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Physiologische Grundlagen, Indikationen und Wirkungen des Aderlasses

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Page 1: Physiologische Grundlagen, Indikationen und Wirkungen des Aderlasses

KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 4. J A H R G A N G Nr. 26 25 . J U N I I925

0BERSICHTEN. PHYSIOLOGISCHE GRUNDLAGEN, INDIKATIONEN

UND WIRKUNGEN DES ADERLASSES.

V o n

Prof. MAX BORGER. Aus der Medizinischen Klinik der Universitat Kiel

(Direktor: Prof. Dr. SCHITTENHELM).

Der AderlaB geh6rt zu den Altesten ~rztlichen MaBnahmen, welche die Geschichte der Medizin kennt. Er wurde yon den Griechen gefibt, war bei den Arabern zu einem eigenen Hand- werk de..gradiert, wurde im ausgehenden Mittelalter yon den besten Arzten in ausgiebiger Weise vollzogen. Die Wiener Kliniker der klassischen Zeit machten gegen den ,,kritik- losen Vampyrismus" Front und drAngten den Aderlag im Heilschatz der Arzte zurfick. In neuerer Zeit wird der Ader- lab wieder mehr angewendet.

Die wechselnde Bewertung dieses therapeutischen Ein- griffes ist nicht zuletzt auf die mangelhafte Kenntnis seiner physiologischen Wirknngen zurfickzuffihren. Erst eine ge- naue Einsicht in die Wirkungen rascher Blutentziehungen am Gesunden erm6glicht eine pr~zise Indikationsstellung ffir ihre Anwendung beim kranken Menschen. In neuerer Zeit ist man sich darin einig, dab der AderlaS bei richtig gestellter Indikat ion und zur rechten Zeit angewandt, ein sehr wirksames Heilmittel darstellt. Die folgende ]3ber- sicht will nach einer kurzen Darstellung der physiologischen Wirkungen des Aderlasses eine Schilderung des Indikations- bereiches dieses Eingriffes und seiner Wirkungsweise geben.

Die Verdinderung der Blutzusammensetzung nach Aderldissen. Ftir die hier zu besprechenden Ver~nderungen ist immer

die Entziehung einer bestimmten Menge Blutes aus einer K6rpervene der Ausgangspunkt del Betrachtung. Die Blut- entziehungen durch die Methode des blutigen Schr6pfens, des Blutegelsetzens, sind nicht berficksichtigt. Im wesentlichen sind die Wirkungen des Aderlasses bedingt durch eine ~nde- rung der Blutzusammensetzung, die unter physiologischen VerhAltnissen mit Regelm~Bigkeit nach jedem AderlaB eintritt.

Auf die Technilc des Aderlasses soll hier nicht eingegangen werden. ]3ei geschicktem Vorgehen gelingt es in fast allen FAllen durch das Einstogen einer gut geschliffenen weiten und kurzen Hohlkanfile Blutentziehungen, wie sie ffir thera- peutische Zwecke in Anwendung kommen, in genfigend groBem AusmaBe durchzufiihren. In FAllen, in denen der Blutdruck sehr niedrig ist, soll die Stanung nicht durch Umschnfirung des Armes, sondern besser durch die Hand eines Assistenten gemacht werden, welche die Zirkulation in der Arterie unbehindert 1/~Bt, den RiickfluB in der punk- tierten Vene jedoeh hemmt. Bei schwierigeren Punkt ionen (tiefliegende, schlecht entwickelte Venen) soll die Punkt ion stets erst dann durchgeffihrt werden, wenn der tastende Finger die prall geftillte, gut gestaute Vene sicher ffihlt. Wird die Stauung mit einem Schlauch, Handtuch u. dgl. durchgeffihrt, so sieht man nach dem Einstich in die Vene den Blutstrom nicht selten stocken. Man kann sich leicht davon fiberzeugen, daB dies darauf zuriickzuffihren ist, daB der Schmerz des Einstichs offenbar ein rasch vorfibergehendes Absinken des Blutdrucks zur Folge hat und nun der Druck, mit welchem die Umschnfirung ausgeffihrt wurde, fiber dem arteriellen Druck liegt.

Ganz ausnahmsweise sieht man bei solchen empfindlichen Personen schon nach Entziehung weniger Kubikzentimeter einmal eine Ohnmacht eintreten, die wir uns als eine vaso- motorische Krise erklgxt haben, Ahnlich wie sie THANN- HAVSER 1) als Sehockwirkung beschrieben hat.

Klinische Wochenschrift, 4. Jahrg.

Die unmittelbare Folge jeder Blutentziehung ist natur- gemAB die Verminderung der Gesamtblutmenge nm den Betrag des durch den AderlaB entzogenen Blutes. Es setzen aber unmit te lbar nach der Blutentziehung kompensatorische VorgAnge ein, :nit dem endlichen Resultat der Erg~inzung der verlorenen Flfissigkeitsmenge aus den groBen Wasser- depots der Gewebe. Es besteht offenbar das Bestreben, die Gesamtblutmenge bezfiglich ihres Volumens konstant zu halten. Als erster hat C. SCHMIDTZ) darauf hingewiesen, dab nach jedem ]31utverlust Wasser und Salze aus den Geweben in die Blutbahn eintreten, woraus zwangslAufig eine Hyp- albuminose resultiert. Diese Resultate wurden yon HAM- B U R G E R S) durch Untersuchungen am Pferde bestAtigt. Welche Momente letzten Endes den AnstoB zu der Wiederaufffillung des durch den AderlaB verminderten Blutvolumens zu seiner alten Gr6Be AnlaB geben, ist bis heute nicht klargestellt. Man hat sich im allgemeinen bei der Feststellung dieser Tat- sache und ihrer verschiedenen Folgen ifir die Blutzusammen- setzung beruhigt, ohne sich Gedanken darfiber zu machen, an welchen Stellen des Herzgef~Bsystems gewissermaBen die AderlaBoligAmie ,,perzipiert" wird.

Jeder gr6Bere AderlaB muB unmit telbar zu einer Ein- engung der gesamten Strombahn ffihren. Die gr6Bte Blur- masse ist im Capillargebiet untergebracht, und es ist daher zu vermuten, dab durch Abdrosselung des Capillargebietes diese Einengung der Gesamtstrombahn erreicht wird. Die Capillaren ziehen sich gewissermaBen zunAchst fiber der verkleinerten Blntmasse zusammen, wodurch unter physio- logischen Bedingungen wenigstens die Konstanz des arteriellen Blutdrucks auch nach groBen Aderl~ssen gewahrt wird. Der AderlaB wird also, wenn auch nicht in allen, so doch aber in best immten Gef~Bprovinzen eine andere, zunAchst h6here Einstellung des Capillartonus zur Folge haben.

KROGH 4) nimmt an, dab ffir die Erhal tung des Capillar- tonus ein Hormon verantwortlich zu machen sei. Er zeigte, daB die Unterbrechung der Blutzufuhr an der ausgespannten Froschzunge nach einer 5 Stunden langen Abklemmung der Lingualarterien zu einer ausgesprochenen Erweiterung der Capillaren ifihrt. DaB diese Capillarerweiterung nicht die Folge des vortibergehenden Sauerstoffmangels war, wurde dadurch bewiesen, daB die Versuche in reiner Sauerstoff- atmosphere mit dem gleichen Resultat durchgefiihrt werden konnten, wobei eine fiir den Gewebsbedarf ganz ausreichende Sauerstoffmenge auf dem Wege der Diffusion durch die grol3e, freigelegte ZungenoberflAche hineingelangen muBte. Nun wird jede durch einen erh6hten Gef~gtonus bedingte relative AnAmie des Gewebes, wie wir sie als unmittelbare Folge eines Aderlasses in gewissen GefABprovinzen sup- ponieren, zu einer Verarmung der weniger durchbluteten Capillaren an Ton ushormonen und zu einer allm~hlichen Erschlaffung und sekundXren Erweiterung der Capillaren in diesen Gebieten fiihren. Als Folge der Erweiterung des Capillargebietes wird Flfissigkeit in die Strombahn aus den Geweben ,,hineingesogen".

l~ber den feineren Mechanismus des Einstroms yon Ge- websfliissigkeit in die Blutbahn sind wit bisher nicht unter- richter. DaB diese Vorg~nge sich im Capillargebiet in der geschilderten oder einer Ahnlichen Weise abspielen, ist als sicher anzunehmen.

STARLING 5) berichtet in seiner Arbeit fiber die Flfissig- keitsresorption aus den Bindegewebsspalten fiber folgenden Versuch :

E r durchstr6mte die fiberlebenden Hinterbeine eines Hundes rnit dem eigenen defibrinierten Blur des Hundes und machte das eine Bein durch Injektion einer iproz. NaC1- L6sung 6demat6s. Das durch das 6demat6se Bein flieBende

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Blur wurde allm~ihlich wasserreicher, indem es die Fliissig- keit aus dem Odem aufsog, w~ihrend das t31ut, das dutch das andere ]3ein floB, uilvedindert blieb. Diese Wasserauf- nahme erkl~irte S~ARLING mit der Wirkung des osmotischen Drueks der t31utkolloide. Die Eiweigk6rper des ]3lutes haben einen bestimmten, wenn auch kleinen, so doch mel3baren osmotischen Druck. Derselbe kann nachgewiesen werden, wean das Blut voil einer die Blutsalze enthaltenden aber kolloidfreien L6sung durch eine eiweiBuildurchl/tssige Mem- bran getrennt ist. In den Capillaren h~ilt siet~ der in den Ge- f~iBen vorhandene hydrostatische Druck der Capillaren mit dem kolloidosmotisehen Druck des Blutes im Gleiehgewicht.

Wird der Capillardruck vortibergehend niedriger als der osmotische Druck der BluteiweiBe, so muB eine Resorption der in den Gewebsspalteil vorhandenen Salzl6sungen ein- treten. F in AderlaB wird in der oben angefiihrten Weise dutch Nachlassen des Capillartonns in bestimmten Gef/~f3- provinzen diese Bedingungeil herstelleil und ant diese Weise durch Senken des Capillardrucks unter den osmotischen Druek der EiweiBk6rper die Wasseraufnahme aus den Oe- weben bewirkeil. Die Erkenntnis der ]3edeutung, welche der Antagonismus zwischen dem kolloidosmotischen Drnck des Biutes innerhalb der GefiiBbahn einerseits und dem Capillar- druck andererseits fiir die Fltissigkeitsbewegungen durch die Gef~il3wand hindurch hat, ~6rdert das Verst~tndnis f f r die regulatorischen Vorgi~nge, die nach jedem Aderlasse ein- setzen. Einen ersten Versuch, die Dinge so zu erkl~iren, hat vor vielen Jahren bereits LIMBECK~) gemacht.

Wie SEYDER~ELM und LAMPE ~) einleuchtend dartun, hat nun ein solcher AderlaB nicht eine eigentliche Plasma- plethora zur Yolge, sondern die Verschiebung in der Zu- sammensetzung des Blutes ftihrt lediglich zur Wiederherstel- lung der urspriinglichen Gesamtblutmenge. Diese Riick-

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Kurve I. (Nach W. H.. VEIL aus den Ergebnissen f. inhere Med. u. Kinderheilkunde 1~, 148. z9~7.)

regulation des Gesamtblutvolumens zur Ausgangsmenge ist wiederum eine Funkt ion des Capillartonus, welcher wahrscheinlich yon zentrMer Stelle fiir die dem K6rper- gewicht entsprechende Gesamtblutmasse ,,eingestellt oder abgestimmt" ist. Man wird schwer ohne die Annahme einer zentralen Regulation anch ffir diese VorgXnge zu einer be- ]riedigenden Vorstellung i~ber die Konstanterhaltung des Ge- samtblutvolumens l~ommen.

Die "Wirkungen eines mittelgroBen Aderlasses yon 300 ccm bei einer normaleil Versuchsperson zeigt die Kurve t, welche ich der Arbeit voil V~IL entnehnle, dem wir eine gute Ober- sicht fiber die Aderlal3frage naeh dem Stande voil 1917 ver- danken. Nach dieser relativ geringen 131utentziehung zeigt sich bereits eine relative Verminderung des SerumeiweiBes, welehe aus der verminderten Refraktion des Blutserums errechnet wird. Das Serum hat nach dem AderlaB etwa 1% Eiweil3 weniger als vorher. Diese allm/ihlich nach dem AderlaB einsetzende Blutverdi~nnung durch die einstr6mende Gewebsfliissigkeit muB sich naturgem/~13 auch in dem Ver- hgLltnis der zelligen Elemente zur Plasmavolumeinheit aus- drficken, Bei den iiblicheil ZXhlmethodeil gewinnen wir ja nie einen t~inblick in die Gesamtzahl der im Organismus enthal tenen I31utk6rperchen, soildern immer nur in das relative Mengeilverh~iltnis zwischen der Plasmmnenge und der suspendierten Zahl der zelligen Elemente. Je mehr Gewebswasser in die Blutbahn einstr6mt, um so weniger

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zellige Elemente werden wir bei unseren Z~hlungen in der Volumeinheit Blut feststellen. Es ist nach diesen Ausfiih- rungen verst~ndlich, dab die geringste Zahl rOll roten ]31ut- k6rperchen resp. H~ilnoglobin nieht unmittel~ar sondern erst einige Stunden nach dem AderlaB gez~hlt werden. W~hrend die Gesamtmasse der in Zirkulatioa befindlichen zelligen Elemente wegen der sehr bald einsetzenden regeneratorischen Funktionen des Knocheilmarks eher vermehrt wird, n immt die im Kubikzentimeter durch Z~thlung festgestellte relative Zahl der roten ]31utk6rperchen in den ersten Stunde~ naeh dem Aderla/3 dauernd ab. Dieselben Verh~tltnisse treten natargem~iB in noch deutlicherer Weise nach akuten abundan- ten Blutungen aus krankhaften Bedingungen ein, und es ist daher falsch, aus Z~hlungen oder H~moglobinbestimlnun- gen, welche in kurzen Zeitabst~tnden nach der ]31utung gemacht werden, allein ein Fortbestehen der Y31utung er- schlieBen zu wollen, da selbstverst~tndlich auch unter diesen Verh~Lltnissen der regulatorisehe Eins trom vo~ Crewebswasser in die Blutbahn zu einer Verdiinnung des Blutes ftihrt und so eine fortschreitende An~tmisierung des Pat ienten vort~tuschcn kann. Wie die Kurve i zeigt, ist die alte Serumdichte nach etwa 4 8 Stunden wieder erreicht. W'elche Gewebe den Wiederersatz der PlasmaeiweigkSrper besorgen, soll bier nicht er6rtert werden. Die Grenze, bei weleher ein Ader- lab diese , ,Verdiinnungsreaktion'" zur Folge hat, wird ver- schieden angegeben. Im einzelnen wird das Eintreteil dieser Reaktion nicht bloB yon der absoluten Gr613e des Aderlasses, sondern yon seiner relativen abhgngen, d. h. es wird darauf ankommen, wie groB die Gesamtblutmenge vor dem Ader- lab gewesen ist. Nacb unseren oben gemachten Auseinander- setzungen wird der Einstrom von Gewebsfltissigkeit dana einsetzen, wenn der Capillardruck unter den osmotischen Druck der Blutkoiloide absinkt. Es wird also auch yon der Reaktionsflihigkeit der Capillaren und yon der Menge und der Zusammensetzung der 131utkolloide abh~ingen, wie grog eine Blutentziehung sein muB, um die geschilderten ]31ut- verdiinnungsreaktionen auszulSsen. Die obeil wiedergegebene Kurve I hat daher mehr schematische Bedeutung, wo~on ich mich durch eigene Untersuchungen iiberzeugte und worauf VEIL iibrigens selbst hinweist. Sie wird daher nicht bei alien normalen Versuchspersonen den gleichen Verlauf nehmen. Als kleinste Menge, welehe die Verdfinnungsreaktion beim Menschen noch zur Folge hat, wird ein Aderlag yon 15o ccm angegeben.

Die zelligen t~lemente verhalten sich verschieden. Die weiBen BlutkSrperchen zeigen nach einer geringeil Verminde- rung eine erhebliche Vermehrung (AderlaBleukocytose). Ob diese Vermehrung der weiBen ]31utkSrperchen allein der Ausdruck fiir eine Mehrbildung oder nicht auch fiir eine Verschiebung infolge der Umschaltung des Capillarto~us ist, lasse ich dahingestellt.

Die 1Regeneration der roten Zellen setzt sehr rasch ein und ffihrt schon in den ersten Tagen naeh dem Aderlag zu einer WiederergXnzung des verlorenen Blutes. Normo- blasten, wie man sie nach grSBeren ]~lutverlusten im str6men- den ]3lute antrifft, werden nach therapeutischen Aderl~ssen relativ selten gesehen. DaB aber auch ein AderlaB schon eine in gewissem Sinne tiberstiirzte Regeneration zur Folge hat, geht daraus hervor, dab die ]31utk6rperchen zum Tell mit mangelhafter H~tmoglobinausriistung in die t31utbahn ent- lassen werden. ~Die H~moglobinkurve erreicht ihren Aus- gangswert in der Regel sparer als die der roten ]31utk6rper- chert. Diese Verb.~ltnisse gelten nur far gesunde, vollbliitige Individuen; setzt man bei Tieren durch wiederholte Ader- lasse Aniimien, so zeigt sich, dab mit zunehmender Dauer der An~mie die Regeneration langsamer und z6gernder ab- l~iuft [RITZS)].

St~irkere Aderl/isse k6nnen eine postMimorrhagisehe Throm- boeytose zur Folge haben. Nach groBen 131utverlusten ist uns die Erscheinung der Thrombocytenvermehrung durch- aus gelXufig. Sie wird als eine zweckm/iBige Einrichtung angesehen, insofern sie die Gerinnungsf~ihigkeit des Blutes steigert.

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Die Indikationen zum Aderlafl. In dem groBen Indikationsbereich des Aderlasses lassen

sich drei nach Wesen und Bedeutung verschiedene Bezirke abgrenzen, und zwar 1. der AderlaB als Entgiftungstherapie, 2. der AderlaB bei Kreislaufst6rungen und schlieglieh der AderlaB als Stimulation ftir die Blutbildungsst~tten.

Der Aderlafl als Entgi]tungstherapie. ])er AderlaB finder seit 1anger Zeit sowohl bei exogenen

wie bei endogenen Vergiftungen, Autointoxikationen An- wendung. Bei exogeneii Vergiftungen soll besonders dann, wenn das Gift in besonders groBer Menge im Blur sich anh~uft oder das Blut durch das Gift in seiner Atmungsfunktion irreversibel gesch~digt wird, zweierlei durch die t31utentziehung erreicht werden :

i. hofft man durch ein- oder mehrmalige Blutentziehungen eine m6glichst groBe Menge yon Gift nach auBen zu ent- fernen,

2. wird bet den eigentlichen Blutgiften durch die Ent- ziehnng unbrauehbar gewordenen Blutes das Knochenmnark zur Neubildung angeregt.

SchlieBlich ist daran zu denken, dab jeder AderlaB durch Mobilisation yon im Gewebe zurtickgehaltenem Gift und Heranschaffung des Giftes an die Ausscheidungsst~tten niitzlich wirken kann.

Unter den Blutvergiftiingen, welche durch AderlaB mit Erfolg bekXmpft werden, steht an erster Stelle die Kohlen- oxydvergiftung, bet der groBe AderlXsse zwischen 5oo und IOOO ccm mit nachfolgendem Ersatz des Blutes durch eine zweckm~gig zusammengesetzte Fltissigkeit oft lebensrettend gewirkt haben. In zweiter Linie sind unter den durch Ader- lab zu behandelnden Vergiftungen diejenigen, welche zur MethXmoglobinbildung Itihren, zu nennen. Von praktischer Bedeutung sind die Vergiftungen mit Kalium chloricmn, Pyrogallol, Nitrobenzol, Phenacetin, Lactophenin, Anilin und seine Derivate sowie die Nitrite zu neiinen.

Auch bet Vergiftungen, die nicht zu IInmittelbaren Blut- sch~digungen fiihren, sollen die Blutentziehungen zur ]3e- f6rderung der Giftausscheidung versucht werden. So wird der AderlaB z. B. bei der Strychninvergiftung in allen den FtLllen yon JAXSCH empfohlen, welche mit hochgradiger Cyanose einhergehen. Auch bet der Morphinvergiftung ist der AderlaB indiziert. 13el Giften, welche auf den Tonus der Gef~ge in l~hmendem Sinne wirken, mug mit besonderer Vorsieht vorgegangen werden, damit nicht der in solchen FMlen schon gesunkene Blutdruck auf gef~hrlich niedrige Werte wetter absinkt und damit die Versorgung der Zentral- apparate mit Sauerstoff gef~hrdet wird. Bet alien exogenen Vergiftungen hat nach dem Aderlag ein Wiederersatz des entzogenen Blutes stattzufinden. ])adurch wird erstens die kreislaufgefAhrdende Wirkung groBer Aderl~sse kompensiert, zweitens die ])iurese angeregt. Als Blutersatzfltissigkeit empiehle ich die yon L]~I~lVlAI~N~) vorgeschlagene L6sung yon folgender Ziisammensetzung:

NaC1 . . . . . . . . 8,0 Gummi arabicum . 7o,o KC1 . . . . . . . . . 0,2 NaHCO 3 . . . . . 1,2 g CaC12 . . . . . . . . 0,2 Aq. dest. ad . . . . IOOO,O MgCI~ . . . . . . . . o,I

Verfolgt man die Absicht, durch die Infusion eine Organis- muswaschung (Carlo Sanquirico) zu verbinden, so ist es zweckmttBig, den Infusionsfliissigkeiten ])extrosezus~tze zu machen, wodurch dieselben hypertonisch werden. Werden gr6Bere Fltissigkeitsmengen infundiert (1--2 Liter) in 3 bis 4 Etappen, so empfehle ich, nicht fiber 2o proz. Zuckerl6sungen hinauszugehen. 13ber die Wirkungen solcher hypertonischer ])extroseinfusionen an Mensch und Tier habe ich an anderer Stelle mehrfach berichtet und das ganze Verfahren mit HAGEMANI~ 10) als Osmotherapie beschrieben. Ich will nicht unerw~hnt lassen, dab LANDER~R t~) schon vor 40 Jahren einen Zuckerzusatz zu den Blutersatzflfissigkeiten bet Ver- giftungen empfahl. Er zeigte, dab dutch eine Beigabe yon 3o--4opromill . Rohrzucker Nitrobenzol-, Chloralhydrat- und

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Kohlenoxydvergiftungen im Tierversuch erfolgreich bek~impft werden k6nnen. ])a Rohrzucker Nierensch~digungen maehen kann, rate ich, stets Dextrose zu verwenden und die 1Kon- zentrationen h6her zu w~hlen als LANDERER, da bet 3--4proz. Zuekerzus~itzen zu einer isotonischen Blutersatzfliissigkeit der erwiinsehte Faktor der Hypertonie kaum in Frage kommt. ]3ei komat6sen Kranken wird durch die Infusion 2oproz. Dextrosel6sung gleichzeitig eine wenn auch geringe Menge N~hrmaterial zugefiigt.

Bet denjenigen Vergiftungen, welche direkt blutsch~di- gend wirken, muB das entzogene ]31ut, wenn irgend mSglich, durch anderes substituiert werden. Welehe yon den ver- schiedenen Transfusionsmethoden man im Einzelfalle an- wendet, ist bet akuten Vergiftungen gleichgfiltig. ])as Wesent- liche ist rasches Handeln und die m6gliehst schonende f3ber- tragung ungesch~digten Blutes. Ober die allgemeinen Wir- kungen der Transfusion als Substitutionstherapie habe ieh in den therapeutischen Halbmonatsheften 12) berichtet. Ein sehr bequemes und fiir die Klinik sehr geeignetes Verfahren der ]31utiibertragung ist das I3eckschel~), wovon wir uns an nuserer Klinik fiberzeugt haben. Speziell bet der Kohlen- oxydvergiftung wirkt, wie mich die eigene Erfahrung lehrt, eiii ausgiebiger AderlaB mit sofort angeschlossener Blur- transfusion lebensrettend.

Zu den endogenen Vergiflungen, welche durch AderlaB wenigstens voriibergehend erfolgreich bek~mpft werden k6n- hen, geh6rt die Urgmie, die Eklampsie, die Chol~tmie und in best immten F~llen das Coma diabeticmn. ]get BeMtmpfung der drohenden oder der ausgebrochenen Ur~mie geh6ren die Blutentziehungen l~ngst zum festen ]3estande unseren therapeutischen Rfistzeugs. Oft gelingt es, bet schon benom- menen Ur~mikern die geringen Harnmengen auf normale Tageswerte zu bringen. ])as Sensorium wird wieder fret, die einsetzende ])iurese, welche als Effekt des Aderlassens zu buchen ist, bringt die stickstoffhaltigen Endprodukte des Eiweigstoffweehsels in vermehrter Menge zur Ausscheidung. Auch die Mineralien, vor allem das Kochsalz, werden in gr6ge- ren Mengen ausgeschwemmt. ])er Blutdruck sinkt wenigstens voriibergehend ab. Eine Beeinflussung des 1Reststickstoff- gehalts des Blutes wird oft vermigt. Nach den Erfahrungen unserer Klinik kann derselbe nach Aderl~ssen nicht unerheb- lich ansteigen. ])as hat Iolgende Griinde: Jeder wirksame AderlaB ftihrt, wie oben auseinandergesetzt, zu ether Mobili- sation der im Gewebe retinierten Substanzen. ])a nun ent- gegen anderen Auffassungen yon BECHER 1~) zuerst nachdrtick- lich betont wurde, dab die Gewebe erheblich h6here Rest- stickstoffwerte aufweisen als das Blut, ist eine Steigerung des Reststickstoffs im Blute nach AderlAssen durchaus ver- st~ndlich. ])arauf haben u. a. VON H6SSLINll), WOLF und GUTMANN 11) und STRUBELL 11) bereits hingewiesen. BECHER hat den Anstieg des Rest-N auch nach Aderl~ssen bet nephrek- tomierten Hunden beobachtet. DaB durch Aderl~sse geradezu der EiweiBzerfall gesteigert werden soil, wie BECHER meint, scheint mir noch nicht geniigend erwiesen.

])iese Feststellungen haben mehr theoretische als prak- tische Bedeutung. Kein Arzt wird sich dadurch yon der Aderlagtherapie der Nierenerkrankungen zurtickhalten lassen. Welche Formen der Nierenerkrankungen besonders gtinstig dutch den AderlaB beeinfluBt werden, soil im einzelnen hier nicht er6rtert werden. Bet der akuten Nephritis, besonders auch der Feldnephritis, kSnnen groBe AderlXsse unter Um- st~nden dem I4rankheitsverlaufe eine gtinstige Wendung geben, indem gef~hrliche 0deme rasch zur Mobilisation und Ausscheidung gebracht werden, die Gewebsspannung herab- gesetzt und dadurch die Zirkulation besonders im Capillar- gebiet erleichtert wird. Auch der Blutdruck wird in gtinstigem Sinne beeinfluBt und dadurch das Herz entlastet. Bet den chronischen Formen der Nierenerkrankungen, vor allem den Sklerosen, hat der AderlaB nattirlich nur vorfibergehende Wirkung, trotzdem wird man ihn auch hier nicht entbehren wollen, weft er oft das einzige Mittel ist, der drohenden An- h~ufung yon Stoffwechselschlacken im Organismus entgegen- zuwirken. Bei den degenerativen Formen wirkt der AderlaB im allgemeinen wenig giinstig. ])er Blutdruck ist bet den

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Nephrosen an sich schon unternormal und wird durch Ader- 1Asse noch welter herabgesetzt. Dadurch entstehen ffir die Zirkulation nngfinstige Verh~ltnisse, und das angestrebte Ziel, die Mobilisation der 0deme und die Anregung der Diurese wird nicht erreicht.

Eines der dankbarsten Gebiete ffir die AderlaBtherapie ist die Eklanvpsie. Der fibergeordnete Gesichtspunkt ist, auch hier dureh den AderlaB yon dem hypothetisehen Eklampsiegift m6glichst viel dem I~6rper zu entziehen. Mir scheinen die Wirkungen auf dell Kreislauf, die gleich in anderem Zusammenhange er6rtert werden sollen, ffir den therapeutischen Effekt besonders bei vollblfitigen Patien- t innen mi t hochgradiger Cyanose yon noch wesentlicherer ]3edeutung. Gerade der rasche E ffekt des Aderlasses, der yon der Gesamtmenge des im K6rper vorhandenen Giftes doch immer nur eine relativ geringe Menge entfernen kann, spricht daffir, dab Kreislaufwirkungen bei der Blutentziehung in Fallen yon Eklampsie init gtinstigem Verlauf eine wesent- liche Rolle spielen. DaB die Entgiftungstherapie nur eine Teilwirkung des Aderlasses darstellt, zeigen auch die F~lle yon Schwangerschaftseklampsie, bei denen die Diagnose sehr friihzeitig gestellt, die Therapie sofort eingeleitet wurde nnd das mtitterliche Leben zwar gerettet werden konnte, das kindliche aber trotz der , ,Entgiftungstherapie" dem hypothetischen Gift zum Opfer fielen.

In F~llen yon Wochenbetteklampsie sieht sich der Arzt vor die Frage gestellt, ob er eine nochmalige ]31utentziehung verantworten kann. Von manchen Autoren, z. ]3. yon HOLSTEll), wird der AderlaB in diesen F/~llen wegen des oft sehwankenden Pulses abgelehnt. Ist der ]31utdruck bereits niedrig geworden, und will man trotzdem die AderlaBtherapie fortsetzen, so ist auf jeden Fall yon der naehtr~gliehen Infusion einer der oben erw~hnten Blutersatzfliissigkeiten Gebrauch zu machen. Auch bier m6chte ich den Zusatz yon Dextrose ans den oben erw/ihnten Grfinden und als kardiales Tonicum empfehlen.

Die fibrigen Autointoxikationen, bei denen gelegentlich der AderlaB als Entgiftungstherapie Anwendung gefunden hat, sind die CholXmie und das Coma diabeticum. Ent- scheidende Erfolge, welche die systematische Anwendung dieser Therapie rechtfertigen, sind bier nicht zu verzeichnen. Aueh da, wo die Chol/imie als Folgeerscheinung der akuten gelben Leberatrophie im Verlaufe einer Schwangerschaft (Schwangerschaftstoxikose) auftritt, bringt der AderlaB keine 13esserung. Das bier zu entferndende Zerfallsmaterial ist ebenso wie die Ketonk6rper im Coma diabeticum der Menge nach durch ]31utentziehungen schwerlieh in thera- peutisch wirksamem Umfange zu vermindern.

Der Aderlafl bei Kreislau/stdrungen. Die schlagendsten Erfolge hat der AderlaB bei richtig

nnd rechtzeitig gestellter Indikation fraglos gelegentlich be- drohlicher Kreislaufst6rungen. Wenn auch, wie verst~tndlieh, eine strenge Trennung der einzelnen dabei wirksamen Faktoren nicht durchfiihrbar ist, so scheint es doch zweckmXl3ig, drei Gesichtspunkte herauszuheben. Der erste betrifft den Ver- such, den krankhaft gesteigerten arteriellen Druck, der stets eine Mehrleistung des Herzens involviert, dutch ]31ut- entziehungen herabzusetzen. Der zweite betrifft die Kreis- laufst6rungen infolge einer Funktionsbeeintr~chtigung des zentralen Motors, welche zu einer ven6sen Hypertension ffihren, sei es deshalb, weil der Klappenapparat gesch~digt ist oder well muskul~re Insuffizienzen des Herzens vorliegen. Jede Steigerung des ven6sen Drucks ffihrt zu einer Ver- minderung des arterioven6sen Druckgef~lles und dadurch zu einer Str6mungsverlangsamung, besonders im Capillar- gebiet, welche bei lXngerem ]3estande zur 0dembildung ffihrt. Die Herabsetzung des ven6sen Drucks wird hier unmittelbare Erleichterung der Herzarbeit zur. Folge haben. Der dritte Gesichtspunkt ist die Ver/~nderung der ]31ut- viskosit~t, welche die Folge jeden wirksamen Aderlasses ist und die ihrerseits wieder die Capillardurcbstr6mung begfin- stigt. Unter physiologischen Verhgtltnissen wird der arterielle

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]31utdruck durch die Venaesectio nicht herabgesetzt. Das best~ttigen zahlreiche Beobachtungen am Menschen und die Erfahrungen des Tierexperiments. AuI gelegentliche Zwischen- f~lle, wie sie bei leicht erregbaren Menschen schon nach Entziehung yon wenigen Kubikzentimetern Blut eintreten k6nnen, wurde bereits oben hingewiesen. Gerade diese Aus- nahmen bei Individuen mit groBer Labilit~t des Gef~B- apparates machen die Regel des Konstantbleibens des Blut- drucks nach Aderl~ssen bei gesunden Individuen verstXnd- lich. Der Vasomotorenapparat paBt sich dem geringeren Ffillungszustand des Gef~Bsystems unter physiologischen 13edingungen an und verhindert dadurch ein Absinken des arteriellen Drucks (V~ORM-MOLLER19)].

Systematische Messungen des capilliiren Drucks nach gr6Beren Blutentziehungen sind bisher nicht gemacht. Die oben gemachten Auseinandersetzungen zeigen, dab das Spiel der Vasomotoren in den verschiedenen Gef~Bprovinzen, nachdem der erste Druckverlust durch eine h6here Einstel- lung des Capillartonus abgefangen ist, allm~hlich durch Nachlassen des Tonus in dieser oder jener Gef~Bprovinz die Rfickregulation des ursprfinglichen ]31utvolumens besorgt. Hier mfissen weitere Untersuchungen einsetzen mit dem Ziele, das Wechselspiel des kolloidosmotischen und des hydro- statischen Drucks in ihrer Beziehung zum Wassergehalt des ]3lutes aufzudecken.

Tiefstgreifend und am wirksamsten ist der EinfluB der Blutentziehung auf den ven6sen Druck besonders dann, wenn er pathologisch gesteigert ist. Das hat mehrere Grfinde : Zun~chst l~13t sich experimentell leicht zeigen, daB diese ven6se Stauung nicht dadurch allein die Zirkulation hemmt, dab das arterioven6se Druckgef~tlle erniedrigt und damit die einzige Kraft, welche den Kreislauf in den Capillaren aufrecht erhMt, gemindert wird, sondern sie ffihrt auch zu einer Eindickung des Blutes mit Erh6hung seiner Viskosit~tt bei gleichzeitiger Ausbildung eines 0dems. Die Ansammlung yon Wasser im Gewebe hemmt ihrerseits bei h6heren Graden durch Zunahme der Gewebsspannung und mehr oder minder hochgradige Kompression einzelner Capillarabschnitte den Kreislauf im Capillargebiet, dem wichtigsten der ganzen Strombahn. Gelingt es durch therapeutische Blutentziehung den Venendruck herabzusetzen, so wird dadurch das arterio- ven6se Druckgef~lle gesteigert, die Zirkulation im Capillar- gebiet unmit telbar erleichtert. Andererseits wird durch Einstrom yon Gewebswasser in die ]31utbahn eine Diluierung des ]3lutes mi% Herabsetzung seiner Viscosit~t erreicht, was wiederum die Str6mung im Capillargebiet und damit die Herzarbeit erleichtert. Naeh diesen Vorbemerkungen lassen sich die therapeutischen Bemfihungen in den patho- logisch ge~nderten Kreislauf durch den Aderlal3 in f6rdern- dem Sinne einzugreifen, leicht und fibersichtlich bewerten.

a) Versuche, den arteriellen Druck zu beein/lussen.

Hier ist zuerst die sog. genuine Hypertonie oder essen- tielle Hypertonie zu nennen, ein Symptomenkomplex, der vor allem yon Klinikern neuerdings mit immer gr6Berer Sch~rfe von allen den Prozessen abgegrenzt wird, die auf dem Umwege fiber eine primate Nierenver~nderung zu einer arteriellen Hypertension ffihren. Entgegen ROMBERG und seiner Schule, welche konsequent die nephrogene Ursache der dauernden arteriellen Hypertension verficht, stellt KOLBS ~0) fiir die FAlle, bei denen sich klinisch eine Nieren- funktionsst6rung nicht nachweisen l~Bt, psychiscbe Erregun- gen, Klimakterium, Syphilis und Nicotin in den Vordergrund der ~tiologischen Faktoren der genuinen arteriellen Hyper- tension. Durch die kurvenm~Bige Darstellung des Blut- drucks, wie sie von KYLIN 2~) inauguriert wurde, ist uns erst Mar geworden, dab die starken Schwankungen der Druck- werte bei essentieller Hypertonie, besonders die groBen Unterschiede zwischen Morgen- und Abendwerten ftir das Vorliegen einer ,,essentiellen Hypertonie" ein Ifihrendes Symptom bedeuten. Eine gute Obersicht fiber die einschl/igi- gen VerhAltnisse gibt ein Aufsatz von FAHRENKAMP22), dem ich folgende Kurve entnehme:

Page 5: Physiologische Grundlagen, Indikationen und Wirkungen des Aderlasses

25. JUNI 1925 K L I N I S C H E W O C H E N S C H

Beispiel Nr. 7b. Systolische Abendwerte: 18o 2oo zoo 17o 185 200 220 2IO 2oo 195 21o 17o x65 21o Systolische Morgenwerte: 14o 17o 15o 16o 13o 185 15o 138 I4o I35 I4o 125 145,

Ich m6chte weiterhin darauf hinweisen, dab die genuine Hypertension eine offenbar erbliche Erkranknng ist, die dem dominanten Erbgang folgt. WF~ITZ 23) gibt Stammb~iume yon Hypertonikerfamilien, bei denen alte Erkrankten in relativ Irfihen Jahren an Schlaganfall oder durch Erlahmen des Herzens starben. Ich muBte diese Bemerkungen voraus- schicken, um meine Stellungnahme in der AderlaBfrage bei der essentiellen Hypertonie zu rechtfertigen. Fassen wir den Symptomenkomplex als eine besondere Form der Vasoneurose auf, so ist es einleuchtend, daft die Aderlal3- therapie wesentliche Besserung nicht bringen kann. Lassen neben dem hohen Blutdruck andere Symptome vortibergehender Verschlechterung in dem ]3elinden des Kranken ein rasches Herabsetzen des Blutdrucks erwfinscht erscheinen, so kann auch in diesenF/illen einAderlaB gewiB indiziert sein. Anderer- seits ist aber zu bedenken, dab fortgesetzte Blutentziehungen bei dieser chronischen Erkrankung eine Gefahr bedeuten, nicht nur deswegen, weil aus ihnen schlieBlich eine An~imie resultieren kann, sondern auch datum, weil flit die Kranken der Eingriff an sich und das schlieBliche Ausbleiben eines dauernden Eriolges eine psychische ]3elastung bedeutet, die gerade in der t3ehandlung der Hypertension zu vermeiden ist. Auch P&HL 24) und FAHRENK&MP ~5) wenden sich dagegen, bei der arteriellen Hypertension ,,yon Zeit zu Zeit wegen des hohen Drucks" einen Aderlal3 zu machen und meinen, dab mit der Blutentziehung bei dieser Erkrankungsform in neuerer Zeit MiBbrauch getrieben wfirde. Man wird den Ein- griff bei der Hypertonie vor allem zur raschen l~berwindung akuter l~berspannung des GefitBsystems (Gef/iBkrisen) gelten lassen und sich dabei stets bewugt bleiben, dab eine vorSber- gehende Verminderung der Blutmenge Ifir die Dauer die pathologische Einstellung des Gef~tBtonus nicht beeinflussen kann.

b) Der Aderla~ bei arteriosklerotischen Hirnblutungen. Wghrend unter physiologischen Bedingungen und auch

in F~llen sog. genuiner Hypertension eine anhaltende und wirksame Erniedrigung des Blutdrucks durch einen AderlaB nicht erzielt wird, kann bei Arteriosklerose die Regulation des Blutdrucks nach gr6Beren ]31utent- ziehungen (5 ccm pro K6rperkilogramm) ausbleiben und oft eine bedrohliche Blutdrucksenkung einsetzen. Es kommt zu kollapsartigen Erscheinungen als Ausdruck daffir, da[] die Anpassung des Gef~Bsystems an den durch den AderlaB ge/~nderten Ftillungszustand gest6rt resp. aufgehoben ist. Diese starken Schwankungen des Blutdrucks legen die Frage nahe, wie man sich im Falle einer arterioslderotischen Hirn- blutung verhalten soil. Einen komat6sen Kranken auch noch der Gefahr eines AderlaBkollapses auszusetzen, wird sich ieder vorsichtige Arzt scheuen, und es ist daher ver- st/indlich, wenn einige Autoren den AderlaB bei Apoplexien nicht empfehlen. Besteht neben den Zeichen des apoplek- tischen Insults gleichzeitig eine Herzschw~iehe mit Meinem, irregul/irem und in~iqualem Pulse, wird man yon einem gr613eren AderlaB im apoplektischen Koma besser absehen. Hat man es mit sehr vollbliitigen Individuen zu tun, bei denen der Blutdruck hoch, die Herzaktion kr~titig und keine Zeichen der Myokardsch~digung vorhanden sind, so ist zu versuchen, besonders dann, wenn der Pat ient iiberm~iBig lange benommen ist, durch einen Aderlag dem Fortgang der Blutung Einhal t zu tun. Es ist aber auch hier die Vorsieht zu iiben, die Blutentziehung nicht ganz schnell, sondern mit einer Hohlnadel nnd langsamer durchzuffihren. Eventueli sind einzelne kleine Aderl/isse in Abst/inden yon einigen Stunden zu wiederholen. Dadurch wird gef/ihrlichen Druek- schwankungen, welche die Blutung eventuell neu anfachen k6nnten, vorgebeugt.

Die theoretischen Bedenken, welche man gegen den Ader- lab bei ApopIexien geltend gemacht hat, sind folgende:

R I F T . 4. J A H R G A N G . Nr. 26 1245

Durch den BluterguB sollen Gehirngef~Be komprimiert and dadurch mehr oder weniger ausgedehnte Gehirnabschnit t t yon der Blutversorgung abgeschnitten werden. Unmit te lbar nach dem Insult setzt eine Steigerung des Blutdrucks ein, welche yon NAUNYN and SCHREIBER ~s) durch reflektorische Erregung des Vasomotorenzentrums in der Medulla oblongata info!ge der durch die Blutung einsetzenden Hirndrucksteige- rung erkl~Lrt wird. Die reflektorische Blutdrucksteigerung soll nun gewissermal3en die drohende An/tmisierung gr6Berer Gehirnabschnitte dnrch den zunehmenden intrakraniellen Druck verhfiten. ~AUNYN und SCHREIBER schlieBen aus ihren Versuchen, die sie am Hunde mit kfinstlichem Hirn- druck nnd zeitweiliger Unterbindung der Carotiden und Subclaviae anstellten, ,,dab bei bestehendem und drohendem Hirndruck alle Eingriffe, die den arteriellen Blutdruck herabse• das Eintreten der Hirndruckerscheinungen be- schleunigen oder dieselben gar, wo sie schon bestehen, steigern. Also ist der AderlaB als Mittel gegen den Hirn- druck nich• anwendbar, vielmehr ist alles zu empfehlen, was den Blutdruck steigert". Diese aus den etwas gewaK- samen Experimenten abgeleiteten SchluBfolgerungen sind abzulehnen. Soweit man aus Lumbaldruckmessungen aui den intrakraniellen Druck Rfickschliisse machen darf, er- reichen die I)rucksteigerungen nach Apoplexien nie solche Werte, die geeignet w~iren, gr6Bere Hirngef~tBe zur Kompres- sion zu bringen, und schliei31ich ist doch -- darin ist GOLD- SCHEIDER unbedingt recht zu geben -- der Druck im Sch~del, auch wenn man die durch die sekund~ire Quellung der Hirn- substanz bedingte intrakranielle Druckzunahme mitberiick- sichtigt, zun/ichst vom arteriellen ]31utdruck oder besser vom arterioven6sen Druckgef~ille abh~tngig. Mir scheint die Gefahr der Nachblutung um so gr6Ber, je h6her der arterielle Blutdruck and die Chance, die Blutung zum Stehen zu bringen, um so eher gegeben, je rascher es gelingt, den Blutdruck herabzusetzen. Es kommt hinzu, da[~ jeder gr613ere AderlaB die Gerinnungsffihigkeit des ]3lutes f6rdert und daher auch auf diesem Wege der Gefahr der Nachblutung, wenn auch in bescheidenem MaBe, bei apoplektischen Hirnblutungen vorgebeugt werden kann.

Der Aderlafi bei Lu]tembolien. Auf einer Steigerung des arteriovenSsen Druckgcf~lles

im Bereich der Hirncapillaren beruht wahrscheinlich die lebensrettende Wirkung grofl~r Aderl(isse bei Lu]tembolien. Die Frage der Behandlung der Luftembolien hat neuerdings ein gr6Beres Interesse gewonnen, da bei der Pneumothorax- therapie, auch wenn sie yon kundiger Hand gefibt wird, t6dliche 26) Gasembolien sich nicht ganz vermeiden lassen. JnssnN hat aus den Jahren 19o9--1923 26 Todesfiille, die im Verlauf einer Pneumothoraxbehandlung durch Luft- embolien eingetreten sind, zusammengestellt, u n d e r zeigt an der Hand von vier eigenen Krankengeschichten, daB ein ausgiebiger rascher AderlaB bei eingetretener Gasembolie lebensrettend wirken kann. Er Iordert, daB jeder Arzt, der sich mit Pneumothoraxbehandlung besch~ffigt, ein in Alkohol liegendes Messer bereit halten sol1, ,,damit im Falle einer Luftembolie blitzartig ein groBer AderlaB gemacht werden kann". Um eine wirksame Herabsetzung des ven6sen Drucks zu erreichen und dadurch eine genfigende Steigerung des arterioven6sen Druekgeffilles zu erzwingen, sol1 der AderlaB nicht unter 400 ccm betragen. Bei der Hililosigkeit, mit der der Arzt der eingetretenen Gasembolie gegenfibersteht, halte ich aus den erw~hnten therapeutischen Erw~igungen herans den AderlaB bei Luftembolien fiir absolut indiziert.

Die Aderlaflbehandlung des Aneurysma der Aorta. Fiihrt ein Aneurysma der Aorta zu Kompressionserschei-

nungen der Nachbarorgane, so hat man frfiher nach den Vorschriiten yon VALSALVA versucht, durch reichliche immer wiederholte Aderl~sse auf die Fiillung und damit die Gr6Be des Aneurysma einzuwirken. Nach dem, was eingangs fiber die Wiedererg~nzung des ]31utvolumens aus den Wasserdepots der Gewebe gesagt wurde, sind die Vor- aussetzungen ffir diese Behandlung unzutreffend und mit

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Recht ganz verlassen [ROMBERG2~)]. ES gibt aber auch bier Ausnahmen. Einen solchen Fall, der mir die lebens- rettende Wirkung des Aderlasses bei einem die Luftr6hre komprimierenden etwa haselnuBgroBen Aneurysma der Konkavit~tt des Bogens dartat, m6chte ich bier referieren.

Ein 4 2 Jahre alter Mann kommt in vollkommen comat6sen Zustand in die Klinik. Es besteht eine hochgradige Cyanose und laute, stridor6se Stenosenatmung. Ein- and Ansatmung gehen langsam and gequMt vor sich. Eine die Atmung behindernde Er- krankung kann durch direkte Inspektion der oberen Luftwege nieht gefunden werden. I)er IKranke macht den Eindruck eines Patienten bei einem frischen apoplektischen Insult. Der Exitus scheint unmittelbar bevorzustehen. Ein Aneurysma l~il3t sich perkutoriseh nnd auch bei der nachtr~glich vorgenommenen R6nt- gendurchleuchtung nicht nachweisen. Auch fehlen alle klinischen Zeichen eines solchen. Das Herz ist nicht wcsentlieh vergr6Bert, die Aktion gleichm~Big, die T6ne sind leise, Ger~usche nicht wahr- nehmbax, der Blutdruck betriigt: IO 7 mill Hg. ~lber beiden Lungen diffuse laute feuchte Rasselger~usche, die durch den Stridor t~ber- t6nt werden. Die Venen des Halses nnd der oberen Extremit~iten sind prall geffillt. Um die offenbax hochgradige ven6se Hypertension herabzumindern nnd dem drohenden Lungen6dem vorzubeugen, wird ein ausgiebiger Aderlag yon 5o0 ccm durchgeffihrt. Daneben I ccm Asthmolysin und 0, 3 mg Lobelin injiziert and Sauerstoff verabreicht. Unmittelbax nach dem AderlaB wird die Atmung erleichtert, die Cyanose geht rasch zurfick, Patient erwacht 4 Stun- den nach dem AderlaB aus dem Coma. Das Trachealrasseln, der Stridor und die bedrohlichen Lungensymptome verschwinden aug fallend rasch. Patient scheint am n~ichsten Tage vollkommen erholt, ohne dab die ]Diagnose gesichert werden konnte. Mehrere Tage nach diesem ersten Stenosenanfall wiederholt sich die Attacke in der Nacht, und Patient erliegt dem AnIM1. Die Sektion deckte den Sachverhalt auf nnd gab die Erkl~rung fiir die zauberhafte \u des Aderlasses in dem ersten Anfall: Es handelte sich unl zwei haselnul3groBe, in die Trachea eingebrochene Aneurysmen des Arcus aortae, auf dem ]3oden einer Aortitis luetica, welche die Atmung wahrscheinlich nnter dem Einflul3 einer akuten Blut- drucksteigerung so weitgehend behindert; batten, dab der Patient nahe vor der Erstickung stand. ])arch den AderlM3 wax oIIenbar eine Verkleinerung der Aneurysmen nnd damit eine Dekompression

Faktoren entgegengewirkt. Gelingt es, die primAre Aderlal3- wirkung in bezug ant den Capillarkreislauf dutch Herzmittel aufrecht zu erhalten, so wird damit die Odemresorption eingeleitet. Hierdurch werden weitere gfinstige Faktoren ffir die 13ehandlung der Zirkulationsst6rung fruchtbar ge- macht. Der reichliche Einstrom yon 0demwasser in die Blutbahn bedingt eine Herabsetzung der BlutviscositXt und dadurch Erleichterung der Passage des ]31ntes durch die feinen Haargef/iBe. Die Arbeit der linken Kammer wird bei verbessertem Effekt bezfiglich des Schlagvolumens kleiner. Die Verwiisserung des ]3lutes zugleich mit der be- ginnenden Verbesserung der Zirkulation bringen die Diurese wieder in Gang. Alle diese gi~nstigen Wirkungen werden durch einen rechtzeitig und ausgiebig gesetzten AderlaB eingeleitet und k6nnen, wenn es der Kunst des Arztes gelingt, durch entsprechende Einwirkung auf den Herzmuskel die Wirkung zu prolongieren, dem ganzen Krankheitsbilde einer schweren Zirkulationsst6rung eine Wendung zum Besseren geben. Was bier fiir das Capillargebiet des groBen Kreislaufes ausgeftihrt wurde, gilt naturgem~g auch fiir dasjenige der Lungen. Kann das Blut aus den Lungengef~tBen wegen Erlahmen des linken Herzens oder wegen eines Klappen- fehlers an der Mitralis nicht gentigend schnell abfliegen, so muB die Zunahme des hydrostatischen Drucks ant Kosten der Abnahme des hydrodynamischen Drucks im Gebiete der Lungencapillaren schlieBlich denselben Effekt haben wie im Capillargebiet des groBen Kreislaufs. Schon lalage bevor die vermehrte Blntfiillung der Lungen zu einem Lungen- 6dem fiihrt, kommt es zu einer relativen Starre resp. Schwer- beweglichkeit der Lungen, wodurch der kreislauff6rdernde Effekt der Atmung erheblich gest6rt wird. Wie sehnell eine kurze Unterbrechung der Atmung zu einer Rfickstauung des ]3lutes in die peripheren K6rpervenen und damit zu einer ven6sen Hypertension fiihrt, demonstriert nebenstehende Knrve, die yon einem Kranken mit Cheyne-Stokesscher Atmung s tammt:

der Trachea eingetreten, die Luftzufuhr war wieder erm6glicht;~ der in der Trachea an der verengten Stelle angesammelte Schleim ~ ~ ~a~%~_._.~#~ wird ausgehustet und dadnrch die Atmung vollkommen wieder ~ - - - ~ ~ - ~ ' J # ~ - ~ freigegeben. I "' j ~ ~& ~ ~ d ~ ~,.

Der nach Tagen einsetzende letale Allsgang zeigt, dab 1 " k ~ ' ~ ~ ' % ~ # [ " ~ X~. ] ' t ~ , ~ y ' ~ , ' * t die Ent las tung des Gef~13systems auch bier nur voriiber-~' " v ~ " ' ~ , ~ "',e ~ gehenden Erfolg hatte. Ein nach seinen klinischen Symptomen ganz ~thnlicher Fall, bei dem der AderlaB viermal lebens- Kurve 2. A = Atemorgane; P = Plethysmogramm des rechtenArms (BORGER*).

rettende Wirkung hatte, ist yon WOLSTEIq30) mitgeteilt. \Venn auch eine Dauerheilung in solchen F~llen durch den AderlaB natiirlich nicht erm6glicht wird, ist es fiir den Patien- ten und seine Angeh6rigen doch yon grol3er ]3edeutung, wenn es dem Arzt gelingt, den Kranken wenigstens fiir Tage oder Stunden ins BewuBtsein znrfickzurufen und ihm die M6glichkeit zu geben, fiir seine Familie wichtige Entschei- dungen zu treffen.

b) H e r a b s e t z u n g des V e n e n d r u c k s bei vendser Hyper to 'Me .

\V~thrend unter physiologischen Verh/tltnissen therapeu- tische AderlXsse den Venendruck nur unerheblich beeinflus- sen, sind sie bei ven6sen Hypertonien yon groBer Wirk- samkeit. Der erh6hte Venendruck kann dutch einen aus- giebigen AderlaB yon 8 ccm pro K6rperkilo um 6o--8o mm Wasser herabgesetzt werden. Hier liegt die Dom~tne der Kreislaufwirkungen des Aderlasses. Durch Herabsetzung des ven6sen Druckes haben wit es in der Hand, den rechten Vorhof zu entlasten and die T~Ltigkeit der rechten Vorkammer and Kammer zu erleichtern. Durch Tierexperimente ist sichergestellt, dab eine kfinstliche Oberdehnung der rechten Kammer and Vorkanmler, die nahezu zunl Stillstand der- selben fiihrte, dutch einen ausgiebigen Aderlaf~ ausgeglichea werden kann and die Tgtigkeit des rechten Herzens wieder zur Norm zurtickgefiihrt wird. Eine zweite Wirkung, welche die Herabsetzung der ven6sen Hypertonie stets zur Folge hat, ist die Steigerung des arterioven6sen Druckgef~lles und damit ]3esserung der Stromgeschwindigkeit im Capillar- gebiet. Der hydrostatische Druck wird niedriger, der hydro- dynamische steigt. Damit wird den 6dembegfinstigenden

Jedesmal, wenn die Atmung stillsteht, schwellen die Arme an, wie die plethysmographische Kurve zeigt, die in deut- licher Abh~ngigkeit yon der Atmung steht. Jeder Eingriff, welcher die Arbeit der linken Kammer erleichtert and das in den Lnngen zurfickgestante Blur in ausgiebigerem MaBe yon dort wegpumpt, wird auf dem Unlwege fiber die Er- leichterung der Atmung nnd Erh6hung des respiratorischen EIfekts der Atmung auf die Zirkulation ihrerseits in der Richtung einer Verbesserung der gesamten Kreislaufverh~lt- nisse wirken. SAHLI ~~ hat in seinen sch6nen tierexperimen- tellen Untersuchungen die frappante Wirkung des Aderlasses bei Stauung i m Pulmonalisgebiet dargetan.

Aus diesen allgemeinen Er6rterungen ergeben sich die speziellen Indikafionen bei Kreislaufst6rungen yon selbst. Die raschesten nnd erfreulichsten Wirkungen -- darin sind sich alle erfahrenen Autoren einig -- sind stets bei ven6ser Hypertension, der Phlebostase der alten Kliniker zu erwarten. In den F~llen, in den eine Reehtsverbreiterung des Her- zens und eine pralle Fiillung der Extremitgtenvenen eine ~)berlastung des rechten Vorhofs vermuten lassen, kann die ]3ehandlung durch einen ausgiebigen AderlaB eingeleitet werden. Kollapserscheinungen sind in solchen F/illen auch bei schw~ichlichem Herzen nicht zu ffirchten. Das hat V~IL ~) besonders betont, und gegenteilige Erfahrungen sind mir nicht bekanntgeworden.

Eine lebensrettende Wirkung wird dem Aderlal3 nach- gertihmt in akuten Anf~tllen yon kardialem Asthma, beson-

*) Bt3RGER, pathologisch-physiMoglsche Propaedeutik~ Abb. 4, Seite i~. Berlin: Jul. Springer 1924.

Page 7: Physiologische Grundlagen, Indikationen und Wirkungen des Aderlasses

25. JUNI ~925 K L I N I S C H E W O C H E N S C H

ders w e n n de r ZustancI d u t c h hochgrad iges (5dem oder Kyphosko l iose kompl i z i e r t i s t [BuRWINKEL32), l~OMBERG33)]. i s t bere i t s ein Lunge l l6dem e inge t re t en , so soll m a n f ramer ro l l e ineln ausg ieb igen Ader laB G e b r a u c h m a c h e n . MACI,:EN- ZlE 3~) e m p f i e h l t den Ader laB a u c h in FAllell yon h o h e n l ]31utdruck (Herzsklerose) u n d s i eh t n a c h E n t z i e h u l l g y o n 6 o o - - 8 o o c c m ]31ut eine u n m i t t e l b a r e E r l e i c h t e r u n g des K r a n k e n besonders ill FAllen m i t V o r h o f s f l i m m e r n u n d sehr wef t f o r t g e s c h r i t t e n e r HerzschwAche.

]31ute l l tz iehungen bet Pneumonie s ind in de r Arzt l ichen P r a x i s se i t l a n g e m i m Gebrauch . Die K u n s t i s t bier , d e n r i c h t i g e n Z e i t p u n k t se iner h 6 c h s t e n W i r k s a m k e i t zu t ref fen. S te l len s ich die Ze ichen eines beg i l l nenden L u n g e n 6 d e m s ein, so i s t e in ausgieb iger Ader laB aus den oben ange f f ih r t en Grf indel i u n m i t t e l b a r allgezeigt . Schwier iger i s t die E n t - sche idung , ob m a n be t d r o h e n d e m oder be re i t s e i n g e t r e t e n e m Kollalgs d u r c h eine ausgiebige ]31u ten tz iehung die W e n d u n g z u m t3esseren erzwil lgen kallll . Gewil3 wi rd die E l l t l a s t u n g des O r g a n i s m u s yon den in de r Lys i s den K 6 r p e r fiber- schwenlmel lden , z. T. gef~B1Ahmenden Z e r f a l l s p r o d u k t e n Gu te s schaf fen k6nnen , w e n n es gel ingt , den s chon gesun- kel ien ]51utdruck d u r c h GefABtonika u n d Rei l l fus ion eilier Blu te r sa tz f l f i s s igke i t yon der oben a n g e g e b e n e n Z u s a m m e n - s e t zung wieder zu heben . I )och m S c h t e ich re ich yon e ther s e h e m a t i s c h e n E m p f e h l u n g des Ader lasses als T h e r a p i e ffir den P n e u m o n i e k o l l a p s f e r n h a l t e n u n d h ie r besol iders seine individualisierende A n w e l l d u n g a n r a t e n .

E i n f a c h e r l iegen die VerhAltn isse b e i m c h r o n i s c h e n Lungenemphysem m i t sekundArer Insuf f iz ienz des r e e h t e n Herzens . Die aus l e t z t e re r resu l t ie re l lde ven6se H y p e r t o n i e wi rd bet d iesem Zus ta l id aus l l ahms los d u r c h e inen ausgiebigel l Ader laB m i t gf ins t igem Erfolge bekAmpf t .

Der Aderlafi als Reiz ]i~r die Blutbildungsst~itten.

Bet d e n zu eilier An~mie f f ih renden B l u t k r a n k h e i t e l i h a t mlan frf iher u n t e r de r Vors te l lung , d a b a k u t e B l u t v e r l u s t e eine S t i m u l a t i o n zur Mehr l e i s t ung des K n o c h e l l m a r k s a b g e b e n k6nnen , den Ader laB vie l empfoh len . W e n n a u c h ffir phys io- logische VerhAltnisse zugegeben w e r d e n mag, d a b eine krAf- t ige B l u t e n t z i e h u l i g gewissermaBen zu e iner B l u t v e r j i i n g u l l g f f ihren k a n n (gemessen a n der ges t e ige r t en Sauers to f fzehru l ig de r y o n den B l u t b i l d u n g s s t A t t e n ill r e i ch l i che rem Mal3e in die B l u t b a h n a b g e g e b e n e n j f ingeren E l e m e n t e ) , so s i eh t ma l t s chon IInter n o r m a l e n B e d i n g u n g e n be i AderlAssen, die s ich in t h e r a p e u t i s c h e n G r enzen ha] ten , n u r gallz a u s n a h m s w e i s e das A u f t r e t e n yon N o r m o b l a s t e n .

]3ei Zus tAnden aber , bet d e n e n das anAmis ie rende P r inz ip fo r t be s t eh t , we rden die Reize au f das K n o c h e n l n a r k , welche d u r c h e inen AderlaI3 gegeben werden , n i c h t l l lehr bea l l twor t e t . Die Ade r l aB the rap i e der AllAmiell h a t n a c h 1nether Me inung n u r m e h r h i s to r i sche ]3edeutung. Al lders l iegen die Dilige bet d e n v e r s c h i e d e n e n F o r m e n de r Po lycy thAmie . Die quAlen- den Ersche i l lungen , die diese K r a n k e n z u m A r z t t r e iben , de r l~st ige Kopfd ruck , die S e n s a t i o n e n r o l l se i t en der Augen , wel-den d u r c h ausgiebige AderlAsse, welche alle M o n a t e w i e d e r h o l t w e r d e n k6nnel l , r a s c h b e h o b e n . Die K r a n k e n ff ihlen s ich wesen t l i ch e r l e i ch t e r t u n d drAngen n i c h t se l ten d e n A r z t vol i s ieh aus zur V o r n a h m e eines Ader lasses . Wie n e u e r e E r f a h r u l i g e n lehren , lmuB die Ader la l3 therap ie d u r c h R 6 n t g e l i b e s t r a h l u n g der l a n g e n R 6 h r e n k l i o c h e n u n t e r s t i i t z t werden . Die s y m p t o m a t i s c h e Besse rung , welche die B l u t - e n t z i e h u n g e n in d iesen FAllen zur Folge h a b e n , i s t woh i i m wesen t l i chen au I die H e r a b s e t z u l i g der B l u t v i s c o s i t h t zu bez iehen . A u c h die Mil iderul lg de r ve l l6sen H y p e r t e n s i o n m a g d a n e b e n eilie n i c h t zu n n t e r s c h A t z e n d e Rol le spieleli.

JDer unblutige Aderlafi.

N a c h d e m GEIGnL35) i m J a h r e 1894 die kfi l is t l iche P h l e b o - s tase be im b lu t igen H i r n s c h l a g e lnp foh len h a t t e , wurde l i a n de r Mor i t z schen K l i n i k spAter yon 19LASKUDA 36) sys te - m a t i s c h e U l l t e r s u c h u n g e n fiber den E f f e k t k t ins t l i cher ven6se r S t a u u n g der E x t r e m i t A t e n anges te] l t . ]:)as auf diese Weise in den E x t r e m i t A t e n zu r f i ekges tau te u n d d e m Kre is lauf des

R I F T . 4. J A H R G A N G . N r . 26 1247

R u m p l e s uncl Kopfes en tzogene ]31ut k a n n bis zu 4/6 be t r agen . SpArer w u r d e das V e r f a h r e n Ms , , l lnb lu t iger Ade r l aB" y o n v. TABORA 3~) empfoh len , welcher zeigte, d a b eine vel i6se H y p e r t e n s i o n infolge Herz insuf f i z i enz bis zu 143 m m W a s s e r h e r a b g e s e t z t w e r d e n k a n n . Die E l l t l a s tu l i g des r ech te l l He rzens 1ABt sich, wie TORNAI gezeigt h a t , a u c h r 6 n t g e n o - logisch d u r c h V e r k l e i n e r u n g des Herzel ls nachwe i sen . H a b e n die B i n d e n e t w a i o - - 3 o M i n u t e n l ang gelegen, so sol len sie n i c h t g le ichzei t ig sonde rn l l a c h e i n a n d e r a l lmAhl ich gel6st werden , d a m i t das wieder f reigegebel ie B l u r n i c h t l l euerd ings eine l ~ b e r l a s t u n g des r e c h t e n Herze l i s herbe i f f ihre . Das Verfahrell ist yon LILIENSTEIN 38), A. HOFFMANN und MACKEN- ZIE 39) besonders in FAllen schwerer ven6ser Stauung empfoh- fen. Man wird sich besollders dann zu diesem Notbehelf entschlieBen, wenn es sich urn schwAchliche Patienten hall- delt, denell man, llachdeln der mechallische Effekt des Ader- lasses erreicht ist, das in den Gliedern zllrfickgestaute Blur wieder zugute kommen lassen ml6chte. Auch ]~PPINGER a~ ~tuBert sich in seiller Monographie fiber das Asthma card'ale dahil l , d a b die M e t h o d e des t3il ldens de r G]ieder s ich a u c h i h m zur K u p i e r u n g yon h e r z a s t h m a t i s c h e n AnfAllen o f tma l s bewAhr t ha t . Die kf ins t l iche P h l e b o s t a s e soll n a c h i h m h~uf ig eine b e t d i c h t l i c h e A b n a h m e des M i n u t e n v o l u m e n s zur Folge h a b e n . EPPINGER d e u t e t da s a ls e inen g t ins t igen Effekt , insofe rn er f a s t be t j e d e m ]?all yon A s t h m a cardia te , besonde r s in d e n A b e n d s t u n d e l i , e ine deu t l i che S te igeru l lg de r B l u t g e s c h w i n d i g k e i t fes ts te l le l l k o n n t e . E r b r i n g t diese Er sche i l l ung m i t d e m E i n t r e t e n des Anfa l l s in urs~ichlichen Z u s a m m e n h a n g .

I ) e r n n b l u t i g e AderlaI3 wi rd f ramer n u r ein u n v o l l k o m m e n e s E r s a t z m i t t e l des b lu t ige l l b l e iben k6nnel l . Viele der be- schr iebe l ien gf ins t igen W i r k u n g e n des b l u t i g e n Ader lasses , vo r a l l em die H e r a b s e t z u n g der Blutv iscos i t~ i t u n d die Steige- r u n g des a r t e r i o v e n 6 s e n I)ruckgefAlles i m Cap i l l a rgeb ie t des groBen I<reislaufes fa l len fort . I m Gegen te i l wi rd eine h a l b - s t f indige S t a u u n g , wie ich aus zah l r e i chen e igenen V e r s u c h e n weiB, hXufig s ehon zu e ther n i c h t unwese l l t l i chen Z u l l a h m e der B l u t k o n z e n t r a t i o n ul ld zur 0 d e m b i l d u l l g a n d e n E x - t r e m i t ~ t e n f f ihren lnfissen, V e r h M t n i s s e n also, die gerade bet Kre i s l au f s t6 runge l i u n e r w i i n s c h t s ind. Es ka l ln s ich be t de ln I-~indeli der Glieder f r amer l lur u m eine vo r f i be rgehende E n t l a s t u n g des r e c h t e n He rzens u n d des klei l len Kre i s laufes h a n d e l n , die d e m f ibe r l a s t e t en Herzen , be sonde r s be t venbse r H y p e r t e n s i o n , eine kurze E r h o l u n g s z e i t gewAhrt.

L i t e r a s u r : 1) THANNttAUSER, Traumatische Gef~iBkrisen. Mitnch. reed. Wochenschr, 1916, Nr. 16, S. 581--583 . _ 2) C. SCHMIDT, Znr Charakterist ik der epidemischen Cholera. Leipzig und Mitau 185o. -- 3) HAMBURGER, Osmotischcr Druck nnd Ionen- lehre 2, 3 o, 19o4 . _ .t) KROGH, Anatomie und Physiologie der Capillaren. Verlag yon ]ul. Springer, S. 117, -- 3) STARLING, On the Absorption of fluid from the connective tissue spaces. Journ. of physiol. 1896, S. 312--327 . -- 6) LIMBECK, I,:linische Pathologie des Blutes. Jena 1892, S. 47. -- 7) SEYDERHEL~ und LAMPE, Zeit- schr. f. d. ges. exp. Med. 111, H. 1/3. 1924 �9 -- s) RITZ, In ternal . Zentralorgan f. Blur- u. Serumforschung 8. 19o9. -- 9) LEHMANN, Dtsch. reed. Wochenschr. 7, 6. 1923. -- 10) BORGER und I-[&GEMANN, Dtsch. reed. Wochenschr. 1921, Nr. 8; Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. II , 3--4. 192o u. 26, 1--2. 1922 . _ 11) LANDERER, Verhandl . d. Dtsch. Ges. f. Chirurg. 15. 1886; Virchows Arch. f. pathol . Anat . u. Physiol. 1o5, 351. 1886 u. Therap. Monatshefte i6, 8. I9oz. -- 1-~ BORGER, Therap. Halbmonatshefte 1921, H. 1 3 - I5. i n ) BECK, Klin. Wochenschr. Jg. 3, Nr. 44, S. 1999. -- 14) BECHER, Dtsch. reed. Wochenschr. Nr. IO. 1919. Mfinch. reed. Woehenschr . 192o, Nr. 14, S. 397 u. 398, -- 15) H6SSLIN, Beitr. z. chem. Physiol . n. Pathol. 8. 19o6. -- 16) WOLF nnd GUTMANN, Dtsch. Arch. f. klin. Med. I18. _ n) STRUBEI.L, Der Aderlai3. Berlin 19o 5. -- is) HOLSTE, Berl. klin. Wochenschr. I913, Nr. 4 I. -- 19) SVORM- Mt~LLER, Ber. ft. d. Verhandl. d. Kgl. S~chs. Ges. d. Wiss. Leipzig, Math.-Phys. K1. 1873. -- ~0) KOLBS, Dtsch. reed. Wochenschr . ]922, Nr. 22, S. 718. - - 21) KYLIN, zit. nach FAHRENKAMP. - - 2~2) FAHRENKAMP, Ergebn. d. ges. Med. 5, H. I. S. 144. -- 33)WEITZ, Zeitschr. f. klin. Med. 46 u. Ergebn. d. ges. Med. 5, I-I. 3 u. 4. -- 24) PAHL, Wien. reed. Wochenschr. 1922, iNr. 43, S. 1734. -- 25) FAHRENKAMP, I. C. -- 26) IX[AUNYN und SCHREIBER, l[Iber Gehirn- druck. Leipzig 188i. -- 27) JESSEN, iV[finch, reed. Vqochensehr. Jg. 71, Nr. 46, S. 1611. - 2s) ROMBERG, Krankhei ten des Herzens

Page 8: Physiologische Grundlagen, Indikationen und Wirkungen des Aderlasses

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und der BlutgefABe. 3. Aufl. Stuttgart: Enke 1911, S. 654. -- e*) WULSTE~, Dtsch. reed. Wochenschr. 19o 4. --~0)SAI~LI, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol.[I 9, 433. 1885. -- al) VEIL, Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. I5, 139. 1917. -- ~) BnlawnqK~L, Med. Klinik 191o, Nr. 19. -- ~a) IROMB~RG, 1. C. S. 434" -- a~) MACKENZIE, Lehrb. d. Herzkrat~kh. Deutsch yon IRO~HBXI~GER. Springer 1923,

S. 425 . -- ~) GEIaEL, Lehrb. d. Herzkrankh. Bergmann 191o, S. I48. __ 36) P L A S K U D A , Dtsch. Arch. f. klin. Med. 8o, 492. I9o4. -- ~7) v. TABORA, Dtsch. reed. Wochenschr. I91o, S. 1265. -- ~s) LILII;N- S~rglN, Med. Kliuik 1912, Nr. 8 u. 1913, Nr. 35. -- ag) MACKENZIE, 1. C. S. 425 . -- a0) EPI'ING~, ~ber das Asthma eardiale. Springer 19I 4, S. 194.

ORIGINALIEN. 0BER PHAGOCYTOSE UND PHAGOCYTEN.

Von Prof. O. LUBARSCH, Berlin.

Aus dem Pathol. Institut tier Universit~t Berlin.

Die Lehre yon der Phagocytose kntipft sich ill erster Linie an dell Namen ELIAS METSCItNIKOFFS. Freilich ist er nicht der erste gewesen, der den Begriff der FreBfithigkeit der Zellen aufstellte. Scholt VIRCHOW sprach volt einer ,,Vorazit~t" der Zellen und schreibt (ZellularpathoI. 4. Aufl., S. 412. 1871 ) : ,,Aller Wahrscheinlichkeit ,fressen' die Zellen das Fett , und es haltdelt sich um einen der an die TAtigkeit der Elemente geknfipiten automatisehen Vorg~nge." Und S. 360 und 361 spricht er ausffihrlicher fiber die , ,Vorazit~t" der Zellen und bemerkt, dab sie allerlei Dinge ,,fressen", auch vollst~ndig unverdauliche und nicht assimilierbare. Hatte er auch ur- sprfinglich das Vorkommen blutk6rperchenhaltiger Zellen so gedeutet, dab es sieh um einen mechanischen Akt handle, wobei durch die Gewalt des austretenden Blutes die roten Blutzellen in andere Zellen hineingeprel3t wfirden, so zog er doch sp/iter, nachdem PREYER unter dem Mikroskop die un- mittelbare Aufnahme toter BlutkSrperchen dutch weiBe beobachtet hatte, die Deutung nor, dab es sich um eine aktive Aufnahme, eine Frel3t~itigkeit handle. Die Untersnchungen HOFFMANNS, PONFICKS U. a. hatten auBerdem gezeigt, dal3 maltchen Zellelt eine ,,ltngemein groBe Gefr~iBigkeit" ftir fremde unverdauliche und unver~inderliche K6rper, wie Farb- stoffe (Carmin, Zinnober, Indigo) und Kohlenstfickehen be- sitzen. VIncHow war es ferner auch 187o schon bekannt, dab in Zellen ,,Vibriolten und Pilze" vorkommen, wobei er freilich annahm, dab es sich entweder datum handle, dab sie dutch aktive Beweglichkeit oder durch ,,fortschreitendes Wachstum und Absorption" in das Innere der Gewebsbestandteile ein- dr~ingen. METSCIINIKOFF hat dann gerade diese Befunde zum Gegenstaltd eingehendster Untersuchungen gemacht ultd bekanntlich den , ,Phagocyten" eine entscheidende Rolle in dem Kampfe zwischen Parasitelt und Wirtsorganismus zu- geschrieben. Es ist nicht meine Absicht, hier auf die ]3e- deutung der Phagocytose ffir die angeborene und erworbene Unempfangliehkeit oder starke Widerstandsf~ihigkeit gegen Infektionskrankheiten n/iher einzugehen -- dab die Phago- cytentheorie in der nrsprfinglich yon IViETSCHNIKOFF adf- gestellten Form zu einseitig gewesen, wird wohl allgemein zugegeben, ebenso aber immer mehr anerkannt, dab ihr Kern richtig und die Immunit~tsvorgange im wesentlichen an Zellen geknfipft sind. Worauf ich bier die Anfmerksamkeit erneut richten will, das sind 2 Fragen: 1. Welche Zellen besitzen die Fdhigkeit des J~ressens, kdnnen demnach als ,,Phagocyten" be- zeichnet werden? 2. Wie er]olgt die Au]nahme lcdrperlicher Bestandteile in die Zellen?

VIRCHOW hat, wie oben schon angedeutet, die ,,VorazitAt" ausdrficklich sowohl Biltdegewebs- wie Epithelzellen und Blutze]len zugeschrieben (Cellularpathologie 4. Aufl., S. 36o und 412). POI~FICK kam dagegen bei seinen Untersuehungen fiber die Schicksale kSrniger Farbstoffe im Organismus (Virch. Arch. f. pathol. Anat. 48) zu dem Ergebnis, dab die farbstoff- (zinnober)haltigen Zellen in Milz, Knochenmark nnd Lymph- knotelt lymphoider ,,Natur" sind und die Zellen ,,des stfitzen- den bindegewebigen Netzwerkes" ltnd ebenso die Anh~Lufun- gen dicht gedr~ingter rundlicher Zellen (Malpighische KSrper- chelt der Milz, l~indenknoten ultd Markstr~nge der Lymph- knoten) frei VOlt FarbstoffkSrnern bleiben. METSCHNIKOFF hat zwar bei seinen ersten Untersuchungen fiber die Entzfin- dung"bei Amphibien (Biol. Zentralbl. 1883) auch den fixen ]3indegewebszellen phagocyt~re EigenschaIten zugesprochen,

spAter aber diese Ansicht aufgegeben und so stark die Frel3- eigenschaften der Leukocyten betont, dab allm~hlieh immer mehr die Anschauung zu einer Grundanschauung der inedi- zinischen Wissenschaft geworden ist, dab phagocytdire Eigen- sehaften nut einer einzige~ Zellart, n~imlich den Leukocyten zukommt oder wenigstens nur Zellen mesenchymalen Ur- sprungs, hdimatogenen und hiatiogenen Wanderzell~e~. MAR- CHAND dagegen hat frfiher schon und zusammenfassend in seinem moltumentalen neuesten Werk fiber die Lehre yon der Entzfindung (KREHL-MARCHAND, Handb. d. allg. Pathol. 4, S. 1) phagoeyt~ire Eigensehaften den verschiedehsten Zellen zugesprochen, und er spricht in dem genanntelt Werk yon Phagocytose der Epithelien (besoltders Lungeltbl~isehen- epithelien und Nierenepithelien), der Endothelien, der Glia- zellen und Bindegewebszeilen; er n~ihert sich damit dell An- schauungen VIRCHOWS. Ich selbst babe stets die Auffassultg vertreten und sie noehmals dureh KUCZYNSKI (Virehows Arch. f. pathol. Anat. 239 , S. 198) aussprechen lassen, ,,daf Phago- cyten keine besondere Klasse yon Zellen sind, sondern daft es nur Tdtiglceitszustdinde solcher aus besonderen Anldssen clar- stellen, die natiirlich ]iir bestimmte Zellen an bestimmten Orten hdu]iger zustande lcommen als liar andere." Ich pflege in meilten Vorlesungen auseinanderzusetzen, dab es Iceine Zellart (die Ganglienzellen und KnochenkSrperchen ausgeltommen) gibt, die nicht gelegentlich als Phagocyten auftreten kann und dab Voraussetzung daffir eine gewisse Lockerung des Zellverbandes ist, der den Zellen gestattet, sich freier zu bewegen. Daher ist es verst~ndlich, wenn diejenigelt Zellen, die fiberhaupt nicht in lessen Zellverb~nden leben, wie die h~matogenen und histiogenen Wanderzellen (Endothel- und Adventitiazellen), in erster Linie und am h~ufigsten FreBt~tigkeit ausfiben und daher als obligate Phagoeyten benannt werden kSnnten, w~h- rend die in festen Verb~ndelt lebendelt Zellen (die sel3haften, fixen Gewebszellen) nur als ]akultative Phagocyten zu bezeich- lien wgren. Es fragt sich nur, welches die Zust~nde sind, in denen die seBhaften Zellen Fre~t~Ltigkeit ausfiben k6nnen. VIRCHOW m6chte ganz allgemeine ,,1Reizultg" daffir verant~ wortlich machen, wenn er (a. a. O. S. 360) schreibt: ,,Sowohl im Bindegewebe als in jultgen Epitheliallagen k6nnen vorher befestigte Zellen m o b i l i s i e r t . . , werden. Die Mobilisierung geschieht infolge yon 1Reizung." Altch MARCtlAND (a. a. O. S. 61o) drfickt sich sehr allgemein aus, wenn er schreibt, da/~ die zur Phagocytose notwendige ltachgiebige, weiche Be- schaffenheit des Protoplasmas ,,bei vielen Alteren Gewebs- zellen erst durch gewisse Ver~tnderungen der Aul3eren Bedin- gungen eint r i t t" und dab dies vielleicht durch eine einfache Quellung des Protoplasmas durch Flfissigkeit erfolgen k6nne. Ieh habe naeh meinen Erfahrultgen die Oberzeugultg, dab es im allgemeinen fiberhaupt nicht die alten, sondern die in Umbildung begriffeltelt seBhaften Zellen sind, die beweglich ultd phagocyt~r werden. Das sind eben die Zust/~nde, in deltelt die Zellen weicher, plastischer sind, in denen sie sich, wie man das ja besonders sch6n sowohl an den Staub- wie den Herzfehlerzellen der Lunge und den Fettk6rnchenzellen aller Orte siehf, abrunden und mannigfache Oestaltsver~inderungen zeigen k6nnen. Das ist auch der Grund, warum die Ganglien- zellen und Knochenk6rperchen hie als FreBzellen auftreten und wir in den oberen Schichten der geschichteten Platten- epithelien die Erseheinungelt epithelialer Phagocytose nicht linden; ich habe sp~ter gesehen, dab auch M/;TSCItNIKOFF, so- welt er fiberhaupt eine Phagocytose durch andere, als Blutzellen anerkennt, die gleiche Auffassung vertr i t t , wenn er (Lemons sur la pathologie compar6e de l ' inflammation S. 125) schreibt: ,,Malgr6 des tentat ives nombreuses, je n 'ai jamais r6ussi k constater l 'englobement des corps 6trangers par les prolonge-