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Mittelalter in der größeren Welt Mediävistik als globale Geschichte Wer in Berlin Geschichte professionell betreibt, sei es als Studierender, sei es als Do- zentin oder Dozent, tut es an keinem Ort wie jedem anderen. Erst recht gilt das an der Humboldt-Universität. Denn dies ist ein Platz bedeutender wissenschaftlicher Auf- brüche, dem politische Umwälzungen, ja Katastrophen wiederholt schweren Schaden zugefügt haben. Keinem wachen Zeitgenossen kann der Nachhall dieser Ereignisse verborgen bleiben, zumal die Nähe zum politischen Zentrum unseres Gemeinwesens und die Konzentration der Medien in unserer Umgebung die historische Erinnerung aktualisieren. Jeder, der Geschichtswissenschaft in ethischer Verantwortung begreift, muss den Erfahrungen Berlins und seiner Universität Unter den Linden Rechnung tragen. Ich habe jedenfalls meine Rolle als Professor für Mittelalterliche Geschichte von Anfang an so verstanden, dass sich hier exzellente Forschung und der Dialog mit der jüngeren Geschichte beziehungsweise der Öffentlichkeit gegenseitig bedingen. Seit meiner Berufung 1991 haben sich unterschiedliche Aufgaben gestellt. Die erste Herausforderung bestand darin, als Westdeutscher an der führenden Universität der untergegangenen DDR zu einer fairen Auseinandersetzung mit dem geschichtswissen- schaftlichen Erbe der ostdeutschen Mediävistik zu finden. Als Sozialhistoriker, der ich damals war, wollte ich herausfinden, welche Errungenschaften der marxistischen Me- diävistik bei aller notwendigen ideologischen Distanzierung für künftige Mittelalter- forschungen im geeinten Deutschland bewahrenswert waren. Das Ergebnis enttäuschte mich, denn fast alles, was diesseits der Elbe geleistet worden war und durch den politi- schen Umbruch nicht entwertet wurde, hatte die westliche Geschichtswissenschaft auch, wenn nicht besser, aufzubieten. Mein vergleichendes Studium der beiden deutschen Mediävistiken der Nachkriegszeit ernüchterte zudem durch die Einsicht, dass die So- zialhistorie anscheinend selbst ihre Inspirationskraft eingebüßt hatte; als Projekt der 1960er Jahre war sie, natürlich ohne ihre Agenda schon erfüllt zu haben, kein Faszino- sum für kreative Köpfe mehr. Anders verhielt es sich mit dem Vorhaben einer europäischen Geschichte des Mittel- alters. Für sie fehlte bis Mitte der neunziger Jahre noch jede wissenschaftlich überzeu- gende Realisierung. Obschon die aktuellen politischen Determinanten für eine Über- windung oder besser Ergänzung der herkömmlichen nationalgeschichtlichen Betrach- Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/6/14 8:42 AM

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Mittelalter in der größeren Welt

Mediävistik als globale Geschichte

Wer in Berlin Geschichte professionell betreibt, sei es als Studierender, sei es als Do-zentin oder Dozent, tut es an keinem Ort wie jedem anderen. Erst recht gilt das an derHumboldt-Universität. Denn dies ist ein Platz bedeutender wissenschaftlicher Auf-brüche, dem politische Umwälzungen, ja Katastrophen wiederholt schweren Schadenzugefügt haben. Keinem wachen Zeitgenossen kann der Nachhall dieser Ereignisseverborgen bleiben, zumal die Nähe zum politischen Zentrum unseres Gemeinwesensund die Konzentration der Medien in unserer Umgebung die historische Erinnerungaktualisieren. Jeder, der Geschichtswissenschaft in ethischer Verantwortung begreift,muss den Erfahrungen Berlins und seiner Universität Unter den Linden Rechnungtragen. Ich habe jedenfalls meine Rolle als Professor für Mittelalterliche Geschichte vonAnfang an so verstanden, dass sich hier exzellente Forschung und der Dialog mit derjüngeren Geschichte beziehungsweise der Öffentlichkeit gegenseitig bedingen.Seit meiner Berufung 1991 haben sich unterschiedliche Aufgaben gestellt. Die erste

Herausforderung bestand darin, als Westdeutscher an der führenden Universität deruntergegangenen DDR zu einer fairen Auseinandersetzung mit dem geschichtswissen-schaftlichen Erbe der ostdeutschen Mediävistik zu finden. Als Sozialhistoriker, der ichdamals war, wollte ich herausfinden, welche Errungenschaften der marxistischen Me-diävistik bei aller notwendigen ideologischen Distanzierung für künftige Mittelalter-forschungen im geeinten Deutschland bewahrenswert waren. Das Ergebnis enttäuschtemich, denn fast alles, was diesseits der Elbe geleistet worden war und durch den politi-schen Umbruch nicht entwertet wurde, hatte die westliche Geschichtswissenschaft auch,wenn nicht besser, aufzubieten. Mein vergleichendes Studium der beiden deutschenMediävistiken der Nachkriegszeit ernüchterte zudem durch die Einsicht, dass die So-zialhistorie anscheinend selbst ihre Inspirationskraft eingebüßt hatte; als Projekt der1960er Jahre war sie, natürlich ohne ihre Agenda schon erfüllt zu haben, kein Faszino-sum für kreative Köpfe mehr.Anders verhielt es sich mit dem Vorhaben einer europäischen Geschichte des Mittel-

alters. Für sie fehlte bis Mitte der neunziger Jahre noch jede wissenschaftlich überzeu-gende Realisierung. Obschon die aktuellen politischen Determinanten für eine Über-windung oder besser Ergänzung der herkömmlichen nationalgeschichtlichen Betrach-

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tungsweise auf der Hand liegen1 und von mir ausdrücklich anerkannt wurden, wirktenbei der Zuwendung zu diesem Themenfeld doch in erster Linie forschungsimmanenteImpulse. Zum einen war die Forderung des Franzosen Marc Bloch schon von 1928,europäische Geschichte vergleichend zu betreiben, trotz ungezählter Ermahnungen nochnie erfüllt worden, zum anderen wandte sich die Historie jetzt überraschend wieder derGeschichtsschreibung zu. Diese Aufgabe von Geschichte als Wissenschaft hatten nochmeine akademischen Lehrer verworfen, weil sie sich als gebrannte Kinder der NS-Zeitund des Zweiten Weltkrieges den Wertentscheidungen, die jede Historiographie erfor-dert, nicht stellen wollten. Die neue Akzeptanz der Geschichtsschreibung, die in ande-ren Teilbereichen der Historie eher stärker als in der Mediävistik ausgeprägt war, hattenatürlich auch damit zu tun, dass die Universitätshistoriker ihre Aufgaben im öffent-lichen Diskurs wieder ernst nehmen wollten.Der Weg zu europäischen Geschichten des Mittelalters auf komparatistischer Grund-

lage, die ich 2002 und 2006 vorlegen konnte, war windungsreich, steinig und vollerUntiefen; vor allem gab es keine Hinweisschilder anderer, wie ans Ziel zu gelangenwäre, und keinen Kanon des Wissens, das zu vermitteln war. Die ungewohnte Freiheitbei der historischen Arbeit belohnte indessen alle Mühen, ja die Konstruktion undErzählung der Geschichte erwies sich in diesem Fall als ein euphorisierendes Erlebnis,das ich auch allen jüngeren Kolleginnen und Kollegen wünschen möchte. Andererseitswar ich bei der Niederschrift dieser Werke stets davon überzeugt, mit ihnen in derGeschichtswissenschaft nur auf Ablehnung und Widerstand zu stoßen. Tatsächlich wardie Resonanz auf meine Bücher zuerst in den Medien und bei den Nachbarfächern posi-tiver, aber erstaunlicherweise zog ‚die Zunft‘ dann nach. Meine zentrale These war,dass Europa im Mittelalter keine Einheitskultur gewesen ist und weder auf die antikengriechisch-römischen Überlieferungen noch auf die christlichen Wurzeln allein zurück-geführt werden kann. Dagegen seien auf dem Kontinent in seiner ganzen Geographiemehrere Kulturen zu unterscheiden, die nebeneinander bestanden und aufeinander ein-wirkten und für die ich Christentum, Judentum und Islam als religiöse Grundlagenbenannte. Tatsächlich lassen sich ja im Westen der Bereich der katholischen Kirche, imOsten die griechisch dominierte christliche Orthodoxie sowie im Süden die muslimi-schen Randländer – zunächst in Spanien und Unteritalien, dann in Griechenland und aufdem Balkan – erkennen, während die Juden in allen diesen Zonen Europas anzutreffenwaren, wenn auch in unterschiedlicher Dichte. Statt vom christlichen sei also von einemmonotheistischen Europa zu sprechen. Natürlich habe ich mit meinem Deutungsansatzauch auf die Beobachtung reagiert, dass sich unsere Lebenswelt durch den Zuzug vonAngehörigen unterschiedlicher Religionen verändert und namentlich das Verhältnis zuden Muslimen ein gesellschaftlich brisantes Problem aufgeworfen hat. Europas Ge-

—————————————1 Michael Borgolte, Vor dem Ende der Nationalgeschichten? Chancen und Hindernisse für eine

Geschichte Europas im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, 561–596 [ND in diesemBd., 31–59].

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schichte im Zeichen des Monotheismus zu deuten, erlaubte auch, die Dialektik von Ge-walt und Verständigung, Anziehung und Abstoßung zu verstehen, denn im Bezug aufden Einen Gott konnten sich die Angehörigen verschiedener Religionen ebenso fried-lich verständigen wie feindselig miteinander rivalisieren. Hier dürfte eine Wurzel fürdie Dynamik der europäischen Geschichte gelegen haben, die ein Kult der vielen Götterso nicht hätte entbinden können.Wenn es also kaum eine europäische Identität geben konnte und kann, die von allen

Bewohnern des Kontinents geteilt wird, ist eben die Nicht-Identität Kennzeichen derEuropäer, und diese These ist in der internationalen Debatte bereits mehrfach vertretenworden.2 Gewiss kann man nicht sagen, dass die neuen Einsichten inzwischen allenthal-ben akzeptiert worden sind, aber immer mehr jüngere Mediävistinnen und Mediävistenerkennen, dass die kognitive Entgrenzung, die ein Abschied von der Abendlandge-schichte des Mittelalters mit sich bringt, durch neue Forschungsimpulse belohnt wird.Eine beachtliche Ausstrahlung hat in diesem Sinne ein Schwerpunktprogramm derDeutschen Forschungsgemeinschaft erlangt, das von 2005 bis Mitte 2011 gelaufen istund hier an der Humboldt-Universität sowie an der Universität Heidelberg koordiniertwurde. Unter dem Titel „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischenMittelalter“ erforschten Dutzende interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen anrund zwanzig deutschen Universitäten die dialektischen Prozesse von ephemerer Ein-heitsbildung und gegenläufiger Diversifikation in Europa.3

Wie alle anderen Konzeptionen hatte allerdings auch meine Geschichtsschreibungihre Schwächen. Natürlich konnte ich wie alle meine Vorgänger das gravierendste Pro-blem nicht bewältigen, dass über die Grenzen Europas kein Konsens besteht. Es ist auchnicht erkennbar, wie dies überhaupt möglich sein sollte. Die Frage nach den GrenzenEuropas hat schon Herodot nicht beantwortet, weil ihm der Westen unbekannt war, undmindestens seit dem Mittelalter gilt das Gleiche für den Osten. Zweifellos könnten nurdie Politiker, nicht aber die Historiker, über Europas Grenzen entscheiden, doch würdensie dabei mit der Geschichte Europas selbst brechen müssen. Das Schlüsselproblem istbekanntlich, ob Russland und die Türkei, die Staaten und die Völker, zu Europa ge-hören sollen oder nicht. Wird die Frage bejaht, und zwar nur in einem der beiden Fälle,dann würden die Grenzen unseres Kontinents bis zum Stillen Ozean oder zum BergArarat, also weit nach Asien hinein, vorgeschoben, so dass die Rede von Europa sinnloswürde; wird sie aber verneint, verlöre Europa einen Teil seiner Geschichte. Denn nichterst seit Peter dem Großen, sondern seit der Konversion der Rus’ zum orthodoxenChristentum gehört Russland Europa an, während die muslimischen Türken als Erbenvon Byzanz schon seit dem 14. Jahrhundert auf europäischem Boden heimisch gewor-den sind.—————————————2 Edgar Morin, Europa denken. Frankfurt am Main / New York 1991; Norman Davies, Europe. A

History. Oxford / New York 1996, 28.3 Vgl. bes. Michael Borgolte / Julia Dücker /Marcel Müllerburg u. a. (Hrsg.), Integration und Desin-

tegration der Kulturen im europäischen Mittelalter. (Europa im Mittelalter, Bd. 18.) Berlin 2011.

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Die Schwierigkeiten mit den Außengrenzen verschärfen sich noch durch die unbe-streitbare Einsicht, dass die drei monotheistischen Religionen nicht nur das geogra-phisch so oder so bestimmte Europa, sondern auch Nordafrika und Vorderasien bis zumIndus geprägt haben; ein besonderer Bezug auf unseren Kontinent müsste also durcheinen interkontinentalen Vergleich eigentlich erst einmal abgesichert werden. Ver-suchsweise war auch schon von einer monotheistischen Weltzone die Rede, die überEuropa weit hinausging und vom Atlantik bis zum Indus reichte. Andererseits lässt sichnicht verkennen, dass es im mittelalterlichen Europa neben monotheistischen Juden,Christen und Muslimen auch Polytheisten, Dualisten und wohl auch Atheisten gegebenhat.4 Schließlich ist es gewiss zu einfach, Kulturen mit Religionen gleichzusetzen oderaus diesen abzuleiten.Die Probleme einer vergleichenden europäischen Geschichte des Mittelalters lassen

sich umgehen durch die Konzepte der Globalgeschichte. Anders als der Begriff sugge-rieren könnte, will Globalgeschichte nicht unbedingt Geschichte der ganzen Welt sein;5

deshalb lässt sie sich auch aufs Mittelalter anwenden, das als eine beschränkte Öku-mene von Europa, Nordafrika und Asien verstanden werden kann und mit den anderenWelten der beiden Amerikas, Afrikas südlich der Sahelzone und der pazifischen Insel-welt noch keine Kommunikationsgemeinschaft gebildet hat. Abgrenzungsprobleme wiefür Europa ergeben sich hier also nicht. Im Unterschied zur vergleichenden europäi-schen Geschichte stehen bei der Globalhistorie die Beziehungen und Wechselwirkun-gen von Menschen verschiedener Völker, Kulturen und Religionen im Vordergrund;Globalgeschichte definiert also nicht in problematischer Weise verschiedene Zivilisa-tionen, um diese komparativ miteinander in Beziehung zu setzen. Die Festschreibungvon ‚Großkulturen‘ auf bestimmte Räume und die Behauptung ihrer Homogenität gel-ten ihr als suspekt. Mit ihrem beziehungsgeschichtlichen Ansatz, der herkömmlichemhistorischem Denken gerecht wird, ist sie methodisch viel weniger anspruchsvoll alsvergleichende Geschichte, die die meisten Forscherinnen und Forscher rasch überfor-dert. Erfolgreich ist Globalgeschichte vor allem deshalb, weil sie zum Studium lokaleroder regionaler Kulturkontakte und -verflechtungen in ihren globalen Zusammenhängen

—————————————4 Zu Atheisten bahnbrechend jetzt: Dorothea Weltecke, „Der Narr spricht: Es ist kein Gott.“ Atheis-

mus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt / New York2010.

5 Michael Borgolte, Migrationen als transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Europa. Einneuer Pflug für alte Forschungsfelder, in: Historische Zeitschrift 289, 2009, 261–285 [ND in die-sem Bd., 425–444], hier 261 [425], unter Bezug auf: Sebastian Conrad / Andreas Eckert, Globalge-schichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in:Dies. / Ulrike Freitag (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt am Main /New York 2007, 7–49, hier 27; Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson, Geschichte der Globali-sierung. München 42007, 10.

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animiert.6 Sie kann also potentiell für jeden Ort der Vergangenheit betrieben werdenund ist deshalb, ganz im Gegensatz zur alten Universalgeschichte, ausgesprochen for-schungsfreundlich.Globalhistorische Studien reagieren auf den zeitgenössischen Befund der Globalisie-

rung als einer universell verdichteten und beschleunigten Kommunikation und einerscheinbar grenzenlosen Mobilität für Menschen, Güter und Ideen. Ihre Fragestellungenund Methoden sind deshalb auch von der Neuen Geschichte entwickelt worden, wäh-rend die Mediävistik mit ihr erst wenig Erfahrung sammeln konnte. Von einer Global-geschichte des Mittelalters kann man aber nur dann sprechen, wenn sie auf den Begriffvon ‚Globalisierung‘ bezogen werden kann, der als Sigle für weltweite Vernetzung derKommunikation und des Handels aus dem späten 20. Jahrhundert stammt. Globalhisto-rische Studien im Mittelalter zielen deshalb auf transkulturelle Verflechtungen ab.7 Intranskultureller Perspektive gibt es keine reinen, sondern nur ‚hybride‘ Kulturen, indenen sich Elemente verschiedener Herkunft vermischt und gegebenenfalls etwas ganzNeues ergeben haben. Um diese Verflechtungen zu bezeichnen und zu analysieren,bedient sich die gegenwärtige Forschung auch der Begriffe ‚interconnectivity‘ und‚entangled histories‘. Dabei bezeichnet ‚interconnectivity‘ Formen eines kulturellenTransfers, der in beiden Richtungen verläuft und bei dem eine gewisse Frequenz vonInteraktionen zu verzeichnen ist. Hierzu zählen in der Neuzeit die Wechselbeziehungenzwischen Amerika und Europa über den Atlantik. Mit den Methoden des Vergleichsund der Transferforschung lassen sich bei regelmäßigen Interaktionen dieser Art freilichnoch die Elemente eines Phänomens bestimmen und auf ihre Herkunft zurückführen.Der Begriff ‚entangled histories‘ zielt dagegen auf eine ganz Neues hervorbringendeSynthese, dem die Ingredienzien nicht mehr entzogen werden können. Er wurde aus derQuantenphysik entlehnt.Die Globalgeschichte hat uns bewusst gemacht, dass Zivilisationen oder Großkultu-

ren gar nicht existieren; sie sind nur gedachte Einheiten, um komplexe Differenzer-fahrungen vereinfachend zu ordnen. Vermutlich können wir sie in der Wissenschaftheuristisch, also als Hilfsmittel der Analyse, zwar nicht entbehren, dürfen sie aber onto-logisch mit wirklich Bestehendem nicht verwechseln. Der Begriff ‚Transkulturalität‘soll dem gerecht werden, indem er zum Ausdruck bringt, dass eine gedachte Kultur for-schend überschritten werden soll, ohne zur Etablierung einer neuen Kultur hinzuführen.Transkulturalität bedeutet also nicht nur, die Grenzen einer bestimmten Kultur aufzu-lösen, sondern Kultur selbst als unaufhörlichen Prozess zu verstehen.Globalgeschichte hat, im Unterschied zur alten Weltgeschichte, keine Botschaft über

Ursprung und Ziel der Geschichte. Ihr einziger Fokus ist die zunehmende Vernetzung—————————————6 Natalie Zemon Davis, Global History. Many Stories, in: Max Kerner (Hrsg.), Eine Welt – Eine

Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen, 26. bis 29. September 2000. Berichtsband.München 2001, 373–380, hier 374.

7 Michael Borgolte /Matthias M. Tischler (Hrsg.), Transkulturelle Verflechtungen im mittelalter-lichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika. Darmstadt 2012.

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der Menschen, also ein analytischer Befund ohne Wertbezug. Der Amerikaner Jerry H.Bentley sah immerhin die Anfänge aller Globalisierung beim Auftreten des homo erec-tus und charakterisierte sie entsprechend mit dem Streben nach „Kenntnis der weiterenWelt“.8 So verstanden, ginge es besonders um Forschungen über die Transgression vonGrenzen und die produktive Auseinandersetzung mit dem Fremden. Die Prozesse derEntgrenzung, die die Globalgeschichte demnach kennzeichnen, lassen freilich die Fragedes Begreifens, also der Kognition, der Geschichte offen. In gewisser Weise war es des-halb konsequent, dass die Herausgeber einer 2008 in Wien erschienenen Globalge-schichte ihre Bände schematisch nach Vierteljahrtausenden und Jahrhunderten einteil-ten, ohne ihnen einen epochal deutenden Titel zu geben.9 Bei der soeben abgeschlos-senen Weltgeschichte der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die gleichfalls eineGlobalgeschichte sein wollte, verfuhr man anders und machte sich mit Interpretationenangreifbar.10 Bentley selbst hat mit einem Koautor eine wegweisende und inzwischensehr erfolgreiche globalhistorische Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwartvorgelegt, bei der er die Beharrungskraft von Traditionen und die Innovationen durchkulturellen Austausch zu Leitmotiven machte.11 Ansonsten fehlen noch überzeugendeglobalhistorische Synthesen.Um die älteren Epochen in die globalhistorische Forschung einzubeziehen, hat wie-

derum Jerry Bentley vorgeschlagen, sich unter dem Leitmotiv der ‚cross-cultural inter-action‘ – oder transkulturellen Verflechtung – auf Fernhandel, imperiale Expansionenund Migrationsbewegungen zu konzentrieren. Dies ist, wie mir scheint, ein fruchtbarerAnsatz auch für die Mittelalterforschung. Am weitesten vorgewagt hat sich auf diesemFelde schon 1989 Janet Abu-Lughod.12 Im Anschluss an und im Gegensatz zu Imma-nuel Wallerstein suchte die amerikanische Soziologin und Historikerin nachzuweisen,dass es schon zwischen 1250 und 1350 ein Weltsystem des Handels und des kulturellenAustauschs gegeben habe, das sich zwischen den beiden Extremen Nordwesteuropa undChina erstreckte. Damals hätten sich vormals bestehende regionale ökonomische Sys-

—————————————8 Jerry H. Bentley, Globalizing History and Historicising Globalization, in: Barry K. Gills / Wil-

liam R. Thompson (Hrsg.), Globalization and Global History. London / New York 2006, 18–32,hier 20.

9 Angela Schottenhammer / Peter Feldbauer (Hrsg.), Globalgeschichte. Die Welt 1000–2000, Bd.1: Die Welt 1000–1250. Wien 2011; Thomas Ertl /Michael Limberger (Hrsg.), Globalgeschichte.Die Welt 1000–2000, Bd. 2: Die Welt 1250–1500. Wien 2009, u. a.

10 Johannes Fried / Ernst-Dieter Hehl (Hrsg.), Weltdeutungen und Weltreligionen, 600 bis 1500.(WBG Weltgeschichte. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Bd. 3.)Darmstadt 2010.

11 Jerry H. Bentley / Herbert F. Ziegler, Traditions and Encounters. A Global Perspective on thePast. Boston u. a. 2000 [42008].

12 Janet L. Abu-Lughod, Das Weltsystem im 13. Jahrhundert. Sackgasse oder Wegweiser?, in: PeterFeldbauer / Gottfried Liedl / John Morrissey (Hrsg.), Mediterraner Kolonialismus. Expansion undKulturaustausch im Mittelalter. (Expansion, Interaktion, Akkulturation. Historische Skizzen zurEuropäisierung der Welt, Bd. 8.) Essen 2005, 131–156.

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teme und kulturelle Inseln miteinander vernetzt; das mittelalterliche Weltsystem habeallerdings keineswegs alle Menschen und Räume vereint, wie wir es von der gegenwär-tigen Globalisierung kennen, sondern nur die Gipfelpunkte eines Inselmeers vonStädten. Der Austausch zwischen diesen Zentren sei vergleichsweise gering gewesen,das Netzwerk nur zart entwickelt. Bemerkenswert sei aber das damalige Gleichgewichtzwischen Ost und West, das jederzeit zugunsten eines jeden Kontrahenten habe um-schlagen können. Vom Weltsystem des Mittelalters hätte also auch eine DominanzChinas bis zur Moderne ausgehen können. Indessen sei es Mitte des 14. Jahrhundertszusammengebrochen, bedingt vor allem durch die großen Pestepidemien; bezeichnen-derweise war es gerade die weltweite Vernetzung, die nach der europäisch-asiatischenAusweitung von Handel und Verkehr nun auch das Ende des Systems herbeiführte.Janet Abu-Lughod hat in ihrer Konstruktion eines mittelalterlichen Weltsystems das

östliche Europa weitgehend ausgespart. Eine wertvolle Ergänzung auch im Sinne desglobalhistorischen Ansatzes bei den imperialen Staatenbildungen hat deshalb kürzlichdie Osteuropahistorikerin Gertrud Pickhan von der Freien Universität Berlin beigesteu-ert.13 Gegen die geläufige Rede vom „Mongolenjoch“ und russischen Sonderweg in dereuropäischen Geschichte verwies Pickhan auf vielfältige schöpferische Austauschbe-ziehungen der Russen mit ihren fremden Herren und Nachbarn zwischen der Zerstörungdes Kiewer (1240) und der Vollendung des Moskauer Reiches (1533). Sie plädierte für„das Aufbrechen eines isolationistischen Konzepts der Geschichte Russlands“, durchdie Perspektiven auf transkulturelle Verflechtungen eröffnet würden. Entstehung undKonsolidierung des Moskauer Reiches könnten als „Beispiel für eine produktive Über-lappung verschiedener Einflusszonen“ verstanden werden, bei der neben dem Mongo-lenreich noch Byzanz, das ebenfalls benachbarte Polen-Litauen sowie West- undMitteleuropa beteiligt waren.Zu beachten ist, dass Nowgorod im Norden als zweite Metropole des Kiewer Reiches

von der Mongoleninvasion verschont geblieben war. Novogorod hatte ein riesigesHinterland, das vor allem als Reservoir für die begehrten Pelze diente. Anfang des 14.Jahrhunderts war es mit über 20.000 Einwohnern die größte und reichste Stadt der Rus’.Hier hatte die Hanse einen festen Stützpunkt. Abgesehen von Pelzen boten die Russenden Westeuropäern Wachs für Kerzen und Siegel an, die Hanse ihrerseits lieferte west-liche Tuche, Bernstein, Silber, Buntmetalle und Lebensmittel wie Salz, Heringe, Met,Wein, Gewürze und Südfrüchte. „Im 14. Jahrhundert hielten sich mitunter bis zu 200Kaufleute aus Deutschland gleichzeitig in Novgorod auf. Der lange Reiseweg machtelängere Präsenzzeiten in der russischen Stadt erforderlich, was trotz des konfessionellenGegensatzes zu vielfältigen Kontakten und Begegnungen mit den Einheimischen führte;ein Teil der Kaufleute lebte bei russischen Familien, wenn der Platz im Peterhof nichtausreichte.“ Norddeutsche Baumeister errichteten zusammen mit russischen Kollegen

—————————————13 Gertrud Pickhan, Von der Kiever Rus zum Moskauer Reich. Osteuropa, in: Ertl / Limberger

(Hrsg.), Globalgeschichte 2 (wie Anm. 9), 113–137. Die folgenden Zitate ebd., 114; 123–125.

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Bauten im Nowgoroder Kreml. Die Nowgoroder Erzbischöfe des 15. Jahrhundertsförderten die Kulturkontakte, bei denen Übersetzungen eine zentrale Rolle spielten.Die Attraktivität des östlichen Europa war für die Kaufleute aus dem Westen dadurch

erhöht, dass die mongolische Reichsbildung den weitergehenden Handel nach Ostasienund dem Mittelmeer sicher machte. Die Mongolen waren aber auch selbst an der Fort-führung des Westhandels interessiert und gewährten russischen Händlern schon in derzweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zahlreiche Privilegien für die Durchreise. Dietatarische Residenzstadt Sarāi an der unteren Wolga „wurde zu einer Drehscheibe desinternationalen Transithandels“. Über sie „gelangte die kostbare asiatische Seide auf dieeuropäischen Märkte, und auch für die begehrten Pelze war Sarāi ein wichtiger Um-schlagplatz (…). – Auch das Handwerk der Rus’ profitierte von diesen neuen Möglich-keiten. So ergaben sich (wenn auch teilweise unfreiwillige) Arbeitsmöglichkeiten fürrussische Handwerker in Sarāi.“Das traditionelle Narrativ von der durch die Tataren verursachten Rückständigkeit

Russlands ist deshalb nach Pickhan zu revidieren. Es sei vielmehr davon auszugehen,„dass das wirtschaftliche Niveau und der Lebensstandard der Menschen in der Rus’bereits im 14. Jahrhundert die Standards der Blütezeit des Kiewer Reichs in quantita-tiver wie qualitativer Hinsicht übertrafen. Insbesondere der Nordosten der Rus’ war inder zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts so reich wie nie zuvor; dazu trug zweifellos dieMöglichkeit bei, am Warenaustausch zwischen Orient und Okzident teilzunehmen. Ausdem Osten wurden kostbare Seidenstoffe, Waffen, Perlen und Edelsteine wie auch Ge-würze und Arzneien bezogen. Die Tataren ihrerseits exportierten vor allem Pferde in dieRus’, die im Weideland östlich der Wolga gezüchtet und in großer Zahl auf den Mos-kauer Märkten gehandelt wurden.“An die Stelle Sarāis, das 1399 von Tamerlan zerstört wurde, trat im folgenden Jahr-

hundert vor allem Kazan’. Hierhin kamen „neben Griechen, Armeniern und Osmanenauch italienische Kaufleute (…). In den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts inten-sivierte sich der Handelskontakt zwischen der Krim und Moskau, das zu diesem Zeit-punkt bereits 30.000 bis 35.000 Einwohner zählte und Novgorod überrundet hatte.“ DerDirekthandel mit der Krim wurde durch den Zerfall des Mongolenreiches ermöglicht.Russische und deutsche Kaufleute im Nordwesten suchten die Verständigung durch

bilinguale Gesprächsbücher, die überliefert sind. Weniger gut erforscht sind die Kultur-kontakte zwischen der Rus’ und ihren Handelspartnern in Sarāi, Kazan’ und auf derKrim. Die nordostrussischen Eliten orientierten sich in Kleidung und Waffen aber zu-nehmend an östlichen Vorbildern. Auf sie gehen die heute als typisch russisch ange-sehenen Pelzmützen mit Ohrenklappen zurück. Die Moskauer Fürsten übernahmen aberauch das tatarische Steuersystem, ohne das sie ihr zunehmend weiträumiges Reichkaum hätten regieren können, ferner das mongolische Post- und Kurierwesen. Auchbeim Militär lernten sie von den Asiaten. Andererseits bewahrte die orthodoxe Kirchedie religiösen Traditionen, die die Rus’ mit Byzanz verbanden. Während sich im Volkchristliche Frömmigkeit und heidnische Lebenspraxis durchdrangen, war der byzantini-

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sche Einfluss in der Hochkultur und Kunst Russlands vorherrschend. Der MoskauerGroßfürst Ivan III. öffnete sein Land gegen Ende des 15. Jahrhunderts aber auch hierwestlichen Einflüssen. So holte er westliche Militärspezialisten herbei, die für die Ein-führung der Feuerwaffen sorgten. Griechen und Italiener wurden in der Wirtschaft undVerwaltung tätig. Im Moskauer Kreml selbst bauten italienische Architekten zusammenmit Russen. Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale wurde zwischen 1475 und 1479 unterFederführung des italienischen Architekten Aristotele Fioravanti gebaut; sie vereintElemente altrussischer Baukunst und italienischer Renaissance. „Eindrucksvoller“, soresümiert Pickhan zu Recht, „kann Transkulturalität wohl kaum vor Augen geführtwerden.“Ein besonders ertragreiches, aber auch umstrittenes Forschungsfeld eröffnet sich der

Globalgeschichte des Mittelalters bei den Migrationen; die Bearbeitung dieses Themaswird nicht nur durch die wissenschaftliche Faszination bei der Erschließung und kriti-schen Bewertung komplexer Überlieferungen, sondern ebenso durch die Aussicht be-flügelt, dabei das besondere Interesse einer sozialpolitisch engagierten Leserschaft zufinden. Migrationen, also die langfristige oder dauernde Verlagerung des Lebensmittel-punktes oder Wohnortes von Personen oder Personengruppen, muss dabei dezidiertunter dem Aspekt des Kulturaustauschs zwischen Einheimischen und Neuankömm-lingen beziehungsweise deren transkultureller Verflechtung untersucht.14 Aus der unab-sehbaren Fülle von Forschungsaufgaben sei hier nur das Problem der Massenmigrationangesprochen.Von Europa hat ein Mediävist gesagt, dass Massenbewegungen bis zur Gegenwart

geradezu die Grundtatsache seiner Geschichte seien, auf der die Vielfalt seiner Spra-chen, Traditionen sowie historischen und politischen Identitäten beruhten.15 Ob diesesUrteil mehr als eine politisch korrekte Behauptung aus liberaler Gesinnung darstellte,kann man schon für unsere eigene Zeit fragen, doch ist sicher, dass ihr für die Ge-schichte des Mittelalters kritische Studien als Beweisgrundlage mangeln. Nehmen wirnur die sogenannte germanische Völkerwanderung, die meist an den Beginn dieserhistorischen Epoche gesetzt wird.16 Dabei handelte es sich um langfristige und keines-wegs kontinuierliche Bewegungen germanischer Stämme, die – vom Norden und OstenEuropas herkommend – vor allem über Rhein und Donau ins römische Imperium vor-stießen und zu dessen Auflösung in Italien, Gallien, Spanien und Nordafrika vorstießen.Angetrieben wurden die an sich sesshaften „Barbaren“ teilweise durch aggressive No-madenvölker, vor allem aber von der Sehnsucht nach dem besseren Leben, die die römi-sche Stadtkultur und Latifundienwirtschaft bei ihnen geweckt hatten. Im Okzidenterrichteten seit dem frühen 5. Jahrhundert die erfolgreichsten germanischen Heerführer—————————————14 Vgl. Borgolte, Migrationen als transkulturelle Verflechtungen (wie Anm. 5).15 Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der

Nationen. Frankfurt am Main ²2002, 18f.16 Zuletzt: Peter Heather, Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend

nach Christus. Stuttgart 2011.

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und Könige auf römischem Boden die Reiche der Burgunder, der West- und Ostgoten,der Sueben, Vandalen, Franken und Langobarden. Auch wenn die Zuwanderer in jedemFall nur einen geringen Bruchteil der römischen Provinzialbevölkerung ausgemachthaben, ging die Forschung bis vor kurzem von immigrierenden germanischen Massenaus. Was beispielsweise die Langobarden betrifft, so glaubt man, dass 568 deren ganzesVolk von Pannonien nach Italien eingewandert sei. Manche Historikerinnen und Histo-riker stellen sich vor, dass sich „eine riesige Wanderlawine mit Frauen und Kindern, mitHausrat und Vieh, in Karren, zu Pferd und zu Fuß“ über das Land ans Mittelmeergewälzt habe.17 Berechnungen zu Umfang des Wandervolkes sind indessen hypothe-tisch und in der Forschung umstritten geblieben. Die Schätzungen schwanken zwischen80.000 und 200.000 Menschen.In der jüngsten internationalen Forschung sind indessen starke Zweifel an gentilen

Massenmigrationen vom Typ der Langobarden aufgekommen. In einer Vielzahl neuererArbeiten, konstatierte unlängst der Engländer Peter Heather in einer magistralen Dar-stellung der „barbarischen Invasionen“, „wurde die Bedeutung der Migration (…)entscheidend relativiert. So gehen inzwischen viele Historiker davon aus, dass es über-haupt keine massenhafte Migration gab, sondern dass sich immer nur wenige Menschenauf Wanderung begaben.“18 Manche Historiker lehnten die Vorstellung großer Migran-tengruppen gar so entschieden ab, „dass sie die Handvoll Quellen, die explizit dasGegenteil belegen (…), für falsch erachten. Griechisch-römische Quellen, so ihre Ver-mutung, seien mit einem Migrationstopos infiziert (…). Die Auffassung, wonach großePopulationen weite Distanzen zurücklegten, wird allmählich durch die Vorstellungkleinteiliger mobiler Gruppierungen ersetzt, die im Lauf ihrer Wanderschaft immermehr Gefolgsleute an sich banden.“19 Im selben Sinne wie Heather referierte auch seinLandsmann Guy Halsall die neue Skepsis gegenüber der Massenmigration: „A particu-larly pertinent insight [of recent decades] is that migrations do not operate as ‚floods‘,washing over new territories.“20 Stattdessen wird neuerdings hervorgehoben, dass Men-schen und menschliche Gruppen in der Geschichte ständig gewandert sind, ohne beson-dere Verdichtungen hervorzubringen. ‚Migration‘ wird sogar für eine Grundbefindlich-keit gehalten, so wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod.21 Wenn diese Bedenkenund Einwände zutreffen sollten, könnte natürlich gar nicht mehr von einer eigenen his-torischen Periode der Völkerwanderungen die Rede sein.

—————————————17 Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter. (Das Reich und

die Deutschen.) Berlin 1990, 398.18 Heather, Invasion der Barbaren (wie Anm. 16), 17.19 Ebd., 37.20 Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568. Cambridge 2007, 418.21 Klaus J. Bade / Pieter C. Emmer / Leo Lucassen u. a., Die Enzyklopädie. Idee – Konzept –

Realisierung, in: Dies. (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zurGegenwart. Paderborn / München / Wien u. a. ²2008, 19–27, hier 19.

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In einer im Druck befindlichen Studie habe ich selbst unlängst die These von der lan-gobardischen Wanderlawine überprüft und zu meiner eigenen Verblüffung festgestellt,dass sie nicht aufrecht erhalten werden kann.22 Die historiographischen Zeugnisse, diedas Bild einer Masseneinwanderung nahelegen, stammen erst aus späterer Zeit undfassen eine Reihe von besonderen Vorgängen vereinfachend zusammen. Eine entschei-dende Hilfe bei der Analyse war die Anwendung migrationstheoretischer Einsichtenund Begriffe. Demnach kann statt von einer Immigration des langobardischen Volkesunter seinem König Alboin genauso gut oder eher besser von einer politisch nurschwach induzierten Kettenmigration die Rede sein. Man muss sich demnach die lango-bardische Einwanderung nach Italien weniger als einen geplanten und zentral organi-sierten, sondern vielmehr als einen sich selbst stimulierenden Prozess verstehen, beidem die Erfolgsberichte von Pionieren die anderen in mehreren Schüben nachzogen.Als sich die Langobarden oder auch die anderen gentes, die Goten, Vandalen, Sue-

ben und Burgunder, endgültig auf römischem Reichsboden niedergelassen hatten, hat-ten sie nach weiträumigen Wanderungen ihre früheren Siedelgebiete aufgegeben undkonnten nicht mehr mit dem Nachzug von Angehörigen und Freunden aus der „Heimat“rechnen. Aus der Migrationsforschung weiß man, was diese Auslieferung an die Frem-de bedeutete: Die Zuwanderer mussten sich entweder im Laufe der Zeit weitgehend derKultur der aufnehmenden Gesellschaft anpassen oder durch Separation bis zur Dia-spora-Existenz ihre Identität zu bewahren suchen. Eine vergleichende Betrachtung hatergeben, dass bei keinem der Wandervölker und ihren Staatenbildungen eine vollkom-mene Anpassung an die römische Kultur zu konstatieren ist.23 Es gab zahlreiche Hybri-disierungen, bei denen sich Elemente verschiedener Herkunft vermischten, ohne schonuntrennbar in etwas völlig Neuem aufzugehen. Zu diesen Hybriden zählten zum Bei-spiel die in lateinischer Sprache und nach dem Vorbild der Kaiser durch germanischeKönige erlassenen Gesetze, die gentile Rechtsgewohnheiten aufzunehmen suchten.Einer umfassenden Synthese durch transkulturelle Verflechtung stand indessen das Be-dürfnis der Migranten entgegen, ihre Eigenart vor der überwältigenden Mehrheit derEinheimischen zu schützen. Am deutlichsten zeigt sich das an der Wahl einer abwei-chenden christlichen Konfession, da die genannten Völker keine römischen Katholiken,sondern stets oder über mehrere Generationen hinweg sogenannte Arianer waren. Die-ser partikulare Widerstand scheint ihnen aber nichts genützt zu haben, denn alle Reichemit ihren führenden Völkern sind bis zum frühen Mittelalter untergegangen.Anders verhielt es sich nur mit den Franken, die im Zuge ihrer Großreichsbildung

den Katholizismus angenommen und eine ungewöhnliche Fähigkeit zur Apperzeption

—————————————22 Michael Borgolte, Eine langobardische „Wanderlawine“ vom Jahr 568? Zur Kritik historiogra-

phischer Zeugnisse der Migrationsperiode, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61, 2013,293–310 [ND in diesem Bd., 475–492].

23 Michael Borgolte, Mythos Völkerwanderung. Migration und Expansion bei den „UrsprüngenEuropas“, in: Viator 41 Multilingual, 2010, 23–47 [ND in diesem Bd., 445–473], hier bes. 39[464].

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fremder Anregungen entwickelt haben. Diese ging über bloße Hybride hinaus undunterschied sich so deutlich von den anderen Völkern. Die Gründe lagen offenbar ineiner ganz anderen Art der Reichsbildung. Nichts deutet nämlich darauf hin, dass dieMuttergruppen der Franken am niedergermanischen Limes von weither kommend insReichsgebiet eingewandert waren. Auch später wurden die Franken nicht zu Migranten,die wie die Vandalen oder Langobarden ihre Heimat verließen, um sich in fremdenLändern niederzulassen, sondern sie dehnten ihr Siedel- und Herrschaftsgebiet schritt-weise aus, ohne den Niederrhein aufzugeben. Die Sorge der Wandervölker, sich infremder Umgebung zu verlieren, mussten die Franken nicht teilen; ihre Vorstöße lassensich eher als Expansion denn als Migration verstehen. Mit den Provinzialrömern konn-ten sie sich über Jahrhunderte kontinuierlich auseinandersetzen und mit ihnen in Wech-selbeziehung treten. Sie romanisierten sich, während sich die Romanen frankisierten.Religiöse Differenz zur Abgrenzung wurde nicht benötigt. Was für die Franken galt,lässt sich ähnlich auch bei anderen expandierenden Völkern beziehungsweise eroberndeMächten erkennen, so bei den Arabern und Berbern in Spanien oder den Byzantinern inUnteritalien. Lag also, so könnte man generell fragen, die kulturstiftende Bedeutungeher bei den Reichsbildungen als bei den Migrationen?Indessen darf nicht unterschätzt werden, dass an transkulturellen Verflechtungen

auch migrierende Einzelpersonen und kleinere Menschengruppen mitgewirkt haben,Handwerker zum Beispiel, Gelehrte, Künstler, Söldner, Mönche oder auch die Juden.Die universal am weitesten verbreitete Migration dürfte die Verlagerung des Lebens-mittelpunktes eines oder beider Ehepartner bei der Familiengründung gewesen sein.Eine Heiratsmigration kann sich durchaus mit einer mikrokulturellen Transformation ineiner ansonsten homogenen Gesellschaft verbunden haben. So soll die Braut im brah-manisch-hinduistischen Kastenwesen bis zur Gegenwart ganz in Haus und Sippe desMannes überwechseln und sich deren Clan- und Familiengott unterstellen.24 Mehr Zeitmit der Akkulturation mochte sich eine christliche Fürstentochter im mittelalterlichenEuropa am fremden Hof lassen; solange sie nämlich die Sprache ihres Gatten nicht be-herrschte, durfte ihr ein Beichtvater aus der Heimat kaum verweigert werden.25

Migranten erwarben und verbreiteten Wissen. Dass dies nicht nur für die Gelehrtenund Schüler unter ihnen galt, sondern auch für die Handwerker, nimmt die neuereForschung mehr und mehr zur Kenntnis. Ein Beispiel ist der Chinese Du Huan; diesenhatte im Jahr 751 die Armee des arabischen Kalifats mit rund 20.000 Leidensgenossennach ihrem Sieg über das Heer der Táng-Dynastie am Fluss Talas in Kasachstan ver-

—————————————24 Axel Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart. München 2006, 126; 136; 138–148.25 Vgl. Karl-Heinz Spieß, Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäi-

schen Fürstenhäusern des Spätmittelalters, in: Irene Erfen / Ders. (Hrsg.), Fremdheit und Reisenim Mittelalter. Stuttgart 1997, 17–36, hier bes. 30; 33f.

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schleppt.26 Du Huan verbrachte zwölf Jahre als Gefangener in verschiedenen muslimi-schen Ländern und berichtete später über Landsleute, die dort als Weber, Maler, Gold-und Silberschmiede tätig waren. Vermutlich traf er auch chinesische Papiermacher, der-en Technik den Arabern wohl schon bekannt gewesen war und ihnen jetzt bei dengeringen Materialkosten die Verwaltung ihres Riesenreiches und die Verbreitung ihrerSprache und Religion erleicherte.Die vielleicht bemerkenswertesten Migranten waren jedoch die Asketen, die ihren

normalen Lebensraum vorsätzlich verließen, um bettelnd auf Wanderschaft Gott undErlösung zu suchen; am Ende ließen sie sich (vorübergehend) als Eremiten oder in klös-terlichen Kommunitäten nieder.27 In Indien hatte der Buddha die nach festen Regelnlebenden Mönchsgemeinschaften überhaupt erst eingeführt, aber in christlicher Zeitverbreiteten Händler und Wandermönche selbst die Lebensform unter anderem nachChina, Korea und Japan weiter. Die Integration des Buddhismus in China, deren Höhe-punkt im westlichen Frühmittelalter lag, gehört zu den spannendsten Kapiteln trans-kultureller Verflechtung im mittelalterlichen Jahrtausend. Schon die Übersetzung derheiligen Schriften vom Sanskrit oder Pali ins Chinesische stellte eine enorme Heraus-forderung dar; die indischen Sprachen flektieren, sind grammatisch analytisch angelegtund regen zu Abstraktionen an, während das Chinesische assoziativ ist, Bildausdrückeaneinanderreiht und eher synthetisch verfährt. Vor allem aber ist der chinesischen Men-talität – durch die Verehrung der Ahnen und kosmische Ordnungsvorstellungen geprägt– der Verzicht auf Familie im Mönchtum völlig fremd, ja suspekt.28 Auch im Christen-tum war die Anachorese, das „Sich aus dem gewohnten Lebenskreis Entfernen“, einhohes Gut persönlicher Frömmigkeit. Indessen hat hier die Weltabwendung immer wie-der zur Weltgewinnung geführt, wie sich exemplarisch an Patrick, dem Apostel der Irenim 5. Jahrhundert, zeigen ließe. Durch sein Werk wurden die Iren, ein keltisches Volk,das niemals der römischen Reichsgewalt unterstanden hatte, für die katholische, univer-sale Christenheit gewonnen. Patricks Geschichte ist ein Beleg dafür, dass die Migrantendes mittelalterlichen Jahrtausends, wie die Menschengeschlechter vor ihnen, die Öku-mene bis an die Grenzen der Erde zu erweitern und die neuen Völker und Länder zuerkunden und zu gestalten suchten.Globalgeschichte des Mittelalters zu betreiben, dies hoffe ich deutlich gemacht zu

haben, befreit aus der Enge Europas und ist ein Heilmittel gegen die übertriebene Sorgeum die Bewahrung der eigenen Identität. Wer sie als Mediävist pflegt, soll und darf dieTraditionen und Errungenschaften des eigenen Fachs nicht aufgeben, aber er kann und

—————————————26 Xinru Liu / Lynda Norene Shaffer, Connections Across Eurasia. Transportation, Communication,

and Cultural Exchange on the Silk Roads. (Explorations in World History) Boston u. a. 2007,173.

27 Tillmann Lohse, Ascetics, missionaries, and pilgrims, medieval era, in: Immanuel Ness u. a.(Hrsg.), The Encyclopedia of Global Human Migration, Bd. 2. Malden (Mass.) / Oxford / Chi-chester 2013, 565–572.

28 Michael von Bruck, Einführung in den Buddhismus. Frankfurt am Main / Leipzig 2007, 313; 315.

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muss mit den Fachleuten für andere Kulturen in engen Austausch treten. Er kann alsForscher und Erzähler der Geschichte praktizieren, was auch lebensweltlich ein Gebotder Stunde ist. Ich beglückwünsche alle, die jetzt jung sind und sich in dieser verhei-ßungsvollen Epoche der Wissenschaft entfalten können, und ich freue mich auf mancheBeiträge, die ich zu diesem Aufbruch selbst noch leisten möchte.

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