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1 Prof. Dr. M. Mahlmann FS 2013 Methodenlehre I 21.6.2013 Dauer: 120 Minuten Kontrollieren Sie bitte sowohl bei Erhalt als auch bei Abgabe der Prüfung die Anzahl der Aufgabenblätter. Die Prüfung umfasst 4 Seiten und 5 Aufgaben. Hinweise zur Aufgabenlösung Notieren Sie bitte auf jedes Blatt die Fachbezeichnung, Ihre Prüfungslaufnummer sowie die Seitenzahl und lassen Sie den vorgedruckten Rand für Korrekturvermerke frei. Achten Sie bitte auf eine verständliche Ausdrucksweise und eine leserliche Schrift, um Punkteverlust zu vermeiden. Fremdsprachige Studierende können einen Vermerk anbringen, dass sie nicht deutscher Muttersprache sind. Hinweise zur Bewertung Bei der Bewertung kommt den Aufgaben unterschiedliches Gewicht zu. Die Punkte verteilen sich wie folgt auf die einzelnen Aufgaben: Aufgabe 1 30 Punkte 30 % des Totals Aufgabe 2 20 Punkte 20 % des Totals Aufgabe 3 20 Punkte 15 % des Totals Aufgabe 4 15 Punkte 15 % des Totals Aufgabe 5 15 Punkte 20 % des Totals Total 100 Punkte 100% Wir wünschen Ihnen viel Erfolg!

Methodenlehre I 21.6 - UZH · 1 Prof. Dr. M. Mahlmann FS 2013 Methodenlehre I 21.6.2013 Dauer: 120 Minuten Kontrollieren Sie bitte sowohl bei Erhalt als auch bei Abgabe der Prüfung

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Prof. Dr. M. Mahlmann FS 2013

Methodenlehre I

21.6.2013

Dauer: 120 Minuten

Kontrollieren Sie bitte sowohl bei Erhalt als auch bei Abgabe der Prüfung die Anzahl der

Aufgabenblätter. Die Prüfung umfasst 4 Seiten und 5 Aufgaben.

Hinweise zur Aufgabenlösung

Notieren Sie bitte auf jedes Blatt die Fachbezeichnung, Ihre Prüfungslaufnummer sowie

die Seitenzahl und lassen Sie den vorgedruckten Rand für Korrekturvermerke frei.

Achten Sie bitte auf eine verständliche Ausdrucksweise und eine leserliche Schrift, um

Punkteverlust zu vermeiden.

Fremdsprachige Studierende können einen Vermerk anbringen, dass sie nicht deutscher

Muttersprache sind.

Hinweise zur Bewertung

Bei der Bewertung kommt den Aufgaben unterschiedliches Gewicht zu. Die Punkte

verteilen sich wie folgt auf die einzelnen Aufgaben:

Aufgabe 1 30 Punkte 30 % des Totals

Aufgabe 2 20 Punkte 20 % des Totals

Aufgabe 3 20 Punkte 15 % des Totals

Aufgabe 4 15 Punkte 15 % des Totals

Aufgabe 5 15 Punkte 20 % des Totals

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Teil 1: Textanalyse (50 %)

Herr K. (geb. 1960) wanderte am Sonntag bei strahlendem Sonnenschein zwischen 15.40 und

16.00 Uhr nackt in einem beliebten Naherholungsgebiet im Kanton Appenzell A.Rh. Dabei kam

er u.a. an einem Grillplatz vorbei, der aber gerade nicht verwendet wurde. Ausserdem spazierte er

an einem Altersheim vorbei. Eine Passantin stellte K. zur Rede und erstattete Strafanzeige.

K. wurde wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 des Gesetzes über das

kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken verurteilt.

Das Bundesgericht musste u.a. entscheiden, ob Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR (s. sogleich unten)

hinreichend bestimmt ist und ob die Bestrafung K.s das angerufene Grundrecht auf persönliche

Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) verletzt.

Art. 10 Bundesverfassung (Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit)

2Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige

Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.

Art. 19 Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. über das kantonale Strafrecht (Strafrecht/AR)

Unanständiges Benehmen

Wer sich in angetrunkenem oder berauschtem Zustand öffentlich ungebührlich aufführt, wer in

anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt, wird mit Busse bestraft.

Aufgaben:

1. Bitte nehmen Sie zu den unten auszugsweise abgedruckten Ausführungen des

Bundesgerichts methodenkritisch Stellung. Was wird auslegt? Welche Methoden bzw.

Auslegungselemente werden wo angesprochen? Welche Methoden werden ggf. nicht

erwähnt? (30 %)

2. K. ist der Ansicht, dass die Tatbestandsmerkmale der Verletzung von „Sitte“ und

„Anstand“ heute nicht mehr als Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Regelungen dienen

dürften. Insbesondere dürfe doch der Richter nicht einfach seine Vorstellungen über

„bürgerliche Tugendhaftigkeit“ den Menschen „aufzwingen“. Diskutieren Sie K.s Ansicht.

Gehen Sie dabei auch auf das Problem des Richterrechts ein. (20 %)

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Auszug aus dem Urteil des Bundesgerichts:

„Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz

ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Der Grundsatz der Legalität ("nulla poena sine

lege") ist ebenfalls in Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ergibt sich auch aus Art. 5 Abs. 1,

Art. 9 und Art. 164 Abs. 1 lit. c BV. Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines

Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet

wird; wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei

weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht

subsumiert werden kann; oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt wird,

die rechtlich keinen Bestand hat. … Aus dem Grundsatz der Legalität wird das

Bestimmtheitsgebot abgeleitet ("nulla poena sine lege certa"). Eine Strafnorm muss hinreichend

bestimmt sein. Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten

danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen

entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann. Nach der Rechtsprechung des

Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darf das Gebot nach

Bestimmtheit rechtlicher Normen indessen nicht in absoluter Weise verstanden werden.

Das Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. über das kantonale Strafrecht stellt nicht ausdrücklich

das Nacktwandern oder das Nackt-Sein in der Öffentlichkeit unter Strafe. Es droht in Art. 19 für

"unanständiges Benehmen" Busse an. … Gemäss Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR wird bestraft, wer

"in anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt".

"Anstand" bezeichnet "die Form des zwischenmenschlichen Verhaltens, die als der Würde des

Menschen entsprechend angesehen wird. … Unter "Sitte" versteht man "die in einer Gesellschaft

oder Teilgesellschaft vorhandenen und angewendeten Regeln des Sozialverhaltens, sofern diese

nicht durch Gesetze festgelegt, sondern durch alltägliche Anwendung verankert sind, die sich

durch den Verweis auf Traditionen, Kultur, Brauch, moralische oder religiöse Vorstellungen

rechtfertigt".

Das Nacktwandern unterscheidet sich wesentlich etwa vom Baden, Sonnenbaden sowie von der

Ausübung von Sport und Spiel im Zustand der Nacktheit auf einem begrenzten Gelände. …

Gemäss Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf

körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. … Das Grundrecht auf

persönliche Freiheit umfasst neben den in Art. 10 Abs. 2 BV ausdrücklich genannten Rechten

auch das Recht auf Selbstbestimmung und auf individuelle Lebensgestaltung sowie den Schutz

der elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung. Das Grundrecht enthält jedoch

keine allgemeine Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne gegenüber jedem staatlichen Akt,

der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt, berufen kann. Die persönliche Freiheit

schützt nicht vor jeglichem physischen oder psychischen Missbehagen. Das Recht auf

individuelle Lebensgestaltung beinhaltet auch die Freiheit in der Auswahl der Bekleidung etwa

nach den Gesichtspunkten der Ästhetik und der Praktikabilität. … Das Verbot liegt schon mit

Rücksicht auf die nachvollziehbare Empörung über das Nacktwandern in Teilen der Bevölkerung

und die daher möglichen Zwistigkeiten sowie zwecks Verhinderung von Auswüchsen im

öffentlichen Interesse. Die Beschwerde ist in sämtlichen Punkten unbegründet.“

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Aufgabe 1.1

Gegenstand der Auslegung: Hinreichende Bestimmtheit der Strafnorm des Art. 19

Strafrecht/AR

Hinweis auf eine völkerrechtskonforme Auslegung der BV (als Sonderfall der

systematischen Auslegung)

„Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz

ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Der Grundsatz der Legalität ("nulla poena sine

lege") ist ebenfalls in Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ergibt sich auch aus Art. 5 Abs. 1,

Art. 9 und Art. 164 Abs. 1 lit. c BV.

Systematische Auslegung

Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das

im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet wird;

Grammatikalische Auslegung (hier wird der „Wortlaut“ der Norm ausgelegt)

wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei

weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht

subsumiert werden kann; oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt

wird, die rechtlich keinen Bestand hat.

zumindest der letzte Fall stellt eine Auslegung dar, die sich nicht mehr nur aus dem

Wortlaut der Norm ergibt, sondern die Zweckmässigkeitserwägungen mit einbezieht

(teleologische Auslegung)

Aus dem Grundsatz der Legalität wird das Bestimmtheitsgebot abgeleitet ("nulla poena sine lege

certa"). Eine Strafnorm muss hinreichend bestimmt sein. Das Gesetz muss so präzise formuliert

sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens

mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann.

Teleologische Auslegung (Was „Normbestimmtheit“ meint, ergibt sich wesentlich aus

der Analyse, wozu Bestimmtheit erforderlich ist.)

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für

Menschenrechte darf das Gebot nach Bestimmtheit rechtlicher Normen indessen nicht in

absoluter Weise verstanden werden.

Anklänge der völkerrechtskonformen Auslegung der BV

Argumentum ad absurdum (Absolute Bestimmtheit der Norm zu verlangen, würde zu

unzweckmässigen Ergebnissen führen).

1 Der Fall ist BGE138 IV 13 – Nachtwandern – nachgebildet.

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Das Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. über das kantonale Strafrecht stellt nicht ausdrücklich

das Nacktwandern oder das Nackt-Sein in der Öffentlichkeit unter Strafe. Es droht in Art. 19 für

"unanständiges Benehmen" Busse an. … Gemäss Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR wird bestraft, wer

"in anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt".

Hier handelt es sich um eine grammatikalische Auslegung, da mit dem Wortlaut

gearbeitet wird.

"Anstand" bezeichnet "die Form des zwischenmenschlichen Verhaltens, die als der Würde des

Menschen entsprechend angesehen wird. … Unter "Sitte" versteht man "die in einer Gesellschaft

oder Teilgesellschaft vorhandenen und angewendeten Regeln des Sozialverhaltens, sofern diese

nicht durch Gesetze festgelegt, sondern durch alltägliche Anwendung verankert sind, die sich

durch den Verweis auf Traditionen, Kultur, Brauch, moralische oder religiöse Vorstellungen

rechtfertigt".

Gegenstand der Auslegung: Tatbestandsmerkmale „Anstand“ und „Sitte“

*Hier handelt es sich um eine grammatische Auslegung, allerdings fliessen teleologische

Erwägungen ein („der Würde des Menschen entsprechend“).

Das Nacktwandern unterscheidet sich wesentlich etwa vom Baden, Sonnenbaden sowie von der

Ausübung von Sport und Spiel im Zustand der Nacktheit auf einem begrenzten Gelände. …

Argumentum e contrario: Hier wird ein Analogieschluss ausgeschlossen. Weil sich das

erlaubte Verhalten (z.B. Baden) wesentlich vom fraglichen Verhalten (Nacktwandern)

unterscheidet, können beide in den Rechtsfolgen unterschiedlich behandelt werden. Die

Erlaubnisnorm „Baden in der Sozialsphäre ist erlaubt“ deckt nicht den Fall des

Nacktwanderns.

Gemäss Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf

körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. … Das Grundrecht auf

persönliche Freiheit umfasst neben den in Art. 10 Abs. 2 BV ausdrücklich genannten Rechten

auch das Recht auf Selbstbestimmung und auf individuelle Lebensgestaltung sowie den Schutz

der elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung.

Gegenstand der Auslegung: Ist Nacktwandern vom Schutzbereich des Rechts auf

persönliche Freiheit umfasst?

Hier geht es implizit um eine grammatikalische Auslegung und deren Grenzen im Fall von

Art. 10 Abs. 2 BV (wesentliche Aspekte der Norm sind dem Wortlaut nicht zu

entnehmen, sondern müssen durch Auslegung ermittelt werden). *Dabei handelt es sich

im Wesentlichen um Richterrecht.

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Das Grundrecht enthält jedoch keine allgemeine Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne

gegenüber jedem staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt,

berufen kann. Die persönliche Freiheit schützt nicht vor jeglichem physischen oder psychischen

Missbehagen. Das Recht auf individuelle Lebensgestaltung beinhaltet auch die Freiheit in der

Auswahl der Bekleidung etwa nach den Gesichtspunkten der Ästhetik und der Praktikabilität. …

Hier steht eine unausgesprochene teleologische Auslegung im Hintergrund.

Das Verbot liegt schon mit Rücksicht auf die nachvollziehbare Empörung über das Nacktwandern

in Teilen der Bevölkerung und die daher möglichen Zwistigkeiten sowie zwecks Verhinderung von

Auswüchsen im öffentlichen Interesse. Die Beschwerde ist in sämtlichen Punkten unbegründet.“

Nicht angesprochene Auslegungsmethoden (diese sind ausweislich der Aufgabenstellung kurz zu

erläutern):

historische Auslegung: Die historische Auslegungsmethode sucht den Sinn einer Norm in

den Umständen ihrer Entstehung. Als Begründung dieser Auslegungsmethode wird

insbesondere ein demokratietheoretisches Argument angeführt: Der Rechtsanwender

sei an den Sinn der Norm, wie er von dem damaligen, zur Rechtssetzung befugten Organ

verstanden wurde, gebunden. Man unterscheidet die subjektiv-historische

Auslegungsmethode, die nach dem tatsächlichen (historischen) Willen des historischen

Gesetzgebers fragt, von der objektiv-historischen Methode, die auf die historisch mit der

Gesetzgebung verfolgten Zwecke abstellt.

systematische Auslegung: Die systematische Auslegung ermittelt den Sinn einer

Rechtsnorm aus ihrem Verhältnis zu anderen Rechtsnormen oder ihrer Stellung in einem

Gesetz. Dabei können Titel und Überschriften eine Rolle spielen. Sonderfälle der

systematischen Auslegung sind die verfassungs- oder völkerrechtskonforme Auslegung.

zeitgemässe Auslegung: Sofern man in der zeitgemässen Auslegung keinen Sonderfall

der teleologischen Auslegung erblickt, ist auch sie hier zu erwähnen. Diese

Auslegungsmethode stellt auf das Normverständnis ab, wie es zur Zeit der

Rechtsanwendung besteht. Sie steht daher in einem Spannungsverhältnis zur

historischen Auslegung. Diese Auslegungsmethode gibt dem Rechtsanwender einen

grossen Spielraum an die Hand. Problem ist die evtl. damit verbundene Einbusse an

Rechtssicherheit. Diese Methode spielt im europäischen Verfassungsrecht (Europarecht,

EMRK-Recht eine bedeutende Rolle).

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Aufgabe 2.

Die Aufgabenstellung spricht zwei Problemkomplexe an:

a) Das Problem der Unbestimmtheit von Rechtsbegriffen wie „Sitte“ und „Anstand“, speziell im

Kontext von Strafrechtsnormen.

b) Das Problem des Richterrechts in diesem Kontext.

Zu a)

Es gibt in der polizeirechtlichen Literatur eine Diskussion, die die Tauglichkeit der

„öffentlichen Sittlichkeit“ als Schutzgut des Polizei-/Übertretungsstrafrechts in Frage

stellt (für CH vgl. P. Taschannen, „Öffentliche Sittlichkeit“: Sozialnormen als polizeiliches

Schutzgut?, in Mélanges en l’honneur de Pierre Moor, 2005,553 ff.).

Im Ausgangsfall hatte der Beschwerdeführer argumentiert, dass „öffentliche Sittlichkeit“

als eigenständiger Tatbestand für eine straf-/bussgeldbewehrte Norm in einem

freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht mehr zu halten sei.

Diese Tatbestandsmerkmale seien notwendig unbestimmt.

Erforderlich sei daher immer eine spezielle, gesetzliche Regelung; nur wenn man sich auf

eine solche geeinigt habe, könne das sittliche Empfinden der Bevölkerung Schutz

beanspruchen.

Gegen diese Argumentation lässt sich anführen:

o i) Unbestimmte Rechtsbegriffe sind dem Recht keineswegs fremd; jedes moderne

Rechtssystem operiert mit Begriffen, die mehr oder weniger bestimmt sind (z.B.

„öffentliches Interesse“, „angemessene Entschädigung“).

o ii) Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichts sowie des EGMR kann

eine absolute Bestimmtheit auch für Strafrechtsnormen und Normen des

Übertretungsstrafrechts nicht verlangt werden. Vielmehr dürfen gewisse Fragen

der Rechtsanwendung überlassen werden.

o iii) Als Konkretisierungshilfe bei der Bestimmung dieser Begriffe dient die

Methode der verfassungs- und ggf. völkerrechtskonformen Auslegung (als

Sonderfall der systematischen Auslegung).

o iv) Zugleich kann – insbesondere auch bei Normen des Polizeirechts oder

Übertretungsstrafrechts – wie hier auch die gefestigte Rechtsprechung der

Gerichte zur Konkretisierung herangezogen werden: Unbestimmte Rechtsbegriffe

sind daher nicht mehr „unbestimmt“, wenn ihnen regelmässig ein bestimmter

Sinn (eine bestimmte Auslegung) beigegeben wird.

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Zu b)

Diese Frage zielt auf das institutionelle Folgeproblem: Wenn Normen des Straf- bzw.

Übertretungsunbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, dann wird das Problem ihrer

Konkretisierung auf den rechtsanwendenden Richter verlagert.

Gerade bei Normen, die stark wertungsbezogene Tatbestandsmerkmale, wie hier das

der „öffentlichen Sittlichkeit“ enthalten, entsteht leicht der Vorwurf des Subjektivismus

oder des Rechtspaternalismus durch den Richter.

Dagegen ist zu sagen:

o Richterrecht ist nicht per se ein Problem. Die Tätigkeit der Judikative ist eine

legitime Form der Ausübung öffentlicher Gewalt.

o Es ist heute anerkannt, dass Rechtsanwendung immer auch ein schöpferischer,

kreativer Vorgang im Umgang mit Normen ist. Der Richter ist keineswegs nur „la

bouche qui prononce les paroles de la loi“, wie Montesquieu meinte. Der Richter

ist kein „Subsumtionsautomat“.

o Dennoch: Der Richter ist nur insoweit zur „Setzung“ von Richterrecht befugt, wie

das geltende, demokratisch legitimierte Recht dafür Raum lässt. Der Richter ist

also keineswegs frei. Er ist an Gesetz und Recht gebunden, ausserdem gebiete die

Gewaltenteilung eine gewisse Zurückhaltung bei der Auslegung.

Bezogen auf den vorliegenden Fall heisst das:

o Der Richter ist aufgerufen, den unbestimmten Rechtsbegriff der „Sitte“

auszulegen. Der Begriff ist einer juristischen Auslegung nicht unzugänglich.

Solange der Richter seine Auslegung auf die anerkannten Auslegungsmethoden

stützen kann, ist das gefundene Ergebnis methodisch vertretbar.

o In diesem Fall handelt es sich dann auch nicht um das Aufzwingen subjektiver

bürgerlicher Tugenden durch den Richter.

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Teil 2: Einzelfragen (50 %)

3. Welche Probleme bei der Auslegung von Recht kennen Sie, die mit dem Wortlaut der

Norm verbunden sind? (15 %)

Die Wortlautauslegung (sprachlich-grammatikalische Auslegung) gehört zu den

klassischen Auslegungskriterien von Normen nach Savigny.

Problem des Bedeutungsermittlung von Rechtssprache (Drei-Bereiche Modell,

Referenzmodell, soziales Gebrauchsmodell, Modell der Dekonstruktion, Kontextmodell

etc.)

o Bsp.: Was bedeutet „Schusswaffe“? Fällt die täuschend echte Spielzeugpistole

darunter?

o Drei-Bereiche Modell (Ph. Heck): zu unterscheiden sind positive, neutrale oder

negative Kandidaten; positiv = sichere Normerfüller; negativ = sichere

Normernichterfüller; neutral = Normerfüller, wenn TBM extensiv ausgelegt wird;

Normnichterfüller, wenn Norm restriktiv ausgelegt wird (Problem: Die

Möglichkeit der Einteilung setzt ein unabhängiges Kriterium voraus; dieses wird

von dieser Theorie aber nicht benannt.)

o Referenzmodell: Beziehung des Sprachzeichens zum Gegenstand; Definition eines

Begriffs durch Aufzählung verschiedener Beispiele (extensional); Umschreibung

der Merkmale eines Begriffs (intensional)

o Soziales Gebrauchsmodell: relevant ist, wie der Begriff im Rechtsdiskurs

verwendet wird; Wittgenstein

o Dekonstruktion: relevant für die Bedeutung eines Begriffs ist, welche Macht der

Begriffsverwender im Diskurs ist

o Kontextmodell (Mahlmann): Normbedeutungen werden mit Hilfe eines Modells

der universalen Grammatik und des universalen Sprachgebrauchs ermittelt

Nach hM hat die Auslegung bei der Ermittlung des Wortsinns zu beginnen.

Unter dem „Wortsinn“ wird gemeinhin die Bedeutung im Allgemeinen oder besonderen

juristischen Sprachgebrauch verstanden.

Der Wortsinn ist ein wichtiges „Indiz“ bei der Ermittlung des Normsinns.

Probleme der Auslegung aufgrund des Wortlauts

o Problem: Vagheit oder Mehrdeutigkeit des Wortsinns eines Ausdrucks

Deskriptive Tatbestandsmerkmale lassen „semantische Spielräume“

offen, z.B. Wohnung (fällt darunter auch der Wohnwagen oder das

Krankenhauszimmer? Das Auto?)

Differenzierung: Man unterscheidet hier zwischen „enger“ oder „weiter“

Auslegung. Bei enger Auslegung eines Normausdrucks gibt es „klare“

Normerfüller, also Gegenstände/Personen, auf die die Norm

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unzweifelhaft Anwendung findet (z.B. die Wohnung in einem

Mehrfamilienhaus). Ebenso gibt es beider engen Auslegung eine klare

Normnichterfüllung, z.B. die Matratze unter der Brücke. Dann gibt es

„neutrale Kandidaten“, bei denen man aufgrund des Wortsinns weder

eindeutig „ja“ noch eindeutig „nein“ sagen kann, z.B. dem Zelt oder dem

Wohnwagen. Hier müssen weitere Auslegungskriterien bemüht werden.

In diesem Fall kann die Auslegung nicht bei dem Wortsinn stehenbleiben,

sondern muss weitere Indizien (Systematik, Teleologie) heranziehen.

Gesetzgeber kann Legaldefinitionen vorsehen; aber auch diese können

auslegungsbedürftig sein.

o Problem: Normative Tatbestandsmerkmale sind durch Wertung auszufüllen, z.B.

Die Polizei darf Tiere und Gegenstände sicherstellen, um eine erhebliche Gefahr

abzuwehren, § 38a PolG ZH.

normative Tatbestandsmerkmale sind einmal juristische Fachtermini, wie

z.B. Gefahr; zu deren Auslegung muss auf die juristische Dogmatik, d.h.

die Entfaltung einer Bedeutung einer Norm durch rationale

Argumentation, zurückgegriffen werden

normative Tatbestandsmerkmale sind auch Begriffe, die auf eine

gesellschaftliche Wertung zurückgreifen, z.B. „erheblich“ (s.o.); hier muss

der Rechtsanwender eine Wertung vornehmen

o Problem: Generalklauseln, z.B. „Treu und Glauben“; das „öffentliche Interesse“;

auch hier ist eine wertende Ausfüllung geboten; Bedeutungssicherheit kann hier

insbes. eine konsistente Rechtsprechung liefern

o Problem: Relativität der Rechtsbegriffe, d.h. Ausdrücke bedeuten in einem

Rechtsgebiet (sogar bisweilen in einem Gesetz) nicht immer dasselbe, z.B.

Urkunde im Strafrecht ist etwas anderes als Urkunde im Zivilprozessrecht

o Problem: „Verfremdung“ der Normalsprache durch juristische Sprache; als

Gesetzesterminus kann ein Ausdruck eine von der Alltagssprache abweichende

Bedeutung annehmen (s. oben: Nach hM ist auch ein Zelt eine „Wohnung“.)

o Problem: Mehrsprachigkeit von Rechtsquellen (v.a. im Völkerrecht);

harmonisierende Auslegung unter Berücksichtigung des Ziels der Norm (s. Art. 33

der Wiener Vertragsrechtskonvention)

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4. Nach einer zuweilen vertretenen Ansicht kann Recht ohne Bezug auf Moral ausgelegt

und angewandt werden. Diskutieren Sie diese Ansicht! (15 %)

s. „exclusive legal positivism“ (vertreten u.a. von R. Raz, S. Shapiro, A. Marmor)

Hintergrund dieser Ansicht ist der Streit zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus.

Während das Naturrecht von der Verbindungsthese ausgeht (Recht und Moral sind

notwendig verbunden), kennzeichnet die Positionen des Rechtspositivismus, dass eine

notwendige Verbindung beider Normordnungen geleugnet wird.

Allerdings halten auch manche Rechtspositivisten (die sog. inclusive legal positivists, z.B.

Will Waluchow, Jules Coleman; wohl auch H.L.A. Hart) eine Verbindung beider

Normordnungen für möglich (aber eben nicht für notwendig), etwa wenn das positive

Recht Inkorporationsnormen enthält, die sich auf moralische Standards beziehen.

Für die Ansicht kann angeführt werden:

o Über Fragen der Moral besteht oft Streit; eine „objektive“ Theorie der Moral

erscheint vielen als nicht begründbar; daher ist es gut, Fragen der Moral aus dem

Recht, das eindeutige Ergebnisse produzieren muss, herauszuhalten. Das gebietet

das Gebot der Rechtssicherheit.

o Wer eine moralische Argumentation im Recht befürwortet, will seine Interessen

bzw. Werte mit den Mitteln staatlichen Zwangs durchsetzen. Das ist nicht

demokratisch.

Gegen diese Ansicht sprechen folgende Argumente:

o Existenz abstrakter Normen, insbes. Grundrechte und Generalklauseln; hier

besteht eine besondere Konkretisierungsbedürftigkeit, wobei z.T. auf ethische

Prinzipien zurückgegriffen werden muss (z.B. „Treu und Glauben“, „gute Sitten“;

Menschenwürde als selbständiges Grundrecht).

o Grundrechte werden heute zumeist als positiviertes Naturrecht verstanden; dann

aber bleiben sie in ihrer Auslegung ein Stück weit abhängig von dieser Tradition.

o Zumindest bei der teleologischen Auslegung wird der Rechtsanwender oft auch

auf ausserrechtliche Normen, etwa der Moral, zurückgreifen müssen.

o Eine überzeugende Grundrechtstheorie kommt ohne Bezug auf moralische

Erwägungen nicht aus, wenn sie tatsächliche Unbestimmtheiten dieser Rechte in

Angriff nimmt.

o Auch die hard cases lassen sich oft nur unter Rückgriff auf Prinzipien lösen, die

nicht allein der positiven Rechtsordnung entnommen werden können.

o Es muss die Möglichkeit geben, schlechthin ungerechtes Recht unter Bezug auf

die Moral zu invalidieren.

Zum „Verschwimmen“ beider Positionen vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und

Rechtstheorie, 2. Aufl., 2012, § 20 III.

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5. In seinem Werk „Die unbegrenzte Auslegung“ schreibt Bernd Rüthers: „Das Recht des

NS-Staates war nach der Vorstellung der Machthaber ein Instrument zur totalen

Herrschaft und zugleich zur möglichen Beseitigung jeder formalen und materialen

juristischen Machtschranke, die durch irgendwelche Rechtsregeln entstehen konnte“ (5.

Aufl., Heidelberg 1997, S. 110). Erläutern Sie diese Aussage! (20 %)

Hintergrund:

o Es bestand die Forderung, dass alle Gesetze des NS-Staates ausschliesslich im

„nationalsozialistischen Sinne“ auszulegen seien. Das Recht hatte damit einer

Ideologie zu dienen und diese zu verwirklichen.

o Grundsatz der Auslegung aus nationalsozialistischer Weltanschauung

Mittel:

o Gesetzgeber stellte den Vorschriften bestimmte Vorsprüche oder Regeln der

Auslegung voran (z.B. Präambeln)

o Weltanschauung als Instrument zur Erlangung und Erhaltung der Herrschaft

Recht als Instrument der totalen Herrschaft

o Ablehnung einer philosophisch begründeten, überpositiven Rechtsidee

o aber wichtig: zugleich auch Ablehnung eines formal-positivistischen

Rechtsbegriffs

o denn dieser stand dem Machtwillen Hitlers entgegen („Recht liege in der Macht“)

Recht als Instrument zur Beseitigung jeder Machtschranke

o Uminterpretation des überkommenen Recht im Lichte der nationalsozialistischen

Weltanschauung

o Rechtsnormen, die der ungehinderten Macht entgegenstehen, werden beseitigt,

Bsp. Notverordnungen