6
OTTO KOEHLER 70 Jahre . . . non sordidi lucri causa, nec vanae captandae gloriae, sed quo magis veritas effulgeat (Aus dern Doktoreid) Es liegt im Wesen der Entwicklung der Naturwissenschaft und entspricht damit dem Geiste eines von ihr stark beeinflufiten Zeitalters, dafl die Speziali- sation unseres Wissens zu-, seine Universalitat aber abnimmt. Wenigstens im gegenwartigen geistesgeschichtlichen Stadium unserer westlichen Kultur scheint diese Entwicklungsrichtung unvermeidlich. Der etwas altere, mit humanisti- schen Idealen aufgewachsene Naturforscher wundert sich inimer wieder uber die geringen Anspruche, die die Jugend an die Universalitat ihres Wissens stellt und wie gering oft ihr Bedurfnis ist zu wissen, wo nun eigentlich im groflen Gebaude des Gesamtwissens der Mcnschheit das Selbsterforschte seinen Platz angewiesen bekornmt. Man kann dies als tine soziale Tugend, als Ver- trauen in die Gesamtorganisation der Natur- und Geisteswissenschaften, als Bcscheidenheit und selbstlose Unterordnung untcr die Ganzheit menschlicheri Wissens-Strebens auffassen und vie1 zur Verteidigung dieser Haltung anfiihrell. 2. f.Ticrpry&ologie Bd. 16 Heft 6 42

Otto Koehler 70 Jahre

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Otto Koehler 70 Jahre

OTTO KOEHLER 70 Jahre

. . . non sordidi lucri causa, nec vanae captandae gloriae, sed quo magis ver i tas ef fulgeat

(Aus dern Doktoreid)

Es liegt im Wesen der Entwicklung der Naturwissenschaft und entspricht damit dem Geiste eines von ihr stark beeinflufiten Zeitalters, dafl die Speziali- sation unseres Wissens zu-, seine Universalitat aber abnimmt. Wenigstens im gegenwartigen geistesgeschichtlichen Stadium unserer westlichen Kultur scheint diese Entwicklungsrichtung unvermeidlich. Der etwas altere, mit humanisti- schen Idealen aufgewachsene Naturforscher wundert sich inimer wieder uber die geringen Anspruche, die die Jugend an die Universalitat ihres Wissens stellt und wie gering oft ihr Bedurfnis ist zu wissen, wo nun eigentlich im groflen Gebaude des Gesamtwissens der Mcnschheit das Selbsterforschte seinen Platz angewiesen bekornmt. Man kann dies als tine soziale Tugend, als Ver- trauen in die Gesamtorganisation der Natur- und Geisteswissenschaften, als Bcscheidenheit und selbstlose Unterordnung untcr die Ganzheit menschlicheri Wissens-Strebens auffassen und vie1 zur Verteidigung dieser Haltung anfiihrell.

2. f.Ticrpry&ologie Bd. 16 Heft 6 42

Page 2: Otto Koehler 70 Jahre

642 OTTO KOEHLER 70 Jahrc

Man kann aber auch kaum konkrete Vorschlage daruber machen, wie ange- sichts des unaufhaltsamen, lawinenartigen Anwachsens unseres Wisselis diese Entwicklung in Richtung der Aufteilung und Beschrankung aufzuhalten sei. Aber den schon erwahnten, etwas alteren und mit humanistischen Idealell durchtrankten Forscher gemahnt dieser Vorgang in fataler Weise an die Spe- zialisierungsrichtung der Insektenstaaten. Er sieht mit Beangstigung, wie die Leitung der menschlichen Geistesentwicklung paradoxerweise mehr und mehr dem menschlichen Geiste entgleitet und an die Herrschaft jener archaischell Faktoren der Uberlebens-Nutzlichkeit und der Selektion zuruckfallt, die vur dem Auftreten des zielsetzenden Menschengeistes alle organische Entwicklung beherrschten. Er is t zwar der letzte, diesen Faktoren, die ja unter andereni auch den menschlichen Geist hervorgebracht haben, die Fahigkeit zur Erschaf- fung hochster Werte abzusprechen; aber er wei i allzu gut, d a i sie ,,unter an- derem" auch Spezialisierungen hervorbringen konnen, die zwar hochst lebens- fahig sind, aber in keiner Weise wesensverwandt mit den1 Entwicklungsziel, das dem menschlichen Geiste als Ideal hochsten Menschentums vorschwebt.

Es ist ein ganz fundamentaler Irrtum zu glauben, man musse im erkennt- nistheoretischen Sinne Idealist sein, um die Realitat und den Wert von Idealen anzuerkennen. I m Gegenteil! Wer d a wirklich uberzeugt ist von dem Satze ,,Idealia sunt realia ante rem", neigt allzuleicht zu der Meinung, die Mensch- heitsentwicklung musse zwangslaufig und naturgegebenermaflen in der Rich- tung der Ideale hochster Menschlichkeit verlaufen. Er kann uumoglich die Empfindung dafur haben, d a i die volle Verantwortlichkeit fur die kunftige Entwicklung der Menschheit dem Menschen selbst aufgeburdet ist.

U m die volle Realitat dieser Verantwortlichkeit zu erfassen, n i u i man wohl Naturforscher sein - und damit kritischer Realist - am besten wohl Biologe oder Arzt, um griindlich zu wissen, wie leicht organische Entwicklung vollig schiefgehen kann. Verantwortungsbewuite dieser Art gibt es nicht allzu- viele. Ihre ,,Weltanschauung" ist keine vorgefaite Meinung daruber, wie die Welt zu betrachten sei, sondern kommt aus der Anschauung des realen Uni- versums. Ihre Ideale sind die Ideen von Zustanden oder Vorgangen, die es zwar noch nicht gibt, die zu verwirklichen aber im Bereiche realer Moglichkeiten liegen, und auf die realiter hinzuarbeiten ein kategorischer Imperativ sie aus eben diesem Grunde zwingt. Sie haben eine Tugend, die der echten und tiefen Bescheidenheit, denn sie wissen, welche unvollkommene und vorlaufige Kon- struktion der Schopfung der Mensch ist und welch erst recht vernachlassigbares Staubchen im groi3en System des Alls ein einzelner Mensch ist. Aus dieser Bescheidenheit erwachst bei ihnen eine Hemmung, uber die groflen Fragen der Schopfung zu sprechen, und erst recht, in Worten uber sie zu predigen. Aber sie kommen der Pflicht des Predigens, die ihr Verantwortungsbewuitsein ihnen auferlegt, i n a~iderer Weise nach, die gegen die Gebote ihrer Bescheidenheit nicht verstoit: Sie geben durch ihr eigenes Beispiel in Forschung und Lehre ihre Ideale an andere, jungere weiter. Sie wirken nicht als Propheten und Religions- grunder auf breite Massen, aber sie saen gediildig und emsig kleine Kornchen der groien Wahrheit in die Herzen einiger weniger, und es ist moglich, ja wa'hrscheinlich, d a i ihre Methode, der Wahrheit zu dienen und damit der ganzen Menschheit, auf lange Sicht die wirksamere ist. Sie geben sich keinen Illusionen uber die Gute der Menschen hi,, sie unterschatzen nicht die er- druckende Wahrscheinlichkeit einer Selbstvernichtung der Menschheit in irgend- einer Form, sei es durJl Atomkatastrophen oder allmahlichen Verfall, aber sie sind do& im Grunde fest in dem Glauben, ,,sic konnten was lehren, die

Page 3: Otto Koehler 70 Jahre

643 Menschen zu bessern und zu bekehren", und, so wenig sie die Quantitat der erzlelten Besserung und Bekehrung iiberschatzen, bleiben sie mlt elsernem FleilSe bei ihrem Untertangen - ein Leben l a g .

Wenn irgendein Naturforscher der Prototyp eines solchen geduldigen und unermudlichen 'l'ragers geistesgeschichtlicher Verantwortlichkeit lst, so ist es OTTO KOEHLER. Aus der Insterburger Pastorenfamilie, aus der er stammt, hat er die eiserne Selbstdisziplin und den geradezu ubermenschllchen Yieli3, der auf weniger Arbeitsfreudige beinahe erschiitternd wirkt. Uiese Empfindung erweckte er jedenfalls in mir bei seinem ersten Besuch in Altenberg. Er war rnit einigen Assistenten und Schiilern in Faltbooten die Uonau herunter- gepaddelt, spat am Abend angekommen und von uns am friihesten Morgen auf eine noch weit anstrengendere Paddeltour donauauiwarts in zoologmh interessante Nebenarme gefiihrt worden. Als wir, spat abends zuriickgekehrt, nach dem Abendesseri samtlich zum Urnfallen erschopft waren, setzte sich KOEHLER in sein Zimmer und erledigte den dicken Pack Korrespondenz, der auf ihn gewartet hatte. Um 3 Uhr morgens brannte bei ihm noch Licht. Den erschreckenden Eindruck dieser Oberfleifiigkeit verstand er, am Abend drs nachsten Tages zu verwischen. Wir waren die Donau bis nach Deutsch-Alten- burg hinuntergefahren, hatten die Boote nach Neusiedel iibergesetzt und waren uber den Neusiedlersee gut 15 krn weit gegen starken Gegenwind bis in die Wulka-Miindung gepaddelt, wo diesmal im Zeltlager kein Brief auf ihn wartete. Da sprach OTTO KOEHLER die gefliigelten Worte ,,Nun wollen wir einen heben!", und die todmiide Schar der durchaus sportgestahlten jungen Leute muflte mit dem noch vollig unermiideten Professor 7 km weit durch den Rohrwald zum nachsten Or t pilgern, wo wir nicht nur einen, sondern ziemlich viele ,,hoben". Als wir i8n tiefer Nacht durchs Schilf zeltwarts tappten, hatte ich KOEHLER seinen Fleifl bei Erledigung von Korrespondenz verziehen.

Ich erzahle diese Geschichte deshalb, weil die Vereinigung von mafllosem Fleifl und einer unglaublichen korperlich-geistigen Unermudbarkeit ein Grund- zug des Wesens unseres Jubilars ist, ebenso aber auch die Erklarung dafur, weshalb er gerade in diesen Punkten oft sehr hohe Anforderungen an Mit- arbeiter und Schiiler stellt: Miidigkeit kann er sich einfach nicht vorstellen, und Faul#he,it erweckt seine tiefste Verachtung. Der von ihm organisierte Ethologen- kongrefi in Freiburg brachte alle gewissenhaften Teilnehnier an den Rand dcs Zusammenbruches, denn der Vortrage waren so viele und ihre Qualitat SO auserlesen, dafl man keinen missen mochte.

Was mir auf jener unvergefllichen Paddeltour den groflten Eindruck machte, war die Fahigkeit KOEHLERS, sich an der Schonheit der Natur naiv zu begeistern, sowie seine off ensichtlich aus dieser Fahigkeit erwachsene For- menkenntnis. Nur wer die Schonheit des Einzelnen in reiner Freude an drr Wahrnehmung in sich aufzunehmen vermag, kann je imstande sein, die Formenfiille zu meistern und einen uninittelbaren Oberblick uber d.ie ver- wandtschaftlichen Zusammenhange innerhalb cines Tierstammes zu gewinnen. Damals beschaftigte sich KOEHLER mit der Systematik der Hummeln, und ich war aufs auflerste erstaunt zu horen, dafi er sich rnit diesem Gebiet erst ganz kurze Zeit beschaftigt hatte. Schon dafl der als Reizphysiologe bekannte Mann sich uberhaupt mit derartiger Klein-Systematik befaflte, freute mich als ver- gleichenden Anatomen zutiefst. Die Vereinigung von scharfem analytischen Denken mit naiver Freude an der Anschauung des Schonen ist ein Charakteri- stikon, das OTTO KOEHLER rnit KARL VON FRISCH gemeinsam hat; es bleibe dahingestellt, wie weit es Ursache oder Folge der fast lebenslangen Freund-

OTTO KOEHLER 70 Jahre

42'

Page 4: Otto Koehler 70 Jahre

644 OTTO KOEHLER 70 Jahre

d a f t dieser beiden Naturforscher ist. Auf seine Schuler hat KOEHLER sehr nachhaltig die Erkenntnis vererbt, dafl die Freude an der Schonheit der Natur in keinem Widerspruche zu der von IMMANUEL KANT proklaniierten Verbind- lichkeit steht, ,,die Kette der naturlichen Verursachung, solange sie aneinander- hangt, zu verfolgen".

Das scharfe analytische Denken unseres Jubilars offenbart sich am deut- lichsten bei seiner Tatigkeit als Kvitiker. Seine Kritik ist gefurchtet, aber immer konstruktiv, vernichtend nur dann, wenn das betreffende Geistesprodukt dies wirkhich verdient. Selbst wenn nur wenige gute und richtige Gedanken, ver- schleiert durch viele schlechte, in einer Arbeit enthalten sind, kann man sicher sein, dafl sie gebuhrend gewurdigt werden. Die unermudliche, wahrhaft jugend- liche Aufnahmefahigkeit fur die Gedanken anderer macht KOEHLER zu einem gailz ausgezeichneten Koordinator des auf seinem eigentlichen Spezialgebiet, der Reizphysiologie und vergleichenden Verhaltensforschung, sich ansammeln- den Wissens. Als Herausgeber der Zeitschrift fur Tierpsychologie widmet cr dieser sozialen und selbstlosen Tatigkeit einen geradezu gewaltigen Aufwand an Arbeit. Seine Riesen-Referate sind weltbekannt. Demjenigen, der KOEHLER eine allzuscharfe Kritik vorwerfen wollte, sei gesagt, dal3 diese Referate da- durch, dai3 sie die guten Gedanken scharfer iormulieren und uber weniger gute den Mantel wohlwollenden Schweigens breiten, die referierten Arbeiten recht haufig besser erscheinen lassen, als sie tatsachlich sind. Viele Abonnenten der Zeitschrift halten sie eingestandenermaflen in erster Linie um dieser aus- fuhrlichen Referate willen, die dem unter Zeitmangel leidenden Spezialforscher einen Oberblick uber das Gebiet ermoglichen, wie er ohne sie einfach unmog- lich ware. Durch diese, von seiner eigenen Forschung aus als blol3e Nebentatig- keit erscheinende Riescnarbeit erwirbt unser Jubilar Verdienste, die weit uber unser Vaterland hinausreichen.

Wirklich mitleidslos scharf ist KOEHLERS Kritik, ganz wie das sein soll, seinen Mitarbeitern, Schiilern und nachsten Freunden gegeniiber. An ihren Arbeiten kritisiert er alles, ja er miflversteht geradezu absichtlich alles, was nicht so klar ausgedruckt ist, dafl ein Miflverstandnis ausgeschlossen ist. Man kann sich schwer uber ihn argern, wenn man ihm ein Manuskript eingesandt hat und es, mit seinen Randbemerkungen und Korrekturen versehen, o f t scitenweise vollig umgeschrieben zuruckbekommt. Aber wenn man seiner Kritik gerecht geworden ist und das Ganze neu getippt hat, mufl man aufrichtig ein- gestehen, dafl es besser geworden ist. In den wenigen Fallen, in denen er etwas miflverstandlich umschreibt, mu8 man regelmaflig einsehen, dafl die alte Fas- sung sprachlich ungenugend und tatsachlich auch miflverstandlich gewesen war. Der Kampf gegen den von unseren Zeitungen leider so verderblich geforderten Verfall der deutschen Sprache liegt KOEHLER fast ebensosehr am Herzen wie der Fortschritt der Wissenschaft.

Als Kritiker entfaltet KOEHLER auch eine andere Eigenschaft, die ganz zweifellos aus dem ostpreuflischen Pastorenhause stammt, namlich eine kom- promifllose Zivilcourage. Besonders, wenn eine Schrift unter den1 Deckmantel vorgeblicher Naturphilosophie biologische Unwahrheiten verbreitet, wird der andytische Denker zum furchtlosen Streiter und schleudert dem Schreiberling mit dem gleichen Affekt sein Tintenfafl an den Kopf, wie weiland MARTIN LUTHER auf der Wartburg dem Teufel.

Als Prufer ist KOEHLER, entsprechend seinem eigenen universellen Wissen, sehr anspruchsvoll. Er verlangt neben einer hohen biologischen Allgemein-

Page 5: Otto Koehler 70 Jahre

OTTO KOEHLER 70 Jahre 645

bildung auch ein in Einzelheiten gehendes Wissen. Er ist einer der wenigen Universitatslehrer, die auch die Geschzchte der Biologie, die Erkenntnisschritte, die sie zu ihrem gegenwartigen Stande fuhrten, in der Vorlesung lehrt und bei Priifunnen nach ihnen fragt. Ich habe so manchen gehort, der uber die Strenge seiner Prufungen, aber keinen, der uber ihren Mangel an Gerechtigkeit klagte.

Ich komme nun in nieiner Laudatio, absichtlich zuletzt und nach Schilde- rung wesentlicher Seiten seiner Person, zum eigentlichen OTTO KOEHLER, dem Naturforscher. Hoher gceisteswissenschaftlicher Bildung verdankt er jene er- kenntnistheoretische und epistemologische Disziplin, die aller Naturforschung zugrundeliegen sollte. Dieser sowohl wie seiner echten Naturverbundenheit verdankt er die Erkenntnis, dai3 alles Lebendige ein System und analytisch nur demienigen zueanglich ist, der in Systemen zu denken versteht. Seine Schrift ,,Die Ganzheitsbetvacht~~n~ in dev modernen Biolo.qie" (Verhandlungen der Koniesberger Gelehrten Gesellschaft 1933) sollte allen ienen. vor allem ameri- kanicchen Psychologen und Verhaltensforschern als Fibel dienen, also allen die da meinen, der Begriff der Systemqanzheit verhindere die Analyse und man konne dem Verstandnis organischer Strukturen und Funktionen auf atomistischem und erklarungsmonistischem Wege naher kommen.

Sein Forschungsinteresse konzentriert sich vor allem auf zwei Problem- kreise des tierischen Verhaltens: die Orientierung im Raume und die vor- bzw. un-smachlichen Vorgange des ,.Denkens" bei hoheren Wirbeltieren. Die hautx- s6chlich an Protozoen und Planarien durchgefiihrten Arbeiten der ersten GrupDe, die KOEHLERS Ruf als Reizphysiologe begrundeten. sind zu bekannt und anerkannt, um hier einer besonderen Wurdigung; zu bcdurfen. Sie sind ein klassisch gewordenes Gegenstuck zu den Taxien-Arbeiten ALFRED KUHNS. So sei hier nur der Bedeutung von KOEHLKRS Arbeiten uber das ,,unbenannre Denken" gedacht. Sie begannen mit der Untersuchung des Zahlvermogens der Tauben. Ich mui3 gestehen, dafl ich selbst, als ich zuerst von ihr horte, nicht ganz verstand, wo hinaus das Ganze sollte, und mich ein wenig dariiber wun- derte, zu welchem hoheren Zwecke KOEHLER eine so ungeheure Muhe und Zeit zur Untersuchung eines so sehr speziellen, um nicht zu saqen ausgefallenen Phanomens aufwandte. Erst als sich die abstrakten Begriffe der Grundver- mogen abzuzeichnen begannen, die den Zahl-Leistungen dieser und anderer Tiere zugrunde liegen. als KOEHLERS Versuche an Mausen deren Fahigkeit crwiesen, im Hoch-Labvrinth erlernte Weg-Gestalten in andere Groi3enord- nungen, in andere Winkelgroi3e11, ja selbst ins Spiegelbild zu transDonieren, wurde mir klar, dai3 diese geduldiee und methodisch so beispielgebend vorsich- tige Forschung das ehrgeizige Ziel hatte, die vor-sprachlichen Grundlagen der Begriffsbildung und dainit die Voraussetzung der menschlichen Wortsprache zu erhellen. Die scheinbar mit den eben genannten Untersuchungen kaum ZU- sammenhangenden Forschungen KOEHLERS uber das Zusammenwirken von Angeborenem und Erlerntem in der Gesangsentwicklung von Sperlinesvogeln sowie uber die Ontogenese des Lachelns beim Menschen zielen zweifellos, aus ganz anderen Richtungen her, auf das gleiche Problem. Diese Zielsetzung be- weist einen weiten Blick fur die groi3en Zusammenhange und einen theoreti- schen Mut, sie mui3 um so hoher angerechnet werden d e m Forscher, der i n den kleinsten Einzelheiten so genau, ja pedantisch ist wie OTTO KOEHLER.

Und hiermit sind bei weitem nicht die Grenzen seines ,,Arbeitsreviers" erfai3t. Von seinen Untersuchungen uber die Kernplasmarelation bei Seeigel- eiern und -keimen fuhrt ein weiterer erfolgreicher Arbeitsweg uber die Analyse der Seeigelbastarde bis zur modernen Vererbungslehre und Genetik. Oberall

Page 6: Otto Koehler 70 Jahre

646 OTTO KOEHLER 70 Jahre

nimmt er prazise und klar Stellung und weist der kunftigen Forschung neue Wege. KOEHLER gehort eben zu den wenigen Beneidenswerten, die nicht allein dieceq alles konnen, sondern die dariiber hinaus ein so unvergleichlich gutes Gedachtnis haben, dai3 sie aber auch bei jeder Gelegenheit Treffendes zu sagen wissen.

Wer skrupelhafte, eroflte Genauigkeit in methodischen Einzelheiten mit weitem Blick fur das Ganze zu vereinigen weii3, naturverbundene Feld- Zoologie mit exaktester Experimentalforschung, scharfste, ja mitleidslose Kritik mit einem warmen Herzen, der ist ein Meister der Naturwissenschaft und darf schon manchmal etwas schulmeistern; das ist nur gut fur die Jungeren, beson- ders, wenn sie von ihm neben allem anderen auch jenen Forschungs-Optimismus ubernehmen, der sich nie klarer und schoner ausdriickte als in einer pragnanten Formulierung, die KOEHLER einst in einer Diskussion fand, in der ein groi3er Skeptiker den bekannten Ausspruch JAKOB VON UEXKULLS zitierte: ,,Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen!" KOEHLEK antwortet darauf augenblicklich: ,,Nein, diewahrheit von heute ist der Spezialfall von morgen!" Mochten do& alle Forschungstreibenden dieser tiefen Wahrheit stets eingedenk sein!

KONRAD LORENZ, Seewiesen