ein anderes Kostüm noch eine andere
Rolle.
87
Ganz am Ende der Geschichte zweifelt er: „Oder haltet ihr für möglich, dass inzwischen
jemand anders meine Rolle gespielt haben könnte? Ich warte schon so lange. Glaubt ihr,
dass es das gibt?“84
Interpretation
Es ist eine Geschichte über das Warten. Der Mann wartet sein ganzes Leben auf eine gro-
ße Rolle. Doch es ist ungewiß, ob er diese auch tatsächlich bekommt. Menschen haben
oftmals den Drang etwas Wichtiges erleben zu wollen oder eine wichtige Rolle im Leben
zu spielen, was aber nicht immer gelingt. Der Mann bekam viele Rollen und Kostüme an-
geboten, die er nicht annahm. Mit ihm warten hunderte von anderen auch sehr lange, mög-
licherweise sogar das ganze Leben, weil sie schon verhungert aussehen. Trotzdem wartet
der alte Mann weiter auf seine Hauptrolle, da er keine Nebenrolle spielen möchte.
Wie in der Geschichte Hand in Hand gehen die zwei eine Straße hinunter hat auch in dieser
Erzählung das Motiv einer Nebenrolle eine besondere Bedeutung. In dieser Geschichte ak-
zeptiert der Mann keine Nebenrolle und wartet weiter auf seine Hauptrolle. In der anderen
Geschichte wurde der Junge belehrt, dass es nicht nur Prinzen in einer Hauptrolle gibt, son-
dern auch Verlierer, die eine Nebenrolle spielen.
Der alte Mann beginnt zu zweifeln, ob seine Rolle schon anderweitig vergeben wurde. Er
fragt sich, ob sein Warten sinnlos ist. Vielleicht bekommt er nie die Rolle, auf die er wartet
und verschwendet so sein Leben. Sein Traum würde damit zu einem unerfüllten Traum.
Der alte Mann erzählt eine Geschichte, die der Geschichte von dem alten Bettler in Der
Bordellpalst auf dem Berge erstrahlte in dieser Nacht ähnelt. Der Bettler hatte auch nur ein
Bein und sein Imperium verloren. Er trägt die gleiche Papierkrone und reitet auf einem
weißen Pferd.
Sieben Pfeile schießt er wütend in den Himmel, weil er den Glauben an Gott fast schon
ganz verloren hat. Jetzt will er den letzten Rest des Glaubens töten. Zur seiner Überra-
schung gelingt es ihm nicht. Die sieben Himmelsboten werden in ihren Herzen getroffen.
Sie ziehen die Pfeile aus ihren Körpern heraus und reichen sie ihm zurück. Sie geben ihm 84
Esg. S.195
88
damit seinen Glauben zurück, den er nicht verlieren soll. Zur Bestätigung färbten sich die
Pfeile in Gold, als er sie berührte. Die goldene Farbe steht meistens für Gott. Und so hat er
seine göttliche Bestätigung bekommen.
89
7.28. Das Feuer wurde von neuem eröffnet
Inhalt
Ein Imperator, der nicht sterben kann, aber verwundbar ist, kriecht kraftlos weg, um sich
irgendwo zu verstecken. Er will vor den Unruhen und dem Zerfallen seines Imperiums
flüchten. Er kriecht verwundet durch seinen Palast bis er zu einem besonderen Korridor
kommt. Dort befinden sich spinatgrüne Türen, die alle die Nummer 401 tragen und ge-
schlossen sind. Er trifft dort auf eine Prozession mit vielen kleinen Kindern, die von einem
Greis angeführt wird. Der Imperator hat Angst vor Verrat und richtet sein Gewehr misstrau-
isch auf den Greis. Die Prozession zieht zu einem letzten Dienst, wobei offen bleibt, für
wen es der letzte Dienst sein soll. Der Imperator will mitziehen und es zeigt sich, dass es
um seinen letzten Dienst geht. Er kann hierbei nicht sterben, jedoch ungeboren werden. So
wird er durch eine Wand mit allen Kindern begleitet. Der Greis verwandelt sich dann in
eine Frau, die schon den kleinen Imperator in sich trägt. Der Imperator wird in die Erde
hinein gelegt. Es ist ein Ort, der wie ein großer Schoß aussieht. Gleich danach wird sein
Imperium vom Feuer verschluckt. Das Feuer ist bunt wie ein Papagei.
Interpretation
Die Wunden in den Herzen der Himmelsboten in der vorherigen Geschichte und die Wunde
des Imperators bilden die Brücke zwischen diesen beiden Erzählungen. Je mehr man sich
dem Ende des Buches nähert, desto klarer werden viele Bilder, die sich in vielen Geschich-
ten wiederholen und widerspiegeln.
So hat der Imperator eine Wunde auf seiner Stirn, die wie ein böses drittes Auge aussieht.85
Revolution und Macht
Ende zeigt in der Geschichte sich immer wiederholende Zyklen. Ein politisches System
oder ein Herrscher wird durch einen anderen ersetzt. Der neue Herrscher erhofft sich besse-
re Zeiten und will alles besser machen als sein Vorgänger. Er wollte anders sein, doch er
verwendete die gleichen Mittel wie seine Vorgänger und wird nicht besser.
85
Ebd. S. 196.
90
Diese Idee hat Michael Ende in folgendem Dialog in die Worte des Diktators und des Grei-
ses gelegt:86
„Ich wollte die Macht haben, um Gerechtigkeit zu schaffen aber um sie zu bekommen, musste ich
Unrecht begehen. Jeder muss es, der sie haben will. Ich wollte die Unterdrückung beenden, aber dazu
musste ich diejenigen, die mich daran hindern wollten, in den Kerker werfen und vernichten. Ich
musste zum Unterdrücker werden. Um die Gewalt abzuschaffen, müssen wir Gewalt anwenden. Um
das Elend zu beseitigen müssen wir Kriege führen. Um die Welt zu retten, müssen wir die Welt ver-
nichten. Das ist die Wahrheit der Macht! Sie ist die Tugend aller Tugenden. Sie hat nur einen Fehler
aber der verdirbt alles: Sie ist niemals vollkommen. Darum ist sie unersättlich. Nur die Allmacht ist
wirkliche Macht. Aber die ist unmöglich. Darum bin ich von ihr enttäuscht. Sie hat mich betrogen.“
Der alte Greis antwortet darauf: „Und so bist du geworden, den du bekämpfen wolltest? Und das ge-
schieht immer wieder. Darum kannst du nicht sterben.“ 87
In dieser Erzählung ist auch Hoffnung erkennbar, die durch den Akt des alten Greises ent-
steht. Es ist die Hoffnung, dass es möglich ist, das Leiden des Imperators zu beenden.
Wunder göttlichen Handelns werden durch eine besondere Prozession in dieser Geschich-
te vermittelt. Es ist eine paradoxe Verbindung von Tod und Geburt in einer Tat. Anstatt zu
sterben, wird der Imperator ungeboren.
Interessant ist das Bild der Wand, durch die sie alle, auch die Kinder und die Frau mit dem
kleinen Diktator gehen. Es erinnert an die Geschichte Im Klassenzimmer regnete es unauf-
hörlich. Dort erzählt das kleine Mädchen dem Engel von einem Glauben. Es ist ein Glaube,
dass das Paradies immer nebenan ist, immer hinter einer Wand oder einem Seidenpapier
oder etwas anderem, aber nie dort, wo man gerade ist. Hier ist die Wand zu einem Licht
geworden, durch das sie gehen konnten. Es scheint, dass der Imperator so zu seinem Para-
dies zurückgekehrt ist. So wird die höchste Gnade Gottes gezeigt. Er kann ins Paradies ge-
hen aus der Hölle seiner traurigen Existenz und zwar dadurch, dass ihm diese genommen
wird.
In dieser Geschichte passiert das Gegenteil dessen, was in der „Marmorbleiche Engel-
Geschichte“ geschehen ist. In dieser Geschichte entwickelt sich die Seele zu einem Dikta-
tor, der alles vernichtet. In der „Marmorbleiche Engel Geschichte“ warnt der Kläger vor
einem solch möglichen Fall und verhindert deshalb die Verkörperung. Hier hingegen hat
dieser Diktator schon sein Werk geleistet, aber er ist unsterblich. Um sterben zu können,
86
Ebd. S.202 87
Ebd. S. 202.
91
müsste er ungeboren werden. Deshalb verwandelt er sich langsam in ein Kind und wird
zurück in die Erde gebracht.
Die Geschichte „Unter einem schwarzen Himmel liegt ein unbewohnbares Land“ ist mit
dieser Erzählung durch das Motiv eines zerstörten Landes bildlich verbunden. Es ist das
sich wiederholende Motiv der Katastrophe.
92
7.29. Der Zirkus brennt
Inhalt
Der Brand verbindet die vorherige und diese Geschichte.
Gaukler verbrennen ihren eigenen Zirkus, da sie ihn nicht mehr brauchen. Sie wissen, dass
sie schlafen und sich in einem Traum befinden. Sie wollen alle aus dem Traum aufwachen,
obwohl es verboten ist. Der Direktor sagt dem Clown, dass sie sich zu einer bestimmten
Zeit an einem bestimmten Ort treffen werden. Es ist ein geheimes Treffen, von dem nie-
mand wissen darf. Er soll sich nur die Adresse merken, wo sie sich treffen. Es handelt sich
um ein konspiratives Treffen, bei dem es „darum geht, aufzuwachen.“88
Vor dem verbrannten Zirkus wird eine Menschengruppe verhaftet. Der Clown versucht mit
zwei Soldaten zu sprechen, damit die Leute freigelassen werden. Ob es gelingt, bekommt er
nicht mehr mit.
Denn er begibt sich in die Stadt, um die vereinbarte Adresse rechtzeitig zu finden. Die
Menschen, denen er begegnet, sehen aus, als schliefen sie mit offenen Augen. In der Stadt
sieht es aus wie nach einem Bürgerkrieg. Vieles ist zerstört und Tote liegen herum.
In dem Haus, welches der Clown betritt, findet er eine Gesellschaft ähnlich wie in der Ge-
schichte Die Mansardenkammer ist himmelblau. Er sieht Erben an einem Tisch, die sich
nicht rühren, aber auch den eingeschlafenen Studenten. Alles ist voller Staub.
Als er dann wieder auf die Straße kommt, kommt er zu einem Schaufenster, in das viele
Leute starren. In dem Schaufenster befinden sich vielerlei Insekten und Würmer. Über ih-
nen hängt eine Kugel, auf der eine große Ratte läuft und läuft, damit sie nicht herunter fällt.
Als er an den vereinbarten Ort gelangt, sieht er viele Leute und bemerkt eine erhebliche
Unruhe. Mehrere Leute sehen ihn und begeben sich zu ihm. Doch er flieht und versteckt
sich in einem Lokal, in dem Menschen schlafen. Er setzt sich hin und plötzlich spricht der
Direktor zu ihm. Dieser glaubt ihm zunächst nicht, dass er zufällig in das Lokal gekommen
ist. Das konspirative Treffen wurde nämlich hierhin verlegt, weil irgendjemand den vorbe-
stimmten Ort verraten hatte. Alle denken, der Clown habe es den beiden Soldaten an dem
verbrannten Zirkus verraten. Doch der Direktor glaubt ihm dann. Er bittet den Clown eine
Rede zu halten und verspricht, dass er in Kürze kommt und die Rede dann übernimmt. Der
88
Ebd. S. 208.
93
Direktor erscheint aber nicht und so muss der Clown die Rede allein halten. Während seiner
Rede beginnen die Menschen mit Untersetzern und anderen Gegenständen auf ihn zu wer-
fen. Die Geschichte endet damit, dass jemand einen Krug nach ihm wirft und hierbei seine
Stirn trifft.
Interpretation
In dieser Geschichte ist den Protagonisten bewusst, dass jemand von ihnen träumt. Es geht
um einen Kampf im Traum, aus dem die Protagonisten aufwachen wollen. Es gelingt ihnen
aber nicht. Es wird hier die Ohnmacht eines Helden in der geträumten Welt gezeigt. Wie
klein die Macht im Traum ist, etwas zu verändern oder gar aus ihm aufzuwachen.
Mit einem solch unerwünschten oder unangenehmen Traum versucht Michael Ende zu zei-
gen, dass ein Träumender gezwungen ist, sich mit seinem Unterbewusstsein auseinanderzu-
setzen, ohne davor weglaufen zu können. Viele Geschichten in der Sammlung sind z.B.
Opfergeschichten oder Geschichten ohne Ausweg, die einem Alptraum ähneln.
Diese Erzählung kann als Parallele zu einem „Schlaf“ während des Wachzustands gesehen
werden. Schlafen Menschen nicht manchmal mit geöffneten Augen ohne zu träumen? Der
Autor verweist in dieser Geschichte auf den seelischen Schlaf, aus dem der Mensch zu sei-
nem eigenen ICH, seiner wahren Natur ohne Ego und Illusionen aufwachen möchte.
Das Erwecken aus dem Traum als Verbrechen
Gibt es in der Realität in dieser Geschichte etwas, was verborgen sein soll? Verbirgt jemand
etwas vor den Träumenden? Warum sollen die Menschen im Traum gehalten und jeder
bestraft werden, der aus dem Traum aufwachen möchte? Ist darin vielleicht eine Parallele
an die heutige Manipulation durch Medien zu erkennen? Das Bild, das die Medien von
der Welt zeichnen, könnte man als illusorischen Traum bezeichnen. Ein Aufwachen ist un-
erwünscht, weil es die Interessen der Regierungen schwächen würde. Man könnte dies als
Kritik an eine viele Jahrhunderte währende Manipulierung durch Medien werten.
Das Thema dieser Geschichte ist die Freiheit. In vielen anderen Erzählungen in Spiegel im
Spiegel geht es darum, aus irgendeinem Ort oder einer Situation wegzukommen. Genauso
wie in Der Zirkus brennt, wie auch in anderen Geschichten, findet man keinen Ausweg.
94
7.30. Ein Winterabend, der Himmel ist zartrosa, kalt und weit
Inhalt
Zwei Soldaten bewachen eine Mauer mit einer Tür, die apfelgrün ist. Sie bewachen sie
schon so lange, dass sie zu zweifeln beginnen, ob es überhaupt etwas zu bewachen gibt.
Aus Neugierde verstoßen sie dann gegen ihre Vorschrift und versuchen hinter die Mauer zu
schauen, ob sie dort etwas entdecken können. Sie sehen aber nichts.
In Kürze darauf kommt die Tochter des Alten, der auch der Arbeitgeber der Soldaten ist.
Sie kommt mit einem kleinen Mann, der wie ein Kind aussieht. Das Kind soll durch die Tür
in der Mauer hindurch gehen und denkt, dass es den Minotaurus töten soll. In Wirklichkeit
aber soll es Hor begegnen und sobald dies geschieht, wird sich das Kind in Hor verwan-
deln. Er wird sich in ihn transformieren und so werden sie eins. Hor werden immer wieder
neue „Opfer“ geschickt und alle werden sie eins. So wird Hor ständig sterben und neugebo-
ren.
Interpretation
Diese und die erste Geschichte bilden den äußeren Rahmen der Sammlung. Hor scheint
derjenige zu sein, in dem sich alle diese Geschichten abspielen. Hor trägt den Kummer aller
Personen, die durch die Tür des Labyrinths eingetreten und mit ihm eins geworden sind. Er
ist derjenige, der sich an die Geschichten und an die im in Labyrinth verschwundenen Per-
sonen erinnert beziehungsweise von ihnen träumt.
Das Tor, hinter dem sich Hor befindet, ist kein normales Tor. Wenn man hinein möchte,
muss man durch eine Tür in dem Tor gehen. Wenn man an dem Tor vorbei geht, gelangt
man nicht hinein. Die Soldaten versuchen herauszufinden, was sich hinter dem Tor ver-
birgt, sehen aber nichts. Sobald der Junge durch die Tür in das Tor geht, verschwindet er.
Das Bild des Tores wurde auch schon in der Unendlichen Geschichte verwendet, in der drei
solche Tore existierten, durch die Arteju musste.
Hor, der immer wieder aus einer anderen Person neu entsteht, ist das Motiv im Spiegel im
Spiegel. In dem Gemälde von Edgar Ende sieht man mehrere Personen, die spiegelbildlich
95
hintereinander stehen. Sie ähneln den Personen, die mit Hor eins geworden sind. Dieses
Bild wurde für den Buchumschlag der Weitbrecht-Ausgaben von 2006 und 2008 verwen-
det.
Das Fensterkreuz , 1953, Öl auf Leinwand, 91 x 70 cm
96
8. Zusammenfassung
8.1. Surrealismus in dem Spiegel im Spiegel
Am Anfang wurde die Frage gestellt inwieweit Der Spiegel im Spiegel als surrealistisches
Buch eingeschätzt werden kann. Die wichtigsten Elemente des Surrealismus sind am An-
fang der Arbeit beschrieben. Analyse und Interpretation haben nunmehr gezeigt:
1. Keysers Grosses Stil-Lexikon definiert den Surrealismus so, dass es treffend zu Michael
Endes Sammlung passt: „Ziel war es, das Unwirkliche und Traumhafte sowie die Tiefen des
Unbewussten auszuloten und den durch die menschliche Logik begrenzten Erfahrungsbe-
reich durch das Phantastische und Absurde zu erweitern.“89
Alle diese Merkmale findet
man in Endes Erzählungen. Unwirkliches und Traumhaftes bilden die ganze Struktur des
Buches. Alles spielt sich nur im Traum ab oder in einer Art unwirklichen Realität, die ei-
nem Traum oder Alptraum ähnelt. Phantastische und absurde Bilder lassen sich reichlich in
den Geschichten finden. Alle Geschichten spielen in der unrealen Welt der Vorstellungs-
kraft unseres Unterbewusstseins.
2. Das Buch ist dem Vater und dessen Gemälden gewidmet, die als Inspiration für das gan-
ze Werk gelten. Edgar Ende, wie oben belegt, gehört zu den surrealistischen Malern. Mi-
chael Endes Geschichten wirken auf den Leser wie verschiedene surrealistische Gemälde,
eben nur in der literarischen Form verfasst.
3. Die Traumthematik selbst, die den ganzen Rahmen des Buches bildet, ist auch der
Hauptgedanke des Surrealismus. Die Surrealisten wollten durch den Traumzustand die
Ebenen des Bewusstseins erreichen, wo der Verstand nicht hingelangt, um die Tiefen des
Unterbewusstseins ans Tageslicht zu holen. Auf Michael Endes Art und Weise werden hier
die Bilder des Unterbewussten belebt, die in einem, aber auch dem ganzen kollektiven Un-
terbewusstsein zu finden sind. Der Traum als Katalysator zur Vereinigung zweier Welten.90
89
Keysers Grosses Stil-Lexikon Europa. 780 bis 1980. Keysersche Verlagsbuchhandlung, München 1982. 90
Grimminger, Rolf, Literarische Moderne. Hamburg, 1995.
97
4. Der Versuch, Unzufriedenheit zu zeigen und damit eine Art Revolte zu erzeugen, war
auch ein Aspekt des Surrealismus, der sich auch als Projekt der Radikalen Gesellschafts-
veränderung verstand.91
Viele Geschichten machen dem Leser seine Unzufriedenheit in
sich und im Leben bewusst. Der Leser soll aufwachen und sich fragen, was ihn unzufrieden
macht oder, was ihm fehlt. Der Autor erzeugt in dem Leser Gefühle des Opferdaseins, des
Scheiterns, der Ausweglosigkeit, der Brutalität und Manipulation. Diese Gefühle bringen
den Leser in sein Unterbewusstsein, wenn diese Gefühle während des Lesens auf entspre-
chende Resonanz bei ihm stoßen. So wird er durch diese Geschichten zum Nachdenken
gebracht. Die von Ende verwendeten Bilder und Motive sind sehr suggestiv. Sie sollen den
Leser packen und mitreißen, ihn in seine eigenen Tiefen ziehen, die er erleben soll. Wie
Michael Ende schreibt92
, möchte er, dass sich der Leser an Teilen seiner Erzählungen auch
beteiligt. Und so kann der Leser erkennen, was in der Welt allgemein oder auch in seinem
Leben nicht zufriedenstellend verläuft. Da die Bilder eine hohe Symbolkraft haben, können
sie zu jeder Zeit, also beispielsweise auch in 20 Jahren auf das Unterbewusstsein wirken
und politische, menschliche oder religiöse Probleme spiegeln, die in dieser Zeit gerade ak-
tuell sind.
5. Einer der Aspekte des Surrealismus nach H. U. Gumbrecht ist:
„Nicht ausschließliche aber doch wesentliche Konfrontation des Subjekts mit den Dingen der Welt,
welche kalt geradezu brutal wirken kann, weil es zu keinerlei Justierung oder Anpassung auf der
einen oder anderen Seite kommt,“93
.
Diese Tendenz lässt sich in den meisten Geschichten Endes erkennen, in den ausweglosen
Situationen, in denen keine Veränderung oder Rettung möglich war. Sehr kalt wirkt z.B. die
Geschichte Moordunkel war das Gesicht. In dieser Geschichte werden die Zyklen des Le-
bens einer Familie mit einer unheimlichen Kälte und Brutalität zugleich dargestellt.
6. Das ausgewählte Motiv des Labyrinths in dieser Geschichtensammlung zeigt die Vor-
liebe Michael Endes für labyrinthische Geschichten. Auch die Surrealisten haben eine ent-
sprechende Neigung zu diesem Motiv. (Mehr dazu auf der Seite 17.)
91
Bohrer, Karl Heinz in Deutscher Surrealismus; in Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der
deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. S. 241. 92
Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael, Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und das
Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart, 1985. 93
Gumbrecht, Hans Ulrich in Deutscher Surrealismus; in Friederike Reents, Anita Meier: Surrealismus in der
deutschsprachigen Literatur. Berlin, 2009. S. 29.
98
8. 2. Die Hauptmotive
In der ganzen Sammlung tauchen viele, sich wiederholende Motive auf. Infolgedessen habe
ich eine Tabelle zu allen Geschichten erstellt, jeweils drei Spalten zu jeder Geschichte für
das Thema, die Figur und das Symbol (Kapitel 8.4.). Damit wird die gemeinsame Anknüp-
fung an die Motive übersichtlicher.
Häufiger sind im Text negativ konnotierte Themen vertreten. Das sich am meisten wieder-
holende Thema ist das Scheitern, das mit anderen ähnlichen Themen verknüpft ist wie
Ausweglosigkeit, Nichterfüllung, Enttäuschung, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit oder
Opferdasein. Ausweglosigkeit ist u.a. das Thema der ersten fünf Geschichten und dieses
Gefühl bildet eine Art Einstieg in die ganze Sammlung. Hor kann sein Haus nicht verlassen
und seine Situation genau so wenig verändern wie der Sohn in der zweiten Geschichte. Die-
ser kann dem Labyrinth nicht entfliehen. Er bleibt bis zum Ende seines Lebens in dem La-
byrinth unglücklich gefangen, weil nur derjenige, der dem Labyrinth entflieht, glückselig
sein kann. Das Thema des Opferdaseins tritt ebenfalls in den ersten fünf Geschichten auf,
wobei die jeweiligen Opfergestalten ihre Situation nicht ändern können. Der Protagonist
wird in anderen Geschichten oft durch den Tod, die Nichterfüllung oder durch Hoff-
nungslosigkeit zu einem Opfer. Durch den Tod werden die Schafe, der Clown, der Diktator
und andere zum Opfer. Nichterfüllt werden u. a. die Ehen sowohl in „Das Zimmer war
zugleich eine Wüste“ als auch in „Die Brücke, an der wir schon seit vielen Jahrhunderten
bauen“. Dschinn bringt dem kleinen Knaben, der noch an die Märchen des hundertsten
Prinzen glaubt, die Hoffnungslosigkeit erst bei. Er wird darüber belehrt, dass es neunund-
neunzig Märchengestalten gibt, die in den Märchen nicht die Helden, sondern die Besiegten
und Gescheiterten sind.
Menschliche Brutalität und Grausamkeit sowie Macht und Verfolgung sind ebenfalls
ständige Thematiken, z.B. in „Der Bordellpalast auf dem Berge erstrahlte in dieser Nacht“
oder in „Der Zeuge gibt an, er habe sich an einer nächtlichen Wiese befunden“ oder in
„Eigentlich ging es um die Schafe“. Ende bedient sich mehrfach solcher Figuren, die über
viel Macht verfügen: Der Diktator, die Hurenkönigin. oder der Zauberer in „Die Bahnhofs-
kathedrale stand auf einer großen Scholle“. Der Zauberer entscheidet, wann die Bahnhofs-
kathedrale wieder verlassen werden darf. Auch der Träumende in „Zirkus brennt“ verfügt
99
über eine solche Macht, die über allem steht. Der Tänzer in „Schweres schwarzes Tuch“,
wartet schon eine Ewigkeit auf den, der darüber entscheidet, dass er endlich anfangen kann.
Er ist abhängig von dieser Entscheidung und unterliegt der Machtausübung dieser Person.
Man sucht oft nach Auswegen oder Fluchtmöglichkeiten aus der aktuellen Situation oder
aus bestimmten Verhältnissen. Der Sohn in der zweiten Geschichte versuchte, das Laby-
rinth zu verlassen. Der Feuerwehrmann und die Frau versuchten, aus der Bahnhofskathed-
rale in der vierten Geschichte zu entfliehen. In „Im Klassenzimmer regnete es unaufhör-
lich“ wollen alle das Klassenzimmer verlassen, bis es ihnen durch die Traumwandlung
auch gelingt.
Der Tod steht der Geburt gleich in mehreren Geschichten gegenüber. In Der marmorblei-
che Engel saß unter den Zuhörern im Gerichtssaal soll das Ungeborene sterben. Die Ge-
burt, oben Verkörperung genannt, sollte verboten werden. Die Perle der Fruchtlosigkeit in
Der Bordellpalast auf dem Berge erstrahlte in dieser Nacht soll alles töten. Die Perle lässt
nie wieder etwas gebären und so würde alles sterben. Positiv ist der Tod in der Geschichte
Das Feuer wurde von neuem eröffnet, in der der Diktator als kleiner Säugling in die Ge-
bärmutter der Erde hineingelegt wird, damit sein Leid durch diese Tod-Nichtgeburt beendet
werden kann. Auch in Langsam wie ein Planet sich dreht wird der Tod zur Erlösung. Die
Porzellanfigur, die so in der Sicherheit immer lebt, wird durch den Tod des Egos neugebo-
ren.
Die Protagonisten sind oft auf der Suche nach: Freiheit, Sinn, Wahrheit oder ihrem eigenen
ICH, der eigenen Mitte. Seine Freiheit sucht u.a. Hor, der das Labyrinth seines Hauses nicht
mehr ertragen kann. Als „Ikarus“ will der Sohn in der Geschichte Der Sohn hatte sich unter
der kundigen Anleitung seines Vaters und Meisters Schwingen erträumt die Labyrinthstadt
verlassen, um seine Freiheit finden, doch er scheitert. Der Clown und die Anderen wollen
in Der Zirkus brennt aufwachen. Sie suchen ihre Freiheit, um nicht mehr geträumt zu wer-
den. Das Wort Freiheit kommt in dieser Erzählung des Öfteren vor. Auf Sinnsuche sind die
Schauspieler in Die Dame schob den schwarzen Vorhang ihres Kutschenfensters beiseite,
wo sie das verlorene Wort finden müssen, ohne das das Spiel keinen Sinn ergibt.
Die Wahrheit sucht der Weltreisende, der beschloss, seine Wanderung zu beenden. Er ist
das ganze Leben auf Reisen, weil er etwas sucht. Er sucht etwas, was wahr ist, was ihn zu-
frieden stellen würde. Die Wahrheit findet er erst mit der Entdeckung von Ruhe und Leere.
100
Die Person eines Reisenden kommt in der Sammlung häufiger vor. Der Astronaut z.B. aus
der Geschichte Hand in Hand gehen zwei eine Straße hinunter war ebenfalls auf der Suche
nach der Wahrheit, wobei er scheiterte. Er traf leider keinen Meister in der Gestalt eines
kleinen asiatischen Mädchens, sondern eine Trösterin in einer Art Hurenstadt. Diese Tröste-
rinnen bringen ihn aber nicht ans Ziel. Sie trösten ihn zwar, aber er wird von der Wahrheit
ferngehalten. Die eigene Mitte hingegen finden andere als der Weltreisende. Die Porzellan-
figur in Langsam wie ein Planet sich dreht bekommt durch den drastischen Tod ihres Egos
die Möglichkeit das wahre Ich zu finden. Das Innere eines Gesichts, mit geschlossenen
Augen, sonst nichts ist die Fortsetzung dessen, was geschieht, wenn man sein Ego hinter
sich lässt. Dahinter verbergen sich der Weg zu sich selbst und auch die Rückkehr zur kind-
lichen Unschuld. Die eigene Heimat wird nicht im Äußeren gefunden, sondern nur im eige-
nen Inneren.
Oft verwendet Ende Motive des Glaubens und der Religion, in Form von einem blinden
Glauben, Dogmatismus, toter Glaube oder Absenz des Glaubens. Die Brücke, an der wir
schon seit vielen Jahrhunderten bauen ist eine Geschichte über eine Religion, die dogma-
tisch ist. Wer der Religion nicht bedingungslos folgt, wird bestraft. Ein Motiv der Kirche
hat Michael Ende auch in der Geschichte mit der Bahnhofskathedrale verwendet. Hier dient
sie dem monströsen Zweck der wundersamen Geldvermehrung. So wird hier die Käuflich-
keit der Kirche gezeigt. Das verlorene Wort Gottes tritt in der Erzählung Die Dame
schob den schwarzen Vorhang ihres Kutschenfensters beiseite auf und wird von den
Künstlern gesucht. Den verlorenen Glauben schildert der Astronaut aus Hand in Hand
gehen zwei eine Straße hinunter als er das Paradies, das er im Weltall gefunden hat, be-
schreibt. Ein Paradies wird zu einer Wüste, weil niemand mehr an es glaubt. Dagegen ge-
ben Himmelsboten in Im Korridor der Schauspieler trafen wir einige hundert Wartende an
dem verjagten einbeinigen König seinen Glauben und auch die Hoffnung zurück. Sie
geben ihm seine Pfeile zurück und diese verändern sich in Gold. Gott kämpft gegen den
Teufel in Der Bordellpalast auf dem Berge erstrahlte in dieser Nacht. Die Hurenkönigin
träumt von einem Kampf, den Gott und der Teufel um sie führen. Wer gewonnen hat, weiß
sie nicht mehr, weil sich die zwei ineinander gespiegelt haben. Hierdurch wird wiederum
die mystische Ansicht eines nicht existierenden Teufels gezeigt. Der Teufel existiert nur
dank Gott, weil er aus ihm entspringt.
101
Weniger häufig kommen Geschichten vor, in denen es zur Erfüllung, Erlösung oder zur
Gnade kommt, oder in denen ein Ausweg aus der Situation gefunden wird. Die einzige
Erfüllende Hochzeit findet in Die Hochzeitsgäste waren tanzende Flammen statt. Dennoch
hat man das Gefühl, es handelt sich nur ein kurzfristiges Glück, weil die Flammen mit dem
ganzen Schloss schnell verbrennen. Dem jungen Arzt war gestattet worden, so treffend be-
ginnt diese Erzählung, in der es dem Arzt tatsächlich gestattet worden ist, Zeuge eines gött-
lichen Konzerts zu sein. Er meditiert mit den Musikern die ganze Nacht und er erfährt dies
als eine Gnade so wie auch die anderen Zuhörer. Alle sind von innerer Ruhe erfüllt. Auch
der Weltreisende in Der Weltreisende beschloss, seine Wanderung kam zu einer tiefen Er-
kenntnis und Erfüllung seiner Reise. Er findet endlich, was er das ganze Leben gesucht hat.
In Im Klassenzimmer regnete es unaufhörlich erlöst der Seiltänzer alle Schüler, die nicht
aus der Klasse können und schon eine Ewigkeit auf ihren Lehrer warten. In der Person des
kleinen Seiltänzers kommt der Meister, der einen roten Punkt auf der Stirn hat. Die Befrei-
ung kommt mit ihm dank seiner Lehre der Traumwandlung.
Die Hoffnung ist ebenfalls ein nicht so häufiges Thema in der ganzen Sammlung. Doch
unter den vielen Geschichten mit einem negativen Ende, kommen ab und an auch solche,
die allgemein Hoffnung bringen. Hoffnung will die Frau in Die Dame schob den schwarzen
Vorhang ihres Kutschenfensters beiseite unter den Menschen verbreiten. Sie will bekannt
machen, dass es jemanden gibt, der das verlorene Wort sucht. Unter einem schwarzen
Himmel liegt ein unbewohnbares Land ist eine Geschichte, die in einem zerstörten Land
spielt. Zwei Personen, eine kindliche und eine erwachsene, entscheiden sich, eine neue
Welt zu suchen oder zu schaffen.
Der Weltreisende beschloss, seine Wanderung ist die Geschichte über einen Mann, der sei-
ne Hoffnung durch die Begegnung mit einem kleinen Mädchen wieder findet. Das Mäd-
chen wird seine Meisterin und lehrt ihn eine dem Zen ähnliche Philosophie.
Eine wichtige Rolle spielen Phantasie und Vorstellungskraft. Eines seiner stärksten Motive
findet der Leser auch in diesem Buch Michael Endes: Genauso wie in der Unendlichen Ge-
schichte bemüht sich Michael Ende, den Leser zur Phantasie aufzufordern94
. In der Un-
94 "Es ist sowohl bei meinem Vater als auch bei mir immer ein Ziel gewesen, dass das Bild beziehungsweise
die Geschichte erst fertig wird im Betrachter respektive im Leser. Und vielleicht liegt darin sogar ein neuer
Kunstansatz, ein neuer Ansatz von Literatur- und Poesieverständnis. Man hat sich heute ein bisschen daran
gewöhnt, dass der Autor jemand ist, der hauptsächlich sich erklärt, der seine Weltanschauung, seine Gedan-
102
endlichen Geschichte bringt er die Leser zur Erkenntnis, dass jede Rettung nur durch ein
Wiederaufwecken der Phantasie möglich ist. Wenn dem nicht so wäre, würde das Land
Phantásien in der Unendlichen Geschichte komplett verschwinden. In dem Spiegel im Spie-
gel lässt er die Leser mitwirken. So ähnlich tritt Bastian in der Unendlichen Geschichte auf,
um Phantásien zu retten.
Michael Ende erzählt im Spiegel im Spiegel Geschichten, die den Leser mittels seiner Ge-
fühle in sein Unterbewusstsein führen können, wenn er es denn zulässt. So kann der Leser
die Geschichten in seinem Unterbewusstsein „weiterträumen“ und seine eigenen Symbole
und Gestalten dazu träumen, die wiederum seiner Erfahrung und Ästhetik entsprechen.
8.3. Die Personen
In dem Buch tauchen immer wieder bestimmte Figuren auf, die eine symbolische Bedeu-
tung tragen.
Mehrmals spielt ein Kind eine entscheidende Rolle, oftmals in der Rolle des Erlösers. Das
Innere eines Gesichts, mit geschlossenen Augen, sonst nichts ist eine Reise zur kindlichen
Unschuld. Es geht um eine Heimkehr, die in der Erweckung des kleinen Kindes zu finden
ist. Der Weltreisende beschloss seine Wanderung zeigt ein kleines Mädchen in der Rolle
eines Meisters. Ähnlich ist dem Im Klassenzimmer regnete es unaufhörlich, in der der Seil-
tänzer die Menschen aus ihrer ausweglosen Situation mit der Technik des Traumwandelns
rettet. Das Kind Michael bringt Hoffnung für eine bessere Zukunft, durch seine Suche nach
einer neuen Welt in Unter einem schwarzen Himmel liegt ein unbewohnbares Land. In
Hand in Hand gehen die zwei eine Straße hinunter ist das Kind dagegen jemand, dem diese
erlösende Rolle genommen wird. Durch die Belastung mit negativen Erfahrungen und der
Konfrontation mit einer kalten Realität wird seine Hoffnung zerstört. Auch der Sohn, der
das Labyrinth verlassen will, wird in der zweiten Geschichte, von dem Kummer der ande-
ren Menschen erdrückt.
ken, seine Gefühle genau erklärt. [...] Im Großen und Ganzen verharrt der jetzige Leser in einer konsumtiven
Haltung. Während es mir gerade darum zu tun ist, Bildergeschichten zu finden, die genau das offenlassen, d.h.
die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden zu machen. In diesem Sinne hat sich auch mein
Vater mal geäußert, in einem Brief oder in irgendeiner seiner Notizen, wo er sagt, dass ein Bild erst fertig
wird im Betrachter. Es darf vorher noch nicht fertig sein. Wenn es an der Wand schon fertig ist, dann ist es
verschlossen, dann ist es zu.“ - Zitat aus: Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael, Archäologie der Dunkelheit –
Gespräche über Kunst und das Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart, 1985.
103
Die Reisenden in den Geschichten sind fast immer Personen, die ihr eigenes ICH suchen.
Ein Reisender ist sowohl der Mann mit den Fischaugen, der Reisende aus Der Reisende
beschloss seine Wanderung als auch der Astronaut aus Hand in Hand gehen zwei eine Stra-
ße hinunter. Die Dame schob den schweren schwarzen Vorhang ihres Kutschenfensters
beiseite erzählt von einer große Gruppe von Gauklern, die ein verlorenes Wort suchen, das
die ganze Welt zusammenhält.
Mehrmals zeigt sich auch das Motiv eines Menschen ohne Augen. Er sieht aus, als könnte
er zwar sehen, aber als wollte er die Wahrheit nicht sehen. In Die Bahnhofskathedrale
stand auf einer großen Scholle wird von einem Mann erzählt, der keine Augen hat und in
der Bahnhofskathedrale einen Streit mit der Frau hat, die den Ort unbedingt verlassen will.
Hand in Hand gehen zwei eine Straße hinunter ist eine Geschichte, in der der Suchende mit
seinem Heimweh bei einer Trösterin endet und ihr gesteht, dass er blind ist. Blind in dem
Sinne, dass er die Wahrheit nicht sehen will oder nicht sehen kann. In Das Innere eines
Gesichts mit geschlossenen Augen sonst nichts taucht ein Gesicht mit geschlossenen Augen
auf. Diese Person befindet sich in Kontemplation, aus der heraus er seine neue Realität
erschafft und dadurch zu seinem inneren Kind gelangt.
Gaukler und Künstler spielen in der ganzen Sammlung eine erlösende Rolle. Sie sind oft
Helden, die Hoffnung oder Erlösung in die Geschichten bringen.
Der Engel bekleidet in der Sammlung oftmals eine ungewöhnliche Rolle. Mehrfach geht es
um Engel, die zum Opfer werden. Der Niemandssohn in Das Innere eines Gesichts, mit
geschlossenen Augen, sonst nichts war in seinem Leben ein Engeljäger, der sie für ihre
schönen Federn getötet hat und so mächtig und reich wurde. An diesem Abend konnte der
alte Seefahrer ist eine Begegnung des Seefahrers mit einem Seiltänzer, der wie ein gefalle-
ner Engel aussieht, da er Engelfedern in Eimern trägt. Er sucht sein Gleichgewicht und den
Weg in den Himmel. In Im Klassenzimmer regnete es unaufhörlich trifft man auf einen
kleinen gefallenen Engel mit Engelfedern, der das Paradies nicht kennt. Er ist in der Klasse,
um zu lernen, wie er wieder in den Himmel kommen kann.
Der Greis tritt in mehreren Rollen auf. Einmal in Der Bordellpalast auf dem Berge er-
strahlte in dieser Nacht als Bettler, der einen alten weisen Mann symbolisiert, der Gott treu
ergeben ist. Er stellt die Verkörperung menschlicher Reife, Güte und Spiritualität, dar. Er
reitet auch auf einem weißen Pferd, welches die Reinheit symbolisiert.
Ein anderes Mal ist der Greis ein Geistlicher, der den letzten Dienst für den besiegten Impe-
rator abhält in Das Feuer wurde von neuem eröffnet.
104
Dem Greis steht meistens ein Imperator gegenüber, der für Brutalität und menschliche
Kälte steht, der alles vernichtende Tendenzen hat. Die Hurenkönigin in Der Bordellpalast
auf dem Berge erstrahlte in dieser Nacht will die Welt durch die Perle der Fruchtlosigkeit
vernichten. Der Imperator in „Das Feuer wurde von neuem eröffnet“ hat die Welt schon
zerstört, wobei er aber ursprünglich eine bessere Welt schaffen wollte.
8.4. Die Tabelle der sich immer wiederholenden Motive
Alle dreißig Geschichten sind miteinander durch Figuren, Orte, Gegenstände und Themen
miteinander verknüpft.
Geschichte Thema Figuren Symbole 7.1. Verzeih mir, ich kann
nicht lauter sprechen.
Die Freiheitssuche,
Ausweglosigkeit, Opfer
Hor Haus, Labyrinth
7.2. Der Sohn hatte sich
unter der kundigen Anlei-
tung seines Vaters und
Meisters Schwingen er-
träumt
Die Freiheitssuche,
Ausweglosigkeit, Opfer
Vater-Sohn, Geliebte,
Meister
Labyrinth, himmel-
blaue Mansarden-
kammer, die Flügel
7.3. Die Mansardenkammer
ist himmelblau, die Wände,
die Decke, die Par Möbel
Ausweglosigkeit, Opfer Student, Diener Haus, Brand, Staub-
wedel, himmelblaues
Zimmer
7.4. Die Bahnhofskathedrale
stand auf einer großen
Scholle
Die Freiheitssuche,
Ausweglosigkeit, Opfer
Feuerwehrmann, Mann
ohne Augen, Zauberer
Feuer, Geld, Kirche,
Bombe, Zeit,
7.5. Schweres schwarzes
Tuch
Ausweglosigkeit, Opfer Tänzer Schwarzes Tuch,
Theater
7.6. Die Dame schob den
schwarzen Vorhang ihres
Kutschenfensters beiseite
Die Sinnessuche, die
Wahrheitssuche, die
Hoffnung
Die Gaukler – Künstler
Frau – Hauptprotagonist
Sonne, Mond, ….
das Wort
7.7. Der Zeuge gibt an, er
habe sich an einer nächtli-
chen Wiese befunden
Die Unmenschlichkeit,
der Opfer, die Ausweg-
losigkeit, der Tod, die
Macht
Opfer, Zeuge Blut, Kreuz
7.8. Der marmorbleiche
Engel saß unter den Zuhö-
rern im Gerichtssaal
Die Ausweglosigkeit, der
Opfer, die Unmensch-
lichkeit/die Grausamkeit,
der Tod x die Geburt
Engel, Richter, ungebo-
rene Seele
Blut
7.9. Moordunkel ist das
Gesicht der Mutter
Die Unachtsamkeit, die
Unaufmerksamkeit,
Man, Frau, Kind Zeit
7.10. Langsam wie ein Pla-
net sich dreht
Die ICH-Suche, Verlust
des Egos
Blutsbruder, Porzellanfi-
gur,
Haus, Dunkelheit,
Sonne, Mond und
Sterne
7.11. Das Innere eines Ge-
sichts, mit geschlossenen
Augen, sonst nichts
Die Heimkehr – der Weg
zu sich selbst, Brutalität,
die Macht
Engel, Niemandssohn, Haus, die Flügel der
Engel
7.12. Die Brücke, an der wir
schon seit vielen Jahrhun-
derten bauen
Ein blinder Glaube,
Ausweglosigkeit, Absur-
dität
Man-Frau – unerfüllte
Beziehung,
Hochzeit, Religion
105
7.13. Es ist ein Zimmer und
zugleich eine Wüsste
Ausweglosigkeit, Enttäu-
schung
Unerfüllte Beziehung,
der Mann in korrekter
Kleidung
Hochzeit
7.14. Die Hochzeitsgäste
waren tanzende Flammen
Erfüllung, kurzfristiges
Glück
erfüllte Hochzeit, Hochzeit, Feuer
7.15. Über die weite graue
Fläche des Himmels glitt ein
Schlittschuhläufer
Unwissenheit, Die verlo-
rene Hoffnung, Enttäu-
schung
ein Künstler, Alphabet, Botschaft
7.16. Dieser Herr besteht
nur aus Buchstaben
Hilflosigkeit – Tod aus
Unglück
Metzger, Frau, Mann aus
Buchstaben
Buchstaben-Alphabet,
Jahrmarkt
7.17. Eigentlich ging es um
die Schafe
Die Brutalität, die Ver-
folgung, Opfer, die
Macht
Metzger, Mann, Zwil-
lingsschwester
Schaffe, Tod, Dikta-
tur
7.18. Mann und Frau woll-
ten eine Ausstellung besu-
chen
Absurdität Mann und Frau, die
Ärzte, der Feuerwehr-
mann,
Kunst, Bombe,
Staubwedel, usw.
7.19. Dem jungen Arzt war
gestattet worden
Die Gnade, die Meditati-
on
Der Arzt Alphabet, Insekt,
Musik
7.20. Nach dem
Bureauschluß
Die Ausweglosigkeit, der
Opfer
Mann in korrekter Klei-
dung, Astronaut
Alphabet, weißer
Pferd, die Wüste,
zerstörte Landschaft
7.21. Der Bordellpalast auf
dem Berge erstrahlte in
dieser Nacht
Brutalität x Gnade, die
Macht
Das weiße Pferd mit dem
Greis, Hure, Gott x Teu-
fel
Bordell
7.22. Der Weltreisende
beschloss, seine Wanderung Die Hoffnung, der Weg
zum ICH, die Wahrheits-
suche
Kleines Kind – Meister,
Reisende
Bordellhaus
7.23. An diesem Abend
konnte der alte Seefahrer Unsinnigkeit des Streites Gefallener Engel, Seil-
tänzer
die Flügel
7.24. Unter einem
schwarzen Himmel liegt ein
unbewohnbares Land
Hoffnung, Phantasie Kind, Seiltänzer, Gaukler
Vater-Sohn, Alter-Kind
Zerstörte Landschafft,
das Theater, Hand in
Hand
7.25. Hand in Hand gehen
zwei eine Straße hinunter Hoffnungslosigkeit,
Enttäuschung, Sinnlosig-
keit, die Wahrheitssuche,
der Heimweh
Kind-Alter, Hure, Rei-
sende, Astronaut
Paradies, Hand in
Hand
7.26. Im Klassenzimmer
regnete es unaufhörlich Die Hoffnung, der Aus-
weg
Gefallener Engel, Mäd-
chen, Mann in korrekter
Kleidung, Arzt, alte
dicke Frau, Braut, Seil-
tänzer-Meister
Traumwandeln, Thea-
ter, der Korridor, die
grüne Tür
7.27. Im Korridor der
Schauspieler trafen wir
einige hundert Wartende an
Der Unerfüllter Traum,
die Verfolgung, die
Macht
Der Greis auf dem wei-
ßen Schimmel, die
Himmelsboten, die War-
tenden
das Theater, der Kor-
ridor
7.28. Das Feuer wurde von
neuem eröffnet Das Scheitern, die Hoff-
nung, die Macht, die
Flucht
Imperator, Greis und
Kinder
Korridor, grüne Tür,
Tod-Geburt, Brand
7.29. Der Zirkus brennt Die Ausweglosigkeit, der
Tod, die Freiheit, die
Macht, die Verfolgung –
die Flucht
Die Gaukler, Student-
Geschichte
Brand, Traum-
Wachwerden, Revol-
te, Insekt
7.30. Ein Winterabend, der
Himmel ist zartrosa, kalt
und weit
Die Erlösung wobei
keine Veränderung
Mädchen, Junge-
„Erlöser“, Soldaten, Hor,
„der Alte“
Grüne Tür, Labyrinth
106
8. 5. Die überwiegenden Tendenzen in den Motiven
Negative
Die Ausweglosigkeit
Der Opfer
Das Scheitern
Die Enttäuschung Das Scheitern
Die Hilflosigkeit
Die Nichterfüllung
Die verlorene Hoffnung
Die Unmenschlichkeit
Die menschliche Kälte
Die Grausamkeit
Die Unachtsamkeit Die unmenschliche Brutalität und Kälte
Die Verfolgung
Die Macht
Der Tod
Die Flucht
Die Absurdität
Der Glaube (blinder, verlorener)
Positive
Die Freiheitssuche
Die Sinnessuche
Die Wahrheitssuche Die Suche
ICH-Suche, die Heimkehr
Die Meditation
Die Erlösung
Der Ausweg Die Erfüllung
Die Gnade
Die Erfüllung
Die Hoffnung
Die Phantasie
Der Tod x die Geburt
107
9. Bibliographie
9.1. Primärliteratur
Ende, Michael: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München, 2008.
9.2. Sekundärliteratur
Aragon, Louis: Le Paysan de Paris. 1926.
Boccarius, Peter: Michael Ende: Der Anfang der Geschichte. München, 1995.
Breton, Andre: Der surrealistische Manifest. 1924.
Duplessis, Yves: Der Surrealismus. Hamburg. 1960.
Erhard Eppler, Michael Ende & Hanne Tächl: Phantasie, Kultur, Politik. Protokoll eines
Gesprächs. Weitbrecht Verlag in K. Thienemanns Verlag,1982.
Evans, Tamara S.: Robert Walsers Moderne, Bern. Stuttgart 1989, S.31.
Grimminger, Rolf: Literarische Moderne. Hamburg, 1995.
Keysers Grosses Stil-Lexikon Europa. 780 bis 1980. Keysersche Verlagsbuchhandlung,
München 1982.
Kirchbaum, Jörg; Ende, Michael: Archäologie der Dunkelheit – Gespräche über Kunst und
das Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart, 1985.
Kohtes, Michael: Der Rausch in Worten. Marburg, 1987.
108
Reents Friederike, Meier Anita: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin,
2009.
9.3. Internetquellen
<<http://www.mediabuehne.de/>> - (6.8.2010)
<< http://www.edgarende.de/Home.htm>> (28.10.2010)
<< http://www.oobe.ch/ende02.htm>> (31.10.2010) - Briefwechsel zw. Michael Ende und
Werner Zurfluh aus dem Jahr 1988.
<<http://www.berlinonline.de/berliner-
zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2001/0414/magazin/0028/index.html>> (29.10.2010)
<<http://www.amazon.de/Spiegel-im-Michael-Ende/dp/3522716205>> (2. 10. 2010)