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Unter den Dialogen Platons hat kein zweiter so große Wirkungen entfaltet wie ,Der Staat>. Platon, aufgewachsen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, der Athen in schwere innenpolitische Krisen warf, hatte sich bereits in seinen ersten Schriften mit Problemen des Staatswesens befaßt. Um 3 70 v. Chr. schrieb er dann jenes große, alle seines Denkens umfassende Buch, dem er den Namen ,Politeia> gab. Ausgehend von der Frage, was Gerechtigkeit sei und wie sie verwirklicht werden könne, entwirft er darin ein Staatsgebäude, in dessen Mittelpunkt ein Programm politisch-philosophischer Erziehung steht: jene Hinführung zur Idee des Guten, die im «Höhlen- gleichnis» ihre berühmteste Darstellung gefunden hat. ,Der Staat, ist zugleich eine der streitbarsten Schriften dieses Philosophen. Sie enthält heftige Angriffe auf Rhetorik und Sophistik, außerdem die radikalste und folgenreichste Kritik der Kunst, die es in Europa je gegeben hat. Platon, griechischer Philosoph, wurde 427 v. Chr. in Athen geboren und starb dort 347. Er stammte aus vornehmer Familie und war der bedeutendste Schüler von Sokrates. Platon verfaßte neben Dialogen über die Liebe und die Unsterblichkeit der Seele vor allem Werke mit staatstheoreti- scher Thematik. Von Aristoteles bis zu Karl Popper gibt es kaum einen politischen Denker, der sich durch die platoni- sche Staatsidee nicht herausgefordert gefühlt hätte. Platon Der Staat Deutsch von Rudolf Rufener Mit einer Einleitung von Thomas Alexander Szlezak und Erläuterungen von Olof Gigon Deutscher Taschenbuch Verlag

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Unter den Dialogen Platons hat kein zweiter so große Wirkungen entfaltet wie ,Der Staat>. Platon, aufgewachsen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, der Athen in schwere innenpolitische Krisen warf, hatte sich bereits in seinen ersten Schriften mit Problemen des Staatswesens befaßt. Um 3 70 v. Chr. schrieb er dann jenes große, alle

seines Denkens umfassende Buch, dem er den Namen ,Politeia> gab. Ausgehend von der Frage, was Gerechtigkeit sei und wie sie verwirklicht werden könne, entwirft er darin ein Staatsgebäude, in dessen Mittelpunkt ein Programm politisch-philosophischer Erziehung steht: jene Hinführung zur Idee des Guten, die im «Höhlen­gleichnis» ihre berühmteste Darstellung gefunden hat. ,Der Staat, ist zugleich eine der streitbarsten Schriften

dieses Philosophen. Sie enthält heftige Angriffe auf Rhetorik und Sophistik, außerdem die radikalste und folgenreichste Kritik der Kunst, die es in Europa je gegeben hat.

Platon, griechischer Philosoph, wurde 427 v. Chr. in Athen geboren und starb dort 347. Er stammte aus vornehmer Familie und war der bedeutendste Schüler von Sokrates.

Platon verfaßte neben Dialogen über die Liebe und die Unsterblichkeit der Seele vor allem Werke mit staatstheoreti­scher Thematik. Von Aristoteles bis zu Karl Popper gibt es kaum einen politischen Denker, der sich durch die platoni­sche Staatsidee nicht herausgefordert gefühlt hätte.

Platon

Der Staat

Deutsch von Rudolf Rufener

Mit einer Einleitung von Thomas Alexander Szlezak

und Erläuterungen von Olof Gigon

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Im Deutschen Taschenbuch Verlag ist zu Platon erschienen: Platon für Anfänger Der Staat (34239)

Vollständige Ausgabe Oktober 1991

5. Auflage November 2007 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München www.dtv.de

© 1991 Artemis Verlag, Zürich und München © 1991 Deutscher Taschenbuch Verlag, München

(Einleitung) Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagfoto: AKG Berlin Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 978-3-423-30136-7

EINLEITUNG

Der über den Staat, der die erste, für die ganze Gattung maßgebliche Utopie einer besseren Gesellschaftsordnung ent­hält, die westliche Philosophie nicht nur hinsichtlich der politischen Theorie, sondern auch in der Metaphysik, Ethik und Dichtungstheorie. Die Prägung war nachhaltig und hat nichts von ihrer Kraft verloren: etwa gleichzeitig fanden es zwei Wortführer der Philosophie unseres Jahrhunderts nötig, zur

ihrer eigenen Position und zur Abwehr von Grundent­scheidungen, die sie ihrer Folgen wegen für verfehlt hielten, auf dieses Werk direkt zurückzugreifen: Martin Heidegger in ,Pla­tons Lehre von der Wahrheit, (1947) und Karl Popper in ,Der Zauber Platons, (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, 1944, dt. 1957).

Der Dialog besteht aus zwei sehr ungleichen Teilen. In Buch I diskutiert Sokrates mit drei sich ablösenden Partnern, deren letzter und wichtigster Thrasymachos ist, in der Art der frühen Dialoge über den Begriff der Gerechtigkeit. "Thrasy­machos' These, Gerechtigkeit sei nichts als der Vorteil des Stär-

wird zwar zurückgewiesen, das Wesen der Gerechtigkeit jedoch nicht positiv bestimmt - das Gespräch endet aporetisch.

Es wird im zweiten Buch neu in Gang gebracht durch Glau­kon und Adeimantos (die Brüder Platons), die von Sokrates er­warten, daß er der Gerechtigkeit gegen Angriffe, die sie nun­mehr neu und besser formulieren, zu Hilfe komme (368 bc). Diesem Wunsch kann Sokrates sich nicht entziehen.

Seine «Hilfe» steuert den Begriff der Gerechtigkeit nicht di­rekt an, sondern auf dem Umweg über den Staat. Es wird in Gedanken eine einfache Urgesellschaft konstruiert, die jedoch

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[snd-e

mit den Sinnen betrachten; weil sie aber bei ihren Untersu­chungen nicht zum Anfang aufsteigen, sondern bloß Voraus­setzungen machen, so scheinen sie dir keine Einsicht in die Dinge zu gewinnen, obschon diese auch einsehbar wären

'

SECHSTES BUCH

wenn man den Anfang hinzunähme. Das Verhalten der geo-m:trisc~en und ähnlicher Fächer nennst du offenbar Vernunft ( d1skurs1ves Denken, Nachdenken, Reflexion), nicht Einsicht, denn die Vernunft (dia-noia) liegt in der Mitte zwischen Mei­nung ( doxa) und Einsicht (nüs).»

Vollkommen ausreichend hast du das aufgefaßt, sagte ich. So nimm nun für unsere vier Abschnitte auch folgende vier Widerfahrnisse an, die sich in der Seele ereignen: Einsehen (Noesis) für den höchsten, Vernunft (Nachdenken) für den zwei­ten Abschnitt; dem dritten aber weise den Glauben ( das Für­wahr-Halten) und dem letzten das Vermuten zu. Ordne sie in der entsprechenden Reihenfolge an, indem du annimmst, daß einem jeden so viel an Klarheit zukommt, wie ihre Gegen­stände an der Wahrheit Anteil haben.

«Ich verstehe», sagte er; «ich bin einverstanden und ordne sie so an, wie du sagst.»

SIEBENTES BUCH

Hierauf vergleiche nun, fuhr ich fort, unsere Natur in be­zug aufBildung und Unbildung mit folgendem Erlebnis.

Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung; diese hat einen Zugang, der zum Tageslicht hin­aufführt, so groß wie die ganze Höhle. In dieser Höhle sind sie von Kind auf, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so daß sie an Ort und Stelle bleiben und immer nur geradeaus schau­en; ihrer Fesseln wegen können sie den Kopf nicht herum­drehen. Licht aber erhalten sie von einem Feuer, das hinter ihnen weit oben in der Feme brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten aber führt oben ein Weg hin; dem ent­lang denke dir eine kleine Mauer errichtet, wie die Schranken, die die Gaukler vor den Zuschauern aufbauen und über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen.

«Ich sehe es vor mir», sagte er. Stelle dir nun längs der kleinen Mauer Menschen vor, die

allerhand Gerätevorübertragen, so, daß diese über die Mauer hinausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Stein und aus Holz und in mannigfacher Ausführung. Wie natürlich, redet ein Teil dieserTräger,ein anderer schweigt still.

«Ein seltsames Bild führst du da vor, und seltsame Gefes­

selte», sagte er. Sie sind uns ähnlich, erwiderte ich. Denn erstens: glaubst

du, diese Menschen hätten von sich selbst und voneinander je etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die das Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Seite der Höhle wirft?

«Wie sollten sie», sagte er, «wenn sie zeitlebens gezwungen sind, den Kopf unbeweglich zu halten?»

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300 SIEBENTES BUCH [515b-<l

Was sehen sie aber von den Dingen, die vorübergetragen werden? Doch eben dasselbe?

«Zweifeilos.» Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht,

sie würden das als das Seiende bezeichnen, was sie sehen? «Notwendig.» Und wenn das Gefängnis von der gegenüberliegenden Wand

her auch ein Echo hätte und wenn dann einer der Vorüber­gehenden spräche - glaubst du, sie würden etwas anderes für den Sprechenden halten als den vorbeiziehenden Schatten?

«Nein, beim Zeus», sagte er. Auf keinen Fall, fuhr ich fort, könnten solche Menschen ir­

gend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener künstlichen Gegenstände.

« Das wäre ganz unvermeidlich», sagte er. überlege dir nun, fuhr ich fort, wie es wäre, wenn sie von

ihren Fesseln befreit und damit auch von ihrer Torheit ge­heilt würden; da müßte ihnen doch naturgemäß folgendes wi­derfahren: Wenn einer aus den Fesseln gelöst und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals zu wenden, zu gehen und gegen das Licht zu schauen, und wenn er bei all diesem Tun Schmerzen empfände und wegen des blendenden Glanzes jene Dinge nicht recht erkennen könnte, deren Schatten er vorher gesehen hat - was meinst du wohl, daß er antworten würde, wenn ihm jemand erklärte, er hätte vorher nur Nich­tigkeiten gesehen, jetzt aber sei er dem Seienden näher und so, dem eigentlicher Seienden zugewendet, sehe er richtiger? Und wenn der ihm dann ein jedes von dem Vorüberziehenden zeigte und ihn fragte und zu sagen nötigte, was das sei? Meinst du nicht, er wäre in Verlegenheit und würde das, was er vor­her gesehen hat, für wahrer (wirklicher) halten als das, was man ihm jetzt zeigt?

« Für viel wahrer (wirklicher)», erwiderte er.

515d-5r6b] SIEBE:s.;TES BUCH 301

2. Und wenn man ihn gar nötigte, das Licht selber anzu­blicken, dann schmerzten ihn doch wohl die Augen, und er wendete sich ab und flöhe zu den Dingen, die er anzuschauen vermag, und glaubte, diese seien tatsächlich klarer als d::is, was man ihm jetzt zeigt?

« Es ist so», sagte er. Schleppte man ihn aber von dort mit Gewalt den rauhen und

steilen Aufgang hinauf, fuhr ich fort, und ließe ihn nicht los, bis man ihn an das Licht der Sonne hinausgezogen hätte -würde er da nicht Schmerzen empfinden und sich nur wider­willig so schleppen lassen? Und wenn er ans Licht käme, hätte er doch die Augen voll Glanz und vermöchte auch rein gar nichts von dem zu sehen, was man ihm nun als das Wahre be­zeichnete?

«Nein», erwiderte er, «wenigstens nicht im ersten Augen­blick.»

Er müßte sich also daran gewöhnen, denke ich, wenn er die Dinge dort oben sehen wollte. Zuerst würde er wohl am leich­testen die Schatten erkennen, dann die Spiegelbilder der Men­schen und der andern Gegenstände im Wasser und dann erst sie selbst. Und daraufhin könnte er dann das betrachten, was am Himmel ist, und den Himmel selbst, und zwar leichter bei Nacht, indem er zum Licht der Sterne und des Mondes auf­blickte, als am Tage zur Sonne und zum Licht der Sonne.

«Ohne Zweifel.» Zuletzt aber, denke ich, würde er die Sonne, nicht ihre Spie­

gelbilder im Wasser oder anderswo, sondern sie selbst, an sich, an ihrem eigenen Platz ansehen und sie so betrachten können, wie sie wirklich ist.

«Ja, notwendig», sagte er. Und dann würde er wohl die zusammenfassende Überie­

gung über sie anstellen, daß sie es ist, die die Jahreszeiten und Jahre herbeiführt und über allem waltet in dem sichtbaren

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302 SIEBENTES BUCH [5r6b-5r7a

Raume, und daß sie in gewissem Sinne auch von allem, was sie früher gesehen haben, die Ursache ist.

«Offenbar», sagte er, «würde er nach alledem so \Veit kom­men.»

Wenn er nun aber an seine erste Behausung zurückdenkt und an die Weisheit, die dort galt, und an seine damaligen Mitgefangenen, dann wird er sich wohl zu der Veränderung glücklich und jene bedauern - meinst du nicht?

«Ja, gewiß.» Die Ehren aber und das Lob, das sie ein:mder dort spende­

ten, und die Belohnungen für den, der die vorüberziehenden Schatten am schärfsten erkannte und der sich am besten ein­prägte, welche von ihnen zuerst, und welche danach, und wel­che gleichzeitig vorbeizukommen pflegten, und daraus am besten vorauszusagen wußte, was jetzt kommen werde glaubst du, er sei noch auf dieses Lob erpicht und beneide die, die bei jenen dort in Ehre und Macht stehen? Oder wird es ihm so gehen, wie Homer sagt, daß er viel lieber auf dem Acker bei einem armen Mann im Taglohn arbeiten und lieber alles mögliche erdulden will, als wieder in jenen Meinungen be­fangen sein und jenes Leben führen?

«Ja, das glaube ich», sagte er. «Lieber wird er alles andere ertragen als jenes Leben.»

Denke dir nun auch folgendes, fuhr ich fort: Wenn so ein Mensch wieder hinunterstiege und sich an seinen alten Platz setzte, dann bekäme er doch seine Augen voll Finsternis, wenn er so plötzlich aus der Sonne käme?

«Ja, gewiß», erwiderte er. Wenn er dann aber wieder versuchen müßte, im Wettstreit

mit denen, die immer dort gefesselt waren, jene Schatten zu beurteilen, während seine Augen noch geblendet sind und sich noch nicht wieder umgestellt haben (und diese Zeit der Um­gewöhnung dürfte ziemlich lange dauern), so würde man ihn

SIEBENTES BUCH

gewiß auslachen und von ihm sagen, er komme YOn seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurück und es lohne sich nicht, auch nur versuchsweise dort hinaufzugehen. Wer aber Hand anlegte, um sie zu befreien und hinaufzuführen, den würden sie wohl umbringen, wenn sie nur seiner habhaft wer­den und ihn töten könnten.

«Ja, gewiß», sagte er. 3. Dieses ganze Gleichnis, mein lieber Glaukon, fuhr ich fort,

mußt du nun an das anknüpfen, was wir vorhin besprochen haben. Die durch das Gesicht uns erscheinende Region setze dem Wohnen im Gefängnis und das Licht des Feuers in ihr der Kraft der Sonne gleich. Und wenn du nun den Aufstieg und die Betrachtung der Dinge dort oben für den der Seele in den Raum des Einsehbaren nimmst, so ;,,,,irst du meine Ahnung nicht verfehlen, die du doch zu hören wünschest. Gott aber mag wissen, ob sie richtig ist. Meine Ansicht dar­über geht jedenfalls dahin, daß unter dem Erkennbaren als letztes und nur mit Mühe die Idee des Guten gesehen wird; hat man sie aber gesehen, so muß man die Überlegung anstel­len, daß sie für alles die Urheberin alles Richtigen und Schönen ist. Denn im Sichtbaren bringt sie das Licht und seinen Herrn hervor; im Einsehbaren aber verleiht sie selbst als Herrin Wahrheit und Einsicht. Sie muß man erblickt haben, wenn man für sich oder im öffentlichen Leben vernünftig handeln

will. «Ich bin derselben Ansicht», sagte er, «soweit ich zu folgen

vermag.» Wohlan denn, fuhr ich fort, schließe dich auch im folgenden

meiner Meinung an. Wundere dich nicht: wer dahin gelangt ist, will vom menschlichen Treiben nichts mehr wissen, son­dern seine Seele hat den Drang, für immer hier oben zu ver­weilen. Das ist auch ganz natürlich, wenn es dem vorhin be­schriebenen Gleichnis entsprechen soll.

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SIEBENTES BUCH [5r7d-5r8b

«Ja, freilich», sagte er. Glaubst du nun aber, fuhr ich fort, man dürfe sich darüber

wundem, daß, wenn einer von der Betrachtung des Göttlichen in das menschliche Elend versetzt wird, er sich dann unge­schickt benimmt und höchst lächerlich erscheint? Denn wäh­rend sein Auge noch geblendet ist und bevor er sich noch recht an die herrschende Finsternis gewöhnt hat, muß er vor Gericht oder anderswo über die Schatten des Gerechten strei­ten oder über die Bildwerke, deren Schatten sie sind, und muß sich mit den Vermutungen herumschlagen, die jene Leute dar­über anstellen, die die Gerechtigkeit selbst nie zu sehen be­kommen haben.

« Nein, das ist gar nicht zu verwundern», sagte er. Ein Einsichtiger, fuhr ich fort, würde vielmehr bedenken,

daß es für die Augen zwei Arten und zwei Ursachen von Stö­rungen gibt: die eine, wenn man aus dem Licht in das Dunkel, die andere, wenn man aus dem Dunkel in das Licht versetzt wird. Erkennt er nun an, daß dasselbe auch mit der Seele vor sich geht, so wird er nicht unüberlegt lachen, wenn er eine Seele sieht, die verwirrt ist und etwas nicht zu erkennen ver­mag. Sondern er wird prüfen, ob sie aus einem helleren Leben kam und jetzt von der Finsternis, an die sie nicht gewöhnt ist, umhüllt wird, oder ob sie aus größerer Unwissenheit in grö­ßere Klarheit gekommen ist und nun vom helleren Glanze ge­blendet wird. Und so wird er die eine um ihres Zustandes und ihres Lebens willen glücklich preisen und die andere bedauern; und wollte er über diese lachen, so wäre sein Lachen hier we­niger lächerlich als das über die andere, die von oben aus dem Licht kommt.

«\Vas du sagst, ist durchaus am Platze», erwiderte er. 4. Wenn das aber wahr ist, fuhr ich fort, so müssen wir dar­

über zu folgender Ansicht kommen: daß die Bildung nicht das ist, wofür sie einige in ihren Anpreisungen ausgeben. Sie be-

5r8b--519a] SIEBENTES BUCH

haupten nämlich, sie pflanzten der Seele ein Wissen ein, das vorher nicht darin war, wie wenn sie blinden Augen Sehkraft geben könnten.

«Ja, das behaupten sie», sagte er. Unser Gespräch zeigt nun aber, fuhr ich fort, daß der Seele

eines jeden Menschen das Vermögen und das Organ inne­wohnt, mit dem er lernen kann. Wie aber das Auge nicht im­stande ist, sich anders als mit dem ganzen Leibe aus dem Dun­kel gegen das Helle zu wenden, so muß auch dieses Organ zu­gleich mit der ganzen Seele vom Werdenden weggewendet werden, bis diese imstande ist, den Anblick des Seienden und des Hellsten unter den Seienden auszuhalten; dies aber, be­haupten wir, ist das Gute; nicht wahr?

«Ja.» Die Bildung, fuhr ich fort, wäre nun also eine Kunst der

,Umlenkung', die Art nämlich, wie dieses Organ am leichte­sten und am wirksamsten umgewendet werden kann. Sie ist nicht die Kunst, ihm das Sehen zu verleihen; sondern indem sie voraussetzt, daß es dieses zwar besitzt, aber nicht nach der richtigen Seite gewandt ist und deshalb nicht dorthin schaut, wohin es schauen sollte, will sie ihm behilflich sein.

«Ja, offenbar», sagte er. Die anderen sogenannten Tüchtigkeiten der Seele sind nun

offenbar mit denen des Leibes nahe verwandt; sie scheinen nämlich am Anfang wirklich nicht vorhanden zu sein, sondern erst nachträglich durch Gewohnheit und Übung in sie hinein­gebracht zu werden. Die des Denkens aber hat anscheinend mit etwas viel Göttlicherem zu tun. Niemals verliert das seine Kraft; es wird aber durch die Wendung, die man ihm gibt, entweder brauchbar und-heilsam oder unbrauchbar und schäd­lich. Oder hast du noch nicht bemerkt, wie scharf die kleine Seele derer blickt, die man böse, aber klug nennt, und wie ge­nau sie das durchschaut, worauf sie sich richtet? Sie hat keine

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SIEBENTES BUCH

geringe Sehkraft, muß aber der Schlechtigkeit dienen, so daß sie, je schärfer sie sieht, desto mehr Schlechtes tut.

«Allerdings», sagte er. Wenn jedoch, fuhr ich fort, dieses Organ einer solchen Na­

tur gleich von Kindheit an beschnitten worden wäre und man

das, was daran mit dem Werden verwandt ist, ringsum abge­hauen hätte, das nämlich, was ihr gleichsam wie Bleikugeln anhängt, die durch allzu reichliches Essen und die Lust daran

und Schwelgereien mit ihr verwachsen sind und den Blick der Seele nach unten ziehen - wenn es also davon befreit und dem

Wahren zugewendet würde, dann würde eben dieses Organ derselben Menschen höheren Dinge mit ganzer Schärfe sehen, so wie es das sieht, dem es jetzt zugewendet ist.

«Ja, wahrscheinlich», sagte er.

Ist nun aber, fuhr ich fort, auch das wahrscheinlich und nach dem, was wir bisher gesagt haben, sogar notwendig:

daß weder die Ungebildeten und mit der Wahrheit nicht Ver­trauten je eine Stadt richtig leiten können, noch auch die, die

sich bis zum Ende ihres Lebens ihrer Eildung widmen dürfen? nicht, weil ihnen das eine Ziel in ihrem Leben fehlt, wo­

nach sich alles das richten sollte, was sie für sich und im öffent­

lichen Leben tun, diese nicht, weil sie sich freiwillig überhaupt nicht praktisch betätigen wollen, da sie glauben, sie wohnten schon hier im Leben fern auf den Inseln der Seligen.

«Das ist wahrn, sagte er.

Wir als die Gründer der Stadt, fuhr ich fort, haben also die Aufgabe, die besten Naturen zu nötigen, zu jenem Lehrstück zu gelangen, das wir vorhin als das höchste bezeichnet haben,

nämlich das Gute zu schauen und jenen Weg hinaufzusteigen.

Wenn sie es dann dort oben zur Genüge gesehen haben,

dürfen wir ihnen das nicht erlauben, was man ihnen heute erlaubt.

«Was denn?»

SIEBENTES BUCH

Dort oben zu bleiben, sagte ich, und nicht wieder zu jenen

Gefesselten hinabzusteigen und nicht teilhaben zu wollen an ihren Mühen und an ihren Ehren, seien diese nun mehr oder

weniger geringfügig oder bedeutend. «Dann sollen wir ihnen also Unrecht tun», erwiderte er,

«und sie veranlassen, ein schlechteres Leben zu führen, wäh­

rend sie ein besseres haben könnten?» 5. Du hast wiederum vergessen, mein Freund, fuhr ich fort,

daß ein Gesetz nicht dafür zu sorgen hat, daß es nur einem Stand

in der Stadt vorzüglich gut geht. Es muß vielmehr diesen Zu­stand für die ganze Stadt zu erreichen suchen, indem es die

Bürger durch gütliche Überredung und durch Zwang zusam­menfügt und sie dazu bringt, daß sie sich gegenseitig an dem

Nutzen teilhaben lassen, welchen ein jeder der Gemeinschaft

erweisen kann, und indem es selbst solche Männer in der Stadt heranbildet, nicht, um jeden nachher gehen zu lassen, wohin ihn seine Neigung führt, sondern um selbst sich ihrer zum Zu­

sammenschluß der Stadt zu bedienen. «Ja, das hatte ich freilich vergessen.» So kannst du also sehen, Glaukon, sagte ich, daß wir denen,

die bei uns zu Philosophen werden, kein Unrecht tun, sondern

eine gerechte Zumutung an sie richten, wenn wir sie nötigen,

für die anderen zu sorgen und über sie zu wachen. Denn wir werden ihnen sagen: Wer in den anderen Städten das wird,

was ihr seid, nimmt mit guten Gründen an ihren Sorgen kei­

nen Anteil, entwickelt er sich doch selbständig, ohne Zutun

der jeweiligen Staatsverfassung. Es ist denn auch billig, daß das, was von selbst heranwächst und niemandem seine Pflege

verdankt, auch niemandem ein Kostgeld zahlen will. Euch da­gegen haben wir zu eurem eigenen Vorteil und zu dem der Stadt wie Weisel und Könige in einem Bienenstocke herange­zogen und euch besser und vollkommener ausgebildet als jene,

so daß ihr eher imstande seid, euch auf beiden Gebieten zu be-

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ERLÄUTERUNGEN

297 Unterlagen: Das· griechische Wort für Voraussetzung (hypo­

these) kann auch wirklich als «Unterlegung» oder «Unterlage» verstanden werden.

die sogenannten Fachwissenschaften: Das Wort techne ist in

vollem Umfang unübersetzbar; es kann jedes selbständig er­

worbene und geübte Sich-Verstehen auf etwas bezeichnen, sei

es nun «praktisch» oder «theoretisch». Jede techne ist ein

«Fach», das Sachkenntnis erfordert, zugleich ein «Können»

oder eine «Kunst». Daß die mathematischen Disziplinen so

genannt wurden, war, wie unsere Stelle lehrt, noch ungewohnt;

dieser Sprachgebrauch geht auf die Sophisten oder die Pythago­reer zurück.

298 denn die Vernunft: Viele Übersetzer geben das Wort für die

macu„am"u,,~,i,c Erkenntnis (dianoia) mit «Verstand» wieder,

das Wort für die Ideenerkenntnis (nüs) mit «Vernunft». Sie

dabei dem modernen philosophischen Sprachgebrauch,

in sich das antike Verhältnis der Begriffe umgekehrt hat.

Wie sich aus dem Text ergibt, hat Platon unter dianoia das

diskursive Denken verstanden, das sich in «Gedankengängen»

(z.B. Beweisketten oder Schlüssen) hin- und herbewegt, wäh­

rend der nus die Einsicht ist, die als geistige Anschauung ihren

G,~gens:tand als Ganzes «anrührt» und bei ihm ruhig verweilt.

Die lateinische Übersetzung von didnoia ist ratio, dem das

deutsche « Vernunft» entspricht; dagegen ist nüs = intellectus = « Verstand» = Einsicht. « Verstand» in diesem altertümlichen

Sinne sagt noch Kant von Gott aus, dessen Verstand «anschau­

end» sei, während «Vernunft» für Gott ein zu geringes Prädikat

wäre (Gott bedarf keines Nachdenkens, er sieht alles mit einem

Schlage ein). Die «Dialektik» bewegt sich, wie vor allem aus

dem 7. Buche und aus anderen Dialogen hervorgeht, nachden­

kend im Bereich der einsichtigen Urgestalten. In diesem oberen

«Abschnitt» des Einsichtigen überhaupt dient die Reflexion der

Einsicht. In den mathematischen Disziplinen, die es auch mit

Einsichtigem zu tun haben, dominiert umgekehrt die Refle­

xion, die zwar Einsicht voraussetzt, es aber nicht auf das Wesen

der behandelten Gegenstände selbst abgesehen hat (Platon

möchte den Ausdruck dianoia offenbar in einem etymologi­

schen Spiel damit begründen, daß er sagt, dieses Verhalten ste­

he als Zwischen-Einsicht [dia-noia} zwischen Meinung und

[reiner] Einsicht [nüs)), sondern auf ihre Zusammenhänge.

ZuM SIEBENTEN BucH

Vorbemerkung: An das Sonnengleichnis und a_n die. mathem_atische

P . Ende des sechsten Buches schließt sich unmittelbar ropomon am . b · A h

das Höhlengleichnis an, mit dem das siebente Buch egmnt. uc

ha licht den Bildungsgang der Herrscher-Philosophen es veransc u h d' b ··hmten und gleichzeitig Platons Ideenlehre. Nac iesem eru.

Gleichnis (514a-517a) folgt seine Auslegung (5 i7a/b-541 c), ms~e­

sondere die Darstellung des Unterrichtsganges (5 I 8 c-5_3 5 a) und er

Altersstufen für den Unterricht (53 sa-541 c). Dan_ut w:rd ~er ganze

Fra enkomplex abgeschlossen, der die Bücher fu~f bis s_1eben zu-

g hl"ießt Gesprächspartner des Sokrates ist lll diesem Bu-sammensc , · - · ehe ausschließlich Glaukon.

,ß . d · e Ho··hte. D h in Höhe und Breite ent-299 50 gro wie ze ganz .. · · ·

spricht dieser Schacht der Hohle. . .

Licht aber erhalten sie von einem Feuer: Die S~nne, die selbst

. Abb.ld der Idee des Guten ist, gehört der sichtbaren Welt em I d f . h . lb dern an. In die Schattenwelt der Höhle ar mc t sie se st, son ,

nur das Feuer als Abbild von ihr scheinen.

Doch eben dasselbe: d. h. ebenfalls nur die Schatten.

;~~ das licht: d~s des Feu_ers, noch nicht das der Sonne.

302 früher: d. h. m der Hohle. . l

und daraus am besten vorauszusagen wußte: Das smd vor a -

lern die Politiker der bloßen Erfahrung.

Homer: Odyssee II, 489ff.

303 den würden sie wohl umbringen: Dabei denkt Platon offen-

sichtlich an das Schicksal des Sokrates. . .

Dieses ganze Gleichnis: In den folgenden Kapit~ln bis ~um

Ende des Buches gibt Platon selbst die _Deutun? semes Gleich­

nisses. Man muß es in Verbindung bnngen _mit dem Sonnen­

gleichnis und der mathematischen Propornon am Ende des

6. Buches. · d kl h daß die Bildung nicht das _ist: No_ch einmal wir . _argemac t, 304 daß es bei diesem Gleichms um die Frage der Pa1de'.a geht. A_n

die Stelle der gewöhnlichen Vorstellung von der Bildung, die

abgelehnt wird, tritt der Begriff der «Bekehrung», der Umdre-

hung der Seele zum Licht, zu der Id_ee des Guten. .

305 Die anderen sogenannten_ Tüchtigkeiten der Seele: ?aß_ die bloß

auf Gewohnheit und Ubung beruhende Tucht1gke1t ( «Tu-

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ERLÄUTERUNGEN

gend» ), verglichen mit der auf eigenem Denken beruhenden nur eine sogenannte ist, hat seine Parallele im ,Phaidon,, wo di; «populären» Tugenden von den philosophischen unterschieden werden.

307 Du hast wiederum vergessen: s.o. 420 b ff. und 466 a. n_icht, um jeden nachher gehen zu lassen: Der Philosoph darf sich also nicht der vita contemplativa hingeben und auf den «Inseln der Seligen» verweilen. auf beiden Gebieten: d. h. in der philosophischen Erkenntnis und in der praktisch-politischen Tätigkeit.

308 die Stadt, wo die, die dazu berufen sind: vgl. dazu 347cd im r. Buch.

309 Bist du nun einverstanden, daß wir untersuchen: Nach diesen meth_odischen Vorbemerkungen ( 5 18 c-5 2 r c ), in der die phi!o­soi::h1schen Herrscher zur praktisch-politischen Tätigkeit ver­pfh~htet werden, folgt die systematische Darstellung ihres Un­ternchtsganges. Als vorbereitende Wissensfächer werden zu­e~st die Gebiete d~r Mathematik behandelt (Arithmetik 521 c b_1s p6c, Geometne 526d-527d, Stereometrie p8a-e), an die sich dann die Astronomie (528e-53oc) und die «Harmonik» (53oc-531 c) anschließen. wie das einer Scheibe beim Spiel: Anspielung auf ein beliebtes Knabenspiei, bei dem eine Scheibe emporgeworfen wurde, de­ren eine Seite weiß (Tag), die andere schwarz (Nacht) war; vgl. auch Phaidros 241 b.

310 sagten wir nicht: s.o. 3. Buch, 403 e und 416d. 3 r 1 Denn auch die Künste schienen uns alle: s.o. 6. Buch, 495 d.

Palamedes: Er war von allen drei großen Tragikern zum Hel­den eines Stückes gemacht worden.

3!4 Zeigt sich, daß es zwei sind: s.o. 5. Buch, 476a. behaupten wir: s.o. 523e.

315 in Verlegenheit: die sokratische Aporie; vgl. auch 524a und Menon 8oa.

316 Logistik und Arithmetik: Die griechische Mathematik unter­sc?eidet zwischen, der Kunst des Rechnens, der Logistik (die mit der heute so benannten mathematischen Logik nichts zu tun hat) und der Zahlenkunde, die Arithmetik heißt. Während es die Arithmetik mit den Arten der Zahlen zu tun hat zu­oberst mit dem Unterschied der geraden und ungeraden Zah­len, behandelt die Logistik die Beziehungen einzelner Zahlen

320

32 3

ZUM SIEBENTEN BUCH 499

zueinander; sie rechnet mit ihnen. Vgl. bei Platon selbst: Gor­gias 451b/c; 453e; Charmides 166a; Theaitetos r98a; Staats­mann 259e. über die Zahlen selbst: vgl. Gorgias 4 5 I cf. drücken sie sich aus und sagen: Ape!t weist darauf hin, daß alle diese geometrischen Schulausdrücke einen «Beig~schmack von realer Schaffenstätigkeit» haben und mehr auf em Werden als auf ein Sein hinweisen. ob einer sich mit Geometrie befaßt hat: In der platonischen Akademie waren die Mathematik und insbesondere die Geo­metrie von zentraler Bedeutung. Setzen wir als drittes die Astronomie: Die realen Fächer der sophistischen Bildung waren Arithmeti_k'. Geometrie,_ Astrono­mie und Musik, also das sog. «Quadnvmm» des Mmelalters;

vgl. Theaitetos 14 5 a. . . . . 'T' nach der zweiten Ausdehnung: Statt «D1mens1on» 1st 1m iext das Wort «Ausdehnung» (eigentlich: Wachstum) gesetzt, da die Vorstellung zugrunde liegt, die Linie sei durch Ausdehnung des Punktes, die Fläche durch Ausdehnung der Linie zustande gekommen. Von dieser Vorstellungsweise müßte allerdings auch das 527a Gesagte gelten. . . Es handelt sich dabei: Die Erörterung der Astronomie wird unterbrochen, und es wird - als neue Wissenschaft - die Ste­reometrie kurz eingeführt (528 a-e). Die spätantike Tradition bezeichnet als Schöpfer dieser Wissenschaft den hervorragen­den athenischen Mathematiker Theaitetos, zu dessen Gedächt­nis Platon wenige Jahre nach dem ,Staat> den gleichnamigen Dialog geschrieben hat. . . und wenn er dabei auch zu Lande: Sokrates spielt hier wahr­scheinlich auf die ,Wolken, des Aristophanes an, in denen er als Astronom geschildert war, der in einer Hängematte, mit offe­nem Munde nach oben gaffend, einem auf dem Rücken liegen­den Schwimmer gleicht (Wolken 171-173; 218-226 und 337). Im Gegensatz zu der beobachtenden Astronomie wird also im <Staat> eine rein theoretische Astronomie verfochten. Jenes glänzende Bildwerk am Himmel: Fre.ilich sind solche Modelle für die Geometrie nicht von Bedeutung; ohne den Sternenhimmel gäbe es aber keine Astronomie. Daidalos: mythischer Künstler und Techniker, Erbauer des La­byrinths auf Kreta.

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500 ERLÄUTERUNGEN

324 Sie alle könnte nun vielleicht: vgl. die zehn Arten der Bewe­gung in den ,Gesetzen, (893 bff.) und die später von Aristoteles gemachten Unterscheidungen.

325 So behaupten die Pythagoreer: vgl. das Wort des Pythagoreers

Archytas (mit dem Platon auf seiner 2. sizilianischen Reise zu­sammengekommen war): «Die Mathematiker haben über die

Geschwindigkeit der Gestirne und über ihren Auf- und Unter­

gang eine klare Einsicht überliefert und über Geometrie, Arith­metik und Sphärik (d.i. Astronomie) und nicht zum mindesten

auch über Musik. Denn diese Wissenschaften scheinen ver­schwistert zu sein» (Frg. B 1 Diels). bei ihnen: d. h. bei den Pythagoreern.

Verdichtungen: «musikalischer Kunstausdruck für gewisse kleinste Intervalle, die gemessen wurden durch Abzug der

Summe zweier kleiner Intervalle von der Quart» (Apelt).

die die Saiten quälen und foltern: Die Saiten werden personifi­ziert.

326 zu der Weise: Der Nomos (Weise) ist ein alter, siebenteiliger musikalischer Satz.

327 von dem wir gesagt haben: s.o. p6aff.

Dialektik: Die Klärung des Wesens der Dialektik ist eine Hauptaufgabe der Platoninterpretation, die nur mit Hilfe

aller verfügbaren Dialoge gelöst werden kann. Außer dem

,Staat, müssen hier vor allem die Dialoge ,Phaidros>, <Par­menides,, ,Sophistes, und <Philebos, herangezogen werden.

Was Platon im ,Staat, sagt, ist nur eine Andeutung (vgl. bes. 53p). die göttlichen Spiegelungen: Die Schatten der «Bilder», d.h. der

in der Höhle vorübergetragenen künstlichen Gerätschaften sind selbst auch künstlich, durch das Feuer, hervorgerufen; di~

Schatten und Spiegelbilder am Tageslicht sind natürlich, und da die Sonne, die sie hervorruft, ein Gott ist, selbst göttlich. Vgl. a. <Sophistes> 266b/c.

nicht aber auf die Schatten von Bildern: s. das Höhlengleichnis am Anfang dieses Buches.

329 'Wissenschaften,: s. Erl. zu 511 c.

Meinung aber bezieht sich auf das Werden: s.o. 6. Buch, 509 eff.

33 I Es bleibt dir also noch ... übrig: Der Schluß teil des 7. Buches

(53p-541 b) befaßt sich mit der Auslese der Zöglinge und mit

ZUM ACHTEN BUCH 501

der Verteilung des Unterrichtsstoffes auf die verschiedenen Al­

tersstufen. Du weißt doch noch: s.o. 412bff. und 484aff.

332 wie ich vorher schon gesagt habe: s.o. 495Cff. Und auch in bezug auf die Wahrheit: vgl. 2. Buch, 382 bc.

333 daß wir bei der ersten Auslese: s.o. 3. Buch, 412c. Solon: attischer Politiker, Gesetzgeber und Dichter (ca. 640--

560 v. Chr.); Platon spielt auf Frg. 22 Diehl an. 334 Weil ein Freier kein Lehrfach: Daher der Ausdruck «artes libe­

rales», «freie Künste» für die in der «philosophischen» Fakultät

gelehrten Disziplinen und der in England übliche akademische Grad des «Magister artium», «Master of Arts». Du erinnerst dich doch: s.o. 5. Buch, 467df. Denn diese Zeit: Das entspricht dem Alter ( 17-:w Jahre), in

dem die athenischen Jünglinge als Epheben ausgebildet wur­

den. 337 ihnen gehorchen wir: vgl. dazu die Personifikation der Gesetze

im ,Kriton, 50d. 339 dieses Streben: d. h. die Dialektik. 340 wie wir das beschrieben haben: s.o. 5. Buch, 451 cff.

wahre Philosophen, mehrere oder einer: Die Frage, ob die

Herrschaft der Philosophen eine Monarchie oder eine Aristo­kratie sein soll, läßt Platon offen; sie ist für ihn nicht entschei­

dend; vgl. 4. Buch, 44 5 de. 341 Alle Bürger, die .. . : Das ist die völlige Reinigung, die _tabula

rasa (vgl. 501 a), die der Gründung der Stadt vorangeht. Ahnli­

che Vorschläge in den Gesetzen 73 5 b ff.

ZuM AcHTEN BucH

Vorbemerkung: Mit dem Ende des 7. Buches ist die Darstellung der

«gerechten» Stadt und ihrer Verwirklichung durch die Herrschaft

der Philosophen abgeschlossen. Nun stellt ihr Platon die «ungerech­

te» Stadt und die fehlerhaften Verfassungen gegenüber. Wie aber die

gerechte Stadt den gerechten Menschen zur Voraussetzung hat, so

beruhen auch die mangelhaften Staatsformen auf krankhaften Zu­

ständen der Seele. Diese «Formenlehre des Staates als Pathologie der

menschlichen Seele» CTaeger) umfaßt die Bücher 8 und 9. Schon

einmal, am Ende des 4. Buches, war Sokrates auf die Ungerechtig-

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LITERATURHINWEISE

AUSGABEN

Platonis Opera, hrsg. von I. Burnet, 5 Bde., Oxford 1900-1907. Platon, Werke in acht Bänden, hrsg. von G. Eigler, Darmstadt

1990'· 3 (mit deutscher Übersetzung). The Republic of Plato, hrsg. von J. Adam, 2 Bde., Cambridge 1963

(Text mit Kommentar).

ÜB ERSETZUNG

Platon, Sämtliche Werke in acht Bänden, übertragen von R. Rufe­ner, Zürich-München 1960-86'"' (hieraus wurde die vorliegende Übersetzung entnommen).

MONOGRAPHIEN

J. Annas, An Introduction to Plato's Republic, Oxford 1981. E. Barker, The Political Thought of Plato and Aristotle, New York

1959· W. Bröcker, Platons Gespräche, Frankfurt/M. 1964. P. Friedländer, Platon, 3 Bde., Berlin 1964-75 3•

K. von Platon in Sizilien und das Problem der Philosophen-herrschaft, Berlin 1968.

P. Frutiger, Les mythes de Platon, Paris 1930. A. Graeser, Platons Ideenlehre - Sprache, Logik und Metaphysik,

Bern 1975. W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Bd. 4-5: Plato,

Cambridge 1975-78. T. Irwin, Plato's Moral Theory, Oxford 1977. Chr. Jermann, Philosophie und Politik, Stuttgart - Bad Cannstatt

1987'. N. R. Murphy, The Interpretation of Plato's Republic, Oxford

1951· R. L. Nettleship, Lectures on the Republic of Plato, London 1963. C. Ritter, Platos Staat, Stuttgart r909. U. von Wilamowitz-Moellendorff, Platon, 2 Bde., Berlin 1919.

INHALT

Einleitung ..... . . .................. .

Platon, Der Staat Erstes Buch ................. · · . · · · · · · · · · Zweites Buch ............... · · .. · · · · · · · ·

r3 6r

Drittes Buch ................... · · · · · · · · · rn4 Viertes Buch .............. · · · · · · · · · · · · · · 1 5 5 Fünftes Buch ..................... · . · · · · 200

Sechstes Buch ................. · · · · · · · · · · 2 53 Siebentes Buch ................. · · · · · · · · · 2 99 Achtes Buch .................. · · · · 342

Neuntes Buch ................... · · · · · · · · 386 Zehntes Buch ................... · · · · · · · · 42 4

ANHANG

Erläuterungen ............... · · · · · · · · · · · · · 469 Inhaltsübersicht .............. · · · · · · · · · · · · · 514 Literaturhinweise ................. · · .. · · · · · 52°