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57. Jahrgang • Juli/August 2006 • ISSN 0032-3462 • 4,50 Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen Schwerpunktthema: China – Aufstrebende Macht in der Welt- und Weltwirtschafts- politik Mit Beiträgen von Gottfried-Karl Kindermann, Willi Lange, Kay Möller, Markus Taube, Jürgen Wilke und Junhua Zhang Jean-Claude Juncker Politische Studien-Zeitgespräch zum Thema „Die Zukunft Europas? – Das Europa der Zukunft“ Donate Kluxen-Pyta Werte-Orientierung in Unternehmen: Wirtschaft ohne Werte? Patrick Moreau/Rita Schorpp Auf dem Weg zur Vereinigung? PDS und WASG nach ihren Parteitagen Stefan Ebner Public-Private-Partnership: Die Lösung für Kommunen? POLITISCHE STUDIEN 408

Politische Studien Nr. 408 mit dem Schwerpunktthema ... · dingt die Meinung der Redaktion wieder; die Autoren tragen für ihre Texte die volle Verant-wortung. Unverlangt eingesandte

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57. Jahrgang • Juli/August 2006 • ISSN 0032-3462 • € 4,50

Z w e i m o n a t s z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d Z e i t g e s c h e h e n

Schwerpunktthema:

China – AufstrebendeMacht in der Welt-und Weltwirtschafts-politik

Mit Beiträgen vonGottfried-Karl Kindermann, WilliLange, Kay Möller, Markus Taube,Jürgen Wilke und Junhua Zhang

Jean-Claude JunckerPolitische Studien-Zeitgesprächzum Thema „Die Zukunft Europas?– Das Europa der Zukunft“

Donate Kluxen-PytaWerte-Orientierung in Unternehmen:Wirtschaft ohne Werte?

Patrick Moreau/Rita SchorppAuf dem Weg zur Vereinigung? PDSund WASG nach ihren Parteitagen

Stefan EbnerPublic-Private-Partnership:Die Lösung für Kommunen?

POLITISCHESTUDIEN408

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Herausgeber:Hanns-Seidel-Stiftung e.V.Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair,Staatsminister a.D.Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter WitteraufReferat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit /Publikationen: Hubertus Klingsbögl

Redaktion:Dr. Reinhard C. Meier-Walser(Chefredakteur, v. i.S.d.P.)Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin)Verena Hausner (stellv. Redaktionsleiterin)Susanne Berke (Redakteurin)Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin)Irene Krampfl (Redaktionsassistentin)

Anschrift:Redaktion Politische StudienHanns-Seidel-Stiftung e.V.Lazarettstraße 33, 80636 MünchenTelefon 089/1258-241Telefax 089/1258-469Internet: www.hss.deE-Mail: [email protected]

Druck: Bosch-Druck, Landshut

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Verviel-fältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung,vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Ver-fahren)ohne schriftliche Genehmigung der Redaktionreproduziert oder unter Verwendung elektroni-scher Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder ver-breitet werden. Redaktionelle Zuschriften werdenausschließlich an die Redaktion erbeten.

Die Beiträge in diesem Heft geben nicht unbe-dingt die Meinung der Redaktion wieder; dieAutoren tragen für ihre Texte die volle Verant-wortung. Unverlangt eingesandte Manuskriptewerden nur zurückgesandt, wenn ihnen einRückporto beiliegt.

Bezugspreis: Einzelhefte € 4,50.Jahresabonnement € 27,00.Schüler/Studenten-Jahresabonnement bei Vorlageeiner gültigen Bescheinigung kostenlos.Die Zeitschrift Politische Studien erscheint alsPeriodikum und Themenheft.Darüber hinaus erscheinende Sonderausgabensind im Abonnement nicht enthalten.Abobestellungen und Einzelheftbestellungenüber die Redaktion und den Buchhandel.

Kündigungen müssen der Redaktion schriftlichmindestens 8 Wochen vor Ablauf des Abonne-ments vorliegen, ansonsten verlängert sich derBezug um weitere 12 Monate.

HannsSeidelStiftung

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Reinhard C. EditorialMeier-Walser Neue deutsche Außenpolitik –

Kontinuität und Wandel ............... 5

Jean-Claude Juncker Politische Studien-Zeitgespräch zumThema „Die Zukunft Europas? – DasEuropa der Zukunft“....................... 11

Schwerpunktthema: China – Aufstrebende Macht in derWelt- und Weltwirtschaftspolitik

Reinhard C.Meier-Walser Einführung .................................... 19

Gottfried-Karl Geschichtliche HintergründeKindermann chinesischer Außenpolitik ............. 21

Markus Taube Die VR China als aufstrebendeMacht in der Weltwirtschaft:Herausforderungen an Europa ..... 26

Kay Möller Die Grenzen des „Aufstiegs“ derVolksrepublik China ...................... 36

Junhua Zhang Die 28-jährige Reform derVR China – Eine kurze Bilanzund ihre Zukunftsperspektive ....... 47

Jürgen Wilke/ Exkurs: Die Arbeit derWilli Lange Hanns-Seidel-Stiftung in der

Volksrepublik China ...................... 56

Donate Kluxen-Pyta Werte-Orientierung in Unterneh-men: Wirtschaft ohne Werte? ....... 60

Patrick Moreau/ Auf dem Weg zur Vereinigung?Rita Schorpp PDS und WASG nach ihren

Parteitagen ..................................... 67

Inhalt

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Stefan Ebner Public-Private-Partnership:Die Lösung für Kommunen? ......... 78

Das aktuelle Buch ....................................................... 85

Buchbesprechungen ....................................................... 87

Ankündigungen ....................................................... 95

Autorenverzeichnis ....................................................... 96

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

1. Konstanten und Maximen

Zu den Konstanten deutscher Außen-politik seit Gründung der Bundesrepu-blik im Jahre 1949 gehören nebenGrundzielen wie der Schaffung undKonsolidierung von Sicherheit, derStärkung der transatlantischen Partner-schaft und der Förderung europäischerIntegration etc.1 auch ungeschriebeneRegeln wie z.B. die Steuerung einesausgewogenen Balance-Kurses zwi-schen Paris und Washington, das Tabueiner Instrumentalisierung deutscherAußenpolitik zu parteitaktischen Zie-len oder die strikte Vermeidung deut-scher außenpolitischer „Sonderwege“zu Gunsten einer multilateralen Ein-bindung Deutschlands.2

2. Gerhard Schröders Kurskor-rektur

Diese Grundanliegen und Leitlinienwurden von allen deutschen Bundesre-gierungen von Adenauer bis Kohl be-achtet. Auch nach Antritt der rot-grü-nen Koalition im Jahr 1998 schienen

sie zunächst Beachtung zu finden. ImZuge der Eskalation der Irak-Krise imLaufe des Jahres 2002 kam es allerdingszu einer fundamentalen außenpoliti-schen Kurskorrektur der Berliner Regie-rung, die sich in folgenden Schrittenfestmachen lässt:

Erstens verließ Schröder die seit jeherungebrochene Tradition, die deutscheAußenpolitik nicht parteipolitisch zuinstrumentalisieren, indem er die Irak-Krise in den Mittelpunkt seiner Wahl-kampfstrategie für die Bundestagswah-len im Herbst 2002 stellte und gezieltKriegsängste entfachte.

Zweitens verließ Schröder die Maximeder Balance-Politik zwischen Washing-ton und Paris, indem er sich in Konfron-tation zur Bush-Administration auf dieSeite von Präsident Chirac stellte unddiese Achse durch einen engen Schul-terschluss mit Präsident Putin zu einemneuen, gegen die USA gerichteten Drei-eck Berlin – Paris – Moskau ausweitete.

Drittens: Da mehrere einflussreichewesteuropäische Staaten wie Großbri-

EditorialNeue deutsche Außenpolitik –

Kontinuität und Wandel

Reinhard C. Meier-Walser

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tannien, Italien und Spanien sowie aus-nahmslos alle zentral- und osteuropäi-schen Staaten in der Irak-Krise auf derSeite der USA standen, hatte sich Berlinsowohl im transatlantischen Bezie-hungsgefüge als auch in der Europäi-schen Union und im Kreis der NATO-und EU-Beitrittskandidaten weitge-hend isoliert. Das bedeutet allerdings– dritter Kontinuitätsbruch – eine Ab-kehr von der multilateralen Einbin-dung Deutschlands zu Gunsten einesEinschwenkens in einen deutschenSonderweg, den der Erlanger Histori-ker Michael Stürmer mit Blick aufvergangene verhängnisvolle deutscheSonderwege als gefährliche Kombina-tion von Nationalismus und Neutra-lismus („linker Wilhelminismus“) be-zeichnete.

Zwar konnten nach dem Ende des Waf-fenganges gegen den Irak die transat-lantischen Spannungen zumindestteilweise abgebaut und die innereuro-päische Spaltung überbrückt werden,eine substanzielle Klimaverbesserungschien aber kaum möglich, solange dieHauptantagonisten auf beiden Seitendes Atlantiks, Schröder, Chirac undBush, noch im Amt waren.

3. Angela Merkels neuer Kompass

Vor diesem Hintergrund trat im No-vember 2005 die neue Koalitionsregie-rung aus CDU/CSU und SPD in Berlinihr Amt an. Zur Außenpolitik, so wuss-te Konrad Adenauer, der erste deutscheBundeskanzler, der bis 1955 in Perso-nalunion auch Außenminister war, ge-hört „vor allem Erfahrung“. Die besaßseine Nachfolgerin im Kanzleramt, An-gela Merkel, bei ihrem Amtsantrittzwar nicht, aber sie hat sich sehr

schnell auf dem glatten Parkett der Di-plomatie zurechtgefunden. Ihre bishe-rigen Schritte nach rund neunmonati-ger Amtszeit deuten darauf hin, dassmit der ersten Frau im Chefsessel derRegierung die Außenpolitik der Bun-desrepublik eine substanzielle Kurskor-rektur erfährt. An Stelle der kontra-produktiven, Berlin international iso-lierenden Diplomatie Gerhard Schrö-ders zielt Angela Merkels außenpoli-tischer Kompass wieder in RichtungGlaubwürdigkeit und Berechenbarkeit.Die Irritationen, die Schröders oftmalsruppiges und unbedachtes Vorgehenu.a. sowohl bei wichtigen internatio-nalen Partnern wie den USA als auchbei europäischen Freunden wie Öster-reich ausgelöst hat, sollen durch eineStrategie konstruktiver und vertrauens-voller Nachbarschafts-, Europa- undBündnispolitik nachhaltig korrigiertwerden.

4. Dominanz der Kanzlerin

Die Berufung von Schröders ehemali-gem Kanzleramtsminister Frank-WalterSteinmeier (SPD) zum Außenministerder Großen Koalition wurde im Aus-land zunächst mitunter als Signal einerkontinuierlichen Fortführung des au-ßenpolitischen Kurses von Rot-Grüngewertet. Tatsächlich besitzt Steinmei-er jedoch wenig gestaltenden Einfluss.Er hat weder Bundestagsmandat nochParteiamt und deshalb nicht nur keineHausmacht in seiner Partei, sondernihm bläst sogar der Wind aus dem lin-ken, pazifistischen Flügel der SPD insGesicht. Anders als seine VorgängerBrandt, Scheel, Genscher, Kinkel undFischer muss Steinmeier auch auf denprestigeträchtigen Titel des Vizekanz-lers verzichten.3

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Editorial: Neue deutsche Außenpolitik 7

Während Schröders früherer Adlatusals Außenamtschef zermürbendes Kri-senmanagement auf Arbeitsebene be-treibt und undankbare Routinegeschäf-te zu erledigen hat, spielt Kanzlerin An-gela Merkel lieber medienwirksam inder obersten Liga der Diplomatie, wosie sich gern souverän und selbstsicherim Kreise internationaler Staats- undRegierungschefs zeigt. Außenpolitik,daran kann kein Zweifel bestehen, istChefsache in der Großen Koalition.Den Kurs bestimmt die Kanzlerin.

5. Neue außenpolitischePrioritäten

In den folgenden Prioritäten AngelaMerkels lässt sich eine deutliche Ab-kehr vom außenpolitischen Kurs vonRot-Grün erkennen:

Neues Vertrauensverhältnis mitWashington

Durch seine primär wahltaktisch moti-vierte Opposition gegenüber den USAin der Phase der Irak-Krise 2002/2003hatte Kanzler Schröder die Beziehun-gen zwischen Berlin und Washingtonnachhaltig zerrüttet. Der Wiederher-stellung des von Adenauer bis Kohl alsexistenziell bedeutsam für Deutsch-land geltenden Freundschaftsverhält-nisses zu den Vereinigten Staaten galtdeshalb Angela Merkels erste Priorität.Dass sie bei der Verwirklichung diesesZiels schon kurze Zeit nach ihremAmtsantritt erhebliche Fortschritteverbuchen konnte, hängt mit ihrerUnterstützung George Bushs wäh-rend der Irak-Krise zusammen. SeitMerkels Regierungsantritt hat Deutsch-land jedenfalls wieder spürbar an Ein-

fluss und Gewicht in Washington ge-wonnen.

Lockerung der Bindung an Paris

Gerhard Schröder hatte die traditionelledeutsche Linie einer ausgewogenen Ba-lance zwischen Frankreich und den USAzu Gunsten einer einseitigen Bindungan Paris aufgegeben. Gleichzeitig ließer zu, dass Deutschland von Chiraczum Juniorpartner degradiert wurde.Demgegenüber knüpft Angela Merkelan der charakteristischen Haltung frü-herer Bundeskanzler an, die wie Ade-nauer gegenüber de Gaulle, Schmidtgegenüber Giscard oder Kohl gegen-über Mitterrand auf politischer Augen-höhe mit dem jeweiligen französischenPräsidenten verhandelt hatten. Gleich-zeitig zielt sie darauf, die Achse Paris –Berlin durch eine aktive Einbindunganderer Partner in Europa zu erweitern.Dadurch soll der durch Schröders Un-terordnung unter Chirac eingeengteHandlungsspielraum Berlins wiederausgebaut werden, ohne die als MotorEuropas apostrophierte traditionelledeutsch-französische Freundschaft zugefährden.

Renaissance der Menschenrechts-themen

Angesichts der neuen Achse Berlin –Moskau, die Gerhard Schröder mit sei-nem Freund Wladimir Putin, dem, soSchröder, „lupenreinen Demokraten“,geschmiedet hatte, verschwand dasThema Tschetschenien weitgehendvon der rot-grünen Agenda. Anders dieim kommunistischen DDR-Regimeaufgewachsene Angela Merkel, die Pu-tin gegenüber im Kreml unverblümt

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auf die Menschenrechtsproblematik inTschetschenien hinwies. Dass sie indieser Frage auf keinem Auge blind istund die Menschenrechte generell ei-nen herausgehobenen Stellenwert beider neuen Berliner Bundesregierunggenießen, stellte die Kanzlerin klar, alssie auch dem amerikanischen Präsiden-ten Bush gegenüber das Verhalten derUSA in Guantánamo offen geißelte.4

Mittlerrolle zwischen großen undkleinen Ländern

Ihr Engagement bei der Vermittlungeines Finanzkompromisses auf demEU-Gipfel im vergangenen Dezemberzeigte bereits, dass Angela Merkel ei-ne ausgleichende Rolle zwischen grö-ßeren und kleineren, wohlhabendenund bedürftigen Staaten in Europaanstrebt.5 Anders als ihr Amtsvorgän-ger Schröder, der wegen seiner Prio-risierung Frankreichs und Russlandsden kleineren europäischen Staatenlediglich geringe Beachtung schenk-te, möchte Frau Merkel insbesondereauch die zentral- und osteuropäischenStaaten stärker einbinden. Eine beson-dere Herausforderung stellt die bislangvon der Bundesrepublik noch niemalsbefriedigend gelöste Aufgabe dar, gleich-zeitig gute Beziehungen zu Warschauund zu Moskau zu unterhalten.

„Privilegierte Partnerschaft“ mit derTürkei

Anders als das rot-grüne Regierungs-bündnis, das eine Vollmitgliedschaftder Türkei zur EU offen anstrebte, fa-vorisieren Frau Merkel und die Uni-onsparteien traditionell eine „privile-gierte Partnerschaft“ unterhalb der Bei-

trittsschwelle. Sollte sich im Laufe derim vergangenen Oktober begonnenenBeitrittsverhandlungen mit Ankara ei-ne Überforderung der EU herausstel-len, so schlägt der Koalitionsvertragvon CDU/CSU und SPD (mit derdeutlichen Handschrift Merkels) dasModell einer „privilegierten Partner-schaft“ vor.

6. Potenzielle außenpolitischeZankäpfel

Die Erfahrung lehrt, dass Außenpolitikim Vergleich zu anderen Politikberei-chen (etwa Wirtschafts- oder Sozial-politik) ein verhältnismäßig konsen-suales Feld ist, weil außenpolitischeEntscheidungen die ganze Nation innahezu gleicher Weise betreffen undnicht einzelne Gruppen je unterschied-lich wie z.B. Arbeitnehmer und Arbeit-geber, Alte und Junge, Frauen undMänner von wirtschaftspolitischenoder sozialpolitischen Entscheidungenvielmals in unterschiedlicher Weise be-troffen sind. Tatsächlich zeigt auch daserste drei viertel Jahr der RegierungMerkel weitgehend außenpolitischenKonsens zwischen den Koalitionspart-nern, allerdings bestehen in drei Prob-lembereichen Divergenzen, die bis-lang z.T. noch nicht offen zu Tage ge-treten sind, die jedoch in Zukunft zukoalitioninternen Spannungen führenkönnten:

Das erste Problem betrifft die Energie-versorgung der Bundesrepublik. DerIrak-Krieg, die Iran-Krise, Moskaus Dro-hung, Europa den Gashahn abzudre-hen sowie die Verstaatlichung der Öl-und Gasindustrie in Venezuela undBolivien haben neben der grundsätz-lichen Problematik der Abhängigkeit

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von Energieimporten insbesondere dieGefahr der energiepolitischen Erpres-sung durch autoritäre Regime deutlichgemacht.6 Vor diesem Hintergrundwurde auf dem Energiegipfel im April2006 im Kanzleramt u.a. das Ziel for-muliert, dass Deutschland von Ener-gieimporten unabhängiger werdenmuss. Dieses Ziel kann allerdings ne-ben technologischen Innovationen le-diglich durch eine positive Neubewer-tung der Kernenergie erreicht werden,und hier liegt der Knackpunkt in derGroßen Koalition. Die Union befür-wortet eine energiepolitische Kehrt-wende in Richtung Atomkraft, die SPDlehnt sie mit Rückendeckung der Grü-nen strikt ab.7

Das zweite Problem ist die Iran-Krise.Während auch Frau Merkel auf eine di-plomatische Lösung der iranischen Nu-klearproblematik setzt und bei ihremjüngsten Besuch in Washington Präsi-dent Bush massiv zum Verzicht auf ei-ne militärische Option gedrängt hat,hält sie sich im Sinne einer lückenlosenAbschreckungsstrategie gegenüber Te-heran auch Zwangsmaßnahmen wieSanktionen und andere Mittel zumin-dest potenziell offen, d.h. sie werdennicht für alle Fälle kategorisch ausge-schlossen. Diese Haltung kollidiert mitdem pazifistischen Flügel der SPD undAußenminister Steinmeier bewegt sichhier auf ausgesprochen brüchigem Bo-den. Sollte die Iran-Krise eskalieren,droht auch hier Ungemach für die Ko-härenz der Großen Koalition.

Die dritte außenpolitische „Delikates-se“ der Großen Koalition ist die Frage

des zwischen den Unionsparteien undder SPD umstrittenen EU-Beitritts derTürkei. Die Regierung Merkel hat sichjedenfalls dazu bekannt, die im Okto-ber 2005 begonnenen Beitrittsver-handlungen mit der Türkei im Sinneaußenpolitischer Kontinuität ergebnis-offen fortzuführen. Wenn die Ver-handlungen mit Ankara in die ent-scheidende Phase eintreten werden,kann es in dieser Frage zu neuen Kon-troversen zwischen den Parteien desRegierungslagers kommen.

7. Kooperativer Multilateralis-mus statt nationaler Allein-gänge

Zusammenfassend betrachtet kannman feststellen, dass das primäre außen-politische Anliegen der Regierung Mer-kel in einem Wiedereinschwenken aufden für die Bundesrepublik Deutsch-land traditionellen Kurs des kooperati-ven Multilateralismus liegt. NationaleAlleingänge Berlins gilt es sowohl imSinne des Abtauchens aus der inter-nationalen Verantwortung als auch imSinne des politischen Säbelrasselns ge-genüber den Partnern zu vermeiden.Angela Merkels Ziel ist es, in der Tra-dition Helmut Kohls, die internationa-len und bündnispolitischen Verpflich-tungen Deutschlands als europäische„Zentralmacht“ (Hans-Peter Schwarz)zu erfüllen, die Balance zwischen Parisund Washington zu bewahren, NATOund EU zu stärken und die EinheitEuropas durch eine Unterstützung klei-nerer und schwächerer Staaten zufördern.

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Anmerkungen1 Bis zur Erlangung der Wiedervereinigung

galt auch die Lösung der deutschen Frageals primäres außenpolitisches Anliegen derBundesrepublik.

2 Einen hervorragenden Überblick überGrundanliegen (Maximen) deutscher Au-ßenpolitik seit der Gründung der Bundes-republik vermittelt Wolfram Hanrieder inseinem großen Standardwerk: Deutsch-land, Europa, Amerika – Die Außenpolitikder Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, Paderborn u.a. 1991, das der ausMünchen stammende, in Santa Barbara,Ca., wirkende Politologe als letzte seinerzahlreichen bemerkenswerten Analysendeutscher Diplomatie kurz vor seinem frü-hen Tod veröffentlichte. Vgl. auch: Han-rieder, Wolfram F.: Fragmente der Macht.

Die Außenpolitik der Bundesrepublik,München 1981.

3 Vgl. Gutschker, Thomas: Im Namen derMenschenrechte. Wie Angela Merkel diedeutsche Außenpolitik umgepolt hat, in: Diepolitische Meinung, H.436/2006, S.13–16,hier S.16.

4 Vgl. ebda, S.13f.5 Vgl. Neuss, Beate: Auf internationaler Büh-

ne. Über einen glanzvollen außenpoliti-schen Auftakt und seine Chancen, in: Diepolitische Meinung, H.436/2006, S.23–28,hier S.24.

6 Vgl. Hacke, Christian: Mehr Bismarck, we-niger Habermas. Ein neuer Realismus in derdeutschen Außenpolitik?, in: Internatio-nale Politik, H.6/2006, S.68–76, hier S.74.

7 Ebda, S.74.

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Politische Studien: Herr Premiermi-nister, als Sie im April der Parlamenta-rischen Versammlung des EuroparatsIhren persönlichen Zukunftsberichtpräsentierten, sagten Sie, es gehe Ihnennicht um ein Ideal, sondern um das Mi-nimum, das Unabdingbare. Europascheint alles Visionäre derzeit scham-haft zu meiden. Ist diese pragmatische,ganz und gar unpathetische Haltungnicht eigentlich das Problem? Fehlendie Visionen und die Visionäre?

Jean-Claude Juncker: Bei dem Mini-mum und Unabdingbaren, das ich in

diesem Bericht vorgeschlagen habe,handelt es sich immerhin um einenoch stärkere Verankerung der Men-schenrechte in die EU-Gesetzgebungund Praxis. Auch geht es um die Schaf-fung eines paneuropäischen Rechts-raumes, der auf einer minimalen Basisgemeinsame Rechtsvorschriften in we-sentlichen Bereichen von Island bisMalta und von Frankreich bis Russlandvorsieht. Dies alles zur Stärkung der de-mokratischen Sicherheit für die 800Millionen Europäer der Mitgliedsstaa-ten des Europarats in Zusammenarbeitmit der EU! Hinter meinen Vorschlä-

„Die Zukunft Europas? – DasEuropa der Zukunft“

Politische Studien-Zeitgesprächmit dem Premierminister desGroßherzogtums Luxemburg,Dr. h.c. Jean-Claude Juncker

Dr. h.c. Jean-Claude Juncker (Jahrgang 1954) gilt als Doyen dereuropäischen Staats- und Regierungschefs. Länger als jeder ande-re gestaltet er europäische Politik mit – seit 1984 als Arbeits- undFinanzminister, seit 1995 als Premierminister seines Landes. Ins-besondere prägte Juncker die Wirtschafts- und Währungsunion:1991 schrieb er große Teile des entsprechenden Vertragskapitelsvon Maastricht, 1996 sorgte der „Held von Dublin“ für den ent-scheidenden Kompromiss zwischen Kanzler Kohl und dem fran-zösischen Präsidenten Chirac. Als „Motor“ der europäischen In-tegration, „Vermittler, Mediator und Brückenbauer“ wurde er am25. Mai dieses Jahres mit dem Internationalen Karlspreis zu Aa-chen ausgezeichnet. Im April hat der Privatmann Juncker einen Be-richt1 über die künftigen Beziehungen zwischen der EuropäischenUnion und dem Europarat vorgelegt – eine Vision für Europa, denKontinent, nicht die Institution.

Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

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Politische Studien-Zeitgespräch12

gen steckt schon eine Vision. Der posi-tive Hebeleffekt solcher Maßnahmenwäre enorm. Aber sogar solche, von Ih-nen als minimal eingestufte Schrittestoßen auf Widerstand. Was fehlt, sindnicht die Visionen, sondern der politi-sche Wille auf allzu vielen institutio-nellen Ebenen des europäischen Pro-jekts. Fehlt dieser politische Wille, be-stimmen die Bedenken der Beamtendie Entwicklung der Dinge.

Politische Studien: Sie schlagen vor,Europäische Union und Europarat soll-ten ihre Zusammenarbeit intensivie-ren, nicht nur, aber auch in Fragen derGrund- und Menschenrechte. Die EUsolle der Europäischen Menschen-rechtskonvention (EMRK) und, bis2010, dem Europarat selbst beitreten.Manche Kritiker sahen diese beidenInstitutionen bisher in Konkurrenz zu-einander. Inwiefern sollen sie künftigvon einer engeren Zusammenarbeitprofitieren?

Jean-Claude Juncker: Von Konkur-renz sollte eigentlich keine Rede sein.Die Aufträge der beiden Organisatio-nen sind in ihren wesentlichen Aufga-ben verschieden, aber komplementär.Alle Grundrechte, auf die sich die EUund ihre Mitgliedsstaaten berufen,wurzeln in den Normen des Europa-rats. Der Europarat hat sozusagen denWerterahmen geliefert, der das Han-deln der EU mitbestimmt. Daher war esso wichtig, dass nach 1989 die neueneuropäischen Demokratien dem Euro-parat beigetreten sind, der wesentlichzu den politischen Reformen beigetra-gen hat, die erst eine EU-Mitgliedschaftmöglich machten. Jetzt, wo Rechtsstaatund Demokratie in diesen Ländern ge-festigt sind, und der Erweiterungspro-zess in absehbarer Zeit abgeschlossen

ist, bedeutet das für den Europarat, dasser sich wieder ohne diese spezifischeAusrichtung auf die EU-Erweiterung,auf sein eigentliches Geschäft konzen-trieren soll, die demokratische Sicher-heit auf dem Kontinent. Inzwischenaber ist in der EU der Bereich „Justizund innere Angelegenheiten“ gewich-tiger geworden, und dies hat das Risikounnötiger Kompetenzüberlappungenzwischen den beiden Organisationengesteigert. Hier hat es innerhalb derInstitutionen Schübe eines nicht be-sonders produktiven Konkurrenzden-kens gegeben. Eine vernünftige Arbeits-teilung, die die Rolle des Europarats alseinheitlichen und effizienten Rahmenfür die Wahrung der Menschenrechteauf dem Kontinent anerkennt, ist mei-ner Ansicht nach die beste Lösung. Ichhabe keinen Grund, in dieser Frage pes-simistisch zu sein.

Politische Studien: Die Geschichte derGemeinschaft beginnt mit einer politi-schen Absichtserklärung, der Rede Ro-bert Schumans 1950. Ob mit Tinde-mans, Spinelli und Werner, aber auchHans-Dietrich Genscher und EmilioColombo oder zuletzt Joschka Fischer –an politischen Erklärungen, Plänen,Berichten, Initiativen mangelt es derEuropäischen Union nicht, vor allemnicht an solchen, die folgenlos blieben.Welche Bedeutung haben diese Denk-schriften im politischen Tagesgeschäft?

Jean-Claude Juncker: Denkschriftenoder -reden spiegeln die grundsätzli-che Meinung ihrer Autoren wider, oh-ne dass diese sich am politischen Ta-gesgeschäft orientieren müssen. Siekönnen aber konjunkturbedingt nütz-liche Ideen beinhalten oder gangbareWege aufzeichnen. Die Zürcher Chur-chill-Rede von 1948 und Schumans

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Politische Studien-Zeitgespräch 13

Aufruf 1950 gehören ganz sicher in die-se Kategorie. Wer leidenschaftlicher Eu-ropäer ist, denkt ja auch viel überEuropa nach und versucht irgend-wann, sein europapolitisches Credo ineinem Text oder einer Rede zu formu-lieren. Wenn dieses Credo dann auchnoch zum Leitfaden der Politik dieserAutoren wird, dann können, wie schongesagt, konjunkturbedingt Fortschrittein der gemeinsamen Politikgestaltungerzielt werden.

Allerdings gibt es auch genügend Bei-spiele von europaskeptischen Redenund Schriften, sodass wir eigentlich ge-nau das Spiegelbild dessen haben, waswir tagtäglich in der Europäischen Uni-on erleben: Die Auseinandersetzungderer, die wollen, dass die europäischeIntegration weiter geht als heute, mitdenen, die der Meinung sind, dassEuropa heute schon viel zu weit gegan-gen ist.

Politische Studien: Vor zwanzig Jah-ren ist als erste und bisher einzige Na-tion „das luxemburgische Volk“ mitdem Karlspreis ausgezeichnet worden,im Jahr 2002 als Ding oder Nicht-Ding„der Euro“ und dieses Jahr Sie selbst.Diese Ehrungen zeigen, dass Europanicht nur mit politischen Grundsatzer-klärungen zu tun hat. Welche Rollespielt das alltägliche Miteinander fürdie Einigung der Völker Europas – wiebei einem alten Ehepaar?

Jean-Claude Juncker: Der ganzen eu-ropäischen Idee liegt doch dieses Mit-einander der Völker Europas zu Grun-de. Das hat die bekannten historischenUrsachen, die leider immer mehr inden Hintergrund gedrängt werden, wasich sehr schade finde. Die Luxembur-ger wurden 1986 mit dem Karlspreisausgezeichnet, weil unser Land sich injeder europäischen Frage resolut in denDienst der weiterführenden Integrati-

Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker bei der Auftaktveranstaltung der Ver-bindungsstelle Brüssel zur Reihe „Das Brüsseler Interview“ zum Thema „Europa – Mut zur Ge-staltung“.

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Politische Studien-Zeitgespräch14

on stellte und dies sogar mit Unterstüt-zung der jeweiligen Oppositionspartei-en im Luxemburger Parlament. Die eu-ropäische Einigung war ganz einfachin Luxemburg kein Streitthema, weil esnatürlich auch jedem Luxemburgerklar sein musste, was die EU dem Landgebracht hatte.

Mit dem Referendum zum Verfas-sungsvertrag am 10. Juli 2005 musstenwir dann alle plötzlich feststellen, dassdiese legendäre Europabegeisterungder Luxemburger doch einige unüber-sehbare Kratzer bekommen hat. DieGründe hierfür liegen auf der Hand:Die Erweiterung wurde ungenügend er-klärt, die Wirtschaft lahmte und die Ar-beitslosigkeit geriet aus den Fugen. So-gar der Euro, das letzte große europäi-sche Projekt im 20. Jahrhundert, wurdeplötzlich zur Wurzel allen Übels, wobeier natürlich genau das Gegenteil davonwar und ist.

Ihr Vergleich mit dem „alten Ehepaar“stimmt also überhaupt nicht. Die Eu-ropäische Union 2006 ähnelt viel mehreinem jungen Liebespärchen, das sichzwar attraktiv findet, aber noch nichtrichtig kennt und so zwischen heftigs-ten Streitereien mit zärtlichsten Lieb-kosungen hin und her pendelt. Im Lau-fe der Zeit wird sich dies alles glättenund beide werden dann vielleicht ein-mal unzertrennliche Partner fürs Lebenoder es macht einer Schluss ...

Politische Studien: Herr Premiermi-nister, in Ihren mehr als 20 Jahren imRat der EU hat sich einiges verändert.Die Zahl der Mitgliedstaaten etwa hatsich mehr als verdoppelt: 1986 diezweite Runde der Süderweiterung umSpanien und Portugal, 1995 die Nord-erweiterung und schließlich vor zwei

Jahren der ‚big bang‘, die Osterweite-rung – also von den EU-10 über 12 und15 Mitgliedstaaten bis hin zur EU-25.Ganz praktisch: Wie hat sich das Poli-tik-Machen auf europäischer Ebeneverändert?

Jean-Claude Juncker: Diese Romanti-ker, die uns immer erklären, dass in derSechser-, Neuner- oder Zehnergemein-schaft alles bestens funktioniert habe,waren doch selbst nie dabei. Auch da-mals wurde schon viel gestritten und esgab dazu auch noch leere Stühle. DieEU-25 mag zwar ein noch komplexererVerein sein als ihre Vorgänger, aber anund für sich hat sich das eigentliche Po-litik-Machen nur unwesentlich geän-dert, mit der Ausnahme, dass das Ar-beitspensum, besonders der Ratspräsi-dentschaft, natürlich enorm gestiegenist. Aber sollte dieses Mehr an Arbeituns wirklich daran zweifeln lassen, dassdie Erweiterung zum 1. Mai 2004 einehistorische Notwendigkeit war?

Politische Studien: Ab 1.1.2007 wirdes 27 EU-Mitglieder geben, Rumänienund Bulgarien werden beitreten, das istbeschlossen. Zwangsläufig richtet sichder Blick nun auf die Türkei: Wie kannsich die Union in dieser Frage verant-wortungsbewusst und fair verhalten?

Jean-Claude Juncker: Indem sie genaudas tut, was sie bisher getan hat, näm-lich Abmachungen respektieren. Wirhaben der Türkei Beitrittsverhandlun-gen angeboten, nicht Partnerschaftsge-spräche, sondern Beitrittsverhandlun-gen. Und wir haben immer betont, dassdiese Verhandlungen, die schwierigsterNatur sind, lange dauern würden undnatürlich – wie könnte es bei Verhand-lungen anders sein – ergebnisoffen sei-en. Daran sollten wir uns halten.

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Ich glaube aber auch, dass die EU gutdaran täte, jetzt schon zu überlegen,wie man in Zukunft andere Schwellen-länder des geografischen Europa in deneuropäischen Integrationsprozess ein-bindet, ohne dass diese aber notwen-digerweise Vollmitglieder werden.

Politische Studien: Der zweite Bei-trittskandidat, Kroatien, ist nicht gera-de in einer beneidenswerten Situation:Neue Erweiterungsrunden lösen derzeitkeine Begeisterungsstürme aus. Bestehtdie Gefahr, dass Kroatien ausgebremstwird – nach dem Motto „mitgefangen,mitgehangen“?

Jean-Claude Juncker: Dieses Mottokann auf keinen Fall gelten. Kein Landkann der EU beitreten, wenn es die Be-dingungen für einen solchen Beitrittnicht erfüllt. Erfüllt es sie aber und hatdie EU diesem oder jenem Land dieMitgliedschaft angeboten, dann gibt eskein Zurück mehr, es sei denn, ein odermehrere EU-Mitgliedsstaaten verwei-gern dem Beitrittsvertrag ihre Zustim-mung.

Politische Studien: Neben der Erwei-terung war der Euro der zweite Epochemachende Einschnitt in den letzten15 Jahren. – Eine Erfolgsgeschichte, si-cherlich, aber bei vielen Bürgern nochimmer als „Teuro“ verschrien. Wasbraucht es, damit Europa den Euro end-lich schätzen lernt?

Jean-Claude Juncker: Ein Blick überden Tellerrand – oder die eigene Brief-tasche hinaus – würde eigentlich schongenügen. Man braucht sich eigentlichnur die Frage zu stellen, was mit dennationalen europäischen Währungenseit 1999 passiert wäre, wenn es denEuro nicht gegeben hätte. Ich behaup-

te, dass die Finanz- und Währungskri-sen in Asien, Russland oder der Türkei,die Anschläge des 11. September 2001oder der Golfkrieg 2003 die einzelneneuropäischen Währungen so starkunter Druck gesetzt hätten, dass einAuf- und Abwertungswettkampf derschlimmsten Sorte daraus gewordenwäre. Die gemeinsame Währung hatdie Europäische Union und die euro-päische Wirtschaft in einem Maße ge-schützt, das nicht hoch genug einzu-schätzen ist.

Zweitens: Der Euro gibt der Europäi-schen Union in globalen Finanz- undWirtschaftsfragen ein Gewicht, das 12oder bald 13 nationale Währungennicht leisten könnten. Der Vorsitzendeder Eurogruppe sitzt heute in den wich-tigsten finanz- und währungspoliti-schen Gremien der Welt und ist dortein gleichberechtigter Partner. Wir sindauf diesem Gebiet definitiv vom „glo-bal payer“ zum „global player“ aufge-stiegen, und damit eigentlich ein Vor-bild für das, was Europa zu leisten imStande ist, wenn es nur will.

Politische Studien: Trotz aller Ver-dienste der damals in Maastricht undDublin handelnden Akteure kam derEuro nicht von ungefähr. Schon 1972formulierte Ihr Landsmann und Amts-vorgänger Pierre Werner einen Vorläu-fer-Plan. Ebenfalls aus den Siebziger-jahren stammt der Bericht von Leo Tin-demans zu einer politischen Union,aus den Achtzigerjahren der erste „Ver-fassungsentwurf“ von Altiero Spinelli.Dieses europäische „Was lange währt,wird endlich gut“ – wird es auch fürden Verfassungsvertrag gelten?

Jean-Claude Juncker: Ich habe einmaleinen Satz formuliert, der mir in den

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Politische Studien-Zeitgespräch16

kämpferischen Zeiten rund um dieVerfassungsreferenden immer vorge-halten wurde als Beispiel antidemo-kratischen Verhaltens in der EU. DerSatz lautete: „Wir hängen etwas inden Raum und warten ab, was passiert.Gibt es dann kein großes Geschrei,machen wir einfach weiter, bis es keinZurück mehr gibt“. Das galt nicht fürdie institutionellen Entscheidungspro-zesse in der EU, sondern, um die vonIhnen angesprochenen Initiativen undPläne, um die Europäische Union aufihrem Integrationsweg vorwärts zubringen.

Was den Verfassungsvertrag betrifft,sehe ich sehr wohl, dass die Zukunfteinige Fragen beantworten wird, nurfehlt mir bisher die Eingebung, wie die-se Antworten aussehen könnten, auchwenn ich stringent der Meinung bin,dass die Substanz des Verfassungsver-trags erhalten werden muss. Es ist aberunabdingbar, dass die Länder, die denVerfassungsvertrag abgelehnt haben,als Erste die Initiative ergreifen müssenund den anderen erklären, was sie zutun gedenken. Aber das alles wird Zeitbrauchen. Bis dahin werden wir uns da-rauf konzentrieren müssen, die Euro-päische Union durch konkrete Projek-te und Aktionen in den Augen unsererBürger als bedeutend nützlicher er-scheinen zu lassen, als das bisher derFall ist.

Politische Studien: Wenn Sie einenBlick in die Zukunft wagen wollen: Wiewird Europa in 50 Jahren aussehen?Wo wird es in der Welt stehen?

Jean-Claude Juncker: Genau in derMitte. Zwischen Nord- und Südameri-ka im Westen, Russland und Asien imOsten und Afrika im Süden.

Politische Studien: Zuletzt zurück zumHandfesten: Als Routinier der europäi-schen Einigung – was raten Sie derdeutschen Ratspräsidentschaft, die am1. Januar 2007 beginnt?

Jean-Claude Juncker: Es steht mirnicht zu, Ratgeber der deutschen Rats-präsidentschaft zu sein. Nur so viel: Mitden niederländischen und französi-schen Wahlterminen im Frühling 2007werden dem deutschen EU Vorsitzknapp sechs Wochen verbleiben, umdie Verfassungsdebatte in die richtigenBahnen zu lenken. Ich habe der Bun-deskanzlerin deshalb ans Herz gelegt,sich möglichst bald mit den Spitzen-vertretern der Regierungs- und Opposi-tionsparteien in beiden Ländern zutreffen, um möglichst rasch die Pla-nungssicherheit in der Debatte zu be-kommen, ohne die es keine Debatte ge-ben wird. Das wird ein sehr schwierigesUnterfangen, besonders wenn man be-

Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker (r.) im Gespräch mit MarkusRuss, dem Leiter der Verbindungsstelle Brüsselder Hanns-Seidel-Stiftung.

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Politische Studien-Zeitgespräch 17

denkt, dass die französische Linke dia-metral entgegen gesetzte Standpunktein der Verfassungsfrage vertritt.

Politische Studien: Herr Premiermi-nister, wir danken Ihnen für dieses Ge-spräch.

Das Interview führte Markus Russ, Leiter der Verbindungsstelle Brüssel derHanns-Seidel-Stiftung e.V.

Anmerkung1 Den Bericht für die Staats- und Regierungs-

chefs des Europarats „Council of Europe –European Union. ‚A sole ambition for theEuropean continent‘“ hat PremierministerJuncker am 11. April 2006 der Parlamen-

tarischen Versammlung des Europaratsund damit der Öffentlichkeit vorgelegt. Erist zum Download verfügbar unter http://assembly.coe.int/Sessions/2006/speeches/20060411_report_JCJuncker_EN.pdf.

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Schwerpunktthema

China – Aufstrebende Machtin der Welt- und

Weltwirtschaftspolitik

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

Unter dem Titel „China – AufstrebendeMacht in der Welt- und Weltwirt-schaftspolitik“ beleuchtete die Akade-mie für Politik und Zeitgeschehen derHanns-Seidel-Stiftung Politik und Wirt-schaft des bevölkerungsreichsten Staa-tes der Welt in einer Expertenkon-ferenz, die in Kooperation mit derGesellschaft für Wehr- und Sicherheits-politik durchgeführt wurde. Ausge-wählte, überarbeitete Beiträge dieserVeranstaltung, in deren Mittelpunktneben der inneren Entwicklung desLandes insbesondere die Rolle Chinasin der Weltpolitik und in der Weltwirt-schaftspolitik standen, wurden in denSchwerpunkt der aktuellen PolitischenStudien aufgenommen und finden sichauf den folgenden Seiten.

Gottfried-Karl Kindermann widmetsich der historischen Dimension undspannt den Bogen vom kaiserlichenChina bis in die Gegenwart. Er resü-miert: „Befreit vom unermesslichenLeiden der chinesischen Bevölkerungdurch das totalitäre Mao-System(1949–1976) kann China die Welt-bühne des 21. Jahrhunderts mit demBewusstsein betreten, die Ziele derGründergeneration des modernen Chi-na – internationale Gleichberechti-gung und eine der Größe Chinas ange-

messene Weltrolle in Politik und Wirt-schaft – erreicht zu haben.“

Im Mittelpunkt des Beitrages von Mar-kus Taube steht die wirtschaftliche Ent-wicklung Chinas, die einem „Wirt-schaftswunder“ gleicht, zumal das Brut-toinlandsprodukt Chinas von 1978bis 2004 im Jahresdurchschnitt umüber 9% anstieg und sich insgesamt umdas Neunfache ausgedehnt hat. Taubezeigt, dass insbesondere wegen der er-heblichen Lohnkostenvorteile Chinasim Vergleich mit den EU-Staaten dieIntegration Chinas in die Weltwirt-schaft eine erhebliche Herausforderungfür Europa darstellt. Noch ernster seiallerdings eine Entwicklung zu neh-men, die sich erst seit kürzester Zeitmanifestiere: „rein chinesische Multi-nationale Konzerne, die Europas Un-ternehmen auf ihrem Heimatmarktbedrängen“.

Kay Möller korreliert die innere politi-sche und ökonomische EntwicklungChinas mit Pekings außenpolitischenStrategien und Möglichkeiten undkommt zu dem Ergebnis, dass der„Netzwerkstaat“ China eine „grund-sätzlich defensive“ Außenpolitik be-treibt. Möller zufolge bestehe kein An-lass, Deng Xiaopings Aufruf zur außen-

Einführung

Reinhard C. Meier-Walser

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Reinhard C. Meier-Walser20

politischen Zurückhaltung aus demJahre 1989 oder das seit 2004 in den au-ßenpolitischen Eliten Pekings disku-tierte Theorem vom „friedlichen Auf-stieg“ der Volksrepublik als gezielte Irre-führung zu verstehen. Allerdings nimmtder Autor die anhaltenden Drohgebär-den Pekings gegenüber der „abtrünni-gen Provinz“ Taiwan sehr ernst. Solltenämlich, so Möller, Chinas Wirtschafts-wachstum „stagnieren oder zurückge-hen und/oder das bisher zersplitterteLager der Modernisierungsverlierer ei-nen ideologischen und organisatori-schen Fokus finden, wäre Nationalis-mus die letzte Möglichkeit, die dem Re-gime bliebe, um seine Legitimitätvorübergehend wiederherzustellen“.

Junhua Zhang zieht sowohl eine Bilanzdes Aufstieges Chinas seit Beginn derwirtschaftlichen Öffnung im Jahre 1978als auch der politischen Reformen inden vergangenen drei Jahrzehnten. Da-bei kommt er u.a. zu dem Ergebnis,dass die 28-jährige Reform die Kom-munistische Partei Chinas nicht nurnicht geschwächt habe, sondern imGegenteil, sich die KP gerade durch dieReform „wesentlich gestärkt“ habe und„immer mehr Spielraum in der inter-nationalen Politik“ gewinne. Zwar sei-

en die Erfolge Chinas im Bereich derWirtschaft unbestreitbar, die sozialeSpaltung des Landes, das mangelndeSozialnetz und andere innere Proble-me trügen allerdings das Potenzial ei-ner gesellschaftlichen, sich bereits ineiner wachsenden Zahl von Demons-trationen offenbarenden Krise in sich,die die Zentralregierung in höchstemMaße alarmiere. Die Perspektiven fürdie langfristige Entwicklung Chinasverknüpft Zhang mit der Frage, ob esdem Land gelingen werde, innerhalbder nächsten zehn bis 15 Jahre einedreifache Transformation zu bewälti-gen. Erstens die Transformation einer„arbeitsintensiven, energieverschwen-derischen, umweltzerstörenden Wirt-schaft in eine High-Tech orientierte,sparsame und umweltfreundliche Wirt-schaft“; zweitens die Transformationdes bislang nur rund ein Zehntel derBevölkerung sichernden Sozialsystemsbzw. den Aufbau eines funktionsfä-higen und flächendeckenden Sozial-netzes und drittens die Transformationder Ideologie, wozu auch außerpartei-liche Kräfte wie etwa die Religionen(Christentum, Buddhismus, Taoismus),bei denen die Menschen „seelischeAusgeglichenheit finden“, benötigtwürden.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

1. Tragik und Untergang deskaiserlichen Chinas

Sich mit der neueren Geschichte Chi-nas zu befassen ist insofern von prakti-scher Bedeutung als es sich bei den Chi-nesen um eines der geschichtsbewuss-testen Völker der Erde handelt. AmAnfang seiner Beziehungen mit demWesten steht für China ein echter „Zu-sammenprall der Kulturen“, ein „clashof civilization“ wie unser Harvard Kol-lege Samuel Huntington es in einemseiner Bücher formulierte. Denn alsFolge der industriellen Revolution ste-hen die Westmächte vor der Mitte des19. Jahrhunderts vor den Toren Chinasund fordern energisch Zugang zu denAbsatzmärkten und Rohstoffen diesesvolkreichsten Staates der Erde. Dochdas vormoderne China, das sich selbstals Mittelpunkt der Weltkultur undWeltpolitik und seinen Kaiser als soge-nannten „Sohn des Himmels“ und als„Herrscher aller Herrscher“ betrachtet,lehnt alle Westkontakte schroff ab.

Sich gegenseitig aufstauende Spannun-gen eskalieren zur Krise und ab 1840 zuGroßbritanniens berüchtigtem „Opi-umkrieg“, als Chinas Regierung um-fangreiche, aber illegale, britische Opi-umverkäufe an Konsumenten in ganzChina entdeckt und bekämpft. China,das den Krieg verliert, muss Hong Kongabtreten und sein Land zwangsweisefremden Einflüssen öffnen. In einemzweiten Opiumkrieg marschieren Eng-länder und Franzosen 1860 erstmals inPeking ein, während Russland dem argbedrängten China gleichzeitig riesigeGebiete nördlich des Amurflusses ent-reißt. Frankreich und Japan führen da-nach zwei weitere Kriege, um ChinasOberhoheit über Vietnam und Koreazu brechen. Taiwan fällt 1895 an Japan.

Als Deutschland 1897 von China dasPachtgebiet von Jiaozhou erwirbt, be-nützen das Russland, Großbritannienund Frankreich als Vorwand um China– kompensatorisch – jeweils strategischwichtige Gebiete zu entreißen. Ein

Geschichtliche Hintergründechinesischer Außenpolitik

Gottfried-Karl Kindermann

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Gottfried-Karl Kindermann22

ebenso schuldloses wie hilfloses undgedemütigtes China verliert so durchden Konkurrenzimperialismus der In-dustriemächte innerhalb nur wenigerMonate fünf strategisch wichtige Ge-biete.

Angesichts solcher Zustände formuliertein chinesischer Gelehrter zwei Fragen,die sich wie ein roter Faden durch allePhasen nachfolgender chinesischerGeschichte ziehen. Frage Eins: „Wiekommt es, dass jene fremden Mächteso viel kleiner und doch so viel stärkersind als wir?“, Frage Zwei: „Was kön-nen wir tun, um China stark zu ma-chen, um ihm in dieser Welt einen ihmangemessenen Platz und Einfluss zuverschaffen?“ In allen Phasen seitheri-ger chinesischer Geschichte wurdenvon chinesischen FührungskräftenAntworten auf diese Fragen gesucht.

Angestaute Wut und Verzweiflung ex-plodiert im Sommer 1900 zum soge-nannten Boxer-Aufstand chinesischerGeheimgesellschaften, denen sich diekaiserliche Regierung anschließt. Zieldes Aufstandes ist die Beseitigung dermit Gewalt errichteten wirtschaftli-chen, politischen, kulturellen und ter-ritorialen Vorrechte der Fremdmächteauf chinesischem Boden und die Be-wahrung chinesischer Kultur. So ent-steht ein neuer „clash of civilizations“.Alle Weißen und chinesischen Chris-ten, die den sogenannten Boxern in dieHände fallen, werden grausam ermor-det, Kirchen der Fremden werdenniedergebrannt, ihre Fabriken zerstörtund ihre Gesandtschaften in Pekingwerden wochenlang in einem tägli-chen Kampf auf Leben und Tod vonden Boxern belagert. Der Aufstandführt zur bewaffneten Intervention ei-ner riesigen Koalition von Industrie-

mächten, die China gewaltige Repara-tionen aufbürden.

2. Die Republik China in derÄra der Revolution und desWiderstandskrieges

Allerdings wird 1905 in Tokio – im Ge-heimen – der Chinesische Revolutions-bund gegründet. Sein Führer und Ideo-loge ist Dr. Sun Yat-sen (1866–1925).Als Ziele des Bundes und seiner späte-ren Partei der Kuomintang (NationaleVolkspartei) bestimmt Sun: den Sturzder korrupten Ch’ing-Dynastie; dieGründung einer demokratischen Repu-blik; gewaltlose Sozialreformen, insbe-sondere eine Bodenreform und die Be-freiung Chinas von den kolonialenVorrechten fremder Mächte. Mit dieserBewegung beginnt das moderne Chi-na! Ihre demokratische Revolution von1911 stürzt das Kaiserhaus, Sun Yat-senproklamiert die Republik China unddiese erlebt anderthalb Jahre lang einedemokratische Regierung. Doch einStaatsstreich verwandelt China schon1913 in eine Militärdiktatur.

Nach dem Tod des Diktators Yüan Shi-k’ai beginnt in China zwischen 1917und 1928 eine Ära chaotischer Anar-chie. Denn die Zentralregierung wirdmachtlos und in den Provinzen ent-steht eine Vielzahl regionaler Militär-diktaturen, die gegeneinander Bürger-kriege führen.

Ausgehend von der südlichen ProvinzGuandong plant Sun Yat-sen die Wie-dervereinigung Chinas. Aus der Sow-jetunion erhält er hierfür Waffen, Bera-ter und Geld und gründet mit derWhampoa-Militär-Akademie bei Kan-ton die Kaderschmiede eines moder-

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Geschichtliche Hintergründe chinesischer Außenpolitik 23

nen chinesischen Offizierkorps. Derenerster Kommandant ist Chiang Kai-shek. Auch toleriert Sun Yat-sen die an-fangs noch kleine KommunistischePartei Chinas als Hilfsorganisation sei-ner Partei der Kuomintang (NationaleVolkspartei).

Ein Jahr nach Sun Yat-sens Tod beginntsein Nachfolger Chiang Kai-shek 1926einen Feldzug zur WiedervereinigungChinas mit Stoßrichtung Peking. Un-terwegs kommt es in Schanghai zu ei-nem blutigen Machtkampf zwischenNationalisten und Kommunisten. Es istder Beginn des längsten Bürgerkriegesder modernen Geschichte. Zwei Jahrespäter rückt Chiang Kai-shek in Pekingein und gründet eine neue national-chinesische Regierung mit der Haupt-stadt Nanjing (Nanking). Diese Stadtbleibt Chinas de jure Hauptstadt von1928–1949.

Zwar ist China oberflächlich wieder-vereinigt, doch seine neue Regierunghat drei machtvolle Feinde: die chine-sischen Kommunisten, aufsässige Pro-vinzmachthaber und die Japaner, die1931/32 Nordostchina – genannt Man-dschurei – erobern und zu einem Satel-litenstaat umwandeln.

1937 beginnt Japan seinen achtjähri-gen Aggressionskrieg gegen China. DerKrieg schwächt dessen Regierung,stärkt aber die chinesischen Kommu-nisten, deren Vernichtung vor demKrieg bevorzustehen schien. Zwar si-chern Chinas westliche Verbündetediesem einerseits einen Großmachtsta-tus in den Vereinten Nationen zu, an-dererseits zwingen sie China im gehei-men Drei-Mächte-Diktat von Jalta1945 dazu, der Sowjetunion vormaligeRechte und Stützpunkte des zaristi-

schen Imperialismus in Nord-Chinaabzutreten. Mit diesem Betrug an Chi-na erkaufen die Westmächte Stalins Be-teiligung am Krieg gegen Japan.

3. China seit der Macht-ergreifung Mao Tse-Tungs

Unmittelbar nach Kriegsende flammtder Bürgerkrieg in China erneut auf.Ihn gewinnen nach mehr als vier Jah-ren Mao Tse-Tungs Kommunisten, dieim Oktober 1949 die VolksrepublikChina proklamieren. Chiang Kai-shekhingegen gelingt es, sich mit der natio-nalchinesischen Regierung, mit seinerPartei, dem Parlament und Teilen derStreitkräfte auf die Insel Taiwan zu-rückzuziehen, von dort aus den Wider-stand gegen die Maoisten fortzusetzenund den Sitz für ganz China in derUNO bis 1971 zu behalten.

In den von Nord-Korea initiierten Ko-reakrieg tritt Peking überraschend ein,nachdem die U.N.-Streitkräfte der USAfast ganz Nord-Korea erobert hattenund Pekings Warnungen in Washing-ton unbeachtet geblieben waren. Einheute noch geltender Waffenstillstandbeendet den Krieg 1953 mit einemmachtpolitischen „Unentschieden“.Korea bleibt wie zuvor geteilt. AlsChina im Jahr darauf bei der Genfer In-dochina Konferenz sein diplomati-sches Debüt feiert, erklärt sein Premierund Chefdiplomat Zhou Enlai (ChouEn.lai), künftig dürfe es in der interna-tionalen Politik Ostasiens keine Prob-lemlösung ohne Beteiligung Chinasgeben. Gleichzeitig aber schließen dieUSA mit Nationalchina auf Taiwan1954 ein Defensivbündnis und unter-stützen Taiwan materiell bei der Ab-wehr chinesischer Offensiven gegen

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nationalchinesische Küsteninseln. DochPekings Streitkräfte erzielen beeindru-ckende Erfolge, als sie Indien im in-disch-chinesischen Grenzkrieg von1962 alle strategischen Pässe zwischenbeiden Ländern entreißen können. ImJahr zuvor hatte Peking eine Volkser-hebung in Tibet niedergeschlagen,während das weltliche und geistlicheOberhaupt Tibets, der Dalai Lama,nach Indien flüchten musste.

Vor dem Hintergrund seines welt-weiten Konflikts mit Moskau greiftPeking ein Jahrzehnt später gern dieüberraschenden Entspannungsinitia-tiven des U.S.-Präsidenten RichardNixon auf und der zwischen den USAund China bestehende Kalte Kriegfindet Anfang der Siebzigerjahre einfrühes Ende. Nixons Initiative wardurch Amerikas hoffnungslose Verstri-ckung in den Vietnamkrieg bewirktworden.

Endlich kann Peking die Vertretungganz Chinas in den Vereinten Natio-nen übernehmen. Zuvor gelang denChinesen trotz nur anfänglich gewähr-ter, doch später verweigerter, sowjeti-scher Hilfe 1964 Atombomben und1967 Wasserstoffbomben zu erproben.China befindet sich damit auf demWege zur Großmacht.

Als U.S.-Präsident Jimmy Carter dieVollnormalisierung der diplomatischenBeziehungen zwischen den USA undChina vorschlägt, stellt Peking – ohneeigene Gegenleistung – drei Forderun-gen, denen Washington sich beugt, da-runter die Forderung eines Abbruchsder diplomatischen Beziehungen undKündigung des Bündnisvertrages mitTaiwan. Am 15. Dezember 1978 erklä-ren Washington und Peking die Voll-

normalisierung ihrer diplomatischenBeziehungen.

Starke Kritik an diesem präzedenzlosenUmgang mit Taiwan in beiden Häuserndes U.S. Kongresses führt dort vier Mo-nate später – und entgegen dem Willendes Präsidenten – zum Taiwan Relati-ons Act, einer staatsrechtlichen Selbst-verpflichtung der USA, den Schutz Tai-wans vor Gewaltanwendung zu ihremnationalen Interesse zu erklären undTaiwan weiterhin Defensivwaffen zuliefern.

Angesichts der militärischen Erobe-rung Kambodschas, eines quasi Verbün-deten Pekings, durch Vietnam 1978und auch motiviert durch territorialeStreitigkeiten, führten Streitkräfte derVolksrepublik China 1979 einen so-genannten „Straffeldzug“ gegen Viet-nam durch, der aber dank der Härte desvietnamesischen Widerstandes nur we-nig erfolgreich verlief. Zehn Jahre spä-ter gelang es China, 1989 anlässlicheines Gorbatschow-Besuchs in Peking– nach drei Jahrzehnten eines intensi-ven Konflikts mit Moskau – nicht nurdie Vollnormalisierung der beiderseiti-gen Beziehungen zu erreichen, sondernauch drei Forderungen ohne Gegen-leistung durchzusetzen. Dazu gehörtender Rückzug der Sowjets aus dem be-nachbarten Afghanistan und die Ein-stellung sowjetischer Hilfe für Viet-nams Hegemonialpolitik in Indochina,was wesentlich zur nachfolgenden Be-freiung Kambodschas unter U.N.-Man-dat beigetragen hat.

Mit der 1997 vollzogenen RückgabeHongkongs an China schließt sich einegewaltige Kette von Ereignissen, diemit der gewaltsamen AufbrechungChinas durch den Kolonialimperialis-

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Geschichtliche Hintergründe chinesischer Außenpolitik 25

mus 1840 begann, China durch Phasenkrasser Unterdrückung und Ausbeu-tung sowie durch Jahrzehnte der Revo-lution bis zum Gewinn eigener Initiati-ven und der Erlangung eines Groß-machtstatus vor der Jahrhundertwendegeführt hat.

Drei große Mächte – Russland, Japanund die USA – hatten im 20. Jahrhun-dert jeweils vergeblich versucht, Chinaim Zeichen eigener Vorstellungen um-zugestalten. In den Zwanzigerjahrenwar es Stalins Vorstoß zur Umfunktio-nierung der chinesischen Revolution,der an Chiang Kai-shek und der Kuo-mintang gescheitert war. Japan errich-tete in China mehrere Satellitenre-gierungen, doch gelang es ihm nicht,Unterstützung und Vertrauen seitensdes chinesischen Volkes zu gewinnen.Auch Präsident Truman und General

Marshall, die 1946 versuchten, Chinadurch eine Mischung von Überredung,materieller Hilfe und politischem Druckim amerikanischen Sinn zu demokra-tisieren, erlebten einen herben Fehl-schlag ihrer Bemühungen. Alle dreiMächte – die Sowjetunion, Japan unddie USA – sind an den Realitäten undMentalitäten chinesischer Politik ge-scheitert.

Befreit von den unermesslichen Leidender chinesischen Bevölkerung durchdas totalitäre Mao-System (1949–1976)kann China die Weltbühne des 21.Jahrhunderts mit dem Bewusstsein be-treten, die Ziele der Gründergenerationdes modernen China – internationaleGleichberechtigung und eine der Grö-ße Chinas angemessene Weltrolle inPolitik und Wirtschaft – weitgehend er-reicht zu haben.

LiteraturhinweiseHsü, Immanuel: The Rise of Modern China,Oxford/New York 1990.Kindermann, Gottfried-Karl: Der AufstiegOstasiens in der Weltpolitik 1840–2000,Stuttgart/München 2001.

Spence, Jonathan: Chinas Weg in dieModerne, München 1990.Weggel, Oskar: Geschichte Chinas im20. Jahrhundert, Stuttgart 1989.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

1. Einführung

Als Deng Xiaoping Ende der 1970er-Jahre den grundsätzlichen Bruch mitdem maoistischen Entwicklungsmo-dell einleitete und die chinesische Volks-wirtschaft auf einen Kurs der marktori-entierten Systemtransformation undweltwirtschaftlichen Integration lenk-te, gehörte China noch zu den am we-nigsten in einem grenzübergreifendenAustausch stehenden Volkswirtschaf-ten der Welt. Politisch sowohl von demsowjetischen Block als auch der westli-chen Welt isoliert fehlten die politi-schen und institutionellen Grundlagenfür eine intensivere Einbindung in dieinternationale Arbeitsteilung. Grenz-überschreitende Investitionstätigkei-ten waren eine mehr oder minder un-denkbare Fiktion und auch die Außen-handelsvolumina verharrten auf einemminimalen Niveau. In dem seitdemvergangenen Vierteljahrhundert hatsich diese Konstellation grundlegendverändert. Die VR China ist heute nichtnur die drittgrößte Handelsnation derErde und wichtigste Zielregion für inEntwicklungsländer gerichtete Direkt-investitionen. Bedingt durch die exor-bitante Masse der in der chinesischenVolkswirtschaft verfügbaren, aber bis-lang nur unzureichend in die weltwirt-

schaftliche Arbeitsteilung integriertenProduktionsfaktoren (Chinas Bevölke-rung im erwerbsfähigen Alter beläuftsich derzeit auf 900 Millionen Men-schen) und die gewaltigen Nachfrage-volumina, die seitens Chinas neu aufdem Weltmarkt artikuliert werden, istChina auch zu einer im Sinne der Wirt-schaftswissenschaft ‚großen‘ Nation inder Weltwirtschaft aufgestiegen, diemit ihrem Angebots- und Nachfrage-verhalten Einfluss auf die relativenPreisstrukturen nimmt, die Richtungund Intensität von Güter- und Kapital-strömen mitbestimmt und letztlichauch auf der UnternehmensebeneMarktstrukturen und Wettbewerbskon-stellationen entscheidend mitgestaltet.Die Dynamik des wirtschaftlichen Auf-schwungs in China und seine rapideIntegration in die globalen Märkte er-zwingt somit weit reichende struktu-relle Wandlungsprozesse in der Welt-wirtschaft, denen sich Europa nichtentziehen kann. Im Folgenden sollendaher zunächst einige Eckdaten derEinbindung Chinas in die Weltwirt-schaft dargestellt werden (2.), bevor inKapitel 3 dann die konkreten Heraus-forderungen an Europa thematisiertwerden. Eine resümierende Schlussbe-trachtung schließt die Ausführungenunter Punkt 4 ab.

Die VR China als aufstrebendeMacht in der Weltwirtschaft:

Herausforderungen an Europa

Markus Taube

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Die VR China als aufstrebende Macht 27

2. Eckdaten der IntegrationChinas in die Weltwirtschaft

Die chinesische Volkswirtschaft hat inden vergangenen 25 Jahren einen ein-zigartigen Wachstums- und Entwick-lungsprozess durchlaufen. Zwischen1978 und 2004 ist das Bruttoinlands-produkt im Jahresdurchschnitt umüber 9% angestiegen und hat sich umdas Neunfache ausgedehnt. Der indus-trielle Output ist während des gleichenZeitraums Jahr für Jahr um durch-schnittlich über 11% angestiegen. 2004war der industrielle Output so gut vier-zehnmal größer als 1978. Dieses ‚Wirt-schaftswunder‘ wäre ohne die konse-quent betriebene, umfassende Integra-tion Chinas in die Weltwirtschaft nichtmöglich gewesen. Gleichzeitig ist esaber auch genau diese intensive Ein-bindung, die den ‚China-Faktor‘ heutezu einer entscheidenden Strukturdeter-minante der Weltwirtschaft macht.

2.1 Kapitalströme

Obwohl der bei weitem überwiegendeAnteil der in der Weltwirtschaft zu be-obachtenden grenzüberschreitendenDirektinvestitionen zwischen den etab-lierten Industriestaaten und hier insbe-sondere den europäischen und nord-amerikanischen Volkswirtschaften be-wegt wird, weist China als Zielregioneine im internationalen Vergleich sehrbeachtliche Anziehungskraft auf (vgl.Tabelle 1). Seit Anfang der 1990er-Jah-re absorbiert China 20–25% aller inEntwicklungsländer strömenden Di-rektinvestitionen und ein Mehrfachesder in den gesamten Kontinent Afrikaeinfließenden Direktinvestitionen. Essichert sich somit im internationalenVergleich einen überproportional ho-hen Anteil an den mit Direktinvestitio-nen (potenziell) transferierten Wachs-tumsimpulsen für den eigenen Ent-wicklungsprozess.

Tabelle 1: Anteile ausgewählter Länder und Regionen an den weltweitenDirektinvestitionen, 2004

Quelle: UNCTAD (2005): World Investment Report 2005, New York – Geneva.

Zustrom nach Zielländern Bestand nach Zielländern

Welt648 Mrd. US$

100%8.895 Mrd. US$

100%

EU 33,33% 45,24%

USA 14,81% 16,57%

Japan 1,23% 1,09%

VR China 9,41% 2,75%

Hongkong 5,25% 5,14%

Taiwan 0,31% 0,44%

Indien 0,77% 0,44%

Brasilien 2,78% 1,70%

Afrika 2,78% 2,46%

EL ohne VR China 26,70% 22,27%

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Markus Taube28

Als Herkunftsland von ausländischenDirektinvestitionen ist China in derVergangenheit kaum in Erscheinunggetreten. Die Ursachen hierfür lagensowohl in wirtschaftspolitischen Er-wägungen als auch unternehmeri-schen Defiziten. WirtschaftspolitischeEntscheidungsträger implementiertenstrenge Kontrollen und enge Ober-grenzen für ausländische Investitio-nen, um einen Abfluss knapper Devi-sen zu vermeiden. Der Unternehmens-sektor demgegenüber hatte nicht diegeeigneten Geschäftsmodelle und ver-fügte zudem über nur unzureichendeManagementkapazitäten, um derartigeEngagements einzugehen. In beidenDimensionen zeichnet sich derzeit eineradikale Trendumkehr ab. Die chinesi-sche Regierung sieht mittlerweile mul-tinational agierende chinesische Un-ternehmen als ein wichtiges Mediumzur Verfolgung chinesischer Interessenin der Weltgemeinschaft und fördertvon daher explizit die grenzüberschrei-tenden Expansionspläne chinesischerGroßkonzerne. Die chinesischen Un-ternehmen wiederum beginnen sichvon ihrer Abhängigkeit von ausländi-schen Akteuren zu lösen, die bislangnicht nur die technologische Führunginnehatten, sondern auch mittels glo-bal aufgestellter Markenstrategien dieVertriebsseite beherrschten. Hier sindnun chinesische Unternehmen dabei,eine Bresche in die ausländische Domi-nanz zu schlagen. Unternehmungenwie CNOOC (Erdölexploration), Haier(Weiße Ware), Huawei (Telekommuni-kationsausrüstungen), Lenovo (Com-puter), Li Ning (Sportmode), SAIC(Automobile) oder TCL (Video-, Audio-geräte) bilden die Avantgarde eigen-ständiger multinationaler Großkonzer-ne aus der VR China, die auf die Welt-märkte drängen und sich anschicken,

die diese beherrschenden Oligopol-strukturen aufzubrechen. Während chi-nesische Direktinvestitionen im Aus-land bislang noch im niedrigen ein-stelligen Milliardenbereich verharrten,könnten diese nun bis zum Jahr 2010auf einen Wert von 60 Mrd. US$/Jahrhinauf schnellen – was genau den Vo-lumina entspräche, die derzeit in Formvon Direktinvestitionen nach Chinaeinströmen.

Der nicht von unmittelbaren unterneh-merischen Motiven unterlegte grenz-überschreitende Kapitalverkehr wird inerster Linie von der Anlage chinesi-scher Zahlungsbilanzüberschüsse inSchatzbriefen der wichtigsten Weltwäh-rungen geprägt. Mit Devisenreservenvon mehr als 800 Mrd. US$ und mo-natlichen Zuwächsen von ca. 20 Mrd.US$ im Jahr 2005 ist die VR China ei-ner der wichtigsten Akteure bei derarti-gen Aktivitäten – kann im Gesamtkon-zert der internationalen Devisenbewe-gungen aber dennoch keinen größerenEinfluss bzw. Druck auf andere Akteureoder Währungsentwicklungen aus-üben. Andere Portfolio-Kapitaltransfersunterliegen sowohl auf der ein- alsauch der ausgehenden Seite strengerstaatlicher Reglementierung und sindvom Volumen her unbedeutend.

2.2 Güterströme

Nicht zuletzt dank ausländischer In-vestoren, die es im Gegensatz zu denchinesischen Planträgern vermocht ha-ben, die in der chinesischen Volkswirt-schaft verfügbaren Produktionsfak-toren in Einsatzgebiete zu lenken, diesowohl den komparativen Kostenvor-teilen Chinas entsprechen als auch denglobalen Nachfragestrukturen folgen,

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Die VR China als aufstrebende Macht 29

ist die VR China innerhalb weniger Jah-re zu einer der führenden Welthan-delsnationen aufgestiegen (vgl. Tabel-le 2). In einzelnen Gütergruppen ist

China heute zu dem dominierendenAnbieter respektive Nachfrager in derWeltgemeinschaft avanciert (vgl. Ta-belle 3).

Tabelle 2: Die größten Handelsnationen, 2004

Quelle: World Trade Organization (2005): International Trade Statistics 2005, Geneva.

Tabelle 3: Chinas Einbindung in den Welthandel– Strukturelle Charakteristika von Exporten & Importen

* Alle ‚Anteile am Welthandel‘ berechnet auf der Grundlage ‚Welthandel inklusive intra-EU-25 Handel‘

** Jährliche Veränderung 2003–2004Data: WTO (verschiedene), eigene Berechnungen.

China – Exporte China – ImporteWert2004,

Mrd. US$

Anteilam Welt-handel,2004*

JährlicheVerände-rung in %

2000–2004

Wert2004,

Mrd. US$

Anteilam Welt-handel,2004*

JährlicheVerände-rung in %

2000–2004

Alle Waren 593.30 6.5 35** 561.20 5.9 36**

LandwirtschaftlicheProdukte 24.12 3.1 10 42.28 5.1 21

Industrielle Produkte 542.40 8.3 25 428.30 6.3 26Eisen & Stahl 13.88 5.2 33 23.39 8.2 25Chemische Produkte 26.36 2.7 21 65.47 6.5 21– Pharmazie 3.23 1.3 16 1.90 0.8 19– And. chem. Prod. 23.13 3.2 39** 63.57 8.4 35**Bürogeräte & TelekomAusrüstungen 171.80 15.2 41 128.70 11.2 30

– Geräte z. elek. Daten-verarbeitung & Büro-ausrüstungen

87.10 20.7 47 29.60 6.9 29

– Telekom Ausr. 68.50 17.9 37 24.60 6.3 19– Integrierte Schalt-

kreise & Elektron.Komponenten

16.20 4.9 32 74.50 22.4 37

Güter d. Automobil-Industrie 6.27 0.7 41 14.43 1.7 40

Textilien 33.43 17.2 20 15.30 7.4 5Bekleidung 61.86 24.0 14 1.54 0.6 7

Export 2004 Import 2004Mrd. US$ % Mrd. US$ %

Deutschland 914,8 10,0 USA 1.526,4 16,1USA 819,0 9,0 Deutschland 717,4 7,6China 593,4 6,5 China 561,4 5,9Japan 565,5 6,2 Frankreich 464,1 4,9Frankreich 451,0 4,9 Ver. Königreich 462,0 4,9

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Markus Taube30

Bereits 2004 rangierte die VR China aufRang drei der globalen Rangliste, steu-ert mit Wachstumsraten von weiterhin20–30% aber direkt auf eine noch grö-ßere relative Bedeutung hin. Relati-vierend muss allerdings darauf hinge-wiesen werden, dass der chinesischeAußenhandel zu über 50% aus Lohn-veredelungsgeschäften besteht. Lohn-veredelungsgeschäfte sind dadurch cha-rakterisiert, dass zunächst Halbpro-dukte importiert werden, diese dann– zumeist in arbeitsintensiven Prozes-sen – weiterverarbeitet und die produ-zierten Endprodukte schließlich wiederexportiert werden. Die in China selbstrealisierte Wertschöpfung beläuft sichim Durchschnitt auf lediglich 25–30%des Endproduktwertes.

Dieses Phänomen des Lohnverede-lungshandels ist einerseits Ausdruckder Einbindung Chinas in den Ost- undSüdostasiatischen Wirtschaftsraum undwirft andererseits ein wichtiges Schlag-licht auf die Evidenz extrem hoherbilateraler HandelsbilanzüberschüsseChinas mit der Europäischen Unionund den USA im Besonderen. China istin den vergangenen zehn Jahren in-tensiv in die arbeitsteiligen Strukturender Region eingebunden worden undheute in viele produktspezifische Wert-schöpfungsprozesse (Computer, Klei-dung, Schuhe, elektronische Haus-haltsgeräte, etc.) integriert. Dabei wer-den in China heute oftmals die letztenProduktionsstufen abgewickelt, bevordie Güter an die Endabnehmer ver-sandt werden. Die VR China bildet so-mit die Schnittstelle zwischen demasiatischen Produktionsverbund undden Endkunden in Europa und denUSA. Zahlungsbilanztechnisch bedeu-tet dies, dass diese Exportgüter voll alschinesische Exporte gezählt werden,

obwohl in China selbst nur ein ver-gleichsweise kleiner Anteil der Wert-schöpfung generiert wurde, und dieanderen Staaten des asiatischen Pro-duktionsverbundes nicht aufscheinen.China akkumuliert somit Zahlungs-bilanzüberschüsse gegenüber Europaund den USA, die aber letztlich imgesamten Ost- und SüdostasiatischenWirtschaftsraum generiert werden. DieDebatte um die als ‚exzessiv‘ gebrand-markten Exportüberschüsse Chinas ge-genüber den USA erhält somit eineganz neue Qualität. Zwar hat die VRChina in den vergangenen zwei Jahr-zehnten ihren Anteil an den US-ameri-kanischen Handelsbilanzdefiziten von0 auf 24% ausgeweitet, betrachtet manjedoch die Volkswirtschaften Hong-kongs, Japans, Koreas, Taiwans und derVR China als einen integrierten Pro-duktionsverbund, so ist dessen Anteilam Handelsbilanzdefizit der USA wäh-rend des gleichen Zeitraums von 52 auf40% zurückgegangen.

Im Kontext der raschen Einbindungder VR China in die Weltwirtschaftsind von der chinesischen Volkswirt-schaft in den vergangenen Jahren be-deutsame Impulse für eine Verände-rung der in der Weltwirtschaft an-liegenden relativen Preisstrukturenausgegangen. Besondere Medienbeach-tung haben dabei die Steigerung derKupfer- und Eisenerzpreise um hohezwei- bis dreistellige Prozentwerte, dieVervierfachung der Frachtraten fürMassengutfrachtschiffe innerhalb ei-nes Jahres, u.a. erlangt. Diese Preisphä-nomene dürfen aber nicht über einenKamm geschoren werden, sondernmüssen in drei Typen unterteilt wer-den, die sehr unterschiedlich Impli-kationen für die Weltwirtschaft auf-weisen:

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Die VR China als aufstrebende Macht 31

• Preissteigerungen basierend auf ei-ner durch das interne chinesischeWachstum hervorgerufenen Netto-Zunahme der globalen Nachfrage.Derartige Preissteigerungen sind zu-meist langfristiger Natur. Sie beru-hen auf einer durch die rasante Ver-größerung der chinesischen Volks-wirtschaft hervorgerufenen absolu-ten Ausweitung der auf den globalenMärkten auftretenden Nachfragenach Gütern wie z.B. Bauxit, Ei-senerze und Erdöl, der nicht durcheine entsprechende Ausweitung aufder Angebotsseite begegnet werdenkann.

• Preissteigerungen basierend auf kurz-fristigen Nachfrageschwankungenim Zuge von Produktionsverlage-rungen nach China bzw. nachlau-fendem Kapazitätsaufbau ohne subs-tanzielle Verschiebungen der Ange-bots-/Nachfragekonstellation. In die-se Kategorie fallen Güter wie z.B.Kupfer, für das im Zuge der Verlage-rung großer Teile der globalen Pro-duktion elektronischer Geräte nachChina ein enormer Nachfragezu-wachs aus China zu beobachten ist.Hauptabnehmer derartiger elektro-nischer Geräte und deren integrier-ten Kupferelemente bleiben die etab-lierten Triademärkte, der Netto-Nachfragezuwachs aus China selbstbleibt demgegenüber gering, sodassdie inflationären Preisaufschlägemit dem Abbau konkurrierenderProduktionsstätten andernorts wie-der zurückkommen sollten. Bei che-mischen Grundstoffen, für die in derchinesischen Volkswirtschaft gewal-tige Nachfragezuwächse zu verzeich-nen sind, sind derartige inflationärePreisausschläge demgegenüber durcheinen zeitlich versetzten Aufbau neu-er Produktionskapazitäten bedingt.

• Preissenkungen auf Grund der Er-schließung neuer kostengünstigerProduktionsfaktoren in China. Vonder Einbindung der chinesischenVolkswirtschaft und ihres Heeres anbislang nicht produktiv in das Wirt-schaftsgeschehen integrierten Pro-duktionsfaktoren in die Weltwirt-schaft gehen auch massiv Preis sen-kende Impulse aus. Dies betrifft z.B.die Textil- und Bekleidungsindus-trie, die Produktion von Compu-tern, Fernsehgeräten und Bildschir-men und elektronischen Gerätenund Büroausstattungen. Angesichtsdes auch weiterhin hohen Maßes anUnterauslastung und Unterbeschäf-tigung in China, dürften diese de-flationären Effekte auch in abseh-barer Zukunft Bestand haben. Teil-weise bleiben diese deflationärenImpulse allerdings durch protektio-nistische Maßnahmen für die End-kunden in Europa und den USA un-erreichbar, wie zuletzt geschehen imFalle der von Lobbyisten betriebe-nen Wiedereinführung von Quotenauf Textil- und Kleidungseinfuhrenaus China.

2.3 Unternehmen und Markt-strukturen

Der von China ausgehende Druck zuglobalem Strukturwandel beschränktsich aber nicht auf volkswirtschaftlicheParameter, sondern tangiert auch dieunternehmerische Substruktur der Welt-wirtschaft. China ist heute (wie dar-gestellt) keineswegs mehr ein passiverAkteur, der von einer von ausländi-schen Konzernen betriebenen Verlage-rung von Produktionsprozessen in dasLand profitiert. Eine wachsende Anzahlvon chinesischen Unternehmen ist

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Markus Taube32

mittlerweile dabei, mit eigenen Direkt-investitionen im Ausland ihre Ge-schäftstätigkeit auf eine eigenständigemultinationale bzw. globale Basis zustellen. Tatsächlich dürfte diese geradeerst beginnende aktive Eroberung desWeltmarktes durch chinesische Unter-nehmen in den nächsten Jahren diewichtigste Herausforderung für dieetablierten globalen Wettbewerbs- undOligopolstrukturen darstellen. Dabeisind die ersten chinesischen Akteurebereits heute voll auf den Weltmärktenengagiert: Der Haushaltsgeräteherstel-ler Hai’er ist mit seinen Produkten be-reits fest in Südostasien und Nordame-rika etabliert; der ElektronikkonzernTCL hat bereits die deutsche SchneiderElectronics Gruppe akquiriert und2004 die DVD- und TV-Sparte der fran-zösischen Thomson Electronics Grup-pe übernommen; ComputerherstellerLenovo hat Anfang 2005 die PC-Spartevon IBM erworben und der Automo-bilkonzern SAIC hat das Ziel ins Augegefasst, innerhalb von 15 Jahren zu derSpitzengruppe der global führendenAutomobilkonzerne aufzuschließenund den französischen Anbieter Re-nault in der globalen Führungsriege ab-zulösen.

3. Chinas Herausforderung anEuropa

Von der umfassenden Einbindung Chi-nas in das Netz der internationalenArbeitsteilung und der hiermit ein-hergehenden rapiden Steigerung derquantitativen wie qualitativen Leis-tungsfähigkeit der chinesischen Volks-wirtschaft geht substanzieller Verände-rungsdruck auf die etablierten Wirt-schaftsstrukturen Europas aus. Dieeinzelnen Regionen, Industriebranchen,

Unternehmungen und Einkommens-bezieher sehen sich dabei allerdingsmit sehr differenzierten konkreten He-rausforderungen konfrontiert.1

Angesichts der großen Lohnkostenvor-teile, die China nicht nur im Vergleichzu den hoch entwickelten westeuro-päischen, sondern auch den osteuro-päischen Volkswirtschaften besitzt,sind jene europäischen Industrien undWertschöpfungsstufen, die in einemunmittelbaren Preiswettbewerb mitChina stehen, in besonderem Maßemit einer „chinesischen Herausforde-rung“ konfrontiert. Hierbei sind in ers-ter Linie die Textil- und Bekleidungsin-dustrie (inkl. Schuhe und andere Le-derprodukte) und die ElektronischeIndustrie zu nennen. Insbesondere imFall der Bekleidungsindustrie dürfte dergrößte Wettbewerbsdruck inzwischenallerdings bereits verebbt sein. In denvergangenen Jahren sind substanzielleProduktionskapazitäten der europäi-schen Bekleidungsindustrie abgebautund nach China verlagert worden. Derverbliebene Bestand scheint nun je-doch in seiner Existenz gesichert, daeine stetige Verkürzung von Innovati-onszyklen und die Notwendigkeit kurz-fristigster Bedienung von Konsumen-tenbedürfnissen trotz höherer Produk-tionskosten in immer größerem Maßeeine Produktion vor Ort verlangen.Mehrwöchige Lieferzeiten von chinesi-schen Produktionsstandorten werdenimmer weniger akzeptiert.2 Nutznießerdieser Entwicklung sind in erster LinieProduktionsstätten in der Türkei, Grie-chenland, Portugal und Italien.

Weniger positiv sieht die Konstellationfür Anbieter elektronischer Produkteaus. Dies betrifft sowohl Güter aus demBereich Büroausrüstungen (PCs, Lap-

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Die VR China als aufstrebende Macht 33

tops, Zubehör, etc.), Telekommunikati-on (Mobiltelefone), Video (TV-Geräte,DVD-Spieler, Bildschirme, etc.) als auchAudio (Walkmen, etc.). Weniger be-troffen sind bislang noch Produkte derGruppe „Weiße Ware“ (Kühl- und Ge-friergeräte, Air-Conditioner, etc.). ImGefolge der in diesem Kontext zu ver-zeichnenden Verlagerung von Arbeits-plätzen nach China ist in jüngerer Zeitauch zu beobachten, wie die Produkti-on von Halbleitern und IntegriertenSchaltkreisen ebenfalls nach China ver-lagert wird. Eine sequenzielle Verlage-rung von Produktionsstufen der Elek-tronikindustrie nach dem Muster West-europa – Osteuropa – China ist kaumzu beobachten. Stattdessen wird dieProduktion zumeist unmittelbar nachChina transferiert. Es ist nicht erkenn-bar, dass dieser Verlagerungsprozessbereits abgeschlossen wäre.

Die größte Beharrungskraft gegenüberder erwachsenden Konkurrenz aus Chi-na besitzen erstens jene Industrien, diedurch hohe Transportkosten geprägtsind und für die von daher räumlicheNähe zum Endkunden wichtig ist. Diesbetrifft in erster Linie die Grundstoff-industrie (Chemie, Stahl, etc.). Euro-päische Investitionen dieser Industrienin China besitzen i.d.R. einen hori-zontalen Charakter. D.h., es werden zu-sätzliche Produktionskapazitäten zurBedienung des lokalen Marktes aufge-baut, ohne dass hierdurch die Exis-tenzberechtigung von Kapazitäten imHeimatmarkt in Frage gestellt würde.

Besondere Wettbewerbskraft vis-à-visChina besitzt zweitens der Metall ver-arbeitende Sektor inklusive der Auto-mobilindustrie. Der Metall verarbei-tende Sektor wird in besonderem Maßedurch das Zusammenspiel einer Viel-

zahl von hoch spezialisierten Akteurengeprägt, die in einer interdependentenNetzwerkstruktur mit einander ver-bunden sind. Diese Strukturen sind imVerlauf mehrerer Jahrzehnte gewach-sen und können nicht einfach kopiertwerden. Die Integration der osteuro-päischen Volkswirtschaften in den be-stehenden westeuropäischen Indus-triecluster birgt die Möglichkeit, diehier bereits bestehende Wettbewerbs-stärke weiter auszubauen.

Einen dritten signifikanten Wettbe-werbsvorsprung weist Europa derzeitim Bereich der wissensintensiven In-dustrien (Pharmazie, etc.) und Dienst-leistungssektoren (Finanz-, Transport-dienstleistungen) auf. Gerade in die-sem Bereich verliert Europa allerdingsderzeit rasch an Boden. Europas maro-de Bildungssysteme, die weder auf amRande der Insolvenz stehende öffentli-che Haushalte bauen dürfen noch hin-reichende Freiheiten für eine marktli-che Ressourcenbeschaffung besitzen,sind immer weniger in der Lage, ihrenoch bestehende Überlegenheit gegen-über dem chinesischen System auf-recht zu erhalten. Demgegenüber stehteine finanziell sehr gut unterfüttertechinesische Bildungs- und Technolo-giepolitik, die einen Schwerpunkt aufdie Elitenausbildung setzt und dabei ei-ne enge Verbindung zum Unterneh-menssektor unterhält.

4. Schlussbemerkungen

Die gleichermaßen rasche wie um-fassende Rückkehr Chinas in die ersteLiga der Weltwirtschaft, die in denletzten Jahren zu beobachten war,muss grundsätzlich als Rückkehr zum‚Normalzustand‘ und Korrektur einer

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Markus Taube34

entwicklungshistorischen Abweichungbetrachtet werden. Dies bedeutetgleichzeitig, dass der derzeitige AufstiegChinas zu einer der führenden Welt-wirtschaftsnationen langfristig zu ver-stehen ist und kein kometenhaftesAufblitzen während einer nur kurzenhistorischen Epoche darstellt.

Es ist zu betonen, dass die angespro-chenen und z.T. mit Verlagerungenvon Produktionsstätten verbundenenHerausforderungen Chinas an Europaderzeit in erster Linie zu Lasten alt her-gebrachter Industriestrukturen und indiesen konservierten Arbeitsplätzengehen. Tatsächlich offenbart sich der‚China-Faktor‘ auf der individuell wahr-genommenen Ebene in erster Linie da-durch, dass sich die Werthaltigkeit in-dividueller Kompetenzprofile radikalverändert. Für individuelle Arbeitneh-mer bedeutet dies, dass sie für be-stimmte Angebote an Arbeitsleistun-gen (insbesondere im nieder qualifi-zierten Bereich) nicht mehr die gleicheEntlohnung einfordern können, wie inder Vergangenheit als chinesische Ar-beitskräfte noch kaum in den Verbundder internationalen Arbeitsteilung in-tegriert waren.

Vergleichbare Effekte treten auch imUnternehmenssektor auf. Unterneh-merische Findigkeit und Anpassungs-fähigkeit an veränderte Rahmenbedin-gungen und Preisrelationen entschei-den hier über die Befähigung zurAkkomodierung des ‚China-Faktors‘ indas Unternehmensmodell. Als – erfolg-reiches – Ergebnis eines solchen Pro-zesses kann hierbei u.U. auch eine ra-dikale Verschiebung der unterneh-mensbezogenen Kernkompetenzensowie regionalen Schwerpunkte vonProduktion und Vertrieb zu Tage treten.

Die Verlagerung umfangreicher Wert-schöpfungsprozesse der Bekleidungs-und Schuhindustrie, der Elektronikin-dustrie etc. in die VR China und Fo-kussierung der Aktivitäten des Mutter-hauses auf Entwicklungs-, Organisati-ons- und Marketingfunktionen ist vondaher als konsequent und problemadä-quates Verhalten zu bewerten. Die ei-gentliche ‚chinesische‘ Herausforde-rung an den europäischen Unterneh-menssektor manifestiert sich allerdingserst seit kürzester Zeit: rein chinesischeMultinationale Konzerne, die EuropasUnternehmen auf ihrem Heimatmarktbedrängen. Der ‚China-Faktor‘ wirdvon daher in den nächsten Jahren im-mer sichtbarer werden.

All dies muss nicht mit dem „Unter-gang des Abendlandes“ gleichgesetztwerden. Europa hat in der Vergangen-heit wiederholt gezeigt, dass es in derLage ist, von Außen herangetragenenHerausforderungen erfolgreich zu be-gegnen und mit gestärkten eigenenWirtschaftsstrukturen aus einem Pro-zess des Wandels hervorzugehen. Zu be-tonen ist aber, dass die über alle Ebenenhinweg wichtigste Determinante für ei-ne wohlfahrtssteigernde Akkomodie-rung des ‚China-Faktors‘ in der europä-ischen Wirtschaftsgemeinschaft letzt-lich in der Flexibilität und Anpassungs-fähigkeit der institutionellen Rahmen-bedingungen des Wirtschaftens sowieder individuellen und gesellschaftlichenBereitschaft besteht, althergebrachteStrukturen zu überwinden und Neueszu schaffen. Eine auf rückwärts gewand-te Besitzstandswahrung ausgerichteteAntwort auf die chinesische Herausfor-derung kann Europa nicht weiterbrin-gen. Politisches Unternehmertum istheute somit mindestens so wichtig wiewirtschaftliches Unternehmertum.

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Die VR China als aufstrebende Macht 35

Anmerkungen1 Für eine ausführliche Analyse siehe das

von dem Verfasser in Zusammenarbeitmit Günther Vieweg verfasste Kapitel„The Challenge to the EU of a RisingChinese Economy“ in dem „EuropeanCompetitiveness Report 2004“ heraus-gegeben von der Europäischen Kommis-sion.

2 Verstärkend kommt hinzu, dass die von

der EU betriebene Wiedereinführung vonImportquoten auf chinesische Produktedie „politische Unsicherheit“ des China-Handels erhöht hat. Um sicherstellen zukönnen, dass Kunden rechtzeitig belie-fert werden können, wird es daher ver-stärkt für notwendig empfunden, Pro-duktionskapazitäten innerhalb Europasaufrecht zu erhalten.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

1. Einführung

Chinas Außenpolitik ist defensiv. Sieversucht, sich mit Dritten im Sinne ei-ner klassischen Gleichgewichtspolitikzu konzertieren, was aber angesichtsbegrenzter eigener Machtmittel undteils divergierender Interessen der Part-ner nicht mehr leistet, als eine sektora-le und temporäre Stabilisierung des Sta-tus quo. Wollte China die unipolareWelt ernsthaft herausfordern, dürfte esihr keine unpraktikable multipolare Vi-sion entgegensetzen, sondern müssteselbst unilateral handlungsfähig wer-den oder sich für eine Strategie desqualitativen Multilateralismus entschei-den.

Somit stellt sich die Frage, ob China zueiner direkten Herausforderung derUSA oder zu qualitativem Multilatera-lismus nicht willens oder nicht fähigist? Die herrschende Meinung glaubt,dass China dazu jetzt noch nicht fähigist, aber langfristig mit Hilfe vonMachtzuwachs oder Lernprozessen da-zu fähig sein wird.

Beide Thesen setzen anhaltendes Wirt-schaftswachstum und technologischenFortschritt in China voraus, was wahl-

weise zu mehr Unabhängigkeit odermehr Abhängigkeit vom internationa-len Umfeld führt. Zweitens setzen siedie Fähigkeit voraus, Unabhängigkeitoder Abhängigkeit militärisch oder di-plomatisch effizient zu nutzen. Das istin der jüngeren Geschichte nur libera-len repräsentativen Demokratien ge-lungen, weil sie laut Tocqueville das In-dividuum schützen und den Erfolg desGemeinwesens zu seinem persönlichenAnliegen machen, Gewalt teilen undtransparent machen, die PrinzipienFreiheit und Gleichheit durch Gleich-heit vor dem Gesetz kompatibel undRevolutionen mit Hilfe einer starkenMittelklasse verzichtbar machen.1 Mo-derne Autoren sprechen von einerKombination aus liberalen Institutio-nen und politischer Kultur, mit derRechtsstaatlichkeit garantiert und dieöffentliche Meinung berücksichtigtwird.2 Darüber hinaus führen solcheDemokratien (fast) keine Kriege gegen-einander, und einige Autoren haltenDemokratie für die Voraussetzung vonEntwicklung.

Muss China also eine liberale und re-präsentative Demokratie werden, umnachhaltiges Wachstum zu erzielenund Unabhängigkeit oder Abhängig-

Die Grenzen des „Aufstiegs“ derVolksrepublik China

Kay Möller

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Die Grenzen des „Aufstiegs“ der Volksrepublik China 37

keit in Macht umzusetzen? Ein paar dererwähnten Evolutionisten glauben dasnicht nur, sondern halten es für wahr-scheinlich. Andere konstruieren, vonEmpirie und Theorie unbeeindruckt,das Szenario eines autoritären „Auf-stiegs“. Die intelligenteren unter ihnenverweisen dabei weniger auf Chinasmaterielle Macht als auf die Selbstauf-lösungstendenzen einer „westlichenWelt“, deren Institutionen das Armuts-und Gewaltproblem eher noch ver-schärft und gleichzeitig das Vertrauenin die Problemlösungsfähigkeit der De-mokratie geschwächt haben. Dann sä-he die Welt der Zukunft zunehmend soaus wie China schon heute, und Chinakönnte seine Schwächen in Stärkenverwandeln.3

2. Wachstum und technolo-gischer Fortschritt

Chinas „Aufstieg“ seit Beginn der wirt-schaftlichen Öffnung 1978 war vor-nehmlich makroökonomischer Natur.China ist nicht nur groß und alt, son-dern, abhängig von der Berechnungs-grundlage, zweit- oder sechstgrößteVolkswirtschaft der Welt, größter Emp-fänger ausländischer Direktinvestitio-nen und drittgrößte Handelsmacht.Dividiert man allerdings Potenzialdurch Größe, fällt das resultierendePro-Kopf-Einkommen irgendwo zwi-schen Turkmenistan und Peru. Dabeihat das Einkommensgefälle zwischenKüste und Binnenland, städtischenund ländlichen Gebieten sowie inner-halb der Städte während der Reform-periode so weitgehend zugenommen,dass es heute sogar von chinesischenExperten als das größte weltweit be-trachtet wird.4 Mit dieser Entwicklunggeht eine Umweltzerstörung einher,

die von einigen Experten bereits alsHindernis für künftiges Wachstum be-trachtet wird. Schließlich hat die chi-nesische Gesellschaft bereits vor Ab-schluss der Industrialisierung zu alternbegonnen, während die arbeitsfähigeBevölkerung in Indien und den USA inden nächsten Jahrzehnten weiter an-wachsen wird, und Experten gehen da-von aus, dass die Altersstruktur derVolksrepublik in fünfzig Jahren derbritischen ähneln wird.5 Bei Berück-sichtigung eines so zwangsläufig ver-langsamten Wachstums und der Not-wendigkeit zum Aufbau eines Systemsder sozialen Sicherheit rechnet dieRand-Corporation für 2025 mit einerchinesischen Volkswirtschaft, die (aufDollarbasis) etwa halb so groß ist wiedie amerikanische und chinesischenMilitärausgaben in Höhe von 60% desamerikanischen Budgets im Haushalts-jahr 2003.6

Als Deng Xiaoping mit der relativenAutarkie des Maoismus brach, war derImport moderner Technologien ähn-lich wie im Falle aller chinesischer Mo-dernisierer seit dem 19. Jahrhundertein zentrales Anliegen. Diese Techno-logien sollen assimiliert und adaptiertwerden, und Beobachter suggerierenbereits, dass China (und Indien) dem-nächst mittels Überspringen einigertechnologischer Stufen in der Lage seinwerden, auf dem Gebiet der Innovationmit den USA zu konkurrieren. Eine sol-che Strategie würde allerdings dazuführen, dass ausländische Investorenund Regierungen beim Technologie-transfer noch zurückhaltender wären(die Produktion und – so weit relevant –Entwicklung moderner Technologienin China beschränkt sich weitgehendauf Töchter ausländischer Unterneh-men, und „Techno-Nationalismus“ ist

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über das Improvisationsstadium nichthinausgekommen7). Gleichzeitig ope-rieren staatliche und andere Stellen aufdiesem Gebiet vielfach in wechselsei-tiger Isolation, und der anhaltendeEinfluss von Bürokratie und Staatsbe-trieben auf Forschung und Entwick-lung sowie ungelöste Probleme derRechts- und Handelspraxis, des Schut-zes geistigen Eigentums und der Kor-ruption behindern schnellen Fort-schritt bei Adaption und Assimilie-rung.8 In China fehlt es an professio-nellen Managern9, und ähnlich wie imjapanischen Fall vermittelt das Bil-dungssystem der Volksrepublik Grund-wissen auf Kosten kreativen Denkens10.Um solche Probleme zu überwinden,haben westliche Experten eine lang-fristige Strategie des Lernens vom Aus-land empfohlen, ein Vorschlag, der füreinheimische Bürokraten auf Grundder implizierten Abhängigkeit inak-zeptabel scheint.

Auch in dieser Hinsicht ist die japani-sche Erfahrung insofern relevant, alsdas Kaiserreich trotz seiner führendenStellung auf dem Gebiet der Konsum-Elektronik bis heute keine eigene Soft-ware-Industrie hervorgebracht hat –ein Phänomen, für das Beobachter ähn-lich wie in China den mangelndenAustausch zwischen (in diesem Fall pri-vat organisierten, aber politisch ange-bundenen) Mischkonzernen verant-wortlich machen.11 Das Alternativmo-dell liefert Indien, das etwa im Tele-kommunikationssektor die regulativevon der operativen Staatsaufsicht ge-trennt hat. Japans eigenes Experimentmit einer „Modernisierung ohne Ver-westlichung“ war 1945 zwar grund-sätzlich gescheitert, aber in Tokio be-günstigte ein de facto Einparteienregime50 Jahre lang ein Patronagesystem.

Eine weitere Parallele zwischen Chinaund Japan besteht in massiven Krisender Banksektoren, wobei sich die japa-nische Regierung erst unter dem Druckder Wähler für einschneidende Maß-nahmen entschied.12 Verglichen hier-mit bleiben die institutionellen Vo-raussetzungen für eine Entpolitisierungder Kreditvergabe in der Volksrepublikunterentwickelt.13 Beobachter machenfür diese und andere Marktverzerrun-gen eine Kombination aus hohem ex-portinduziertem Wachstum, hohenDevisenreserven und anhaltender Kon-trolle von Kredit und Boden durch dieKommunistische Partei verantwort-lich, ein System, das den meisten vonihnen mittel- bzw. langfristig als nichttragfähig gilt.14

Ein augenscheinlicher Unterschiedzwischen Chinas und Japans Entwick-lung besteht in Pekings 2001 mit demBeitritt zur Welthandelsorganisation(World Trade Organisation, WTO) aus-gedrückter Bereitschaft zu einer umfas-senden Öffnung des heimischen Mark-tes für ausländische Händler und In-vestoren, ein Phänomen, das sich imNachbarland auch bis heute nicht oh-ne Einschränkungen konstatieren lässt.Deshalb trägt der Außenhandel derVolksrepublik auf Wechselkursbasisheute etwa 75% zum Brutto-Inlands-produkt (BIP) bei, der japanische nurca. 25%. Bei Anlegung eines Kaufkraft-Indikators beträgt dieser Anteil aller-dings nur etwa ein Viertel.

Chinas größere Kaufkraft daheim istnicht zuletzt das Ergebnis anhaltenderArmut im Binnenland, wo sich auslän-dische Investoren trotz massiver staat-licher Infrastrukturkampagnen weiterzurückhalten.15 Während Letztere zu-sätzlich zu Korruption und Umweltzer-

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störung beitrugen16, ohne die regiona-len Ungleichgewichte zu reduzieren,haben Pekings Zentralisierungsversu-che vielfach das Gegenteil bewirkt17,sodass einige Autoren von einer „defacto Föderation“ sprechen18. Das hatnicht nur regionalen und lokalen Pro-tektionismus begünstigt, sondern loka-len und regionalen Funktionären in Pe-king zu mehr Einfluss verholfen, waseine umfassende Öffnung des Binnen-markts weiter erschwert.

Man könnte folglich argumentieren,dass Japans unsichtbare Handels-schranken in China ein Äquivalent fin-den, dessen negative Auswirkungenvon einer kommunistischen Führungerkannt wurden, deren systemischeDefizite allerdings sämtliche Reform-versuche zu Flickwerk machen. Derjüngste dieser Versuche besteht in demim März 2005 verabschiedeten popu-listischen Konzept für ein „neues so-zialistisches Binnenland“, mit deminsbesondere das Stadt-Land-Gefälleabgebaut werden soll19 (Staats- und Par-teichef Hu Jintao hatte die generelleRichtung bereits im September 2004mit dem Schlagwort „harmonische Ge-sellschaft“ vorgegeben). 2006 signali-sierten die konzeptionellen Widersprü-che zwischen anhaltender Öffnungund „sozialistischem Binnenland“ be-reits einen neuen Linienkampf zwi-schen Rechts und Links20, ein Phäno-men, das die meisten Beobachter be-reits 1989 für überwunden gehaltenhatten.

Auch im Kontext des „neuen Binnen-landes“ ist eine Führungsrolle für jeneStaatsunternehmen reserviert, die fürdie Malaise des Banksektors verant-wortlich zeichnen.21 Die in den 90er-Jahren begonnene Teilprivatisierung

des Staatssektors ist in erster Linie Par-tei- und Regierungseinheiten sowieeinzelnen Funktionären zugute ge-kommen. Anstatt ein nationales Pri-vatunternehmertum zu fördern, dasallein in der Lage wäre, überschüssigeArbeitskraft zu absorbieren, bzw. denBauern mit der Übertragung von Bo-denbesitztiteln neue Einkommensquel-len zu erschließen, versucht die kom-munistische Führung, neue Eliten inPolitik und Wirtschaft so eng wie mög-lich an sich zu binden und kopiert da-mit ein 1997/98 von der so genanntenAsienkrise beschädigtes regionales Mo-dell. Das Ergebnis ist ein Netzwerk ausnationalen, regionalen und lokalenRentier-Interessen, das auf Kosten vonModernisierungsverlierern geht undUrbanisierung und das Entstehen vonMittelklassen behindert.22 Währendausländische Investoren sich bisher inden Küstenregionen mit den resultie-renden Reibungsverlusten arrangieren,erscheinen ihnen diese im Binnenlandweiterhin inakzeptabel.

„Netzwerkstaaten“ verfügen zwar überunterentwickelte Kapazitäten, aber häu-fig über relativ starke politische Regime,jedenfalls solange diese eine prozedu-ral-institutionelle Legitimierung durcheine so genannte Output-Legitimitätersetzen können. In China hat diesesModell eine lange Tradition und Auto-kratie ist kulturell akzeptabel, solangesie ein Gefühl von Stabilität vermittelt.

Letzteres wird angesichts einer wach-senden Zahl zunehmend gewalttätigerKonfrontationen zwischen Moderni-sierungsverlierern und Sicherheitskräf-ten in Frage gestellt, wobei die Größeder Volksrepublik die auch in anderen„staatszentrischen“ Systemen zu ver-zeichnenden Menschenrechtsverlet-

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zungen, Transparenzdefizite, zuneh-mende Ungleichheit und wachsendeUmweltprobleme zusätzlich verschärft.Probleme, deren negative Auswirkun-gen auf die Volkswirtschaften währendder „Asienkrise“ schlagartig deutlichwurden. Chinas Ministerium für öf-fentliche Sicherheit zählte 2005 87.000so genannte „Massenzwischenfälle“23

und das Kurieren an Symptomen undder Rückfall in maoistische Rhetoriksind Reaktionen darauf. Die politischeFührung hofft bisher noch, dass derwachsende Unmut nicht über Dörferund Stadtteile hinaus eskaliert (wes-halb man dem Bürger auf diesen Ebe-nen Mitspracherechte eingeräumt hat),und lehnt eine umfassende Demokrati-sierung als destabilisierend ab. Wennallerdings auch die neue Sozialpolitikin einem Sumpf aus korrupten Partiku-larinteressen untergeht und nachhalti-ges Wachstum zunehmend illusionärwird, dürfte sich die Frage nach der Le-gitimität der Partei- und Staatsführungeinmal mehr stellen.

3. Defensive Außenpolitik

Unter solchen Umständen verwundertes nicht, dass der „Netzwerkstaat“ einegrundsätzlich defensive Außenpolitikbetreibt. Weder verfügt er über dieMöglichkeiten, nationale Kapazitäteneffizient zu bündeln, noch will er zu-sätzlich zu den Vorbehalten Dritterbetreffend Defizite seiner Öffnungbeitragen. Es besteht folglich kein An-lass, Deng Xiaopings Aufruf zur au-ßenpolitischen Zurückhaltung von1989 oder das seit 2004 in der außen-politischen Elite diskutierte Theoremvom „friedlichen Aufstieg“ der Volks-republik als gezielte Irreführung zu ver-stehen.

Auch die externen Auswirkungen deschinesischen Wirtschaftswachstumssind vornehmlich makroökonomi-scher Natur. Während Exporteure vonRohstoffen und Technologien profitie-ren, sehen sich Länder mit einer ähnli-chen (Niedriglohn-, Niedrigtechnolo-gie-) Produktionsbasis einem schärfe-ren Wettbewerb ausgesetzt. Deshalbnahmen Chinas Importe aus Latein-amerika 2003 um 81 und aus Afrika um54% zu und deshalb ist die Volksrepu-blik zum drittwichtigsten Markt fürProdukte aus Lateinamerika und Afrikanach den USA und der EU geworden.

In diesem Zusammenhang sind Ölim-porte auf Grund ihrer Bedeutung füranhaltendes Wachstum und ihres wach-senden Anteils an Chinas Gesamt-nachfrage nach Öl (2004: 40%) be-sonders sensitiv. Heute kommen 58%dieser Importe aus dem PersischenGolf, dessen Bedeutung als Öllieferantfür die Volksrepublik trotz Diversifizie-rungsbemühungen weiter zunimmt.Der Golf und die Seewege zum Golfwerden weitgehend von den USA kon-trolliert, weshalb Peking sich entschie-den hat, wo möglich über Exklusivver-träge und unter Inkaufnahme längereroder komplizierterer Transportwege Öl-felder in Drittstaaten wie Kasachstan,Russland, Venezuela, Sudan, Iran etc.zu erschließen. Einige dieser Staatenunterliegen westlichen bzw. amerika-nischen Sanktionen, andere haben ge-spannte Beziehungen zu den USA, aberes gibt auch Rohstoffexporteure wieAustralien oder Kanada, die ihre Wirt-schaftsbeziehungen zu Peking ausbau-en, ohne deshalb ihre Bündnisver-pflichtungen zu Washington grund-sätzlich in Frage zu stellen. In Chinasnord- und südostasiatischem Umfeld,wo ressourcenreiche Staaten eher die

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Ausnahme sind, hat die Bush-Admi-nistration die amerikanische Militär-präsenz nach dem 11. September 2001ausgebaut, was im konservativen poli-tischen Spektrum der Volksrepublik alsEinkreisungsstrategie verstanden wird.Weil die meisten Regionalstaaten diesePräsenz aber entweder offen oder im-plizit begrüßen, toleriert Peking sie so-gar in der extrem sensitiven Taiwanfra-ge und versucht gleichzeitig, Nachbarnim Süden und Osten mit (überwiegendnichtmilitärischen) Kooperationsange-boten zu gewinnen.

Chinas Einfluss variiert folglich von ei-ner Weltregion zur anderen und findetseinen Ausdruck in unterschiedlichenStrategien. Ein gutes Kriterium zur Mes-sung von Einfluss und Wirkung liefertPekings so genannter „neuer Multilate-ralismus“, ein Terminus, der von derFührung der Volksrepublik seit 2003benutzt wird. Die Ursprünge dieserStrategie liegen in den späten 90er-Jah-ren, als China in Folge der „Asienkrise“ein Interesse für regionale Alternativenzur internationalen Finanzarchitekturentwickelte und sich gleichzeitig im(transpazifischen) Asean Regional Fo-rum (ARF) für „flache“ (d.h. konsen-suale) Varianten der Sicherheitszusam-menarbeit zu erwärmen begann, einAnsatz, der dort 1997 in Gestalt eines„neuen Sicherheitskonzepts“24 als Al-ternative zum amerikanischen Bünd-nissystem präsentiert wurde. Allerdingsbezog sich das spektakulärste Beispielfür den neuen „Multilateralismus“ we-der auf finanziellen Regionalismusnoch auf sicherheitspolitische Dialoge.Die 2001 gegründete Shanghaier Orga-nisation für Zusammenarbeit (SOZ, be-stehend aus China, Kasachstan, Kirgis-tan, Russland, Tadschikistan und Usbe-kistan) verfolgt in erster Linie das Ziel

einer Stabilisierung postsowjetischerRegime in Zentralasien gegen islami-sche oder nationalistische Herausfor-derer und ähnelt dabei eher einem chi-nesisch-russischen Mächtekonzert alseiner regionalen Organisation, die vonden Grundsätzen Unteilbarkeit, gene-ralisierte Verhaltungsprinzipien unddiffuse Reziprozität gekennzeichnetwäre. Konzertierung (in diesem Fall mitWashington) statt „qualitativem Multi-lateralismus“ ist auch das wichtigsteCharakteristikum der 2003 initiiertenso genannten Sechsparteiengesprächeüber das nordkoreanische Atompro-gramm, an denen neben China undden USA noch Japan, beide Koreas undRussland beteiligt sind. Auch hier giltdas Hauptinteresse der Protagonistenbisher der Erhaltung des Status quo.

Konzertierung ist weiterhin keine Op-tion in Ostasien, wo Peking weder Wa-shington noch Tokio als Partner akzep-tieren will und wo die GemeinschaftSüdostasiatischer Staaten (Associationof Southeast Asian Nations, Asean)nach dem Ende des Kalten Krieges ver-sucht hatte, sich in die Position des„Züngleins an der Waage“ der regiona-len Kräftebalance zu befördern. Als die-ser Plan an der mangelnden Integrati-onsfähigkeit der Gruppierung geschei-tert war, fühlte sich China hinreichendstark, diese mit Kooperationsangebo-ten zu umarmen, darunter ein quasimultilaterales Element in Gestalt einesAbkommens aus dem Jahr 2004 überdie Schaffung einer gemeinsamen Frei-handelszone bis 2010. In Peking glaub-te man, so Grundlagen für eine spätereOstasiatische Gemeinschaft zu legenund für den Konkurrenten Japan voll-endete Tatsachen zu schaffen.25 Gleich-zeitig bleiben die USA für China unddie meisten Asean-Staaten der wich-

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tigste Wirtschaftspartner und ist eineweit reichende regionale Zusammen-arbeit für viele der Letzteren nur vordem Hintergrund der amerikanischenSicherheitsgarantie denkbar.

In anderen Weltregionen bedurfte esdieses „defensiven Aktivismus“ nicht,weil China hier eine Führungsrolle we-der anstreben wollte noch konnte. DerSchwerpunkt der chinesischen Außen-politik lag auch hier bei Freihandelsan-geboten oder Offerten einer allgemei-nen wirtschaftlichen Kooperation, wo-bei einige der avisierten Partner daraufWert legten, sich nicht einseitig an Chi-na zu binden und andere noch über di-plomatische Beziehungen zu Taiwanverfügten.

Während „Sprecher des Südens“ vonRobert Mugabe in Zimbabwe bis zuHugo Chavez in Venezuela Chinas neueregionale Prominenz als gemeinsameHerausforderung des „US-Imperalis-mus“ interpretieren und ungeachtet derAufrufe chinesischer Experten, die neu-en Möglichkeiten besser zu nutzen, hatsich die Führung der Volksrepublik bis-her bedeckt gehalten. In diesem Zu-sammenhang sprechen Beobachter gernvon einer neuen chinesischen „softpower“, die etwa mit Investitionen indas afrikanische Bildungs- und Gesund-heitswesen belegt werden soll26, abernur selten unter Verweis auf die vomVater dieses Konzepts entwickelte Defi-nition. 2004 schrieb Joseph Nye, „softpower“ ist „die Fähigkeit, durch Anzie-hungskraft statt durch Zwang oder Zah-lungen zu bekommen, was man will.Sie entspringt der Attraktivität der Kul-tur eines Landes, seinen politischenIdealen und seiner Politik. Wenn ande-re unsere Politik als legitim ansehen,nimmt unsere soft power zu.“27

Im chinesischen Fall sind Ideale bishernicht über teils revisionistische Schlag-wörter hinausgegangen, mit deren Hil-fe Hu Jintaos „harmonische Gesell-schaft“ auf die ganze Welt projiziertund damit erstmals ein konfuziani-sches Konzept in großem Maßstab ex-portiert werden soll (eine Strategie, dieim chinesischen Kaiserreich für wenigeVasallenstaaten reserviert war).28 WennInhalte und Umsetzung auch in die-sem Fall vage bleiben, dann, weil hierähnliche Blockademechanismen wir-ken wie im Inneren und Pekings au-ßenpolitische Strategen ihre hehrenGrundsätze häufig selbst verletzen.Wenn Beobachter der Volksrepublikheute eine grundsätzliche Akzeptanzdes internationalen Systems bescheini-gen, bezieht sich das eher auf Verfahrenals auf die Substanz. Generell präsen-tiert sich die Volksrepublik im Sicher-heitsrat, wo sie Vetomacht ist, selbst-bewusster als in Konsensveranstaltun-gen wie der Dhofar-Runde der WTO,wo sie etwa im Agrarbereich gleichzei-tig als Importeur und Exporteur auf-tritt. So hat Peking Widerstand gegenjede nicht vorher abgesprochene Ini-tiative zur Reform des Sicherheitsratsangekündigt29, sich an der Verwässe-rung der im März 2006 verabschiede-ten Statuten des neuen VN-Menschen-rechtsrats mitgewirkt und sich dabeiwiederholt der Unterstützung durchandere revisionistische Mächte wieRussland oder Indien versichert, ja ge-legentlich sogar mit der einzigen Su-permacht selbst kooperiert. Allerdingssind Konzertierungsversuche auf derinternationalen Bühne noch kurzlebi-ger als solche im regionalen Rahmenund erschweren eine Lösung globalerProbleme eher als dass sie sie befördern.Gleichzeitig erscheint Chinas auf demPapier relativ umfassende Implemen-

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tierung seiner WTO-Verpflichtungenals multilaterale Ausnahme von derrealistischen Regel.

Der vielleicht wichtigste Denkfehler imZusammenhang mit der „harmoni-schen Gesellschaft“, „harmonischenWelt“ und Wechselwirkung zwischenbeiden Konzepten besteht in der An-nahme, Globalisierung ähnlich mit ei-ner Kombination aus nationalen Mit-teln und Konzertierungsstrategien do-mestizieren zu können wie die nach1978 nicht zuletzt zur politischen Nut-zung ausländischer Investitionen ein-geführten Marktelemente. Dabei wer-den „Multipolarisierung und wirtschaft-liche Globalisierung“ in der amtlichenSprachregelung als zwei (positive) Sei-ten derselben Medaille betrachtet.30

Demnach wäre die Welt auf dem Wegvon der Uni- zur Multipolarität, einemin China seit Ende der 80er-Jahre favo-risierten Szenario. Wenn derlei Rhe-torik seit 2003 einem multilatera-listischen Diskurs gewichen ist, dann,um den multipolaren Ansätzen in-härenten Gleichgewichtsaspekt he-runterzuspielen, aber auch in realisti-scher Einschätzung der internationa-len Machtverhältnisse.31 Die Diplomatieder Volksrepublik ist folglich aktivisti-scher geworden, aber sie bleibt unter-konzeptionalisiert und damit wenig ef-fizient. Die letzte Parallele zwischenChina und Japan betrifft somit grund-sätzlich defensive Außenpolitiken.

Amerikanische Kommentatoren irrenalso, wenn sie vor chinesischen Vor-stößen in traditionelle Einflusszonender USA (bzw. in die USA selbst) zu ei-nem Zeitpunkt warnen, an dem diesedurch den Krieg gegen den Terrorismusabgelenkt sind. Sie irren auch, wenn sie

ein Szenario entwerfen, in dem Chinadubiose Partner massiv aufrüstet. 1997stellte die Volksrepublik unter anderemauf Druck aus Washington ihre nuklea-re Kooperation mit dem Iran ein undhat diese seither nicht wieder aufge-nommen. Auf dem Gebiet konventio-neller Rüstungsexporte bleibt Pekingein drittrangiger Akteur. Gleichzeitighaben führende Repräsentanten derBush-Administration solche Szenarien,die Modernisierung der Volksbefrei-ungsarmee, Pekings militärische Droh-gebärden gegen Taiwan und Pekings re-gionale Konzertierungsversuche zumAnlass genommen, einen nach dem 11.September 2001 an den Grenzen derVolksrepublik aufgebauten Ring aus Al-lianzen und Sicherheitspartnerschaf-ten zu konsolidieren und auszubauen.Diese Art Muskelspiel stößt nicht nurin China auf Ablehnung, aber wennaus gemeinsamer Kritik noch keine ge-meinsame Front geworden ist, dannweniger, weil Peking nicht will als weilPeking nicht kann.

Insgesamt gibt es mehr Gemeinsam-keiten als Unterschiede zwischen denAußenpolitiken der Reformära und dervorhergehenden „Ära Mao Zedong“,wo nach dem Kollaps der Allianz mitder Sowjetunion ebenfalls Bemühun-gen um „Selbststärkung“ in Innerenmit Konzertierungsversuchen nach Au-ßen einhergingen. Auch diese Versu-che scheiterten eher an systemischenProblemen daheim als an einem feind-lichen internationalen Umfeld.

4. Demokratisierung undNationalismus

Chinas Außenpolitik wäre also grund-sätzlich defensiv, weil das Einparteien-

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regime einer Bündelung aller Kräfte zurVerfolgung uni- oder multipolarer Stra-tegien im Wege steht und weil das Um-feld sich für wenig mehr als temporäreund/oder sektorale Konzertierung eig-net. Demgegenüber verweisen Protago-nisten einer „chinesischen Gefahr“gern auf anhaltende Drohgebärden derVolksrepublik gegenüber der „abtrün-nigen Provinz“ Taiwan und einen eska-lationsfähigen regionalen Machtkampfmit Japan. Solche Szenarien sind schondeshalb ernst zu nehmen, weil ent-sprechende nationalistische Untertönezunehmend auch aus Taiwan und Ja-pan selbst (sowie Südkorea) zu verneh-men sind und schlimmstenfalls in Ab-wärtsspiralen einmünden könnten.

Allerdings wird Nationalismus in Tai-wan, Japan und Südkorea durch demo-kratische Institutionen ventiliert undist somit normalerweise besser bere-chenbar als die chinesische Variante,bei der die politische Führung das Ven-til vorübergehend öffnet, um ihre Legi-timität in bestimmten urbanen Schich-ten zu wahren, es dann aber wiederschließt, weil die Umsetzung nationa-listischer Rhetorik in eine aktive Politikangesichts der geschilderten Defizitenicht erfolgversprechend ist. Sollte al-lerdings Chinas Wirtschaftswachstumstagnieren oder zurückgehen und/oderdas bisher zersplitterte Lager der Mo-dernisierungsverlierer einen ideologi-schen und organisatorischen Fokus fin-den, wäre Nationalismus die letzteMöglichkeit, die dem Regime bliebe,um seine Legitimität vorübergehendwiederherzustellen.

Die Pekinger Führung kann sich in ih-rer Ablehnung einer Demokratisierungauf empirisch gesicherte Zusammen-hänge zwischen Demokratisierung und

Nationalismus sowie Demokratisierungund Fragmentierung berufen und tutdas auch.32 Allerdings gibt es auch Ge-genbeispiele, tendieren Nicht-Demo-kratien unter bestimmten Bedingun-gen im Inneren33 und nach Außen34

noch deutlicher zur Gewaltanwendungals Demokratien und wächst dort dieNachfrage nach demokratischen Insti-tutionen unabhängig von Prokopfein-kommen, ethnischer Zusammenset-zung oder geschichtlicher Erfahrung35.Mit ihrer Mischung aus regelkonformerwirtschaftlicher Öffnung und korrupti-onsanfälliger politischer Abschottungbewegt sich China heute in einer Grau-zone zwischen dem südeuropäisch/la-teinamerikanischen Vorbild einer er-folgreichen Kooptierung neuer Elitenund dem osteuropäisch/russischen Mo-dell aus Patronage, Vetternwirtschaftund organisiertem Verbrechen. DieserKompromiss reflektiert weniger ein Be-kenntnis zur (auch nur wirtschaftli-chen) Globalisierung als den in der chi-nesischen Geschichte mehrfach ge-scheiterten Versuch, technologischeErrungenschaften des Westens aus ih-rem kulturellen Kontext gelöst zu adap-tieren. Wie das japanische Beispielzeigt, ist das bis zu einem bestimmtenGrade möglich, aber früher oder späterbedarf der resultierende „Aufstieg“ ei-ner Einbettung in einen liberal-institu-tionellen Rahmen, der auf Kosten desNetzwerks, das heißt in diesem Fall derkommunistischen Vorherrschaft, geht.Anderenfalls implodiert das Land.

Kann China eine politische Kultur mitKomponenten wie Freiheit, Gleichheitund Brüderlichkeit entwickeln, die die-sen Rahmen trägt? Nicht, solange diestädtische Mittelschicht unterentwi-ckelt und Protest auf kulturelle Neben-schauplätze beschränkt bleibt. Die Aus-

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sichten für eine zivilgesellschaftlicheEntwicklung werden in China noch ge-ringer, wenn liberale Institutionen undpolitische Kultur sich auch im Westennicht mehr gegenseitig stützen.

Die Schlussfolgerung ist also anschei-nend ein Paradox: China kann die Weltnur als Demokratie verändern, was anmangelnden inneren und äußeren Vo-raussetzungen scheitert, für die dieKommunistische Partei wesentlich ver-antwortlich zeichnet. Die Katze ist we-der schwarz noch weiß, sondern grauund sie beißt sich in den Schwanz.

Bleibt die Frage, ob der Zustand der Weltnach dem „Ende der Geschichte“ als ei-ne Art Dauer-Grauzone beschriebenwerden kann, in der Globalisierung undnationale Gleichgewichtsstrategien tat-sächlich zwei Seiten der selben Medail-le sind und Netzwerke deren staatlicherAusdruck. Gegen diese These sprichtdas Entstehen nichtstaatlicher Netz-werke, ein Trend, den China im Innerennoch bei wachsendem Aufwand blo-ckieren kann, der aber auf internatio-naler Bühne dazu führt, dass Basis-Or-

ganisationen Prinzipien der Aufklärungzunehmend selbstbewusst einklagenund so etwa dazu beigetragen haben,dass der ursprüngliche „Washington-Konsens“ aus Liberalisierung und De-regulierung mittlerweile um eine „goodgovernance“-Komponente ergänzt wur-de, die wieder mehr auf Institutionenrekrutiert. Während das noch nichtbedeutet, dass westliche Regierungenihre Energien auf die Lösung der großenWeltprobleme Umwelt, Armut undMenschenrechtsverletzungen konzen-trieren, nimmt der diesbezüglicheDruck von unten zu, wo es massive Be-strebungen zu einer Wiederbelebungder politischen Kultur gibt und wo eineglobale Zivilgesellschaft bereits an eige-nen Institutionen baut.36 Insofern istdie globale Grauzone bereits in Auflö-sung begriffen und wird sich Chinas an-tiimperialistische und populistischeRhetorik vor diesem Hintergrund nochschneller als das erweisen, was sie ist. Al-lerdings ist der „westfälische Mythos“langlebig, und möglicherweise bedarfes größerer Katastrophen als der des 11.September 2001, um ihn abschließendzu Grabe zu tragen.

Anmerkungen1 Tocqueville de, Alexis: Democracy in

America (1835/1839).2 Hay, William Anthony: What Is Demo-

cracy? Liberal Institutions and Stabilityin Changing SocietysSocieties, in: Orbis,Bd.50, Nr.1, Winter 2005/6, S.133–51(136).

3 Ramo, Joshua Cooper: The Beijing Con-sensus, London 2004.

4 Wealth Gap Demands Immediate Action,China Daily, 3.3.2004 (online).

5 Turner, Adair: Demographics, Economicsand Social Choice, London School of Eco-nomics, 6.11.2003 (online).

6 Crane, Keith/et al.: Modernising China’sMilitary: Opportunities and Constraints,Santa Monica, CA: Rand Corporation,2005 (online).

7 Naughton, Barry/Segal, Adam: Technolo-gy Development in the New Millennium:China in Search of a Workable Model,Cambridge: 2nd Meeting on Innovationand Crisis: Asian Technology after theMillennium, 15./16.9.2000 (online).

8 Walsh, Kathleen: Foreign High-Tech-Research and Development in China.Risks, Rewards, and Implications for US-China Relations, Washington DC 2003,S.114–21.

9 China’s People Problem, Economist,14.4.2005 (online).

10 Higher Education: Successful or Not?,China Daily, 5.10.2005 (online).

11 Hagiu, Andrei: Multi-Sided Markets andJapan’s High-Tech-Industries, in: Rieti-Re-port Nr.48, 30.11.2004 (online).

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12 Rebuilding Japan’s Banks, Business Week-ly Online, 26.9.2005.

13 Roubini, Nouriel/Setser, Brad: China TripReport, April 2005 (online).

14 Ebda.15 So gingen 2003 nur ca. 5% aller auslän-

dischen Direktinvestitionen in westlicheund 9% in zentrale Provinzen der Volks-republik; vgl. Foreign Investment in Chi-na, US-China Business Council, 2003 (on-line).

16 OECD-China Conference Produces Poli-cy Messages to Address China’s RegionalFDI Imbalances, Paris: Organisation fürWirtschaftliche Entwicklung und Zu-sammenarbeit, 12.10.2001 (online).

17 Mertha, Andrew C.: China’s ‚Soft‘ Cen-tralisation: Shifting Tiao/Kuai AuthorityRelations, in: China Quarterly, Nr.184,December 2005, S.791–810.

18 Wu, Wenbo: The Origin of Private Pro-perty Rights in China: A Game betweenCentral and Local Governments, Singa-pore: National University of Singapore,Public Policy Programme, 20.6.2003, S.24.

19 Your Guide to „New Socialist Country-side“, People’s Daily Online, 8.3.2006.

20 Kahn, Joseph: A Sharp Debate Erupts inChina over Ideologies, New York Times,12.3.2006 (online).

21 China to Strengthen Reform of SOEs,Xinhua, 24.1.2006 (online).

22 Der Anteil der Mittelklasse an der chine-sischen Bevölkerung liegt derzeit abhän-gig von Definitionen zwischen 2,8 und13,5%. Die Urbanisierungsrate der Volks-republik liegt unter 40%; vgl. Yuwen, Deng:Middle Class Society a Long Way off inChina, China Daily, 18.2.2005 (online).

23 In 2005, Incidents of Social Unrest Hit87.000, Asia News, 20.1.2006 (online).

24 China’s National Defence, Peking: Staats-rat der Volksrepublik China, Juli 1998(online).

25 Im Dezember 2005 scheiterte ein Ost-asiatisches Gipfeltreffen unter Beteiligungder zehn Asean-Staaten, Chinas, Japans,Südkoreas, Indiens, Australiens und Neu-seelands bei dem Versuch, das ProjektOstasiatische Gemeinschaft auf den Wegzu bringen. Die Zuständigkeit für diesesProjekt wurde auf chinesischen Druck anden so genannten Asean plus Drei-Pro-zess überwiesen, an dem Indien, Austra-lien und Neuseeland nicht beteiligt sindund wo Peking sich bessere Chancen füreine Isolierung Tokios ausrechnet; vgl.Malik, Mohan: China and the East AsianSummit: More Discord than Accord, Ho-nolulu, February 2006.

26 Thompson, Drew: China’s Soft Power in

Africa: From the „Beijing Consensus“ toHealth Diplomacy, in: China Brief, Bd.5,Nr.21, 13.10.2005 (online).

27 Nye Jr., Joseph S.: Soft Power: The Meansto Success in World Politics, New York2004, S.7.

28 China Seeks to Promote a HarmoniousWorld, People’s Daily Online, 21.2.2006.Seit 2005 hat Peking im Ausland 25 so ge-nannte Konfuzius-Institute gegründet.

29 China Opposes Japan’s Push for Vote onUNSC Reform, People’s Daily Online,8.2.2006.

30 Vgl. z.B. Jiechi, Yang: China-Latin Ame-rica Relations in the New Century, In-finite Opportunities, Washington DC:Konferenz der Inter-Amerikanischen Ent-wicklungsbank über The Emergence ofChina: Opportunities and Challengesfor Latin America and the Caribbean,1.10.2004 (online).

31 Deng, Young/Moore, Thomas G.: ChinaViews Globalisation, in: WashingtonQuarterly 2004, S.122.

32 Building of Political Democracy in Chi-na, Peking: Staatsrat der VolksrepublikChina, October 2005 (online); China De-mocracy Could Mean Asia-Pacific Insta-bility: Australian Report, in: China DailyOnline, 2.3.2006.

33 Senghaas, Dieter: Die OECD-Welt: Zonendes Friedens, in: Volker Matthies (Hrsg.),Der gelungene Frieden. Beispiele und Be-dingungen erfolgreicher friedlicher Kon-fliktverarbeitung, Bonn 1997, S.46–64 (53).

34 Gelpi, Christopher/Grieco, Joseph M.:Economic Interdependence, the Demo-cratic State, and the Liberal Peace, Dur-ham NC: Duke University, 27.6.2001,S.10. In einer nuancierteren Analyse kom-men Lai und Slater zu dem Ergebnis, dassEinparteienregime anders als Militärre-gime in ihrem Außenverhalten grund-sätzlich nicht aggressiver sind als Demo-kratien, vorausgesetzt, sie bleiben stabil;vgl. Lai, Brian/Slater, Dan: Institutions ofthe Offensive: Domestic Sources of Dis-pute Initiation in Authoritarian Regimes,1950–1992, in: American Journal of Poli-tical Science, Bd.50, Nr.1, January 2006,S.113–26.

35 Goldstone, Jack A./Ulfelder, Jay: How toConstruct Stable Democracies, in: Wa-shington Quarterly, Bd.28, Nr.1, 2004/5,S.9–20.

36 Gills, Barry K.: Democratising Globalisa-tion and Globalising Democracy, in: Spe-cial Issue on Globalisation and Demo-cracy, Annals of the American Academyof Political and Social Science, Bd.581,Nr.1, May 2000, S.158–71.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

1. Einführung

Es ist unbestritten, dass die chinesischeWirtschaft in den letzten 28 Jahren ineinem unglaublichen Tempo gewach-sen ist. Auch die Gesellschaft hat sichin hohem Maße verändert. Nun stelltsich die Frage, wie genau Chinas Ent-wicklung gewertet werden soll? Die bis-herige Reaktion des Westens auf dieVeränderungen in China lässt sich invier unterschiedlichen Haltungen zu-sammenfassen: Die erste kann mit demWort „Ignoranz“ gekennzeichnet wer-den, welche in den letzten Jahren je-doch wesentlich schwächer gewordenist. Die zweite Haltung ist sehr kritischoder gar skeptisch, vor allem, wenn esum die Nachhaltigkeit des politischenund ökonomischen Potenzials Chinasgeht. Eine weitere Gruppe der China-beobachter lässt sich als positiv odergar überoptimistisch bezeichnen. Dieletzte Gruppe wird durch ihre opportu-nistische Bejahung der bisherigen Poli-tik der chinesischen Führung charakte-risiert. Diese war früher teilweise schonim Bereich der Wirtschaft des Westenszu erkennen. Inzwischen gibt es auch

immer mehr aus dem Kreis der Wissen-schaft und Politik.

China hat viele Gesichter. Um die bis-herige Reformpolitik im chinesischenKontext bewerten und zugleich einerealitätsnahe Zukunftsperspektive Chi-nas projezieren zu können, bedarf es ei-ner näheren Betrachtung der regieren-den Partei Chinas und der verändertengesellschaftlichen Struktur. Die Reformin China hatte stets den „state-driven“-Charakter. Folglich wurde die Reformin einem autoritären Einparteiensys-tem bisher durch die KP Ch gesteuert,auch wenn diese Partei sich selbst oftals Hindernis der Reform darstellt. DieFrage, wie diese Partei heutzutage struk-turiert ist, bestimmt auch, welche Inte-ressen der Sozialgruppen diese vertritt,wonach China strebt und worin dieProbleme bestehen?

2. Parteistruktur

Es wäre unangemessen zu sagen, dassdie 28-jährige Reform die KP Ch ge-schwächt hat. Im Gegenteil, diese Par-

Die 28-jährige Reform derVR China – Eine kurze Bilanzund ihre Zukunftsperspektive

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tei wurde gerade durch die Reform we-sentlich gestärkt und gewinnt immermehr Spielraum in der internationalenPolitik. Die Hoffnung, die man kurznach der Studentenbewegung gehabthat, dass diese Partei durch die Öff-nungspolitik schwächer und somit sichselbst begraben würde, ist nicht Reali-tät geworden.

Die KP Ch hat in den letzten Jahrenmassiv expandiert. Als die größte Parteider Welt verfügt sie derzeit über 76 Mil-lionen Mitglieder – vergleichbar mitder Bevölkerungszahl Frankreichs. Ad-diert man die Zahl der Parteisekretärealler Ebenen zusammen, dann machtsie 3,7% der gesamten BevölkerungChinas aus. Auch die Zahl der „Kom-munistischen Jugendliga“ als einzigeNachwuchsorganisation der KP Ch fürdie Jugendlichen hat 2005 mit ihrerMitgliedschaft von 7,214 Millionenden historischen Rekord erreicht.1 Si-cherlich besagt die Zahl bei weitemnicht die Qualität, zumindest nicht imideellen und ideologischen Sinne. Denndie Partei hat sich de facto von ihrerursprünglichen Ideologie längst dis-tanziert. Die Begriffe „Sozialismus“oder gar „Kommunismus“ dienen derPartei lediglich dazu, weiterhin an derMacht zu bleiben. Mit dem Inhalt die-ser Begriffe hat die Partei in der heuti-gen Zeit wenig zu tun.

Die KP Ch ist ein Club geworden. Jenach der Hierarchie bekommt man als„Clubmitglied“ besseren Zugang zupolitischen und ökonomischen Res-sourcen. Diese Feststellung lässt sichebenfalls durch zahlreiche Umfragenin China bestätigen.2 Nun ist dieserClub sicherlich nicht allein eine An-stalt der Unterhaltung, sondern eingroßer Machtapparat, der überall in

der Gesellschaft und Wirtschaft ein-gebettet ist. Sogar in den scheinbar„parteilosen“ Betrieben, die von Tai-wanesen und Hongkong-Chinesen ge-gründet und gemanagt werden, habensich in den letzten Jahren immer mehrParteizellen eingenistet. Bis vor 2001hatte die KP Ch noch Bedenken ge-habt, dass die „Reinheit“ der Parteidurch die Aufnahme der Privatunter-nehmer beeinträchtigt werden könn-te. Dies hat sich als grundlos erwiesen.Im Jahr 2001 wurde die so genannte„Drei-Repräsentanten-Theorie“ (sangedaibiao lilun) aufgestellt, deren Kerndie Absegnung der Zulassung der Pri-vatunternehmer in den „Club“ bein-haltet. Seitdem gibt es immer mehrPrivatunternehmer, die einen Posten(beispielsweise Delegierter des Volks-kongresses) innehaben und zugleichihr Business betreiben.3

3. Entstehung einer elitärenStruktur

Die chinesische Wirtschaftsreform zeigtin den unterschiedlichen Phasen einendiversen Charakter. In den 80er-Jahrenhat sie den Menschen in China Mög-lichkeiten gegeben, sich selbst hoch zuarbeiten. Es herrschte ein hoher Gradan sozialer Mobilität. Ein Teil der Un-ternehmer, die inzwischen landesweitoder gar weltweit bekannt gewordensind, stammte in den 80er-Jahren nochaus der untersten Gesellschaftsebene.Nach dem Motto „Den Kuchen immergrößer backen“ haben alle Bevölke-rungsschichten von der Reform pro-fitiert.

Seit den 90er-Jahren hat sich aller-dings eine Struktur formiert, die in-zwischen den Entwicklungspfad Chi-

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nas bestimmt. Diese lässt sich als eineKoalition von drei Arten von Elite be-zeichnen: die politischen Eliten, ge-meint sind hier Parteikader und Be-amte, die unmittelbar mit der Machtauf der Lokal- oder Zentralebene ver-bunden sind; die Wirtschaftselite, diein den 80er- und vor allem in den 90er-Jahren beispielsweise durch die Immo-biliengeschäfte ihr Kapital akkumulierthat und die Kulturelite, mehrheitlichdurch Wissenschaftler und Künstlervertreten. Diese drei Parteien sind zwarin hohem Maße aufeinander angewie-sen, aber die politischen Eliten bzw. dieKader und Regierungsbeamten sitzenimmer am längeren Hebel. Dies zeigenauch die Ergebnisse einer Umfrage von2001. In ihr wurde die Frage gestellt:„Wer profitiert von der Reform ammeisten“? Die Befragten vertratenmehrheitlich die Ansicht, dass die Pri-vatunternehmer und namhafte Künst-ler in den 80er-Jahren zu dieser Grup-pe gehörten, während in den 90er-Jah-ren die Parteikader und Beamte dieMacht hatten.4

Was bedeutet nun diese neue elitäreStruktur für China und seine Bevöl-kerung?

3.1 Tauschgeschäft

Bekanntlich verfügt jede Elitegruppeüber bestimmte Ressourcen, zu denenandere elitäre Gruppen oft keinenZugang haben. Im Zeitalter der Wis-sens- und Informationsgesellschaftkönnte unter Umständen ein akade-mischer Titel für Unternehmer undKader nützlich sein. Um ihn zu erwer-ben, wenden sich die Unternehmerund Kader an die Kultureliten. Die Tat-sache, dass namhafte Universitäten wie

etwa die Tsinghua-University oder Pe-king University jährlich Management-kurse für zahlungskräftige Unterneh-mer und Parteikader veranstalten, istein Indiz dafür.

Die politischen Eliten in China unter-drücken die Pressefreiheit. Zugleichaber wissen sie, dass die Intellektuel-len, vor allem die kritischen, sich mitdiesem Zustand nicht gerne abfindenwollen. Aus diesem Grund machen siemit den so genannten Kultureliten ei-nen Deal: Letztere bekommen bessereLebens- und Arbeitsbedingungen undRuhm in der Öffentlichkeit. Als Ge-genleistung verpflichten sie sich, diepolitische Repression anderer kritischerBürger oder auch die Ungerechtigkeitin der Gesellschaft zu dulden, weil dasGegenteil die gegebene politische Ord-nung aus der Sicht der politischen Eli-ten instabil machen würde.

Die Wirtschaftseliten wissen genau,dass sie ohne Zuhilfenahme der politi-schen Eliten keinen oder nicht ausrei-chenden Zugang zu nötigen Ressour-cen bekommen. Allein im Bereich derImmobilien gehört beispielsweise derBoden nach der jetzigen Verfassungdem Staat, wobei die Lokalregierungenim Namen des Staates beliebig handelnkönnen. Um Geschäfte in dieser Bran-che betreiben zu können, hofieren sieLokalfürsten. Es ist kein Zufall, dass dieImmobilienpreise in China rasant stei-gen und die Lokalregierungen keinerleiAbsicht hegen, sie im Interesse der be-dürftigen, jedoch zahlungsschwachenBürger senken zu lassen. Schließlichverdienen sie einen Löwenanteil an derVerpachtung bzw. dem Verkauf desGrundstücks. Zudem lässt sich durchzunehmende Bauaktivitäten die Zahldes BIP (Bruttoinlandsprodukt) stei-

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gern, was in China eines der wich-tigsten Kriterien für die gute Darstel-lung der Kader und Beamten ist. AlsGegenleistung wird von den Behördengeduldet, dass die Bauherren die Preiseder Immobilien in die Höhe treibenoder skrupellos die Bauarbeiter aus-beuten.

3.2 Intensivere Kommunikationzwischen den Elitegruppen

Diese Art von Koalition zwischen dendrei Elitegruppen hat es in der Ge-schichte der VR China nie zuvor gege-ben. In den vergangenen Jahrzehntenwar die Partei oft mit den Wirtschafts-eliten und Intellektuellen verfeindet.Die „Antirechts-Kampagne“ in den50er-Jahren und die Kulturrevolutionin den 60er-Jahren war die markanteForm der Konflikte zwischen der Parteiund den Intellektuellen. Auch der Ver-staatlichungsprozess in den 50er-Jah-ren hatte der KP Ch die Wirtschaftseli-ten zu Feinden gemacht. Nun hat sichdas Blatt durch die Reform gewendet.Dies bedeutet, dass die Zeit, in der diePartei völlig willkürlich nicht nur daspolitische und kulturelle, sondern auchdas Wirtschaftsleben Chinas bestimm-te, vorbei ist. Interaktive Kommunika-tion zwischen diesen drei Gruppen istgefragt. Auf allen Regierungsebenengibt es Think Tanks, die meist aus her-vorragenden Experten bestehen, nichtzuletzt aus denen, die im westlichenAusland bereits Erfahrungen gesam-melt haben und mit dem modernenManagement vertraut sind.

Vor diesem Hintergrund hat sich ein ra-tionaler Führungsstil, zumindest aufder Ebene der Zentralregierung, als‚policymaker‘ entwickelt. Es ist nicht

abzustreiten, dass die Wunder Chinasunmittelbar mit der interaktiven Kom-munikation zwischen diesen drei Elite-gruppen, vor allem zwischen Politikund Wissenschaft, im engen Zusam-menhang stehen. Nirgendwo habendie Wirtschaftswissenschaftler z.B. sichso geschmeichelt gefühlt wie in China,weil sie während der Reformphase vonder Regierung sehr geachtet wurden. Inden letzten 25 Jahren haben knappeine Million junger Studenten undWissenschaftler im westlichen Aus-land studiert bzw. Fortbildungskursegemacht. Davon sind ca. 200.000 be-reits nach China zurückgekehrt.5 Diesestellen wichtige Fachkräfte für die Mo-dernisierung Chinas dar. Kein Entwick-lungsland in der Welt verfügt über die-ses Potenzial an „Heimkehrern“, diefaktisch nicht nur die Kommunikationzwischen Politik, Wirtschaft und Wis-senschaft fördern, sondern auch dieKommunikation zwischen China undder Außenwelt.

3.3 Sozialschwache Gruppen undEliten driften zunehmendauseinander

Noch in den 90er-Jahren wurden inChina die Bauernschaft und die Arbei-terklasse als unverzichtbare Basis derKP Ch propagiert. Durch die Entste-hung einer elitären Struktur erlebteChina in den letzten zehn Jahren einedeutliche Einbuße der politischen Ein-flüsse seitens der arbeitenden Klassen.Dies lässt sich an der zurückgegange-nen Zahl der Delegierten auf dem Volks-kongress aller Ebenen erkennen.6 Ausden ehemaligen „arbeitenden Klassenals Herren des Staates“ hat sich eineReihe von sozialschwachen Gruppenherausgebildet, die immer weniger Ge-

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hör in der Öffentlichkeit finden. DieElitegruppen trennen sich zunehmendvon ihren „Versorgern“, nämlich denarbeitenden Klassen. Die Pressezensurund die Internetkontrolle tragen dazubei, die sozialschwachen Gruppen zumarginalisieren. Die neuen Wohnsied-lungen in der Stadt schaffen immermehr die physische Trennung zwi-schen ‚haves‘ und ‚have-nots‘ in derstädtischen Region. In einem Land, indem Demonstration, Streik, Versamm-lung und Petition als illegal oder ge-setzwidrig betrachtet werden, wirdden sozialschwachen Gruppen prak-tisch der Weg zur Artikulation ver-sperrt. Es ist daher nicht verwun-derlich, dass China den offiziellenAngaben zufolge eine sehr hohe Selbst-mordrate hat (23/10.000 Personen),weit über dem Durchschnittsniveauder Welt (13/10.000 Personen).7

Die Reform hat eine gesellschaftlicheUmstrukturierung herbeigeführt, dieinzwischen eine feste Form angenom-men hat. Eine Untersuchung über dieneuen Sozialschichten zeigt, dass knapp9% der Bevölkerung zu den Großver-dienern gehören. Dazu zählen die Par-teikader, Regierungsbeamte, Manager,Privatunternehmer, Professoren, Pro-minente, Künstler und dergleichen.8

Hingegen hat sich der Lebensstandardbei einem Teil der Bevölkerung dras-tisch gesenkt. Nach der chinesischenoffiziell festgelegten Minimalexistenz-grenze (683 RMB pro Jahr) leben 23,6Millionen der Landbevölkerung unterder Armutsgrenze. Erhöht man jedochdie Minimalexistenzgrenze auf 1 US Dol-lar pro Tag, wie es international der Fallist, dann leben mindestens 15% derchinesischen Bürger noch unter der Ar-mutsgrenze.9 Dies lässt sich durch fol-gende Darstellung verdeutlichen:

• ArbeitsloseDie chinesische Staatsführung hat ge-gen Ende der 90er-Jahre gehofft, dassdurch den Beitritt in die WTO und dasimmer höher werdende Wirtschafts-wachstum mehr Arbeitsplätze geschaf-fen werden könnten. Dies ist allerdingsausgeblieben. Das Wirtschaftsvolumenist in den letzten Jahren tatsächlichgrößer geworden, aber die Zahl derArbeitsplätze hat sich nicht vergrö-ßert. Abgesehen von denen, die meistvon Staatsbetrieben entlassen wurden,können allein dieses Jahr 14 Millionenjunge Stadtbewohner keine Arbeit fin-den. Nach Einschätzung der Expertenliegt die Zahl insgesamt bei 70–80Millionen. Auf dem Land gibt es200–300 Millionen überflüssige Ar-beitskräfte.10

• Landlose Landwirte und neue Armutder Stadtbevölkerung

Offiziellen Angaben zufolge gibt es der-zeit 70 Millionen Landwirte, die ihrLand verloren haben.11 In den meistenFällen sind die Lokalbehörden der Ver-ursacher dieses Zustandes. Die Acker-länder wurden in großer Menge zwecksErweiterung der Stadt, des Autobahn-netzes oder Gründung lokaler Wirt-schaftszonen gegen eine unverhält-nismäßige Kompensation den Land-wirten und teilweise auch den Stadt-bewohnern weggenommen, sodassviele über Nacht arbeitslos und ob-dachlos geworden sind. Eine Untersu-chung darüber zeigt, dass sich die Men-ge der durch die Lokalregierungen„entfremdeten“ Ackerländer seit 2001verdoppelt hat.12 Auch ein Teil derStadtbevölkerung leidet unter der sogenannten Modernisierung von Wohn-häusern. Ca. 70% der Stadtbevölkerungkann sich keine Wohnung leisten, ob-wohl in jeder Stadt viele Wohnhäuser

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leer stehen. Zudem wurden die Gerich-te in China vom Staat angewiesen, kei-ne Klageschriften im Zusammenhangmit der Zwangsumsiedlung und demungerechten Ausgleich anzunehmen,wohlwissend, dass die (Lokal)Regierun-gen selbst in den meisten Fällen betei-ligt sind.13

• Diskriminierte WanderarbeiterDie Diskriminierung der Wanderarbei-ter ist überall in China anzutreffen. Al-lein die Löhne für Wanderarbeiter ha-ben sich in den letzten zehn Jahren defacto nicht erhöht. Dies hat zur Folge,dass die zweite Generation der Wan-derarbeiter faktisch weniger verdientals ihre Väter, die in den 80er-Jahrenund Anfang der 90er-Jahre ebenfalls alsWanderarbeiter ihren Lebensunterhaltdurch die Arbeit in der Stadt bestrittenhaben. Es ist keine Seltenheit, dass inmanchen Orten die Löhne für die Wan-derarbeiter, vor allem für die Bauarbei-ter, gar nicht ausgezahlt werden. Dawiederum die Regierungsbehörden oftselbst Auftraggeber der Bauarbeit sind,erschwert sich die Prozedur der Einfor-derung. Das Ergebnis einer jüngstenUmfrage bei den Wanderarbeiternzeigt, dass nur ein Drittel der Wander-arbeiter einen Vertrag mit dem Arbeit-geber hat. 74% der Befragten wissennicht, was eine Sozialversicherung ist.51,3% der Befragten arbeiten wöchent-lich 41–60 Stunden, 32,9% gar über 61Stunden.14

• Mangelndes soziales NetzDerzeit haben nur 170 Millionen Bür-ger in China eine Rentenversicherung;130 Millionen sind krankenversichert.Der Rest bzw. die Mehrheit der chinesi-schen Bürger wird von keinem sozialenNetz aufgefangen. Auf dem Land lebtdie Bevölkerung mehrheitlich ohne So-

zialversicherung. 80% der chinesischenBürger trauen sich im Fall einer Er-krankung nicht, zum Arzt zu gehen,weil sie es sich nicht leisten können.15

4. Probleme

Wie eingangs erwähnt, ist es nicht zuverleugnen, dass China im Bereich derWirtschaft beachtliche Erfolge erzielthat. Hier ist leider kein Platz, um ausder Sicht der Wirtschaftswissenschaftdarüber zu diskutieren, ob Chinas Er-folge auf fester Basis beruhen. Wennwir jedoch die zuvor ausgeführten Fak-ten vor Augen führen, dann ist es vor-stellbar, dass sich hinter diesen Erfol-gen eine potenzielle Krise im Hinblickauf die gesellschaftlichen Konflikte ver-birgt. Dies zeigen schon die steigendenZahlen der Unruhen. Während im Jahr2003 15.000 Demonstrationen, Sit-insund Streiks stattgefunden haben, gab es2004 bereits 70.000 ähnliche Aktio-nen16. Die Zentralregierung ist höchstalarmiert.

Um die Stabilität zu gewährleisten,wurde in den letzten Jahren eine Reihevon Maßnahmen getroffen. Eine da-von ist die Einführung eines Vorwarn-systems seit Anfang 2006. Dabei wer-den die Lokalregierungen aufgefordert,statt in Klassenkampfdenkweise dieKrisensituation differenziert zu sehen.Damit will die Zentralregierung ver-mitteln, dass nicht jede Krise politischauszulegen sei. D.h. im Fall einerNaturkatastrophe, eines Unfalls odereiner Vergiftung durch Umweltver-schmutzung oder Mangel an medizi-nischer Versorgung soll mehr einesachliche, behutsame Handhabung ge-braucht werden statt politischer Re-pressalien. Allerdings soll auch die

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Gefahr erkannt werden, dass jede Artvon unpolitischer Krise zu einem po-litischen Ereignis ausgeweitet werdenkann.17 Die Praxis auf der Lokalebenezeigt, dass die Lokalregierungen trotzdieser Anweisung lieber „harte Metho-den“ verwenden.

Angesichts der Tatsache, dass die Lo-kalregierungen der Zentralregierunggegenüber das wahre Krisenausmaßgerne vertuschen, wurde 2005 folgendeBerichterstattungsregel festgelegt: Beieiner Demonstration oder Versamm-lung von 30 Personen aufwärts ist bei-spielsweise eine Stadtregierung ver-pflichtet, innerhalb von acht Stundenbei der Zentralregierung über die Ur-sache, die von der Stadt getroffenenMaßnahmen und Möglichkeiten zurLösung des Konflikts zu berichten. Beieiner Demonstration von 500 Personenaufwärts muss die Zentralregierunginnerhalb von zwei Stunden infor-miert werden. Bei 1000 Personen mussdies sogar innerhalb einer Stunde ge-schehen.18

Zu den weiteren Maßnahmen zähltnoch die Korrektur der Entwicklungs-strategie. Lange Zeit war die Meinungin China vorherrschend, dass die Prob-leme mit den Arbeitslosen auf demLande und der Armut in den ländli-chen Regionen usw. durch den raschenUrbanisierungsprozess zu lösen seien.Anfang 2006 wurde allerdings eineneue Politik formuliert: Statt auf einebessere Zeit der raschen Urbanisierungzu warten, sollen jetzt schon die Prob-leme mit der Landwirtschaft und Land-bevölkerung angepackt werden, d.h.,weg von der Illusion der raschen Ur-banisierung. Diese neue Politik beruhtauf den Erkenntnissen, dass das Stadt-Land-Gefälle im Hinblick auf das Ein-

kommen zu groß ist. Ein durchschnitt-licher Stadtbewohner bekommt 10,7-mal mehr als ein Landbewohner. DieZentralregierung hofft, das Leben derLandbevölkerung durch finanzielle Un-terstützung aufbessern zu können. Ausdem Budget sollen 2006 z.B. 339,7 Mil-liarden RMB für die Landwirtschaft, dieBauern und die Infrastruktur fließen.Das wären 14,2% mehr als die vorjäh-rige Ausgabe für die ländliche Region.Es ist jedoch nicht klar, ob diese Unter-stützung der Landbevölkerung wirk-lich zugute kommt, wenn man be-denkt, dass viele Lokalregierungen(Kreisebene abwärts) derzeit bereits miteinem Schuldenberg von 600 Milliar-den RMB belastet sind.19

Parallel zu den zuvor genannten „sanf-ten“ Maßnahmen zeigt die Regierungallerdings auch die Entschlossenheitzur „Bewahrung der Stabilität“. Dazugehören beispielsweise unvermindertharte Maßnahmen der Pressezensur inForm von Selbstzensur der Redakteureund Journalisten. Auch wird die Inter-netkontrolle „vervollständigt“ und zu-nehmend institutionalisiert. Eine wei-tere Entwicklung in dieser Richtungzeigt sich zudem in der Einführungeiner Sonderpolizei in 36 Großstädten,die schnell auf jede Art von Krisen-situation reagieren kann.20 ModerneÜberwachungsanlagen in der Stadt sol-len den Sicherheitsbehörden dazu ver-helfen, jede Art von Unruhen im Keimersticken zu lassen. Allein in der süd-chinesischen Stadt Guangzhou wurden250.000 Videokameras zur Überwa-chung der Straßen installiert. In derStadt Shenzhen haben neuerdings dieSicherheitsbehörden die Stadtbevölke-rung darauf hingewiesen, dass die Ver-sammlung von mehr als fünf Personengesetzwidrig sei.21

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All diese Maßnahmen zeugen davon,dass die chinesische Staatsführung ge-genüber potenziellen gesellschaftli-chen Konflikten sehr wachsam ist. Al-lerdings fällt es der Partei schwer, diegoldene Mitte zu finden, weil der Wi-derstand allein aus den eigenen Reihenschon sehr groß ist. Die Sympathie fürdie sozialschwachen Gruppen, die derjetzige Premier in der Öffentlichkeit be-kundet, hat zwar in der BevölkerungHoffnung auf eine bessere Gesellschafterweckt, allerdings sind viele Gegen-stimmen aus dem eigenen „Club“ zuhören. Zudem befindet sich die Parteiselbst auf der Ideologieebene immernoch in einem unlösbaren Wider-spruch: Einerseits wird offiziell guteMoral hochgehalten, andererseits istder Geldfetischismus bzw. Machtfeti-schismus landesweit so verbreitet, dasses bis zu einem gewissen Grad in vielenBereichen viel grausamer zugeht als imFrühkapitalismus im Westen.

5. Wohin steuert China undwohin die Partei?

Die Zukunft Chinas wird bestimmtdurch das Zusammenspiel von mehre-ren Faktoren, die sowohl politischenals auch ökonomischen Charakter ha-ben. Egal, ob man es aus der politi-schen oder ökonomischen Sicht be-trachtet – die nächsten 10–15 Jahresind entscheidend für China. Die vier-te Führungsgeneration hat die Proble-me des raschen Wirtschaftswachtumserkannt. Nun kommt es darauf an, obsie in der Lage ist, innerhalb der nächs-ten 10–15 Jahre die Transformation inden drei Bereichen zu schaffen. Erstenshandelt es sich um die Transformationeiner arbeitsintensiven, energiever-schwenderischen, umweltzerstörenden

Wirtschaft in eine High-Tech orientier-te, sparsame und umweltfreundlicheWirtschaft. Zweitens geht es um denAufbau eines sozialen Sicherungssys-tems. Rein demografisch gesehen wirdChina in 10–15 Jahren nicht mehr inder Lage sein, weiterhin als Weltfabrikzu fungieren, weil die chinesische Ge-sellschaft buchstäblich eine Alterungs-gesellschaft sein wird. Wenn bis dahinkein funktionsfähiges Sozialnetz vor-handen ist, wäre es nicht nur für ältereMenschen eine Katastrophe (teilweiseist es heute bereits der Fall), sondernauch für die jüngeren, die nicht vombisherigen Wachstum profitieren kön-nen und sich gar opfern müssen. Drit-tens ist die Transformation der Ideolo-gie von Bedeutung. In China sprichtman gerne von Innovation. Im Bereichder Wirtschaftsreform scheint die Par-tei tatsächlich innovativ genug gewe-sen zu sein. Allerdings ist auch ent-scheidend, ob die Partei in der Lage ist,das Spannungsfeld zwischen hoherMoral und grausamem Geld- undMachtfetischismus zu verringern. Da-zu benötigt man beispielsweise nicht-parteiliche oder außerparteiliche Kräftewie etwa die Religionen (das Christen-tum, der Buddhismus und der Taois-mus), bei denen die Menschen seeli-sche Ausgeglichenheit finden.

Was für Konsequenzen diese drei Artenvon entweder erfolgreicher oder miss-lungener Transformation haben könn-ten, zeigen diese drei Optionen. Dieerste wäre, dass China sich auf einengesunden Entwicklungsweg bringt, wiees im 11. Fünfjahresplan intendiert ist,indem das ausgeglichene Wachstumparallel zu einer „harmonischen Ge-sellschaft“ gewährleistet wird. Die zwei-te Option wäre, dass China sich zueinem nationalistischen, aggressiven

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Land entwickelt, begleitet von einemAblenkungsmanöver, mit dem die Re-gierung versuchen würde, die interneKrise auf die Außenwelt zu übertragen(beispielsweise auf Japan, Taiwan oderdie Länder um das SüdchinesischeMeer). Die dritte Option wäre die La-teinamerikanisierung Chinas, ein Be-griff, der heute schon in China hin-

sichtlich einer ungleichen Verteilungvon Reichtum und Ressourcen verwen-det wird.

Für Chinas Zukunft wäre natürlich dieerste Option wünschenswert. Es ist dieAufgabe der internationalen Welt, diechinesische Staatsführung in dieserRichtung zu beeinflussen.

Anmerkungen1 Siehe: http://www7.chinesenewsnet.com/

gb/MainNews/SinoNews/Mainland/zxs_2006-05-04_725913.shtml

2 Zhang, Junhua: Die Entstehung einerneuen elitären Struktur – Hoffnungen,Ambivalenzen und Kontroversen, in:China heute, 2005, Nr.3 (139), S.92–103,St. Augustin: China Zentrum e.V.

3 Zur Geschichte dieses Wandelprozessessiehe Coble, Parks M. (2004): „Is ChinaGoing Capialist“, in: www.isp.msu.edu/studiesonasia/Coble.pdf

4 Xueyi, Lu: Dangdai zhongguo shehuijieceng yanjiu baogao (Bericht über dieErforschung der Sozialschichten im heu-tigen China), Beijing 2002: Shehui kexu-eyuan chubanshe.

5 Ohne Autorangabe: Zhongguo jiang zhi-chi gengduo nianqinren fuhaiwai liuxue(China wird mehr junge Menschen beimStudium im Ausland unterstützen), in:http://news.creaders.net/headline/newsPool/19A270522.html

6 Zhang, J., Die Entstehung einer neuen eli-tären Struktur.

7 Ohne Autorangabe: Zhongguo yichenggao zishalü guojia (China ist ein Land mithoher Selbstmordrate geworden), in:http://news.xinhuanet.com/edu/2005-09/12/content_3479068.htm

8 Youmei, Li/Liping, Sun: Dangdai zhong-guo shehui fengchen: Lilun yu shizheng(Die Strukturierung der gegenwärtigenchinesischen Gesellschaft – Theorie undNachweis), Beijing 2006: Shehui kexuewenxian chubanshe, S.1–35.

9 Zhongxianm, Gu: Zhongguo Fupin mi-anling sida wenti (China ist bei der Ar-mutsbekämpfung mit vier Problemenkonfrontiert), in: http://www.chinaga-te.com.cn/chinese/yw/45349.htm, siehe

auch: http://hlj.rednet.com.cn/Articles/2006/05/858798.HTM

10 Siehe: http://www7.chinesenewsnet.com/gb/MainNews/SinoNews/Mainland/cna_2006_03_17_22_00_31_982.html

11 Siehe: http://www1.chinesenewsnet.com/gb/MainNews/SinoNews/Mainland/2006_5_10_14_39_19_468.html

12 Ebda.13 Siehe: http://www.takungpao.com.hk/

news/06/05/11/ZM-563894.htm14 Zhimin, Liao: Gongren gongzi 12 nian

meizhang (Keine Lohnerhöhung für dieArbeiter seit 12 Jahren) in: http://hlj.rednet.com.cn/Articles/2005/11/768331.HTM

15 Youmei, L./Liping, S., Dangdai zhongguoshehui fengchen: Lilun yu shizheng.

16 Zhang, J., Die Entstehung einer neuen eli-tären Struktur.

17 Yuchuan, Mo: woguo gonggong tufashijian yingdui jizhi he yingji fazhizhengzai wunjian fazhang (Gesunde Ent-wicklung eines Vorwarnmechanismusund dessen rechtlichen Rahmens), in:http://www.calaw.cn/include/shownews.asp?newsid=6445

18 Zhang, Z., Die Entstehung einer neuenelitären Struktur, S.99.

19 Siehe: http://www7.chinesenewsnet.com/gb/MainNews/SinoNews/Mainland/zxs_2006-02-21_692899.shtml

20 Ohne Autorangabe: 36 ge chengshi chen-gli tejingdui zhuanbei teshu (Gründungder Sonderpolizei in 36 Städten und de-ren Ausrüstung), in: http://www.peace-hall.com/news/gb/china/2005/12/200512150254.shtml

21 http://www.chinesenewsnet.com/gb/MainNews/SinoNews/Mainland/cna_2006_03_03_23_00_32_823.html

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Bereits 1979 hat die Hanns-Seidel-Stif-tung den Kontakt zur VolksrepublikChina aufgenommen. Ihr erster Ge-sprächspartner war die politisch ein-flussreiche „Chinesische Gesellschaftfür Freundschaft mit dem Ausland“ mitSitz in Peking. Diesem Partner ist dieHanns-Seidel-Stiftung auch heute nochaufs Engste verbunden, was sich u.a. ineinem regen Parlamentarieraustausch,einem innerchinesischem Stipendia-tenprogramm und durch nationale undinternationale Symposien und Work-shops zu unterschiedlichen politischenHandlungsfeldern widerspiegelt.

Durch Vermittlung der Freundschafts-gesellschaft nahm die Hanns-Seidel-Stiftung 1980 den bildungspolitischenDialog mit der damaligen „Staatskom-mission für Bildungswesen“ auf, die1994 im Zuge der Verwaltungsreformzum Ministry of Education umgestaltetwurde. Zielsetzung der Zusammenar-beit zwischen dem Ministry of Educa-tion und der Hanns-Seidel-Stiftung warund ist es auch heute noch, die von derchinesischen Regierung 1980 angesto-ßene Bildungsreform nachhaltig zu för-dern. Durch die Wirren der Kulturrevo-

lution, aber auch aus einem tief verwur-zeltem konfuzianischen Bildungsver-ständnis heraus, präsentierte sich in derVolksrepublik China Anfang der 80er-Jahre ein Bildungssystem, das den neu-en Herausforderungen im Kontext dervon Deng Xiaoping angestoßenen chi-nesischen Öffnungspolitik und der da-mit einhergehenden Transformations-prozesse nicht mehr entsprechen konnte.

Wesentliche Bildungsziele waren imersten Ansatz: die Einführung einerneunjährigen Schulpflicht sowie diegrundlegende Umgestaltung der beruf-lichen Bildung, die sich durch vereng-te Fachrichtungen (Ausbildungsinhal-te) und eine hohe Theorieorientierungauszeichnete. Ausgehend von dieserIst-Analyse wurde der entwicklungspo-litische Auftrag für die Hanns-Seidel-Stiftung abgeleitet. Zur Einführung derneunjährigen Schulpflicht war u.a. ei-ne Grundvoraussetzung die quantitati-ve und vor allem qualitative Bereitstel-lung von Lehrpersonal der Grund- undHauptschulen.

Das deutsche Bildungssystem, vor al-lem aber das „Deutsche duale berufli-

Exkurs: Die Arbeit derHanns-Seidel-Stiftung in der

Volksrepublik China

Jürgen Wilke/Willi Lange

Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

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che Bildungssystem“ erfreute sich inder VR China einer hohen Wertschät-zung. Es wurde von den chinesischenBildungsexperten als die Geheimwaffefür den wirtschaftlichen Wiederaufbauder Bundesrepublik gewertet.

Mit dem Aufbau zweier Bildungszen-tren, im allgemein bildenden Bereichzur Lehrerfortbildung in Shanghai undim berufsbildenden Bereich zur Ausbil-dung mit Aufstiegsbildung für Baube-rufe in Nanjing, begann 1982 die kon-krete Bildungsarbeit. Damit wurdeauch eine, an die Erfordernisse der Bil-dungszentren angepasste Fort- undWeiterbildungsoffensive für Schullei-ter, Lehrer und Dozenten sowie für Ent-scheidungsträger aus dem Bildungs-bereich und Umfeld der Bildungszen-tren aufgenommen.

Nach dem erfolgreichen Beginn dieserZentren wurden bis Anfang der 90er-Jahre weitere Projekte aufgebaut, u.a.für industrielle Fertigungsberufe (Me-tall/Elektro), Managementtraining fürFührungskräfte aus Wirtschaft und Ver-waltung sowie im Bereich der Land-wirtschaft. Sie nehmen mittlerweilemit Blick auf die nationale Bildungsre-form eine zentrale Stellung ein. Nebender Förderung der formalen dreijähri-gen Berufsbildung und Entwicklungeines am Bedarf orientierten breitgefächerten Berufsbildungsangebotesübernehmen und konzipieren sie Pilot-projekte, die sich empirisch mit einemdurchlässigen beruflichen Bildungswegbeschäftigen.

Abgerundet wird das Programm durchdie Zusammenarbeit im Hochschulbe-reich mit der Einrichtung praxisorien-tierter Studiengänge und der Stipen-dienvergabe an junge Wissenschaftler

durch das Förderungswerk der Hanns-Seidel-Stiftung .

Inzwischen ist ein Netzwerk von insge-samt 13 Bildungs- und Kompetenzzen-tren entstanden, die den gesamten Bil-dungsbereich abdecken, von der Früh-pädagogik über die Allgemeinbildung,die berufliche Bildung bis hin zur Hoch-schul- und Erwachsenenbildung.

1993 vereinbarten das Ministry of Edu-cation und die Hanns-Seidel-Stiftung,ein Informations- und Koordinierungs-zentrum in Peking einzurichten. We-sentliche Aufgabe dieses Zentrums istes, die Arbeitsergebnisse und Erfahrun-gen aus den Bildungszentren zu bün-deln, sie informativ aufzubereiten undan den Partner, das Ministry of Educa-tion, weiterzugeben. Darüber hinaus istdas Informations- und Koordinierungs-zentrum Ansprechpartner für weiterezentrale Partner, die Zentrale Partei-hochschule, den Allchinesischen Frau-enverband und die Freundschaftsge-sellschaft. Mit diesen Partnerorganisa-tionen werden Programme konzipiertund durchgeführt, die die gesellschaft-lichen, sozialen und wirtschaftlichenReformprozesse begleiten sollen. Begeg-nung, Bildung und empirische For-schung sind im Kontext dieser Aktivi-täten die herausragenden Querschnitts-themen.

In der Kooperation mit dem „Allchine-sischen Frauenverband“ als größte Or-ganisation chinesischer Frauen undunter dem Leitthema „Armutsminde-rung, schonende Nutzung von Res-sourcen, Förderung der Stellung derFrau in Familie und Gesellschaft“,Reintegration in den Arbeitsmarkt u.a.,fördert die Hanns-Seidel-Stiftung bei-spielsweise die berufliche Qualifizie-

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rung von Mädchen und Frauen ausstrukturschwachen Regionen. Vergabevon rückzahlbaren Krediten zu derenExistenzgründungen sowie nachfol-gende Beratungen runden das Förder-programm ab. Die berufliche Quali-fizierung findet in den kooperativenBildungszentren statt bzw. in derenHeimatregionen.

Die Entwicklung der ländlichen Räumein der Volksrepublik China hat poli-tisch höchste Priorität. Daher wurdemit dem Ministry of Land and Resour-ces Ende 2004 das nationale „Bildungs-und Forschungszentrum für Flur-neuordnung und Landentwicklung“in Qingzhou (Provinz Shandong) er-öffnet. Auftrag und Zielsetzung desZentrums ist es, einen nachhaltigenBeitrag zur Entwicklung der ländli-chen Räume zu leisten durch empiri-sche Forschung und Erwachsenenbil-dung, Anfertigung von Studien, Exper-tisen und Gutachten zur Regional-entwicklung, Bildung und Beratungvon unterschiedlichen Zielgruppenunterschiedlicher Ebenen und Fach-disziplinen sowie einen Fachdialogzwischen chinesischen und deutschenExperten in China und in Deutsch-land. Initialzündung für dieses Bil-dungs- und Forschungszentrum sinddie positiven Ergebnisse aus dem Pilot-projekt „Dorferneuerung und Flur-neuordnung“ aus der Gemeinde NanZhang Lou (Provinz Shandong), das dieHanns-Seidel-Stiftung von 1990 bis2002 förderte.

In Abstimmung mit dem Ministry ofEducation wurden ab 2002 zwei we-sentliche Schritte eingeleitet. Zunächstdie Gründung des RegionalprojektesChina. Die einzelnen kooperativen Bil-dungs- und Kompetenzzentren sind

unter diesem Dach fachlich vernetztzusammengefasst. Im Rahmen des Re-gionalprojektes werden zwei wesent-liche Ziele verfolgt:

Ausbau und Entwicklung der Bildungs-zentren zu Dienstleistungszentren füreine nachhaltige Förderung der Bil-dungsreform. Das heißt:

• kontinuierliche Aus- und Fortbil-dung von Multiplikatoren;

• Anpassung der technischen Ausstat-tung an den berufsbildenden Bedarf;

• Entwicklung neuer Berufsfelder undBerufe nach wirtschaftlicher und ge-sellschaftlicher Anforderung bzw.deren Neuordnung;

• Erstellung von bildungspolitischen,innovativen Konzepten wie z.B.die „Höhere Berufsbildung“ und de-ren Durchführung als Pilotprojektund

• Monitoring und Evaluierung allerbildungspolitischen Aktivitäten fürbildungspolitisches Handeln im Kon-text der Bildungsreform.

Förderung der Bildung in den West-regionen Chinas. Die Bildungszentrensollen in einem vernetzten Ansatz durchBereitstellung ihrer personellen undtechnischen Infrastruktur, ihrer Erfah-rungen und Arbeitsergebnisse den West-provinzen Hilfestellung bei der quali-tativen Entwicklung ihres Bildungswe-sens geben.

Mit der neuen Projektphase 2005bis 2007 wird zugleich ein neues Ka-pitel in der bilateralen Zusammen-arbeit aufgeschlagen. Im Rahmen ei-ner inhaltlichen erweiterten Ausrich-tung des Regionalprojektes werdenzukünftig drei Bereiche zentral unter-stützt:

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• Die umfassende Reform und Ent-wicklung des Bildungswesens alseine elementare Voraussetzung fürdie nachhaltige Entwicklung auchstrukturschwacher Regionen,

• die Förderung sozialer und gesell-schaftlicher Ausgewogenheit, u.a.durch Wissenschafts- und Politik-dialog sowie durch fachlichen Aus-tausch im Sinne eines Fort- undWeiterbildungsprogramms und

• die Entwicklung strukturschwacherRegionen durch geeignete Maßnah-

men zum Abbau von Disparitätenzwischen entwickelten und wenigerentwickelten Regionen, insbeson-dere im Westen der VolksrepublikChinas.

In einer Zeit des raschen wirtschaftli-chen, technischen, gesellschaftlichenund sozialen Wandels und im Kontexteiner zunehmenden Globalisierungvon Märkten und der Begegnung derKulturen kommt diesen Bereichen eineherausragende Bedeutung zu.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

1. Einführung

Die Wirtschaft und ihre Entscheidungs-träger stehen zunehmend in der Kritik:Gewinnsucht und Profitgier würdenimmer stärker dominieren, die sozialeVerantwortung der Wirtschaft dagegenimmer weiter zurückgedrängt, lautenzusammengefasst die Vorwürfe. JedeMeldung von Arbeitsplatzverlagerun-gen und Unternehmensschließungen,Managergehältern und Börsengewin-nen gibt der Kritik neue Nahrung. Ka-pitalismuskritik ist inzwischen schonzum Dauerbrenner geworden, „Öko-nomisierung“ und Globalisierung müs-sen als Wurzel allen Übels herhalten.

Worum geht es in der Wirtschaft? Wasist ausschlaggebend für die Entschei-dungen der Verantwortungsträger inden Unternehmen? Ziel eines Unter-nehmens ist und muss es sein, seinePosition im Markt zu sichern und da-mit wettbewerbs- und zukunftsfähig zubleiben. Nur dann kann es Arbeitsplät-ze schaffen sowie zu Wohlstand undFortschritt in der Gesellschaft beitra-gen. Gewinn signalisiert, dass die Stra-tegie des Unternehmens richtig ist. Ge-

winn ist daher nicht alles, aber ohneGewinn ist alles nichts.

2. Unverzichtbare Gewinn-orientierung

„Wer als ordentlicher UnternehmerGewinne erzielt, der hat andere von sei-ner Leistung überzeugt und ihnen ge-holfen. Und nur wer Gewinne erwirt-schaftet, kann den Fortbestand seinesUnternehmens durch Investitionen si-chern, seine Mitarbeiter weiterbeschäf-tigen und zusätzliche Arbeitsplätzeschaffen.“ So hat es BundespräsidentHorst Köhler beim Arbeitgeberforumder BDA „Wirtschaft und Gesellschaft“2005 formuliert. Auch die Kirchen, dienicht im Verdacht stehen, mit Kritik ander Wirtschaft hinterm Berg zu halten,haben die Bedeutung des Unterneh-mers herausgestrichen: „Unternehmer,die sich mit ihrem Kapitaleinsatz undihrer Entscheidungsfreudigkeit den Ri-siken des Wettbewerbs aussetzen unddabei Arbeitsplätze und Güter schaffen,verdienen auch unter moralischenGesichtspunkten hohe Anerkennung“,heißt es im gemeinsamen „Wort zur

Werte-Orientierung in Unter-nehmen: Wirtschaft ohne Werte?

Donate Kluxen-Pyta

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Werte-Orientierung in Unternehmen 61

wirtschaftlichen und sozialen Lage inDeutschland“ von 1997. Bischof Wolf-gang Huber, Vorsitzender des Rates derEvangelischen Kirche in Deutschland,warnte jüngst ausdrücklich vor einer„pauschalen Schelte der deutschenWirtschaft“. Er appellierte an die Kir-chen, ihre Ethik wirtschaftsverträglichzu gestalten, denn: „Sie nützt unsnichts, wenn weiterhin Firmen schlie-ßen und Arbeitsplätze verloren gehen“.

Der Zweck der Wirtschaft ist es, dieMenschen mit Gütern und Dienstleis-tungen zu versorgen – in ausreichenderMenge, zu marktfähigen Preisen undmit der gewünschten Qualität. Das istder Dienst der Wirtschaft am Men-schen. Der zurzeit geschmähte „Kapi-talismus“ ist es, der im Wechselspielvon Angebot und Nachfrage die Güterund Dienstleistungen am effektivstenbereitstellt. Diese ethische Dimensiongeht in der Diskussion völlig unter.

Was heute oft vergessen wird: Für Lud-wig Erhard stand der Kunde im Mittel-punkt der Sozialen Marktwirtschaft.Die Leistung einer Marktwirtschaft be-steht darin, dass sie die flächendecken-de Versorgung der Bevölkerung mitGütern und Dienstleistungen sicher-stellt und zudem eine Fülle von preis-werten und guten Angeboten für dieKunden bietet. „Wohlstand für alle“,das berühmte Schlagwort Erhards hießvor allem: Konsummöglichkeiten füralle durch ein breites und erschwing-liches Angebot, das durch den Wett-bewerb möglichst vieler und unter-schiedlicher Anbieter gewährleistetwird. Damit sollte zugleich auch derUnterschied zwischen den sozialenSchichten eingeebnet werden. DerMarkt ist ein Käufermarkt, kein Ver-käufermarkt und das macht den sozia-

len Charakter der Marktwirtschaft aus.Der Staat muss für die entsprechendeWettbewerbsordnung sorgen.

3. Rahmenordnung als Ort derMoral

Wirtschaftsethiker aus der Wissenschaftbetonen, dass es die Rahmenordnungist, an die wir die Frage nach der Moralstellen müssen, und nicht an die ein-zelnen Unternehmen. Nach Karl Ho-mann, einem der führenden Wirt-schaftsethiker Deutschlands, habenStaat und Politik die Aufgabe, dieRahmenbedingungen des Wirtschaf-tens so zu gestalten, dass ethisch ver-antwortungsvolles Verhalten möglichist und sogar belohnt wird und sichunmoralisches Verhalten wirtschaft-lich nicht „lohnt“.

Die Rahmenordnung des Wettbewerbslegt die allgemeinen Spielregeln fest,aber nicht die einzelnen Spielzüge derMitspieler – die Spielzüge sind frei. DieSpielregeln sind von ethischen Wertenund Zielen geleitet und inspiriert – inDeutschland durch die Werte desGrundgesetzes. Damit brauchen dieSpieler, wenn sie sich an die Regeln hal-ten, sich mit ihren Zügen nicht auchnoch jeweils eigens an ethische Werterückzukoppeln. Unternehmen sind in-nerhalb dieser Rahmenordnung viel-mehr völlig frei, ihre ökonomischen Ei-geninteressen zu verfolgen. Dabei kön-nen sie zugleich davon ausgehen, dasssie sich genau damit korrekt verhalten– auch in ethischer Hinsicht – und inder Gesamtwirkung schließlich das Ge-meinwohl fördern. Die „Gewinnmaxi-mierung ist daher nicht ein Privileg derUnternehmen, für das sie sich ständigentschuldigen müssten, es ist vielmehr

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ihre moralische Pflicht, weil genau diesVerhalten – unter Voraussetzung einergeeigneten Rahmenordnung – den In-teressen der Konsumenten, der Allge-meinheit am besten dient“, wie KarlHomann meint.

Die Wettbewerbsordnung muss alsodafür sorgen, dass, wer ethisch handelt,nicht der Dumme ist. Von niemandemkann ja vernünftigerweise erwartetwerden, dass er sich selbst schadet. Ap-pelle, über den ökonomischen Schat-ten zu springen, können von Unter-nehmen nicht aufgegriffen werden,weil sie nach der ökonomischen Logikhandeln müssen und Logik gilt. Des-halb, so diese wirtschaftsethische Posi-tion, müssen die Konkurrenten dersel-ben Wettbewerbsordnung unterworfensein, d.h. einem verbindlichen Ord-nungsrahmen, den der Staat vorgibt.

Das Unternehmen kann sich daraufkonzentrieren, seine Position im Marktzu sichern und damit wettbewerbs-und zukunftsfähig zu bleiben. Nurdann kann es Arbeitsplätze schaffen,Lebens- und Entfaltungschancen bie-ten, zu Wohlstand und Fortschritt inder Gesellschaft beitragen, hat Frei-raum für weiteres Engagement undkann seiner ethischen Verantwortungnachkommen. Betriebswirtschaftlichunverantwortliche Entscheidungen, dieden Bestand und die Zukunftschanceneines Unternehmens und damit auchseiner sozialen Funktionen gefährden,dürfen nicht sein. Was ökonomischunvertretbar und verantwortungslosist, kann daher auch nicht eine morali-sche Pflicht bilden.

Die Qualität der Rahmenordnung zeigtsich daran, dass sie die Eigengesetzlich-keit der Ökonomie berücksichtigt, also

die Wirtschaft nicht einengt, sondernfördert. Sonst würden die gewünschtenEffekte nämlich verfehlt und auch dasGemeinwohl gerade nicht gefördert.Das engmaschige Netz an Vorschriftenund Richtlinien, das wir in Deutsch-land haben, neigt leider zu letztererTendenz.

Diese Position hat bisher, so kann mansagen, den mehrheitlichen Konsensder Wirtschaftsethik in Deutschlanddargestellt. Das ist in unserem Staatund seiner Ordnung und auch im Rah-men der Europäischen Union sicherrichtig. Wir setzen in den politischenDiskussionen so an, dass wir nach dennotwendigen Gesetzen und Verord-nungen fragen, mit denen wir errei-chen können, dass Unternehmendurch ihr wirtschaftliches Handelnauch zugleich andere Ziele mitbewir-ken – Arbeitsplätze schaffen, natürlicheRessourcen möglichst schonend undeffektiv nutzen, Entfaltungschancenbieten u.a.m.

4. Neue Probleme durch dieGlobalisierung

Aber diese wirtschaftsethische Positionwirft heute wieder Fragen auf:

• Zum einen lässt jede Ordnung, diedie notwendige Freiheit der Unter-nehmen nicht zu sehr einengen will,Spielräume offen, bei denen sich derEinzelne so oder auch anders ver-halten kann und schließlich dochwieder die persönliche Moral gefragtist. Der Philosoph Peter Koslowskihält daher nach wie vor eine Tugend-ethik für die handelnden Personenfür notwendig, weil die Rahmen-ordnung einfach nicht alles klären

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kann. Es ist sicher richtig: Die per-sönliche Verantwortung jedes Ein-zelnen für sein Tun und Lassen istnicht zu ersetzen. Eine Selbstver-pflichtung kann dabei eine Brückeschlagen.

• Zum anderen haben wir durch dieGlobalisierung einen weltweitenMarkt, in dem sich Unternehmenbewegen und im Wettbewerb stehen– teilweise sogar in einem sehr har-ten Wettbewerb –, in dem es aberkeine Rahmenordnung gibt. Es gibtauch keinen Weltstaat, der eine sol-che Rahmenordnung wirksam um-setzen könnte, und niemand wirdernsthaft einen solchen allumfassen-den Weltstaat haben wollen.

Die Erwartungen an die Moral derUnternehmen und ihre Führung sinddaher in jüngster Zeit immens gewach-sen – vergessen wir nicht, dass dieMenschen extrem auf die Wirtschaftund ihre Unternehmen angewiesensind: ihre Versorgung mit Gütern undDienstleistungen, ihre Arbeitsplätze,die Systeme der sozialen Sicherung, dasSteueraufkommen – ja so gut wie alleLebensbereiche sind davon abhängig,dass Unternehmen etwas zur Verfü-gung stellen. Daher wird außerordent-lich sensibel auf die Entwicklungen inder Wirtschaft reagiert.

Gleichzeitig ist die Unsicherheit groß.Was ist notwendig, was ist wünschens-wert, was muss toleriert werden? Im-mer wieder erschrecken Berichte überausbeuterische Kinderarbeit, über Um-weltzerstörung im Tropenwald, überfrühkapitalistische Zustände in Fabri-ken in der dritten Welt, die womöglichTeile der Zuliefererkette für Produktesind, die bislang guten Gewissens ge-kauft wurden. Ungute Nachrichten

greifen auch im Land um sich: Wiederentlässt ein Unternehmen Mitarbeiter,obwohl die Aktienkurse steigen odergute Gewinne erzielt werden. Allesschaut auf die Wirtschaft, und die Er-wartungen an ihre Ethik steigen, weildie Abhängigkeit davon so schmerzlichempfunden wird.

5. „Corporate Social Respon-sibility“ als Antwort

Die Unternehmen reagieren denn auchlängst auf die verschiedenen Anfragenseitens der Verbraucher und Kunden,der Interessenverbände, Gewerkschaf-ten und Nichtregierungsorganisatio-nen, der Kirchen und natürlich derMedien. Der gängige Begriff heuteheißt „Corporate Social Responsibility“(CSR). Er beschreibt die gesellschaftli-che Verantwortung von Unternehmenin den Bereichen Umwelt, Soziales undWirtschaft. CSR-Initiativen sind Bei-träge, die Unternehmen im Rahmenihrer Geschäftstätigkeit in ihrem ge-sellschaftlichen Umfeld leisten. Sie set-zen sich zum Beispiel mit Betriebskin-dergärten und Gesundheitskampagnenfür ihre Mitarbeiter ein, dämmen mitÖkoeffizienz-Analysen und Energie-Spar-Systemen den Energieverbrauchein und fördern Kunst, Kultur undSport. Wesentliches Merkmal von CSRist, dass es freiwillig und mehr als dieEinhaltung gesetzlicher Vorschriftenist.

Heute gibt es kein namhaftes Unter-nehmen mehr, das sich nicht ethischeLeitlinien, einen Kodex oder Ähnlichesgegeben hätte. Dabei ist nicht die Prä-sentation in einer Hochglanzbroschüreentscheidend, sondern der Prozess, indem diese Leitlinien entwickelt wer-

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den, und in der Folge die Verbind-lichkeit, die sie im Unternehmen ha-ben. Wer hier „schummeln“ will undmeint, mit einem abgekupferten Codeof Ethics die Presse beeindrucken undvon der eigenen tadellosen Moral über-zeugen zu können, wird sich wundern.Gerade die Presse, aber auch Nichtre-gierungsorganisationen und die sehrgenauen Beobachter der wirtschafts-ethischen Szene werden alles auf Herzund Nieren prüfen. Die ethische Kulturmuss sich in vielen einzelnen Aspektenniederschlagen, wenn sie etwas bedeu-ten soll. Die Firma Hipp hat sich z.B.nicht nur einen Ethik-Kodex gegeben,sondern auch gleich ein Ethik-Ma-nagement eingerichtet, um ihn im Un-ternehmen wirksam umzusetzen.

Nun wollen die meisten Unternehmenmit der Entwicklung einer Unterneh-menskultur in der Tat nicht einfach„nachweisen“, etwas getan zu haben,sondern etwas für sich selbst erreichen.Daher ist ein Prozess der übliche Weg,um die leitenden Werte und Zielvor-stellungen des Unternehmens zu erar-beiten. So hat es z.B. die BASF gemacht,die in einem sehr groß angelegten Pro-zess ein ethisches Konzept für sich ent-wickelt und dieses systematisch in alleUnternehmensstandorte und Arbeits-bereiche gespiegelt hat. Aus gutemGrund – ein Skandal war vorhergegan-gen –, aber auch, um das Unternehmenund seine verschiedenen Bereiche undBelegschaften in aller Welt zusammen-zuschweißen und neu aufzustellen.

6. Altruismus? „Business Case“!

Die Ethik eines Unternehmens hat im-mer auch mit seinem „Business case“zu tun – das lässt sich nicht trennen.

Wir assoziieren „Moral“ immer schnellmit Altruismus, aber das ist zu kurz ge-griffen. Es kommt auch oft darauf an,das, was man macht, gut zu machen,nach bestem Wissen und Gewissen. Beieinem Chemie-Unternehmen wie BASFist zum Beispiel der effiziente Umgangmit den natürlichen Ressourcen priori-tär, sind Sicherheit und Integrität wich-tige Werte – das ist wirtschaftlich au-ßerordentlich wichtig und auch ethischrichtig. Die Firma Hipp achtet auf öko-logische Verantwortung, weil sie vonihrem guten Ruf als Bio-Produzent lebtund Eltern bereit sind, dafür deutlichmehr zu bezahlen als bei anderen An-bietern. Ethik kann sogar zur Markeeines Unternehmens werden und ihmeine gute Startposition im Wettbewerbbieten, wenn der Kunde dieses Engage-ment honoriert. Ethik ist so gesehenauch ein Wettbewerbsfaktor.

Auch die Mitarbeiter eines Unterneh-mens müssen wissen, welches Verhal-ten bei ihrer Tätigkeit für das Unter-nehmen korrekt ist. Sie brauchen Si-cherheit, wie sie sich im Betrieb,gegenüber Partnern und dem gesell-schaftlichen Umfeld verhalten sollen.Verlässlichkeit minimiert Unsicher-heit. Eine Unternehmenskultur ver-deutlicht ihnen, welches Verhalten er-wünscht ist und welches nicht. Auchexterne Partner gewinnen so Sicherheitüber Verhaltenserwartungen und Ko-operationsregeln. Werteorientierungim Unternehmen ist daher kein schö-nes, aber verzichtbares Beiwerk, son-dern ein Teil des Risikomanagements.Dabei fallen die Themen je nach Bran-che und Region naturgemäß andersaus. Ein Versicherungsunternehmensteht vor ganz anderen Fragen als einMöbelhersteller oder ein Gastronomie-betrieb.

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Dass eine gute Personalpolitik nichtnur moralisch geboten, sondern auchbetriebswirtschaftlich von Nutzen ist,hat sich mittlerweile herumgesprochen.Der Unternehmenserfolg fußt in derHigh-Tech-Wirtschaft und der Informa-tionsgesellschaft zunehmend auf derQualifikation und Kreativität der Mit-arbeiter. Der richtige menschliche Um-gang mit der Mitarbeiterschaft moti-viert sie und bringt ihr Potenzial zurEntfaltung und das nützt dem Betrieb.Es ist nachgewiesen, dass z.B. Investi-tionen in die Vereinbarkeit von Familieund Beruf wieder eingespielt werden,weil familienfreundliche Maßnahmendie Fehlzeiten und Fluktuation der Mit-arbeiter senken und gleichzeitig dieLeistungsfähigkeit und -bereitschaftder Beschäftigten erhöhen.

Der schönste Kodex nützt natürlichwenig, wenn die Führungskräfte selbstsich nicht daran halten. Führungskräf-te sind als Vorbilder gefragt. Denn Vor-bilder sind aller menschlichen Erfah-rung nach für das Verhalten andererwesentlich wichtiger als ein abstraktesRegelwerk. Aus dieser Verantwortungkönnen sie nicht entlassen werden. Siemüssen sich ihrer wohl bewusst sein.Fehlverhalten fällt heute mehr aufdenn je. Die Gründe für Fehlverhaltensind dabei unterschiedlich: Es gibtzweifelsfrei kriminelles Verhalten, esgibt das Ausnutzen von Macht – gera-de Machtpositionen sind eine beson-dere moralische Versuchung –, es gibteinfach Unsicherheit beim Umgangmit neuen Handlungsmöglichkeitenund es gibt die Orientierung an ande-ren Werten als denen der kritischen Öf-fentlichkeit.

Im Zuge der Globalisierung – wie auchdurch Wanderungsbewegungen – wei-

sen viele Belegschaften im Inland wieim Ausland mittlerweile eine multi-kulturelle Prägung auf. Dabei stoßennaturgemäß auch unterschiedlicheWertvorstellungen aufeinander. Unter-nehmen stehen zunehmend vor derHerausforderung, diese Unterschied-lichkeiten zu thematisieren, die diver-gierenden Wertvorstellungen zu be-rücksichtigen und ein übergreifendesSet von Verhaltensregeln im Unter-nehmensbereich auszumachen, damitgemeinsames erfolgreiches Arbeiten imBetrieb möglich ist.

Im internationalen Maßstab stehenUnternehmen letztlich auch vor demProblem divergierender Wertvorstel-lungen. Wenn sie Produktionsstättenin Schwellen- und Entwicklungslän-dern aufbauen und unterhalten, sindUnternehmen oftmals in ihrer Ge-schäftstätigkeit mit drängenden Prob-lemen wie zum Beispiel existenziellerArmut, mangelnder Gesundheitsfür-sorge, Aids, Korruption, Kinderarbeit,mangelhaften Bildungssystemen so-wie fehlenden Arbeits- und Umwelt-schutzregulierungen konfrontiert. Vie-le Unternehmen engagieren sich aktivfür eine nachhaltige Verbesserung dergesamtwirtschaftlichen Situation undleiten Maßnahmen über die jeweili-gen gesetzlichen Vorschriften hinausbei ihren Niederlassungen sowie beiVertragspartnern, Zulieferern und Li-zenznehmern in Entwicklungsländernein.

Trotz vielfältiger Programme und Pro-jekte, mit denen sie oftmals zur Lösungexistenzieller Probleme beitragen, hatihr Engagement aber auch Grenzen.Unternehmen befinden sich in Gast-ländern und sie können dort nichtProbleme lösen, vor denen selbst die

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Weltgemeinschaft der Staaten hilflosdasteht.

7. Wertedebatte als Dauerthema

Den Unternehmen sind die Werte derGesellschaft nicht egal. Sie brauchenMitarbeiter, die nicht nur Fachwissenmitbringen, sondern auch persönlicheund soziale Kompetenzen, die zu eigen-verantwortlichem Handeln in der Lagesind. Selbstständigkeit und Offenheit,Lern- und Leistungsbereitschaft, Zuver-lässigkeit und Gemeinsinn, Verantwor-tungsbewusstsein und Rücksichtnah-me sind Tugenden, die im Unterneh-men unverzichtbar sind wie im Grundein jeder Gemeinschaft, in der Men-schen zusammen arbeiten und leben.

Unsere Gesellschaft will Werte, aber sieist unsicher, welche und mit welcherVerbindlichkeit sie diese einforderndarf. Eltern wollen ihre Kinder nichtunnötig einengen, sondern Vereinba-rungen mit ihnen treffen. Lehrerwissen nicht, was sie verlangen dürfen

und was nicht. Auf Jugendliche selbstströmt eine Vielzahl von Angebotenein, mit denen sie oft nichts anfangenkönnen. Werte sind das Geländer, andem entlang man leichter durch dasLeben geht.

Eine Wertedebatte ist in einer immerweltoffeneren und stark individuali-sierten Gesellschaft daher notwendig.Sicherlich werden wir uns auf be-stimmte Werte schnell einigen kön-nen – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidari-tät, um nur die klassische Trias zu nen-nen –, aber was bedeuten sie für uns?Die Wirtschaft ist Teil der Gesellschaft.Auch die Wirtschaft ist zurzeit dabei,ihre Rolle in der Gesellschaft neu zudefinieren. Sie stellt sich selbst die Fra-ge, wie weit sie sich international inSchwellen- und Entwicklungsländernethisch einbringen muss und auch na-tional, wie ihre sozialen Verantwort-lichkeiten in unserem Land aussehensollen und sich weiter gestalten kön-nen. Insofern ist die Wertedebatte ineiner freiheitlichen Gesellschaft einDauerthema.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

Am 28./29. April 2006 fanden die Bun-desparteitage der WASG (Wahlalterna-tive Arbeit & soziale Gerechtigkeit1)und der Linkspartei.PDS2 in Ludwigs-hafen bzw. Halle/Saale statt. Dabeimachten Oskar Lafontaine und GregorGysi klar, dass die für 2007 geplanteVereinigung ihrer Parteien auf denSommer 2006 vorgezogen werden soll.Die zeitliche Beschleunigung ist eineAntwort auf die schwere Krise des „Pro-jekts WASG“.

1. Das „Projekt WASG“

1.1 Eine kontrastreiche Geschichte

Die „neoliberale“ Politik Bundeskanz-ler Schröders war der Hauptgrund fürdie Gründung der WASG. Seit 2000lehnten immer mehr Gewerkschafterund SPD-Mitglieder die Politik der rot-grünen Koalition ab. Gemeinsam mitAktivisten höchst unterschiedlicherProvenienz schufen sie zwei Struktu-ren: Zum einen die Initiative Arbeit &soziale Gerechtigkeit, deren Grün-dungsmitglieder vom Gewerkschafts-flügel der SPD kamen. Schnell wurdesie für viele kritische Gewerkschafterattraktiv. Zum anderen die „Wahlalter-

native 2006“, die ihren Ursprung inBerlin hatte. Ihr gehören zahlreicheAnhänger Oskar Lafontaines an, die1999 die SPD verlassen und bei der PDSeine neue Heimat gesucht hatten. AusÄrger über den Sparkurs des Berlinerrot-roten Senats engagierten sie sich fürdie Wahlalternative 2006.

Die beiden Initiativen gründeten denVerein „Wahlalternative Arbeit & so-ziale Gerechtigkeit“ und machten ihnam 22./23. Januar 2005 zur Partei, mitdem Ziel, an der Landtagswahl in Nord-rhein-Westfalen und an den Bundes-tagswahlen 2006 teilzunehmen. DieLandtagswahl in Nordrhein-Westfalenam 22. Mai 2005 brachte der WASG ei-nen Teilerfolg: Mit 181.988 erhielt sie2,2% der Stimmen.3 Sie konnte 50.000ehemalige SPD-Wähler für sich gewin-nen. Überdurchschnittlich erfolgreichmobilisierte die Protestpartei Arbeitslo-se (9%), Gewerkschaftsmitglieder (4%)und Konfessionslose (4%).

Nach dieser Landtagswahl musste dieWASG eine Strategie und Bündnispart-ner suchen. Am 3. Juni 2005 kündigteGregor Gysi seine Kandidatur als Spit-zenkandidat der PDS bei der Bundes-tagswahl an und plädierte für ein

Auf dem Weg zur Vereinigung?PDS und WASG nach ihren

Parteitagen

Patrick Moreau/Rita Schorpp

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Patrick Moreau/Rita Schorpp68

Bündnis mit der WASG. Gemeinsambeschleunigten Gysi und Lafontainedie Entwicklung. Am 10./11. Juni ei-nigten sich PDS und WASG auf einengemeinsamen Antritt bei der Bundes-tagswahl. Am 17. Juni 2005 änderte diePDS ihren Namen in „Die Linkspartei“,um ihre Wahlchancen im Westen zu er-höhen. Sie nominierte auch im Ostenzahlreiche WASG-Mitglieder auf aus-sichtsreichen Listenplätzen. Auf denoffenen Listen im Westen fanden sichviele Trotzkisten und DKP-Mitglieder.Die Linkspartei übernahm praktischdie komplette Finanzierung des Wahl-kampfs und die Kontrolle über dessenProgramm4 und technische Ausgestal-tung.

Vor der Bundestagswahl hatte die WASGeine eigene Identität entwickelt, diesich grundlegend von der Linkspar-tei.PDS unterschied. Die WASG-Mit-glieder kamen hauptsächlich aus vierpolitischen Strömungen: Linke Sozial-demokraten, darunter auch Sympa-thisanten der „antimonopolistischen“und „pazifistischen“ DKP-Parteilinievor 1989; vormals sozialdemokratischeoder kommunistische Gewerkschafter,PDS- und Ex-PDS-Mitglieder, die diedominierende Linie der Reformer kriti-sierten; linksextremistische, besonderstrotzkistische Aktivisten, die in derWASG ihre gewohnte Unterwande-rungstaktik praktizierten. Dazu kom-men ATTAC-Mitglieder, die ihrer Orga-nisation den Verzicht auf jede eigeneStrategie bei Wahlen vorwarfen, sowiedie Memo-Gruppe und die ZeitschriftSozialismus5, die bei der Konzeptiondes WASG-Programms eine wichtigeRolle spielten. Seit Sommer 2005 wurdeklar, dass sich die politische Strategiedieser vier Hauptströmungen min-destens so stark unterschied wie de-

ren Einschätzung des Partners „Links-partei.PDS“.

Der Bundestagswahlkampf wurde vonmehreren systemischen Aspekten do-miniert:

• Die PDS kennt die Identität der Ost-deutschen genau und sprach dieWähler in den neuen Bundeslän-dern erfolgreich an.

• Die SPD befand sich im Westen in ei-ner tiefen Identitätskrise. Ihre Milieussind in vollständiger Auflösung.

• Unter den Wählern war eine Pro-teststimmung weit verbreitet.

Heute entsendet die Linkspartei alsvierte Kraft 54 Abgeordnete in denBundestag. Sie erhielt 4.118.194 unddamit 8,7% der Zweitstimmen, 4,7%mehr als 2002. Die Partei konnte die5%-Hürde in sechs alten Bundeslän-dern überwinden (Bremen 8,4%, Ham-burg 6,3%, Hessen 5,3%, Nordrhein-Westfalen 5,2%, Rheinland-Pfalz 5,6%,Saarland 18,5%). Im Osten legte dieLinkspartei.PDS stark zu (Berlin: 16,4%,+ 5,0; Brandenburg: 26,6% + 9,3; Meck-lenburg-Vorpommern: 23,7% + 7,3;Sachsen: 22,8% + 6,6; Sachsen-Anhalt:26,6% + 12,2; Thüringen: 26,1%, +9,1). Sie bleibt auch 2005 ein ostdeut-sches Phänomen (früheres Bundesge-biet und Berlin West: 4,8%; Neue Län-der und Berlin Ost: 25,3%). Daran än-dert auch der vor allem im Saarlandwirksame Lafontaine-Effekt nichts.6

Die Bilanz der Wählerwanderung derLinkspartei ist erstaunlich. In Ost undWest gewann sie Stimmen von allenParteien. Am erfolgreichsten war sie beiSPD-Wählern. Von ihnen konnte siefast eine Million überzeugen. Dazumobilisierte sie 430.000 Nichtwähler.

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Auch von FDP und CDU/CSU erhieltsie beträchtlichen Zustrom (290.000und 100.000).

Ursächlich sind einige „harte“ Fakto-ren zu nennen. Zwei Themen be-herrschten den Wahlkampf: Arbeitslo-sigkeit/Arbeitsmarkt/Hartz IV (88% derBefragten) und die wirtschaftliche Si-tuation (26%). Stark ist die Linksparteiauf zwei Themenfeldern: Angleichungder Lebensbedingungen zwischen Ostund West (11%) und soziale Gerechtig-keit (10%, + 5). Sie wurde in zwei Kate-gorien besonders akzeptiert, nämlich: –setzt sich am überzeugendsten für dieInteressen der Ostdeutschen ein: 54%;– setzt sich stärker als andere Parteienfür die sozial Schwachen ein: 48%. Fürdie Wähler war die Linkspartei Indika-tor der allgemeinen Unzufriedenheit:Sie nenne die Dinge wenigstens beimNamen, meinten 69%.

Aufschlussreich ist die Soziografie ihrerWähler: 12% der Arbeiter und 24% derArbeitslosen wählten bundesweit dieLinkspartei, im Osten sogar 28% derArbeiter und 39% der Arbeitslosen. Sieist stark bei Gewerkschaftsmitgliedern

(13% bundesweit, 32% in den neuenLändern), besonders bei organisiertenArbeitern (14%). Sie profitiert von derEntchristianisierung in Ost (31%) undWest (10%). Mit Vorsicht kann manvom proletarischen Charakter derLinkspartei sprechen. Die Linksparteikonnte bei den Bundestagswahlen2005 von der gesamtdeutschen Unzu-friedenheit und dem verbreiteten Pes-simismus profitieren.

1.2 Die Krise der Organisation

Die WASG ist personell wie finanziellschwach. Dies zeigt ihr Tätigkeitsbe-richt.7 Ihre Mitgliederzahl stagniert. ImDezember 2005 hatten 11.555 und imMärz 2006 11.844 Personen ihr Mit-gliedsbuch.8 Sie konnte in dieser Zeitnur 289 Beitritte verzeichnen. Die dy-namische Mitgliederentwicklung von2004/2005 scheint gestoppt. WASGund Linkspartei.PDS sind von ihrer Be-deutung nicht vergleichbar: Die 11.844Mitglieder der WASG entsprechen 18%der PDS-Mitglieder. Dazu existiert dieWASG in den neuen Bundesländernpraktisch nicht.

Tabelle: Die Mitgliederzahlen der Linke.PDS und der WASG im Osten(Linke.PDS: Dezember 2005, WASG: 2. April 2006)

Linke.PDS WASG

Brandenburg 9937 194

Mecklenburg-Vorpommern 6740 134

Sachsen-Anhalt 6514 154

Sachsen 14873 267

Thüringen 7676 141

Berlin 9525 852

Bundesvorstand 167

Ausland 19

Zusammen Ost 55265 *ohne Berlin 890

Zusammen West 6057 *ohne Berlin 10069

Gesamt 61489 11830

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Die WASG ist soziologisch gesehen jün-ger als die Linkspartei.PDS. Sie hatmehr Kontakt zur Arbeitswelt und denGewerkschaften. Dank ihrer finanziel-len Probleme hängt sie aber am Tropfder Linkspartei.PDS. Ihre Mitgliedsbei-träge sinken: Im Dezember 2005 hattedas WASG-Mitglied im Durchschnittmonatlich 7,14 € entrichtet. Im März2006 waren es nur noch 6,93 € – ein In-diz für die nachlassende Attraktivitätdes Projekts WASG.

Die WASG hat ihre politische Arbeitpraktisch eingestellt. Außerhalb derLänder, in denen Wahlen stattgefun-den haben, sind Kreis- und örtlicheGruppen quasi nicht aktiv. Diese Krisespiegelt sich in den Wahlergebnissen.Bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz blieb das Ergebnis der WASG weithinter den Erwartungen zurück.10 Siemusste sich mit 2,6% der Stimmen(BTW 2005: 5,6%) begnügen. Die Links-partei.PDS hatte den WASG-Wahl-

kampf finanziell und personell massivunterstützt. Die Auswahl der Kampa-gne-Themen entsprach den Forderun-gen im BTW-Wahlkampf11: Einführungeines gesetzlichen Mindestlohns (8 €/Stunde); öffentlich geförderter Beschäf-tigungssektor; Erhebung einer ange-messenen Vermögenssteuer; Stärkungder kommunalen Selbstverwaltung;Wohnen als Grundrecht; Einführungvon Volksbegehren.

Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg konnte die WASG ihr Er-gebnis der Bundestagswahlen prozen-tual halten. Aber sie verlor mehr als60.000 Stimmen (2006: 121.753 Stim-men, 3,1%; 2005: 182.288 Stimmen,3,8%). Damit hatte auch sie eine Nie-derlage erlitten, obwohl die Linksparteiihren Wahlkampf beispielhaft unter-stützt hatte. Alle guten Redner beiderOrganisationen waren bei einer der69 Wahlkampfkundgebungen aufge-treten.12

Im Westen dagegen verfügt sie über etwa ein Drittel mehr Mitglieder als die Links-partei.PDS.9

Tabelle: Die Mitgliederzahlen der Linke.PDS und der WASG im Westen(Linke.PDS: Dezember 2005, WASG: 2. April 2006)

Quelle: Linke.PDS-Parteivorstand; WASG-interne Auskünfte.

Linke.PDS WASG

Baden-Württemberg 624 1279

Bayern 615 1222

Bremen 168 185

Niedersachsen 637 1249

Hamburg 388 424

Hessen 637 1068

Nordrhein-Westfalen 1703 3012

Rheinland-Pfalz 402 707

Saarland 280 560

Schleswig-Holstein 365 363

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Bei den hessischen Kommunalwahlenvom 26. März schaffte die Linkspar-tei/WASG in einigen Kommunen vielversprechende Durchbrüche. Sie errang64.549 Stimmen (3,37%) und damit105 Mandate, 40 in Kreistagen und 65in Städten und Gemeinden. Ihre Hoch-burgen waren die kreisfreien StädteKassel (6,8%), Frankfurt a.M. (6,6%)und Offenbach (5,3%).

Auf Landesebene war das BündnisWASG/Linkspartei 2006 für die Wählerwenig attraktiv. Die Annahme, dieLinkspartei würde niemals in der Lagesein, im Westen die 5%-Hürde zu über-winden, wäre aber falsch. In Bremenwie im Saarland stehen ihre Chancenhervorragend.

1.3 Der Parteitag von Ludwigs-hafen

Der Weg der WASG in die Krise vollzogsich in fünf Etappen: Am 6. Dezember2005 wurde der Rahmenvertrag für dieVereinigung bis Juni 2007 unterzeich-net. Konkurrierende Wahlantritte soll-te es nicht mehr geben. Auf dem Bun-desparteitag am 10./11. Dezember stell-te die Linkspartei.PDS die Weichen füreine Fusion.13 Am 8. März 2006 be-schloss die von ehemaligen PDS-Mit-gliedern und Trotzkisten dominierteBerliner WASG, zur Abgeordneten-hauswahl im September gegen dieLinkspartei anzutreten. Ihr wird die„neoliberale Politik“ der rot-roten Ko-alition vorgeworfen. Am 21. März kün-digte die WASG in Mecklenburg-Vor-pommern an, zur Landtagswahl imSeptember in Konkurrenz zur mitregie-renden Linkspartei anzutreten. Am2. April sprachen sich in einer Urab-stimmung 79,3% der teilnehmenden

WASG-Mitglieder für den Zusammen-schluss mit der Linkspartei aus. Aberdie WASG ist gespalten: Von 11.830Mitgliedern hatten 6.745, also nur57,02%, abgestimmt.

Die Landesverbände Berlin und Meck-lenburg-Vorpommern weigerten sich,ihre Kandidatur zurückzuziehen. Sobeschloss der WASG-Vorstand den au-ßerordentlichen Parteitag am 29./30.April in Ludwigshafen. Er war aufgela-den und spannungsreich. Eine beein-druckende Zahl von Journalisten ver-folgte ihn ebenso aufmerksam wie dieDelegierten der Linkspartei.PDS inHalle. Anhänger und Gegner der Ver-einigung machten ihrem Unmut mitPfiffen, Buhrufen und Klatschorgienlautstark Luft. Gelegentlich drohte dieStimmung überzuborden. Der Stil er-innerte an die heftigen Auseinander-setzungen in den Anfangszeiten derGrünen.

Die Parteiführung wollte die Delegier-ten von der Notwendigkeit der Fusionmit der Linkspartei.PDS überzeugen.14

Mit 186 zu 107 Stimmen wurde derLeitantrag angenommen.15 Er forderteinen Zusammenschluss „auf gleicherAugenhöhe“. Entstehen soll eine „neuepluralistische Partei der gesamten Lin-ken“, in der „die jeweilige Identität unddamit die jeweiligen politisch-histori-schen, politisch-kulturellen und pro-grammatischen Unterschiede respek-tiert werden“.

Noch magerer fiel die Zustimmung zueinem Initiativantrag16 aus: Mit nur163 zu 121 Stimmen wurde der BerlinerLandesverband aufgefordert, seineWahlanzeige und die eingereichten Lis-ten umgehend zurück zu nehmen. ImFalle der Aufrechterhaltung der Kandi-

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datur wurde der Bundesvorstand be-auftragt, „alle Maßnahmen zu prüfenund ggfs. zu ergreifen, um dem Willendes Bundesparteitages Geltung zu ver-schaffen.“ Analog gilt dies auch für an-dere Landesverbände.

Sabine Lösing, Joachim Bischoff undBjörn Radke17 legten nach der Annah-me dieses Initiativantrages ihre Vor-standsämter nieder. Sie kritisierten die„miesen Methoden“ und „Verfahrens-tricks“ des Bundesvorstandes. Gerüch-te von der Gründung einer neuen Par-tei machten die Runde. Die kritischenDelegierten verschafften sich in zahl-reichen Statements und Anträgen18

Gehör. Dem Führungstrio Ulrich Mau-rer19, Oskar Lafontaine und KlausErnst20 wurde eine „obrigkeitlicheFührungskultur“ vorgeworfen. Lafon-taine, ein Routinier stürmischer Par-teitage, begeisterte mit einer brillantenRede die Delegierten und überzeugtesie von der antikapitalistischen Naturdes „Projekts Linkspartei 2006“. 45 Mi-nuten appellierte er an die Delegier-ten, der neuen Partei eine Chance zugeben. Bei der Bundestagswahl 2005hätten die Wähler den beiden Parteienden Auftrag zur Fusion gegeben. Erberuhe auf der „Vision einer gemein-samen antineoliberalen und antika-pitalistischen Kraft.“ Kern linker Poli-tik sei der Kampf gegen Deregulierung,Privatisierung und Sozialabbau. Dieneue Partei müsse sich für die Schwä-cheren einsetzen, denn diese „brau-chen Regeln und Gesetze, die sie schüt-zen.“21

Das Bündnis aus Linkspartei.PDS undWASG sei eine „Freiheitsbewegung“.Ein echter „Sozialstaat“ solle über hö-here Steuern finanziert werden undüber einen leistungsfähigen öffentli-

chen Dienst verfügen. Energiepreiseund der Bankensektor müssten staat-lich reguliert werden.22 Die Demons-trationen in Frankreich seien ein geeig-netes Modell, um die Große Koalition„in die Knie“ zu zwingen. Deshalb for-derte Lafontaine das Recht zum Gene-ralstreik. Der „Raubtierkapitalismus“sei von den USA inspiriert, die „impe-rialistische Kriege zur Sicherung derRohstoffe“ führten und terroristischhandelten.

Thematisch verkündete Lafontainenichts Neues. Er hatte aber die Mehr-heit der Mitglieder um sich geschart.Den Delegierten war klar, dass dieGroße Koalition die Chance für eineFormation links von der SPD bot. Inseinem Grußwort unterstrich MichaelSchlecht die Bedeutung der WASGaus der Perspektive der GewerkschaftVer.di., während Margret Mönig-Raanein Halle auftrat.23 Schlecht rief zum„Kampf gegen Armutslöhne“ und Pri-vatisierungen auf.

Die Bilanz des Parteitages zeigt, dass derAnnäherungsprozess schwierig bleibt.Oskar Lafontaine ist die einzige pro-grammatisch-personelle Brücke zwi-schen den Formationen. Drei anta-gonistische Flügel existieren in derWASG: Die Lafontaine-Strömung willdie möglichst schnelle Vereinigung mitder Linkspartei. Ihre Positionen zurÜberwindung des Systems sind ideo-logisch kompatibel mit dem PDS-Pro-gramm 2003. Für den „revolutionären“Flügel ist das Projekt nicht antikapi-talistisch genug. Er sieht die Links-partei als „eine neoliberale Kraft“, alseine Art neue SPD. Schließlich gibt esnoch die Basisdemokraten. Sie wollenVeränderungen nur im bestehendenSystem. Dieser Konflikt wird zwangs-

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läufig auch über 2006 und 2007 hinausbestehen.

Das politische Gewicht hat sich ein-deutig zur Fraktion der Linken (Abge-ordnete und Apparat) geneigt. Sie istdas wahre Entscheidungszentrum. Siewill, dass die SPD auch künftig der be-vorzugte Bündnispartner bleibt. Nachwie vor will sie die SPD mit der Strate-gie „Druck von links“ zu einem Kurs-wechsel zwingen. Nachdem die Lan-desverbände von Berlin und Mecklen-burg-Vorpommern auch nach demParteitag ihre Kandidaturen aufrechter-hielten, zwangen sie den WASG-Bun-desvorstand zu reagieren. Am 13. Maisetzte er die beiden Landesvorständeab. Die eigenständigen Wahlantrittebei den Landtagswahlen sollen rück-gängig gemacht werden. Ein juristi-scher Konflikt zeichnet sich ab. DessenFolgen für die WASG sind schwer abzu-schätzen, könnten aber zu einer Aus-trittswelle führen.

2. Die Linkspartei.PDS

Die Niederlage bei den Bundestags-wahlen 2002 hatte die PDS in eine tie-fe Identitätskrise gestürzt, die einherging mit ideologischen Konflikten, or-ganisatorischen und finanziellen Pro-

blemen. Im Juni 2003 übernahmen die„Reformer“ wieder die Geschicke derPDS.24 Der erneut zum Vorsitzendengewählte Lothar Bisky umgab sich miteiner Führungsmannschaft aus zuver-lässigen, pragmatischen Kadern. Dasneue Programm vom 26. Oktober 2003läutete die zweite Etappe der Konsoli-dierung ein. Damit modernisierte diePDS ihr ideologisches Angebot.25 2004war sie auf der politischen Bühne zu-rück.

Bei den Europawahlen überwand diePDS die 5%-Hürde (6,1% + 0,3) undverstärkte sich bei den Landtagswah-len 2004 (Saarland 2,3% + 1,5, Thürin-gen: 26,1% + 4,3, Sachsen: 23,6% +1,4). Aber Anfang 2005 wollten sie nur4–5% der Wähler bei den Bundestags-wahlen wählen. Deshalb musste sienach einer Erfolg versprechendenWahlstrategie suchen.

2.1 Der Zustand der Partei

In seiner Rede in Halle freute sich Lo-thar Bisky über 5.200 Neueintritte seitOktober 2004: „Erstmalig konnte derTrend des Rückgangs der Mitglieder-zahlen gestoppt werden.“ Mitgliederverliert die Linkspartei meist nach wievor „durch Tod“.26

Tabelle: Entwicklung der Mitgliederzahlen der PDS/Linkspartei.PDS

1991 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005

gesamt 172579 114940 83478 77845 70805 65753 61385 61489

zusammen Ost 112953 79349 73483 65883 61191 56907 55265

zusammen West 1905 3959 4172 4708 4378 4320 6057

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Der Mitgliederverlust der Linkspar-tei.PDS in den neuen Ländern ist nichtverwunderlich. Nur noch 0,5% derMitglieder waren 2003 unter 20, aber59,6% über 65 Jahre alt.27 Die PDS zähl-te 2003 60% Rentner und nur 21% Be-rufstätige (Arbeiter: 8%; Angestellte:18%; Selbstständige 5%, Arbeitslose6%). Schiffbruch erlitt die Jugendar-beit: Nur 3% der Mitglieder sind Schü-ler, Studierende oder Auszubildende.28

Die organisatorische Bilanz der Links-partei.PDS in den neuen Bundeslän-dern zeigt Stärken und Schwächen. DieLinkspartei.PDS im Osten ist nur nochin Berlin und in Großstädten verwur-zelt. In vielen Landkreisen verfügt sieüber keine aktiven Basisgruppen mehr,aber sie erreicht dort mindestens 20%der Wähler. Sie hat sich zu einer Me-dienpartei entwickelt. Im Gegensatz zuder aktiven Elite – Katja Kipping ist eingutes Beispiel für die neue Generationvon Kadern29 – verhält sich die Masseder Mitglieder passiv. Zu den Negativazählen auch der relative Niedergangder Arbeitsgemeinschaften (AGs)30 undder Misserfolg der JugendorganisationSOLID31.

Zu den Aktiva gehörten die Landtags-fraktionen der neuen Bundesländermit ihren Apparaten. Die Rosa-Luxem-burg-Stiftung ist in allen Bundeslän-dern präsent.32 In ihr sammeln sichheute qualifizierte Forscher und Exper-ten. Etwa 5.200 Mandatsträger machendie Partei in den Kommunen im Ostenzur wichtigen Kraft. Mit ihrer 54-köpfi-gen Bundestagsfraktion (davon 14 Ab-geordnete der WASG) verfügt die Links-partei über ein starkes organisatori-sches und intellektuelles „Zentrum“.Deren Apparat ist ebenso wie diejeni-gen der Landtagsfraktionen und der

zentrale Parteiapparat höchst profes-sionell. Dies macht die Linkspartei.PDStypologisch zu einer modernen Parteides 21. Jahrhunderts, die alle Registerder politischen Kommunikation zie-hen kann. Der Finanzplan 2005 derLinkspartei.PDS zeigt ihre finanzielleStärke. Sie verfügt über Jahreseinnah-men von 7.696.800 Euro.33

2.2 Der Parteitag von Halle/Saale

Zeitgleich zur WASG führte die Links-partei.PDS ihren Parteitag in Halle/Saa-le durch. Er wurde beherrscht von derangestrebten Fusion mit der WASG. Esgehe „nicht mehr um das Ob, sondernnur noch um das Wie“ betonte LotharBisky.34 Neues gab es nicht in seiner Re-de: Angriffe auf die „unsoziale“ Politikder Bundesregierung, Forderung nachAbschaffung von Hartz IV und nach ei-nem gesetzlich garantierten Mindest-lohn. Die hessischen Kommunalwah-len wurden als Aufbruchssignal gewer-tet. Der umjubelte Star des Parteitagswar einmal mehr Gregor Gysi.35 Er for-derte die schnelle Vereinigung vonWASG und Linkspartei. „Der Fahrplansteht“ betonte der Fusionsbeauftragteder Linkspartei, Bodo Ramelow, nach-dem die WASG der Fusion zugestimmthatte.

3. Strategische Perspektiven:Stärken und Schwäche

3.1 Politische Positionierung

Gerhard Schröders Ankündigung vonBundestagswahlen überraschte PDSund WASG. Oskar Lafontaine und Gre-gor Gysi erkannten ihre Chance. Bis zuden Bundestagswahlen gab es eine dop-

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pelte strategische Perspektive. Zwin-gend notwendig für das Überleben derPDS war die Überwindung der 5%-Hür-de. Lafontaine galt als Garant für denEinzug in den Bundestag und als na-türliche Brücke zur SPD-Linken undden Gewerkschaften und Verfechterneiner Koalition mit der PDS auf Lan-desebene in der SPD. Lafontaines Zielwar der Sturz des Bundeskanzlers. Erwollte die SPD in eine Große Koalitionzwingen. Konzessionen an CDU/CSUwürden die Krise der SPD noch vertie-fen, so sein Kalkül. Das Ende der Gro-ßen Koalition wäre nur eine Frage derZeit.

Gregor Gysi und Oskar Lafontaine sindüberzeugt, dass nach dem Scheitern derGroßen Koalition die Linkspartei zumunverzichtbaren Bestandteil einer lin-ken Mehrheit werden muss. Nach denLandtagswahlen 2006 und der gutenZusammenarbeit in der Großen Koali-tion sucht Lafontaine nach einer tra-genden Strategie. Es scheint, als habe ersich für verbale Radikalität und dieKonzentration auf die Kritik der neoli-beralen Globalisierung entschieden.36

Dazu treibt er die Annäherung an denlinken Flügel der Gewerkschaften vo-ran.

4. Zusammenfassung

Die Linkspartei ähnelt der PDS bis2004: eine radikale Antisystemparteimit extremistischen Elementen, tief inder marxistischen Weltanschauungund Logik verwurzelt. Zahlreiche ideo-logische Strömungen fließen unter demDeckmantel der Kritik an der neolibe-ralen Globalisierung zusammen. Dielangfristigen Perspektiven werden vonallen Akteuren geteilt: „Hegemonie“

von links, Widerstand gegen den Neo-liberalismus, schließlich die antikapita-listische „Überwindung“ des „Systems“.

Die Große Koalition zwingt Linkspar-tei.PDS/WASG zu einer parlamentari-schen wie außerparlamentarischenStrategie: Sie müssen der „antiliberaleStachel“ im Fleisch von Konservativenund Sozialdemokraten sein und linksvon der SPD einen starken antikapita-listischen Block bilden, in welchemsich Antifaschisten, Kommunisten,Linkssozialisten, „fortschrittliche Kräf-te“, Globalisierungskritiker à la ATTACund kritische Gewerkschafter finden.

Wie stehen die Chancen dieses Blocksund der vereinigten Linkspartei/WASG?Lafontaine und Gysi haben das maxi-male Kapital aus der Aufmerksamkeitder Medien für ihr Bündnis geschlagen.Trotz der Kontroversen um ihre Regie-rungsbeteiligung in Berlin und Meck-lenburg-Vorpommern hat die Links-partei.PDS in den neuen Bundeslän-dern noch an Stärke gewonnen. Dortist sie auf absehbare Zeit fest verwur-zelt. Ein Teil der heutigen DGB-Füh-rung will mit Hilfe der beiden ParteienDruck auf die Große Koalition aus-üben, auch wenn diese Haltung imDGB umstritten ist.37 Die Zukunft derWASG als Westflügel der vereinigtenPartei ist ungewiss. Innerparteilicheund programmatische Spannungenund extremistische Strömungen ma-chen ihre Lage prekär.

Auch wenn die extremistischsten Ele-mente der neuen Partei nicht beitreten,bleibt die Kommunikation zwischenden ost- und westdeutschen Landes-verbänden problematisch. Ob die dia-lektischen Qualitäten Lafontaines undGysis ausreichen, um künftige ideolo-

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gische Konflikte beizulegen, bleibt ab-zuwarten.38 Die neue Partei hat dieChance, sich bei Wahlen im Westen zuetablieren. Dies gilt für die kommuna-le wie auch für die Landesebene, z.B. inBremen und im Saarland. Diese „Bünd-

niskonstruktion“ ist heute sehr fragil.Aber zum ersten Mal in der Geschichtehat ein Akteur links von der SPD dieChance, sich auf Dauer im politischenSystem der Bundesrepublik Deutsch-land zu etablieren.

Anmerkungen1 Siehe: http://www.w-asg.de.2 Aus Gründen der Klarheit benutzen wir

für die umbenannte PDS die BezeichnungLinkspartei.PDS.

3 Neu, Viola: Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005. Wahlanalyse,Berlin Mai 2005, in: www.kas.de/7_do-kument_dok_pdf_6693_1.pdf.

4 Programmatische Eckpunkte auf demWeg zu einer neuen Linkspartei inDeutschland, Diskussionsgrundlage dergemeinsamen Programmkommission vonLinkspartei.PDS und WASG, in: http://so-zialisten.de/sozialisten/parteibildung/pro-tokolle/programm/view_html?zid=31907&bs=1&n=1.

5 Moreau, Patrick/Schorpp-Grabiak, Rita:„Man muss so radikal sein wie die Wirk-lichkeit“. Die PDS – Eine Bestandsauf-nahme, Baden-Baden 2002, Kapitel „Ander Peripherie der PDS“, Zeitschrift „So-zialismus“ und die Memorandum Grup-pe, S.140–146; siehe auch http://www.memo.uni-bremen.de und http://www.sozialismus.de/socialist.

6 Bezüglich der Daten und Umfrageergeb-nisse vgl.: Infratest DIMAP, WahlREPORT.Bundestagswahl 2005, Berlin 2005.

7 Händel,Thomas: Die Organisation & dieFinanzen der WASG 2005/2006, Manu-skript, 30. April 2006.

8 2005 war die WASG rapide gewachsen.Am 15. Juni 2005 hatte sie nur 7.403 Mit-glieder.

9 Die Angaben der West-Landesverbändeder Linkspartei.PDS für Ende 2005 bein-halten auch die WASG-Mitglieder mit ei-ner Doppelmitgliedschaft. Deren Zahl istnicht bekannt.

10 Auf der WASG-Liste traten auch Kandi-daten der Linkspartei.PDS an.

11 Grundpositionen, in: http://www.w-asg.de/1130.html.

12 Siehe: http://www.linkspartei-stuttgart.de/termine.html (Stand 20. April 2006).

13 3. Tagung des 9. Parteitages der Links-partei. PDS. Kooperationsabkommen III.Beschluss der 3. Tagung des 9. Parteitagesder Linkspartei.PDS, in: http://sozialis-

ten.de/partei/parteitag/pt0903/view_html?zid=31184&bs=1&n=27.

14 Vgl. die Parteitagsreden von Klaus Ernstund Oskar Lafontaine und das Grußwortvon Katja Kipping, Tonbandaufnahme.

15 Leitantrag zum Bundesparteitag derWASG. Beschlossen am 29.04.2006 inLudwigshafen, in: http://parteitag.w-asg.de/uploads/media/20060430-leitantrag.pdf.

16 Initiativantrag zum Parteibildungsprozessund Konkurrenzkandidaturen. Beschlos-sen am 29.04.2006 in Ludwigshafen, in:http://parteitag.w-asg.de/uploads/media/2006 0430-beschluss_konkurrenzkandi-daturen.pdf.

17 Sie gelten auf Grund ihrer Arbeit für dieZeitschrift Sozialismus, ihren Verbindun-gen zur Rosa-Luxemburg-Stiftung und zurLinkspartei als intellektuelle Brücke zwi-schen den Gewerkschaftsflügeln beiderParteien und weiteren außerparlamen-tarischen Bewegungen. Schließlich kün-digte Bischoff an, ein „Netzwerk linkeAlternativen“ in der WASG zu gründen;siehe: http://www.netzwerk-linke-alter-nativen.de/13.html.

18 Siehe: Die Antragsblöcke, in: parteitag.w-asg.de/594.html.

19 Ulrich Maurer war seit dem 10. April1980 Mitglied des Landtages von Baden-Württemberg und von 1992 bis 2001 Vor-sitzender der SPD-Landtagsfraktion. Erwurde am 1. Juli 2005 Mitglied der WASG.

20 Klaus Ernst: Gewerkschaftssekretär (1985bis 1995), zuständig für Organisation, Bil-dungsarbeit und Sozialpläne. 1995 wur-de Ernst in Schweinfurt zum IG-Metall-Bevollmächtigten gewählt, Mitglied derSPD 1974–2005.

21 Tonbandaufnahme.22 Vgl.: Lafontaine, Oskar: Politik für alle.

Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft,Berlin 2005.

23 Mönig-Raane, Margret: Wir haben guteChancen, dass wir in einem Jahr den ge-setzlichen Mindestlohn haben. Diskus-sionsbeitrag der stellvertretenden Vor-sitzenden der Gewerkschaft ver.di, in:

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Auf dem Weg zur Vereinigung? 77

http://sozialisten.de/partei/parteitag/pt1001/view_html?zid=32584&bs=1&n=22.

24 Siehe: 2. Außerordentliche Tagung des8. Parteitages der PDS, http://sozialis-ten.de/partei/parteitag/pt08at2/view_html?zid=28698&bs=1&n=0.

25 Das Programm der PDS, in: http://sozia-listen.de/partei/dokumente/programm/in-dex.htm.

26 Siehe: http://sozialisten.de/partei/partei-tag/pt1001/view_html?zid=32677&bs=1&n=38.

27 Die Alterstruktur der PDS (Stand 2003):unter 20 Jahre: 0,5%, 20 bis 25 Jahre:1,4%; 25 bis 30 Jahre: 1,4%; 30 bis 40 Jah-re: 3,9%; 40 bis 50 Jahre: 12,4%; 50 bis60 Jahre: 12,8%; 60 bis 65 Jahre: 8,0%;über 65 Jahre: 59,6%.

28 Siehe: http://sozialisten.de/partei/daten/statistiken/struktur.htm.

29 Siehe: www.katja-kipping.de.30 Siehe: http://sozialisten.de/partei/struk-

turen/agigs/index.htm.31 Siehe: http://www.solid-web.de.32 Zur Struktur der Rosa-Luxemburg-Stiftung

in den Ländern siehe: http://www.rosa-lux.de/cms/index.php?id=stiftungsver-bund.

33 Siehe http://sozialisten.de/partei/daten/finanzen/plan2005/finanzplan2005_pv.pdf.

34 Bisky, Lothar: Für eine politikfähige neueLinke. Rede des Vorsitzenden der Links-partei.PDS auf der 1. Tagung des 10. Par-teitages in Halle, in: http://sozialisten.de/partei/parteitag/pt1001/view_html?zid=32578&bs=1&n=20.

35 Gysi, Gregor: Die Vereinigung gelingt,wenn diese neue Partei auch Erotik aus-strahlt. Rede des Vorsitzenden der Links-fraktion im Deutschen Bundestag, in:http://sozialisten.de/partei/parteitag/pt1001/view_html?zid=32610&bs=1&n=30.

36 Was ist die Linke? Rede von Oskar La-fontaine, Vorsitzender der Bundes-tagsfraktion DIE LINKE. Auf der XI.internationalen Rosa-Luxemburg-Konfe-renz am 14. Januar in Berlin, Manuskript2006.

37 Wechsel mit Nebenwirkung, in: Focus,19/2006, S.54ff.

38 Siehe: Brie, André: Thesen zur Perspekti-ve der Linkspartei: offene Fragen, Proble-me, Herausforderungen, in: Michael Brie(Hg.), Die Linkspartei. Ursprünge, Ziele,Erwartungen, Berlin 2005.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

1. Einführung

Wer kennt sie nicht, die Nachrichtenvon der Trockenlegung der Schwimm-becken im städtischen Freibad odervon der Schließung einzelner Abtei-lungen in den Krankenhäusern? DieUrsache hierfür ist die angespannte Fi-nanzlage der Kommunen, die meistvon den Bürgern deutlicher wahrge-nommen wird als die leeren Kassen derLänder und des Bundes, weil sie im All-tagsleben oft unmittelbar spürbar odersichtbar ist.

Die Anzahl an Möglichkeiten, auf fi-nanzielle Engpässe in wirtschaftlichschwierigen Zeiten reagieren zu kön-nen, ist für Kommunen jedoch be-grenzt. Zwar steht ihnen nach demGrundgesetz eine wirtschaftsbezogeneSteuerquelle mit Hebesatzrecht zu, diesich in den beiden Realsteuern, der Ge-werbe- und der Grundsteuer, wiederfindet. Allerdings würde ein perma-nenter Anstieg der Hebesätze der At-traktivität einer Gemeinde als Investi-

tionsstandort schaden, sodass der Aus-weitung der Einnahmen Grenzen ge-setzt sind. Zudem haben sich die Mög-lichkeiten der Kreditaufnahme auchzunehmend verringert. Auf der Ausga-benseite ist der Spielraum ebenso be-schränkt, da die meisten Summen fürgesetzlich vorgeschriebene Aufgabenausgegeben werden müssen und frei-willig erbrachte Leistungen in denmeisten Kommunen bereits auf ein Mi-nimum gekürzt wurden. Bei denPflichtaufgaben stellt sich hinsichtlichihrer Erfüllung also nicht die Fragenach dem „ob“, sondern nach dem„wie“, d.h. es sind alternative, effizien-te und auch kreative Lösungsansätzegefragt, die eine ordnungsgemäße Be-reitstellung kommunaler Aufgabentrotz leerer Kassen ermöglichen.

In diesem Zusammenhang taucht im-mer wieder der Begriff der Public Pri-vate Partnership (PPP) auf, der eineEinbindung des Privatsektors in die öf-fentliche Aufgabenerfüllung des Bun-des, der Länder und der Kommunen

Public-Private-Partnership:Die Lösung für Kommunen?

Stefan Ebner

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beschreibt. Der folgende Beitrag soll ei-nen Überblick geben, was PPP ist, wiePPP funktioniert, welche Erfahrungenbis zum heutigen Zeitpunkt mit PPP ge-macht wurden und abschließend einenAusblick geben, wobei sich die Ausfüh-rungen auf PPPs in Kommunen redu-zieren.

2. Begriffsbestimmungen

Bei PPPs handelt es sich im Wesentli-chen um Kooperationen zwischen demstaatlichen und privaten Sektor. Aller-dings ist dieses Phänomen nicht neu.Bereits im 19. Jahrhundert arbeitetedie öffentliche Hand mit der Privat-wirtschaft beim preußischen Eisen-bahnbau1 zusammen. Grundsätzlichbezeichnen PPPs das längerfristige, pro-zessorientierte, freiwillige und vertrag-lich geregelte Zusammenwirken vonöffentlichem und privatem Sektor, umkomplementäre und konvergierendeZiele bei gleichzeitiger Nutzung vonSynergiepotenzialen und Wahrung derIdentität bzw. Verantwortung der Part-ner zu verfolgen.

Auf den wirtschaftlichen Bereich bezo-gen und damit im engeren Sinne stelltPPP die Kooperation „von öffentlicherHand und privater Wirtschaft bei derPlanung, der Erstellung, der Finanzie-rung, dem Betreiben oder der Verwer-tung von bislang staatlich erbrachtenöffentlichen Leistungen“2 dar, mit demZiel, öffentliche Aufgaben wirtschaft-lich besser als bisher durchzuführen,d.h. den Einsatz der öffentlichen undprivaten Ressourcen im Rahmen desProjektes zu optimieren. Charakteris-tisch für PPPs ist der Lebenszyklus-ansatz. Der Private ist eben nicht nurfür Einzelbereiche zuständig wie z.B.

die Finanzierung, sondern für dieVorbereitung, die Planung, Sanierung,Neuerstellung, Betrieb und ggf. für dieanschließende Verwertung verantwort-lich.

PPP kann in verschiedenen Erschei-nungsformen auftauchen. Anwen-dungsgebiete für PPP sind z.B. Verkehr(Straße, Schiene, Wasser), Verwaltung(Rathäuser, Finanzämter, Ministerien),Bildung (Schulen, Hochschulen, Kin-dergärten), Versorgung (Energie, Was-ser, Luft) sowie Freizeit und Kultur(Sportstätten, Theater, Museen). Nacheiner Umfrage des Deutschen Institutsfür Urbanistik3 fallen unter den kom-munalen PPP-Projekten ca. ein Drittelin den Bereich „Schule“, gefolgt vonden Bereichen „Sport, Freizeit, Touris-tik, Stadthalle“ (28%) und „Verwal-tungsbau, Liegenschaften“ (11%).

Doch wie grenzt sich PPP ab? PPP um-fasst sämtliche Projekte, die zwischender reinen Eigenerledigung des öffent-lichen Sektors auf der einen Seite undder vollständigen Privatisierung auf deranderen Seite liegen. Von einer PPP istim Zusammenhang mit der Kooperati-on zwischen öffentlichem und priva-tem Sektor der Begriff der Privatisie-rung und der Privatsektorbeteiligungzu unterscheiden.4 Der Begriff Privati-sierung als Neuordnung staatlichenHandelns bei gleichzeitiger Einbin-dung privater Wirtschaftssubjekte lässtsich aufteilen in:

• die formale Privatisierung, bei derVerwaltungseinheiten in Gesell-schaften mit privater Rechtsformund Managementstruktur umge-wandelt werden und der öffentlicheSektor aber alleiniger Eigentümerbleibt;

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Stefan Ebner80

• die funktionale Privatisierung, beider öffentliche Aufgaben und Leis-tungen auf Dauer oder für einenfestgelegten Zeitraum an die Privat-wirtschaft übergeben werden

• sowie die materielle Privatisierung,wenn es sich um öffentliche Betriebs-einheiten handelt.

Als Privatsektorbeteiligung wird dieEinbindung der Privatwirtschaft in dieErfüllung delegierbarer staatlicher Auf-gaben verstanden. Durch Auslagerun-gen an den Privatsektor sollen Effi-zienzpotenziale genutzt werden. Al-lerdings existiert bis jetzt noch keineeindeutige und abgrenzungsscharfeDefinition dieses Begriffs.

3. Motive für PPP

Das Interesse an PPP-Projekten, die inden USA und in Großbritannien deut-lich weiter verbreitet sind als inDeutschland, ist besonders seit derFinanznot der Kommunen stark ge-stiegen, unter der die Investitionstätig-keit der Kommunen leidet. Dennochsind trotz der angespannten Haus-haltslage unvermeidbare Modernisie-rungs- und Sanierungsinvestitionen zuleisten. Durch PPP-Projekte könnenEinsparpotenziale realisiert werden, diezur Entlastung der Haushalte beitragen.Zudem erscheint es sinnvoll, wenndurch eine zunehmende Komplexitätin vielen Bereichen des Alltags auf pri-vatwirtschaftliches Know-how zurück-gegriffen wird, das der Staat alleinenicht mehr bereitstellen kann. Außer-dem führen die leeren kommunalenKassen auch zu Personalabbau und da-mit zu Kapazitätsbeschränkungen, so-dass bestimmte Aufgaben personellnicht mehr erledigt werden können.

Ein weiteres Motiv für gestiegenesInteresse an PPP ist im zunehmendenWettbewerb der Kommunen um Wirt-schaftsbetriebe, Wohnbevölkerung oderTouristen zu sehen. Ein besseres öffent-liches Leistungsangebot – unterstütztoder ermöglicht durch PPP-Projekte –kann deshalb zu Standortvorteilen fürdie jeweilige Kommune führen. Undschließlich begünstigt auch ein sichwandelndes Staatsverständnis das Inte-resse an PPP-Projekten. Das Bild vomVater Staat, der zu jeder Zeit für alles zu-ständig ist, weicht zunehmend einervom Subsidiaritätsgedanken geprägtenVorstellung, wonach dieser sich ver-stärkt auf seine Kernkompetenzen kon-zentriert und durch die Übertragungvon Verantwortung an den Bürger mehrEigeninitiative des Einzelnen ermög-licht, aber auch einfordert.

Allerdings ist die Verbreitung von PPPbis jetzt v.a. auf Großstädte beschränkt.In über 75% der Kommunen – über-wiegend kleinere Gemeinden – gibt eskeine PPP-Projekte bzw. PPP-Projekt-absichten, weil entweder der Bedarfnicht gegeben ist oder die fehlende Er-fahrung davon abhält. Deshalb ist esunerlässlich, vor der Realisierung einesProjekts als PPP eine genaue Wirt-schaftlichkeitsuntersuchung unter Be-rücksichtigung der rechtlichen Rah-menbedingungen durchzuführen.

4. Der PPP-Beschaffungsprozess

Zwischen dem Beginn der Planung undder Vertragsbeendigung eines PPP-Pro-jekts liegen zahlreiche Schritte. Diesersogenannte Beschaffungsprozess glie-dert sich in mehrere Phasen5, die imFolgenden beschrieben und anhand ei-nes typischen Beispiels aus der Praxis –

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die Sanierung einer Schule mit Verwal-tung, Reinigung und Instandhaltung(Facility Management) – verständlichgemacht werden sollen.

In der ersten Phase müssen von der öf-fentlichen Hand Ziele und Vorstellun-gen klar definiert werden. Im Beispiel-fall ist dies die notwendig gewordeneSanierung der Schule. Anschließendsind sämtliche Realisierungskonzeptezu ermitteln und nach bestimmten Kri-terien – rechtliche, technische undwirtschaftliche Umsetzbarkeit – zu se-lektieren. Im genannten Fall bestehtnur die Möglichkeit der Fremdfinan-zierung, da die Kommune nicht überausreichend Mittel verfügt, die Sanie-rung selbst zu finanzieren. Deshalb ste-hen zwei Lösungsansätze zur Wahl: DieFinanzierung über Kredite sowie dieanschließende Eigendurchführung derSanierung auf der einen Seite und einePPP-Lösung auf der anderen Seite.Durch eine Kosten-Nutzen-Analyse imsogenannten PPP-Eignungstest lässtsich eine erste Prognose abgeben, obdie PPP-Lösung vorteilhaft sein kann.

Ist dies der Fall, sind in der zweiten Pha-se die Alternativen hinsichtlich derrechtlichen Umsetzung und der Finan-zierungsfähigkeit genauer zu untersu-chen. Der Vergleich der alternativenModelle erfolgt im sogenannten PPP-Beschaffungsvariantenvergleich, beidem eine Gegenüberstellung der Mo-delle unter Beachtung aller bis zu die-sem Zeitpunkt verfügbaren Informa-tionen die wirtschaftlich vorteilhafteLösung bestimmen soll. Dabei spieltdie Kalkulation von Transaktions-, Fi-nanzierungs- und Risikokosten eineentscheidende Rolle. Im genanntenBeispiel würde der private Partnerbspw. ein monatliches oder jährliches

Entgeld von der Kommune als Gegen-leistung für die im Zusammenhang mitder Schulsanierung übernommenenBetriebs- und Investitionskosten, fürdas übertragene Risiko und den Ge-winn erhalten. Durch den Lebenszyk-lusansatz des PPP-Modells ist es demöffentlichen Auftraggeber zudem mög-lich, sämtliche Folgekosten genauer ab-zuschätzen und Preise, Standards undVerantwortlichkeiten frühzeitig vertrag-lich zu vereinbaren. Im kommunalenHaushalt werden schließlich erste Rah-menbedingungen für das vorgesehenePPP-Konzept geschaffen.

In der dritten Phase wird über eine Aus-schreibung und einen Vergabeprozess,der gleichzeitig unter den Bietern ei-nen Wettbewerb um den Zuschlag zurSanierung ermöglichen soll, das Ange-bot mit dem günstigsten Kosten-Nut-zen-Verhältnis festgestellt. Anschlie-ßend wird in einem Vertrag die genaueLeistungsaufteilung zwischen dem öf-fentlichen Auftraggeber und dem pri-vaten Auftragnehmer festgehalten. DerVertrag muss dabei in seiner Strukturdem jeweiligen Einzelfall angepasstwerden. Nach ausführlicher Auswer-tung und der endgültigen Feststellungder wirtschaftlichen Vorteilhaftigkeitdes PPP-Projekts im sogenannten PPP-Wirtschaftlichkeitsnachweis – hier wer-den die Berechnungen auf der Basisvon konkreten Angeboten durchge-führt – wird der Zuschlag für die Schul-sanierung erteilt.

In der vierten Phase erfolgt die Reali-sierung des Projekts bei gleichzeitigerErfüllung aller Vertragsbedingungender Beteiligten, d.h. die Umsetzung derSanierung und des Facility Manage-ments durch den privaten Auftragneh-mer. Hierfür erfolgt eine ständige Kon-

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trolle und Bewertung der erbrachtenLeistungen sowie Überwachungen hin-sichtlich der Zielerfüllung, Wirkungund Wirtschaftlichkeit. Zudem werdenim kommunalen Haushalt die jeweili-gen Entgelte für den privaten Auftrag-nehmer veranschlagt.

In der abschließenden fünften Phasewird über die weitere sinnvolle Ver-wendung des Vertragsobjekts – im kon-kreten Fall das Schulgebäude – nachVertragsablauf entschieden.

5. Erkenntnisse und Erfahrungen

Erfahrungen zeigen, dass PPP-ProjekteEffizienzsteigerungen von bis zu 15%ermöglichen. Diese basieren auf unter-schiedlichen Gründen:

• Erkenntnisse aus deutschen PPP-Hochbauprojekten belegen, dass Mo-delle mit PPP-Elementen teilweise zuerheblichen Einsparungen bei denBaukosten im Vergleich zur kon-ventionellen Realisierung führen.Dabei wachsen die prozentualenEinsparungen mit steigendem Auf-tragsvolumen. Während z.B. bei ge-planten Baukosten i.H.v. bis zu 5Mio. Euro die ursprüngliche Höhebis zu ca. 13% unterschritten wird,können bei Baukosten i.H.v. über50 Mio. Euro Einsparungen bis zu25% erzielt werden. Als Ursache fürdie Preisunterschreitungen wurdenlaut einer Umfrage das Eigeninteres-se des Privaten an optimierten Kos-ten (34%), eine andere Beschaffungvon Leistungen durch Private (27%)sowie ein konjunkturell bedingterPreisrückgang (23%) als Hauptgrün-de genannt. Konventionelle Realisie-rungen sind hingegen geprägt durch

eine separate Vergabe von Teilauf-gaben, die einer ganzheitlichen Be-trachtung i.S.d. Lebenszyklusprin-zips entgegenstehen. ZahlreicheSchnittstellen bei den einzelnenLeistungen der beteiligten Unter-nehmen, die zu Kosteneinsparun-gen führen könnten, werden sonicht erkannt. Eine Optimierungvon Planung, Bau, Finanzierungund Betrieb als einheitlicher Prozessist dadurch kaum möglich.

• Effizienzgewinne werden im öffent-lichen Hochbau nicht nur durchBaukosteneinsparungen, sondernauch durch Bauzeitverkürzungen er-reicht. Belastungen, z.B. durch Bau-zwischenfinanzierungskosten, ver-anlassen den privaten Auftragneh-mer zur raschen Durchführung undÜbergabe des Projekts. Erfahrungenbelegen eine Bauzeitverkürzung zwi-schen sechs und zwölf Monaten.

• Die Vorteilhaftigkeit eines PPP-Pro-jekts gegenüber einem konventio-nellen Model lässt sich v.a. dannfeststellen, wenn den privaten Ak-teuren statt vorgegebener und ein-engender Vorgaben ein ausreichendgroßer Gestaltungsspielraum für Ent-scheidungen gewährt wird. Nur soist es möglich, die Innovationskraftdes Marktes zu nutzen, da durch diepermanente Suche nach neuenIdeen Wettbewerbsvorteile und da-mit verbundene Effizienzgewinneerzielt werden können.

• Die effiziente Risikoverteilung istentscheidend für den Erfolg des Pro-jekts. Der Risikotransfer erfolgt so,dass derjenige, der am besten mitdem Risiko umgehen kann – also dieEintrittswahrscheinlichkeit und da-mit die Risikokosten minimierenkann – dieses übernimmt. Eine Über-tragung auf den privaten Sektor

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macht folglich nur dann Sinn, wenndieser geringere Kosten der Risiko-übernahme zu tragen hat, z.B. durchbesseres Know-how und langjährigeErfahrungen. Vom privaten Sektorwerden Risiken übernommen, diesich z.B. durch Bauplanung, Bau-kosten, Fertigstellungstermin etc. er-geben können. Risiken, die nichtdurch eine Übertragung auf denprivaten Auftragnehmer übertragenwerden können, werden hingegenvom öffentlichen Sektor zurückbe-halten wie z.B. Risiken auf Grundvon Verzögerungen bei Genehmi-gungsverfahren oder durch nach-trägliche Änderungen.

Zudem darf nicht unerwähnt bleiben,dass die Beteiligung des Mittelstandsan der Umsetzung von PPP´s relativhoch ist. Eine Umfrage zeigt, dass zwi-schen 1996 und 2003 von 44 PPP-Pro-jekten in Ländern und Kommunen66% unter der Beteiligung mittelstän-discher Bauunternehmen durchgeführtwurden. Zudem scheinen diverse Um-fragen über den Einsatz von Billiglohn-arbeitern oder über die Einhaltung desTariftreuegesetzes die Befürchtungenvon Preis- und Lohndumping beiPPP-Projekten nicht zu bestätigen.Dennoch ist es dem Mittelstand aufGrund der schwachen Eigenkapitalaus-stattung und der Fremdkapitalabhän-gigkeit oft aber nicht möglich, langfris-tige Risiken zu übernehmen, sodass derBeteiligung an PPP-Projekten dennochGrenzen gesetzt sind.

6. Ausblick

Laut Deutschem Institut für Urbanistikbeträgt der Investitionsbedarf deut-scher Kommunen für den Zeitraum

2000 bis 2009 über 686 Mrd. Euro6 undsteht einem gegenwärtigen Investiti-onsvolumen von ca. 22 Mrd. Euro ent-gegen. Dieser Investitionsstau legt dieVermutung nahe, dass PPPs zukünftigeine verstärkte Rolle bei der Sicherstel-lung kommunaler Aufgaben zukom-men wird, die auf konventionellemWege alleine nicht mehr umzusetzensind. Bestätigt wird diese Prognosedurch eine weitere Difu-Umfrage: Wäh-rend PPP zum heutigen Zeitpunkt nochin keinem kommunalen Bereich einebesondere Rolle spielt, wird aber den-noch von den befragten Kommuneneine steigende Bedeutung von PPP ge-sehen. 24% der Städte und Gemeindenrechnen damit, dass in Zukunft im Be-reich Sport PPP an Bedeutung gewin-nen wird. 18,3% nennen den schuli-schen und 16,8% den kulturellen Be-reich. 28,5% der befragten Landkreisesind der Überzeugung, dass PPP inSchulen eine größere Bedeutung spie-len wird. 15,5% nennen Krankenhäu-ser und 14,6% den Bereich Umwelt.

Allerdings ist PPP nicht als Patentre-zept für Kommunen in wirtschaftlichschwierigen Zeiten zu verstehen. Wiezuvor erwähnt ist in mehreren Schrit-ten die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeitdes PPP-Modells zweifelsfrei festzu-stellen, da sonst der konventionellenLösung der Vorrang zu geben ist, umwirtschaftlichen Schaden von der Kom-mune abzuwenden. Außerdem sindzahlreiche juristische Aspekte zu be-trachten, die z.B. das Kommunalrecht,das Vergaberecht, das Steuerrecht, dasRecht der öffentlichen Förderung, dasArbeitsrecht und vertragsrechtlicheGrundlagen betreffen.

Daneben zeigt aber auch der Lebens-zyklusansatz Nachteile auf, wenn pro-

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jektimmanente Risiken über einen lan-gen Zeitraum übernommen werdenmüssen, oder wenn eine Einrichtungwährend der Vertragslaufzeit überflüs-sig wird, z.B. eine Schule in einem länd-lich geprägten Raum, der auf Grundder demografischen Entwicklung dieSchüler fern bleiben.

PPP ist also keinesfalls in allen, sondernnur in bestimmten Fällen eine Lösungfür Kommunen. Die Kunst der Verant-wortlichen wird deshalb sein, das Pround Contra eines PPP-Modells gegen-über konventionellen Lösungen abzu-wägen, um den optimalen Nutzen für

die eigene Kommune zu erzielen. Mit-tel- und langfristig werden im Wett-kampf der Regionen diejenigen überle-gen sein, die PPPs aufgeschlossener ge-genüberstehen.

Möglicherweise steigt aber die Bedeu-tung von PPP und Privatisierungen imAllgemeinen in naher Zukunft schnel-ler als erwartet. Durch zahlreiche undlang andauernde Streiks im öffentli-chen Dienst wird es für Kommunenimmer attraktiver, den Einfluss von Ge-werkschaften durch Privatisierungenoder Kooperationen mit dem privatenSektor zu verringern.

Anmerkungen1 Stehlin, Volker/Gebhardt, Georg: Public

Private Partnership – ein Modell für Kom-munen?, o.O. 2005.

2 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Prozessleit-faden Public Private Partnership, o.O.2003, S.9.

3 Deutsches Institut für Urbanistik: PublicPrivate Partnership Projekte – Eine aktu-elle Bestandsaufnahme in Bund, Ländern

und Kommunen, Endbericht, Berlin 2005.4 Weber, Martin/Schäfer, Michael/Haus-

mann, Friedrich: Praxishandbuch PrivatePublic Partnership, München 2005, S.2f.

5 PriceWaterhouseCoopers et al.: PPP im öf-fentlichen Hochbau, Band IV, Berlin 2003.

6 Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.):Kommunaler Investitionsbedarf bis 2009,in: Difu-Berichte, 3/2001, S.6–7.

Oberste Baubehörde im Bayerischen Staats-ministerium des Inneren (Hrsg.): PublicPrivate Partnership zur Realisierung öffent-licher Baumaßnahmen in Bayern, Teil 1Grundlagen, o.O. 2005.

Weitere LiteraturangabenFinanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Public Private Partner-ship im Hochbau. Vertragsrechtliche Aspekteam Beispiel von PPP-Schulprojekten, Düs-seldorf 2005.

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

Das aktuelle Buch

Bayerische Landeszentrale für politischeBildungsarbeit (Hrsg.), Koordination: Jes-se, Eckhard/Sturm, Roland: Zur Diskussiongestellt: Bilanz der Bundestagswahl 2005,München 2006, 344 Seiten, kostenfrei.

Das Jahr 2005 brachte das Ende der rot-grü-nen Bundesregierung und vorgezogene Neu-wahlen des Bundestages. Daraus entstand ei-ne Große Koalition, die knapp ein Jahr nachder Wahl fest im Sattel sitzt und sich daran-macht, die anstehenden Reformen anzupa-cken. Aber viele Entwicklungendieses spannenden Wahljahresgeben noch immer Rätsel aufund werden wohl noch längereZeit Stoff für weitere Analysenbieten. Als erstes Buch, das sichauf wissenschaftlicher Grundla-ge mit dem Ergebnis der Bun-destagswahl vom 18. Septem-ber 2005 und dessen Folgenauseinander setzt, erschien vorkurzem bei der BayerischenLandeszentrale für politischeBildungsarbeit ein lesenswerterSammelband. Unter der Koor-dination von Eckhard Jesse undRoland Sturm entstand dabei ein Werk, daswichtige Aspekte zum vertieften Verständnisdes Wahlausganges verdeutlicht und darüberhinaus interessante Beiträge aufweist, die zumNachdenken über die weitere Entwicklung derParteiendemokratie in Deutschland anregen.Der Band, der auch im VS-Verlag in Wiesba-den erscheint, entstand auf der Basis zweierKonferenzen, die die Bayerische und Säch-sische Landeszentrale für politische Bildungkurz vor und kurz nach der Bundestagswahl inZusammenarbeit mit den Lehrstühlen vonProf. Jesse und Prof. Sturm in Chemnitz undErlangen durchgeführt hatten.

Das Buch, das als Ergebnis entstand, lässtden Schluss zu, dass diese Art von Koopera-tion sehr sinnvoll ist. Auf der einen Seite habendie Beiträge durchgängig hohes wissen-schaftliches Niveau und werten eine Fülle vonMaterial aus. Auf der anderen Seite merkt mandem Band an, dass er nicht für fachwissen-schaftliche Nischendebatten geschrieben wur-de, sondern dass er auch als Beitrag für diepolitische Diskussion gedacht ist, als „Brü-ckenschlag“ zwischen Wissenschaft und Po-litik. Man muss den Autoren bestätigen, dassdie Verbindung beider Ebenen sehr gut gelun-gen ist. Die Beiträge zeichnen sich durchwegdurch klare Analysen und anschauliche Dar-

stellung aus – beides nicht die schlechtestenElemente, um die letzte Bundestagswahl undihr Umfeld besser verstehen zu lernen.

Im einleitenden Beitrag von Eckhard Jessewird ein zentraler Trend deutlich, der durchdiese Wahl akzentuiert wurde: Das deutscheParteiensystem, das lange Zeit durch großeStabilität gekennzeichnet war, ist unsicherergeworden. Und gerade die vorgezogene Bun-destagswahl 2005 hat wohl mehr Bewegungals je zuvor hinein gebracht. Jesse analysiert

das Parteiensystem in Ost undWest und kommt zu dem ab-schließenden Ergebnis, dass sichneue Koalitionsmöglichkeiten er-geben müssen. Insbesondere dieUnion müsse sich genauso umdie Grünen bemühen wie die SPD.Die Entwicklung des Parteiensys-tems sei offener denn je – selbstklarere Forderungen nach einemMehrheitswahlrecht schließt Jes-se nicht aus. Dieter Roth undAndreas M. Wüst bewerten dasErgebnis der Bundestagswahlvorwiegend mit Daten der „For-schungsgruppe Wahlen“ und be-

tonen vor allem die steigende Wechselbereit-schaft der Wähler sowohl innerhalb eines po-litischen Lagers als auch über die politischenLager hinweg. Die Bürger wollten zwar eineVeränderung, aber keine schwarz-gelbe Re-formkoalition. Die große Koaliton habe, soRoth und Wüst, durchaus den Präferenzen derBürger entsprochen. Die zentralen Gründe fürdie Abwahl von Rot-Grün ergeben sich ausRoland Sturms Artikel; er zieht eine Bilanz inzentralen Politikfeldern. Dort sei, so Sturm, zu-meist Stimmungspolitik betrieben worden, dieden Realitäten nicht gerecht wurde – „Gute-Laune-Politik“ schien wichtiger als Problem-lösung. Dies wird exemplarisch gezeigt an-hand der Haushaltskrise, der Krise auf demArbeitsmarkt und der Krise der Sozialsysteme– nirgendwo war ein konzeptioneller Neube-ginn auszumachen.

Warum wurde dann die amtierende Bundes-regierung nicht durch die schwarz-gelbe Ge-genkoalition abgelöst, die lange Zeit wie dersichere Sieger aussah? Gerhard Hirscher er-klärt in seinem Artikel, dass trotz der Koaliti-onsaussage der FDP eine bürgerliche Mehr-heit keinesweg sicher war, ja, dass eine solcheMehrheit auch künftig in Deutschland schwie-riger zu etablieren sein wird als früher. Diesliegt nicht nur am Erfolg der Linkspartei; CDU

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und CSU haben sich schwer getan, sich alsVolkspartei, als Vertreter der „kleinen Leute“und gleichzeitig als marktwirtschaftliche Re-formpartei zu präsentieren. Oskar Niedermay-er analysiert SPD und Grüne auf ihrem Wegzur Bundestagswahl und kommt dabei zudem Ergebnis, dass nicht erst die Agenda2010 zu einer Serie von Niederlagen bei denLandtagswahlen und zur Abwahl von Rot-Grün führte. Die SPD habe sich nach 1998 imSozialstaatskonflikt nicht rechtzeitig neu posi-tionieren und dies ihrer Anhängerschaft glaub-würdig vermitteln können. Die Grünen konn-ten sich vom Negativtrend der SPD abkoppeln– nicht zuletzt, weil ihre Wählerklientel von denSozialreformen weniger betroffen war als dieder SPD und weil sie sich auf „Wohlfühlminis-terien“ konzentrieren konnten. Aber weil dieökonomische Konfliktdimension die Wahl ent-schieden hat, hat ihnen das letztlich nicht ge-holfen. Diese Verortungsprobleme der SPDhaben auch noch zum Aufschwung der WASGgeführt, die sich mit der PDS rechtzeitig vorder Wahl auf eine gemeinsame Liste einigenkonnte. Uwe Backes erläutert in seinem Bei-trag, wieso die Linkspartei im Gegensatz zuden Rechts-Außen-Parteien aus dem Standzu einem guten Wahlergebnis kam. Die Ver-bindung aus PDS-Strukturen des Ostens mitaltlinken Gruppen im Westen (unterstützt vonK-Gruppen wie auch Gewerkschaften oderAttac) könnte die Partei im Bundestag halten,sofern sie nicht auseinander fällt. Dann könn-te sich in Deutschland fürs Erste ein Fünf-parteiensystem etablieren – mit allen Konse-quenzen für die möglichen Mehrheiten.

Auch die restlichen Beiträge des Bandes be-handeln wichtige Themen im Umfeld derWahl: Heinrich Pehle legt die Problematik dervorgezogenen Bundestagswahl im Licht derRechtsprechung des Verfassungsgerichts dar.Mario Paul unternimmt den Versuch, ange-sichts des überraschenden Wahlausgangs zueinem neuen integrativen Erklärungsmodelldes Wahlverhaltens zu kommen. EverhardHoltmann verdeutlicht – durchaus im Wider-spruch zu einigen modischen Ansätzen derletzten Jahre –, dass auch nach der Bundes-tagswahl der größte Teil der Repräsentation

des Volkes durch die Volksparteien von stat-ten gehen und die Identifikation mit den Volks-parteien groß bleiben wird. Allerdings werdeeine erneuerbare Parteibindung nicht mehr„milieugestützt“ sein können, sondern „kom-petenzbasiert“ sein müssen. Sabine Kroppanalysiert die Rolle des Föderalismus und ins-besondere des Bundesrates und kommt zudem Resultat, dass auch unter dem Gesichts-punkt der Reformfähigkeit ein Umbau desdeutschen föderalen Systems unabdingbarist. Frank Decker zeigt, dass die hohe Volatili-tät bei Landtagswahlen vor allem dem Um-stand geschuldet ist, dass mehr Bürger dieseals Instrument nutzen, die jeweilige Bundes-regierung abzustrafen, und fordert im Gegen-zug eine Ausweitung direktdemokratischerMitwirkung. Ludger Helms zeigt die Stabilitätdes deutschen Parteiensystems in internatio-naler Perspektive auf und unterstreicht, wiewenig es – trotz mancher Kommentare – mitdem in Ländern wie den USA, Großbritannienoder Italien zu vergleichen ist. Heinrich Pehlekonstatiert, dass das System der Parteienfi-nanzierung auch bei dieser Bundestagswahlzu einem fairen Wettbewerb geführt hat, undFlorian Hartleb legt dar, inwieweit es nach wievor problematisch wäre, unser Land als „Ber-liner Republik“ zu titulieren. Abschließend um-reißt Roland Sturm die Aufgaben, die vor derGroßen Koalition liegen und ist – trotz des kur-zen Zeitkorridors – verhalten optimistisch fürderen Erfolgsaussichten.

Dieses Buch wird nicht das letzte sein, dassich mit der Bundestagswahl 2005 beschäf-tigt, aber es wird sicher auch im Rückblick alseines der besseren beurteilt werden. In (fürwissenschaftliche Publikationen) kurzer Zeitwurden eine Fülle aussagefähiger Materialienund kluger Analysen zusammen getragen.Auch wenn darin nicht jede Frage erschöp-fend behandelt werden kann, so ergebensich in jedem Fall zahlreiche Anknüpfungs-punkte für weitere Untersuchungen. Politik,Wissenschaft, politische Bildung und Publi-zistik können gleichermaßen von der Lektüreprofitieren.

Peter Witterauf

86 Das aktuelle Buch

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

Buchbesprechungen

Opitz, Peter J./Herz, Dietmar (Hrsg.): Voe-gelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Pa-derborn: Wilhelm Fink Verlag, 2002 bis 2005,10 Bände, Seitenzahl und Preis pro Band un-terschiedlich.

Angst vor krimineller Gewalt und Terrorismus,eine steigende Zahl von Umweltkatastrophen,allgemeine Ratlosigkeit in Politik und Wirt-schaft – die Liste der Probleme, die zahlreicheMenschen auf unserer Welt bedrücken, istlang. Das Leben in vielen Familien, an Schu-len und Arbeitsplätzen, in der Gesellschaft ins-gesamt, scheint nicht mehr „in Ordnung“ zusein. Umso wichtiger ist es, sich an Denker zuerinnern, die in vorbildhafter Weise untersuchthaben, welche Maßstäbe für ein einigermaßengeglücktes menschliches Zusammenlebensich finden lassen, wenn man die überliefertenQuellen unserer und anderer Kulturen darauf-hin untersucht.

Ein solcher Denker war Eric Voegelin (1901–1985), der nach seiner Flucht vor den Na-tionalsozialisten aus Wien in den USA wirkteund dort sein Hauptwerk „Order and History“verfasste, das nun, nach fast fünfzigjährigerVerspätung, in deutscher Übersetzung vor-liegt.

Die Gründe für diese Verspätung sind zahl-reich. In erster Linie wäre die zwiespältige Auf-nahme seiner Persönlichkeit und seines Wer-kes im deutschen Sprachraum zu nennen, ins-besondere während seiner Münchner Zeit von1958–1969. An die LMU berufen, um das FachPolitische Wissenschaft zu etablieren, stießder eigenwillige Gelehrte zunächst auf dasgroße Interesse einer ganzen Studentenge-neration. Diese war fasziniert von der umfas-senden Gelehrsamkeit, aber auch der pole-mischen Schärfe Voegelins, der in seinen Vor-lesungen eine kritische Bestandsaufnahmedes politischen Ist-Zustandes der Bundesre-publik Deutschland forderte, allerdings auf derGrundlage einer genau erarbeiteten philoso-phischen Anthropologie.

Hatte die Öffentlichkeit zunächst geglaubt,Voegelin sei nach seiner Antrittsvorlesung„Wissenschaft, Politik und Gnosis“ der christ-lich-konservativen Seite zuzuordnen, so pass-te seine scharfe Kirchenkritik anlässlich derwohl berühmtesten Vorlesung „Hitler und dieDeutschen“ (1964) nicht in diese Wahrneh-mung. Bei sehr vielen Intellektuellen wurderasch eine pauschale Ablehnung der Voege-linschen Untersuchungen Mode, denn Voege-

lin schreckte auch vor einer grundsätzlichenMarxismus-Kritik nicht zurück, die besondersjene Zeitgenossen verübelten, die nicht einse-hen wollten, dass brauner wie roter Totalitaris-mus durchaus vergleichbar sind.

So saß Voegelin zwischen den Stühlen deskulturellen Milieus. Als er 1969, in kulturrevo-lutionärer Zeit, als Emeritus von München wie-der in die USA zurückging, schien er baldgründlich vergessen zu werden.

Die zehn Bände mit dem Titel „Ordnung undGeschichte“ (Herausgeber, Übersetzerinnenund Übersetzer haben ausgezeichnete Arbeitgeleistet) können im begrenzten Rahmen die-ser Rezension nur oberflächlich gewürdigtwerden – auf die Fülle der in den letzten Jah-ren sprunghaft angestiegenen, wenn auch voneiner breiteren deutschen Öffentlichkeit kaumzur Kenntnis genommenen Sekundärliteraturzu Voegelins Leben und Werk sei deshalb hin-gewiesen. Es ist vor allem das Verdienst desemeritierten Münchner Politologen Peter J.Opitz, die wissenschaftliche Beschäftigungmit Voegelin in Deutschland energisch ange-stoßen zu haben.

Eric Voegelins Philosophie der Politik undGeschichte verfolgte immer zwei Ziele: Zu-nächst galt es, die Ordnungsvorstellungen immenschlichen Bewusstsein von den Anfängenbis zur Gegenwart darzustellen, dann aber,aus ihnen abgeleitet, ethische Maßstäbe fürein vernünftiges und menschenwürdiges Ver-halten des modernen Menschen zu gewinnen.Voegelin setzt bei den Grunderfahrungenmenschlichen Welterlebens an: Gott undMensch, Welt und Gesellschaft bilden eine ur-sprüngliche Gemeinschaft des Seins. Die Ge-meinschaft mit ihrer Vierer-Struktur ist ein Da-tum menschlicher Erfahrung – und ist es auchwiederum nicht. Sie ist ein Datum von Erfah-rung, insofern sie dem Menschen kraft seinerPartizipation am Geheimnis ihres Seins be-kannt ist. Sie ist kein Datum von Erfahrung, in-sofern sie nicht nach Art eines Objektes derAußenwelt gegeben ist, sondern nur in derPerspektive der Partizipation an ihr erkanntwerden kann.

Diese ersten Sätze der Einleitung zum 1. Bandüber den Alten Orient (Mesopotamien, Ägyp-ten) lassen sozusagen das Voegelinsche In-terpretationsmuster seiner Geschichtsphilo-sophie erkennen: Er analysiert die Erfahrun-gen der Menschen, die in der Spannungzwischen Wissen und Nichtwissen stehend

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den Sinn ihres Daseins in dieser Welt zu er-gründen suchen.

Am Anfang der Geschichte stehen die vonVoegelin so genannten „kosmologischen“ Er-fahrungen einer Welt voller Götter, wie sie zumBeispiel die Menschen des Alten Orients ver-standen. Israel brach mit diesem kosmologi-schen Ordnungsverständnis durch seinenExodus aus der als unwahr und bedrückenderfahrenen ägyptischen Daseinsauslegung.Israel begründete so die historische Existenz-form unter dem einen Gott, der sich dem Volkder Juden offenbarte und es durch Moses unddie Propheten durch die Geschichte führte.Dieses spirituelle Erbe trat dann das Christen-tum an (Band 1–3 von „Ordnung und Ge-schichte“).

Der von Judentum und Christentum vollzoge-ne „Sprung“ im Daseins- und damit immerauch Politik-Verständnis ereignete sich aber inähnlicher Form auch im antiken Griechenlanddurch die Entwicklung der Philosophie. So istetwa der seelische Vorgang, der in Platons„Höhlengleichnis“ dargestellt wird, wenn derGefangene von der öden Unterhaltung durchdie Schattenspiele an der Wand der Höhle be-freit wird und seinen Weg zum Sonnenlicht derWahrheit geht, vergleichbar mit dem Kampfder israelischen Propheten gegen den Rück-fall des Volkes in den alten Götzendienst.

Freilich ist Platon, dessen Philosophie undTheologie im Mittelpunkt der Bände 4–7 überdie hellenische Geisteswelt steht, nur eineStimme in einem vielgestaltigen Denkprozess,der von Homer und Hesiod über Heraklit undParmenides zu Aristoteles führt. Aber Platonist der Philosoph, der für Voegelin der christli-chen Mystik am nächsten kommt.

Die nach der Zeit an der Münchner Universitätentstandenen letzten beiden Bände von „Or-der and History“ (hier Band 8–10) stellen inso-fern einen Bruch im ursprünglichen ProgrammVoegelins dar, als er mittels einer vertieftenBewusstseinsphilosophie den Zusammen-hang der antiken Geschichte mit typischenDenk- und Verhaltensformen der Gegenwartnoch einmal neu durcharbeitete. Weltreicheals verfehlte Ausbrüche, um geistiger Desori-entierung zu entkommen, die Entwertung dermenschlichen Existenz auf Erden durch denGnostizismus, die Anziehungskraft der Magie– das sind nur einige Beispiele aus der un-glaublichen Fülle der Darstellung.

Voegelins Philosophie der Geschichte und Po-litik blieb unvollendet. Nach seinem Tod er-schien in den USA der letzte, schmale Band

mit dem Titel „Auf der Suche nach Ordnung“.Er zeugt vom meditativen Ringen um Gott unddie Welt als der Grundlage eines verantwort-lichen Menschseins. Voegelins Werk hatnichts, aber auch gar nichts zu tun mit abs-trakter Ideengeschichte, sondern stellt imGrunde eine große Auseinandersetzung mitden verfehlten politisch-ideologischen Experi-menten der neueren Geschichte dar.

Kann die deutschsprachige Öffentlichkeit essich noch immer leisten, Leben und Werk EricVoegelins zu übergehen?

Eberhard von Lochner

Rüger, Carolin: Aus der Traum? Der langeWeg zur EU-Verfassung. Marburg: TectumVerlag, 2006, 134 Seiten, € 24,90.

Die beiden gescheiterten Volksabstimmungenin Frankreich und den Niederlanden Mitte 2005über den am 29. Oktober 2004 von den Staats-und Regierungschefs der EU in Rom unter-zeichneten „Vertrag über eine Verfassung fürEuropa“ haben zu einer schweren Krise in EU-Europa geführt und die weitere Vertiefung desIntegrationsprozesses in Frage gestellt. Wäh-rend vorläufig die Regeln des Vertrages vonNizza weiter gelten, haben die Staats- und Re-gierungschefs eine „Denkpause“ verordnet,die paradoxerweise gerade dazu dienen soll,neue, konsensfähige und damit realisierbareOptionen für die Rettung bzw. Reformierungdes Vertragswerkes zu entwickeln.

Vor diesem Hintergrund kommt die Studie derjungen Würzburger Politologin Carolin Rügergerade zum rechten Zeitpunkt, um sich ange-sichts der Verfahrenheit der Situation ein klä-rendes Bild über die Genese, die bisherigenSchritte des Verfassungsgebungsprozessesund die kontroversiellen Aspekte des volumi-nösen Vertragswerkes zu verschaffen. Ohne-hin haben vermutlich nicht alle, die sich in denvergangenen Monaten mehr oder wenigerqualifiziert zum Verfassungsvertrag geäußerthaben, diesen wirklich zur Kenntnis genom-men und im Detail studiert.

Der mit leichter Feder geschriebene Essay be-ginnt mit einer historischen Rekonstruktiondes Weges der europäischen Verfassung seitden Entwürfen Graf Coudenhove-Kalergis ausden frühen 1950er-Jahren, analysiert dannden EU-Verfassungskonvent sowie die Regie-rungskonferenz sowohl inhaltlich als auch or-ganisationsstrukturell und verfahrenstech-nisch, bevor er sich dem Vertragswerk selbstzuwendet und neben dessen neuralgischen

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Punkten die Hürden des Ratifizierungsprozes-ses untersucht. Der Blickwinkel der Autorin istzwar in erster Linie auf die deutsche Interes-senslage gerichtet, es wird diese national-staatliche Perspektive jedoch politikwissen-schaftlich sachgerecht in das Mosaik der eu-ropäischen Gesamtdimension eingeordnet.

In ihrer Analyse der Ursachen für das Schei-tern der Referenden in Frankreich und denNiederlanden unterscheidet die Autorin präzi-se und überzeugend zwischen endogenen,länderspezifischen und exogenen, „europäi-schen“ bzw. europapolitischen Hintergründen– eine Vorgehensweise, die nützliche Anknüp-fungspunkte für die aktuelle Diskussion umneue Wege und Lösungsstrategien liefert. Ne-ben anderen Gründen sei vor allem ein „gene-reller und aktueller EU-Frust“ die Ursache fürdas „No“ der Franzosen bzw. das „Nee“ derNiederländer gewesen. „Die Bürgerinnen undBürger sahen in den Referenden eine Chanceihrem Unmut über die EU Ausdruck zu verlei-hen. Dieser werden Bürokratie, Zentralismus,Geldverschwendung, Bürgerferne, Intranspa-renz und aktionistische Regelungswut ange-lastet.“

Wie geht es weiter? Ist der „Verfassungs-traum“ nun also ausgeträumt? Carolin Rügerbietet zwar keine konkreten Lösungsstrate-gien oder Optionen in Richtung Rettung bzw.Reform des Verfassungsvertrages an, was derStudie in der gegenwärtigen Diskussionspha-se zusätzliches Gewicht verschafft hätte, sielässt aber unmissverständlich erkennen, dasssie ein endgültiges Scheitern des Vertrags-werkes ungeachtet „aller legitimen Kritikpunk-te“ als einen „eindeutigen Rückschritt“ emp-fände. „Bleibt zu hoffen“, so ihre Quintessenz,„dass die Bergungsarbeiten gelingen oder zu-mindest Teile der Verfassung gerettet werdenkönnen.“

Reinhard C. Meier-Walser

BDA – Bundesvereinigung der DeutschenArbeitsgeberverbände (Hrsg.): Bildungs-biografien und Berufskarrieren neu entwi-ckeln. Für ein durchlässiges Bildungssystem,Reihe „Bildung schafft Zukunft“, Heft 10. Ber-lin, 2005, 24 Seiten, kostenfrei.

In der Reihe „Bildung schafft Zukunft“ sindbereits neun Bände zu wichtigen Reformthe-men wie „Führungskraft Lehrer“, „Empfehlun-gen zur Weiterbildung“, „Zur Wissensgesell-schaft und Wettbewerbsfähigkeit der Hoch-schulen“, „Zur neuen Lehrerbildung und zurgestuften Studienstruktur Bachelor und Mas-

ter“, „Zur Reform der Studienfinanzierung“und „Zur Selbstständigen Schule“ erschienen.

Heft zehn der Reihe geht von einer grundle-genden Kritik am deutschen Bildungssystemaus. Einige wichtige Kernsätze der Kritik sind:Das deutsche Bildungssystem denkt immernoch in überholten Kategorien. Im deutschenBildungssystem sind immer noch Standes-dünkel und Fixierungen auf Abschlüsse weitverbreitet. Die berufliche und akademischeAusbildung ist in Deutschland immer nochnicht miteinander verzahnt. Das deutsche Bil-dungssystem befindet sich keineswegs auf„Weltklasseniveau“ und ist international nichtkonkurrenzfähig. Im deutschen Bildungssys-tem wird Kompetenzen weit weniger Bedeu-tung beigemessen als erworbenen Abschlüs-sen. Leider gibt es im deutschen Bildungs-und Beschäftigungssystem einige Sackgas-sen und unnötige Abschottungen.

Besondere Herausforderungen für das deut-sche Bildungssystem gehen von der demo-grafischen Entwicklung, der weiteren Interna-tionalisierung im Bildungswettbewerb (vgl.China, Indien, USA), der neuen Dynamik beiinnovativen Entwicklungen und der zuneh-menden Auflösung der Grenzen zwischen ein-zelnen Branchen aus. Das deutsche Bil-dungssystem ist für diese entscheidendenHerausforderungen noch nicht gerüstet.

Die Autoren haben die Kriterien für ein durch-lässiges Bildungssystem in den BereichenSchule, Hochschule und Berufliche Bildung infünf Grundsatzpunkten zusammengefasst.Jeder Punkt wird erläutert und die Konse-quenzen für Schule, Hochschule und Berufli-che Bildung werden abgeleitet. Diese fünfPunkte sind für die Bildungsplanung und Bil-dungspolitik von zentraler Bedeutung und pei-len als Perspektive das Jahr 2015 an. Von die-sen fünf Punkten sollte eine Signalwirkung fürdie Öffentlichkeit ausgehen: Kompetenzenmüssen künftig am Potenzial und am Bedarfausgerichtet sein; Methoden und Lernortemüssen neu kombiniert werden; individuelleBildungswege (Lern- und Bildungsbiografien)sind entscheidend; es müssen neue „Trans-parenzinstrumente“ geschaffen und neue„Leistungsanrechnungen“ ermöglicht werden;die Qualität des Lernens und Lehrens muss„Weltklasseniveau“ erreichen.

Die erste entscheidende Weichenstellung er-folgt bereits in der frühkindlichen Bildung undErziehung. Die frühkindliche Förderung kannmaßgeblich zur „Chancengerechtigkeit undDurchlässigkeit im Bildungssystem“ beitra-gen. Bildungswissen, Fachwissen und Le-

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benswissen müssen enger verknüpft und auf-einander bezogen werden. Ziel der Bildungmuss es sein, „ein kontextuelles Lernen zu ge-währleisten“. Die vielfältigen Möglichkeitender Kooperation unterschiedlicher Lernortemüssen flexibel genutzt werden und die Stär-ken der jeweiligen Partner sollten in den Mit-telpunkt gestellt werden. Zentral ist die Duali-tät des Lernprozesses (Lernort und individuel-ler Lerner). Lernen ist nahezu immer „indivi-duelles Lernen“. Wichtig ist die Beachtung derindividuellen Lern– und Bildungsbiografie inKombination mit der Persönlichkeitsentwick-lung. Lernen und Arbeiten wachsen in Zukunftimmer stärker zusammen. Das Bildungssys-tem sollte daher verstärkt in „Lernmodulenund Qualifizierungsbausteinen“ organisiertsein. Eine wichtige Konsequenz ist die besse-re Verzahnung zwischen dem Berufsbildungs-system und dem Hochschulsektor. Zur Stei-gerung der Durchlässigkeit und zur Verbesse-rung der Perspektiven, insbesondere für dieAbsolventen des Berufsschulsystems, müs-sen verschiedene Leistungspunktesystemekompatibel sein, Module aufeinander auf-bauen und Qualifikationsrahmen ganzheitlichgedacht und entwickelt werden. Einer derSchlüssel für mehr Durchlässigkeit ist dieQualitätssicherung auf hohem Niveau. An die-ser Stelle werden die neuen Zertifizierungenund Akkreditierungsverfahren erwähnt. In denHochschulen sind interne und externe Qua-litätssicherungsmaßnahmen wie Evaluationund Akkreditierung wichtig. Alle hochschuli-schen Aktivitäten müssen in den Evaluations-prozess einbezogen und kontinuierlich zurVerbesserung der Qualität und zur Ressour-censteuerung benutzt werden.

Gottfried Kleinschmidt

Kellermann, Kerstin: Politik und Spirituali-tät. Auf der Suche nach einer friedlieben-den Freiheit. Stuttgart: Verlag W. Kohlham-mer, 2005, 320 Seiten, € 30,00.

Demokratie ist nicht allein auf demokratischeInstitutionen angewiesen, sondern ebenso aufdemokratisch gesinnte Bürgerinnen und Bür-ger. Das ist eine Einsicht, die angesichts derdeutschen Geschichte des 20. Jahrhundertsunmittelbar einleuchtet. Welche Einstellungenim Blick auf die politische Ordnung vorherr-schen, welche Politische Kultur also in einerGesellschaft existiert, beschäftigt die politolo-gische Forschung seit langem. Im weiterenSinne gehört auch die durch ein Stipendiumder Hanns-Seidel-Stiftung geförderte und mitdem Frauenförderpreis der Hochschule Vech-ta ausgezeichnete Dissertation von Kerstin

Kellermann in diesen Kontext. Wie der Unter-titel ihrer Arbeit ausdrückt, geht es Kellermannum die Frage: Welche Bedingungen sind einerPolitischen Kultur förderlich, die sich im Be-sonderen durch Friedfertigkeit und friedlie-bende Freiheit auszeichnet? Die Antwortsucht Kellermann zu finden, indem sie „diespirituellen Dimensionen des Politischen“ un-tersucht und es unternimmt, „die Unaus-löschlichkeit von Seelendimensionen hin-sichtlich ihrer Relevanz für Politische Kulturenund Identitäten aufzuzeigen“ (S. 11).

Damit geht Kellermann über herkömmlicheUntersuchungen zur Politischen Kultur hinaus.Sie untersucht nicht mit sozialwissenschaftli-chen Methoden Einstellungen zur Politik, son-dern arbeitet zum Einen geisteswissenschaft-lich und ideengeschichtlich. Zu ihren Ge-sprächspartnern gehören dabei u.a. Dolf Stern-berger, Gerhard A. Ritter, Hannah Ahrendt,Karl Jaspers, Albert Camus, Eric Voegelin undCarl Schmitt. Zum Anderen versucht sie, Ein-stellungen und Motivationen auf letzte trans-zendente Gründe zurückzuführen. Damit frei-lich wird aus Kellermanns politologischer Fra-gestellung zunächst eine theologische, dannüberschreitet sie auch diesen wissenschaftli-chen Bezugsrahmen. Das ist im Kontext ihresAnsatzes konsequent, denn nach christlichemVerständnis, dem sie sich anschließt, ist Gott,der letzte Seinsgrund, unverfügbar. Für dieWissenschaft allzumal.

Die Verbindung von Spiritualität und verschie-denen wissenschaftlichen Disziplinen machtKellermanns Arbeit zu einer anregenden Lek-türe, wirft aber auch Fragen auf. Zunächst die,inwiefern eine ‚spirituelle’ Herangehensweisevereinbar ist mit dem Genre einer Dissertation.Kellermann selbst bemerkt dazu wissen-schaftskritisch: „Zu vorschnell und zu bereit-willig bewegen wir uns noch in wirklichkeits-verfremdenden Wissenschaftsdiskursen undpolitisch-rhetorischen Argumentationsschlei-fen. Auch diese Arbeit zollt als Dissertation ei-ner fragwürdigen wissenschaftlichen Betrieb-samkeit und Fachsprache ihre Tribute.“ (S. 79)

Eine weitere Frage ist, inwiefern Kellermannder interdisziplinäre Brückenschlag zwischenPolitologie und Theologie gelingt. Über weiteStrecken baut ihre Arbeit derart stark auf reli-giösen Prämissen auf, dass die gegenwärtigePolitologie sie kaum als anschlussfähig aner-kennen dürfte. Der Rezensent bekennt, dasser als Theologe durchaus davon angetan ist,dass überhaupt außerhalb der eigenen Dis-ziplin mit theologischen Begriffen gearbeitetwird. Gleichzeitig steht er ratlos vor Sätzenwie den folgenden: „Die Seele hingegen kennt

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keine Negation, kennt kein Warum. Sie istgeistig-materiales Leben in Ursprünglichkeitund kann deshalb auch nur Leben wollen. In-sofern ist ihre natürliche Wahrnehmung derWirklichkeit a priori die Freude am Leben.“(S. 107) Oder: „Wir können die Seele heuris-tisch als ein vieldimensionales Organ der Ver-mittlung und Transzendierung begreifen vonVergangenheit und Zukunft, von Sichtbaremund Unsichtbarem zum vollkommenen Da-sein.“ (S. 110) Woher weiß Kellermann das al-les – und was meint sie überhaupt damit?Spätestens wenn Kellermann dann noch da-von spricht, dass es als „Orientierung für fried-liches Handeln (...) auf die Qualität lebendigerGanzheitlichkeit zu pochen“ gelte (S. 136),wünscht man sich die begriffliche Schärfe dergescholtenen Wissenschaft – auch der theo-logischen. Gerade dieser Jargon der Ganz-heitlichkeit verhindert vermutlich die ange-strebte Befruchtung von spirituellen Katego-rien, Theologie und Politologie. Eher führt diespirituell inspirierte Reformulierung politischerFragestellungen dazu, sie aus dem politolo-gischen Diskurs herauszulösen, zumal derZusammenhang zwischen den ‚spirituell’ for-mulierten Sätzen und den Referaten über diePhilosophen und Politologen, mit denen sichKellermann auseinander setzt, nicht immerdeutlich wird.

Bleibt die Frage, was Kellermanns Buch zuheutigen politischen Diskussionen beizutra-gen hat. Mir scheint, vor allem dies: Keller-mann ruft in Erinnerung, dass ein an Wertenwie Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit orien-tiertes Gemeinwesen Menschen braucht, diediesen Werten aus tiefer Überzeugung folgen,nicht nur aus zweckrationalen Erwägungen.Solche Überzeugungen wiederum haben einereligiöse, spirituelle Dimension, die es zu pfle-gen, zu reflektieren und zu würdigen gilt. In-sofern erscheint auch Kellermanns harscheKulturkritik an einer zweckrationalen, konsu-mistischen, gewalttätigen, also ‚seelenlosen’Moderne (vgl. z.B. S. 43ff.) zumindest teilwei-se nachvollziehbar, obwohl einem oft mulmigwerden kann ob ihrer Nähe zu ‚okzidentalis-tischen‘ Diskursen (Jan Buruma/Avishai Mar-galit).

Joachim Willems

Kindermann, Gottfried-Karl: Der AufstiegKoreas in der Weltpolitik. Von der Landes-öffnung bis zur Gegenwart. München: OlzogVerlag, 421 Seiten, € 34,00.

Dem Politikwissenschaftler, der sich vor-nimmt, den „Aufstieg Koreas in der Weltpoli-

tik“ zu analysieren, tut sich gleich anfangs einschier unlösbares Problem auf. Während derBeginn des zu wählenden Beobachtungszeit-raums automatisch vorgegeben scheint – dievon außen erzwungene „Landesöffnung“ imJahr 1876 – bereitet das Festlegen des EndesSchwierigkeiten. Wo aufhören? Nach wie vorgehört die koreanische Halbinsel zu den span-nendsten Brennpunkten der Weltpolitik. ImWechselspiel von Konfrontation und Konfliktzwischen den beiden antagonistischen korea-nischen Teilstaaten ist weiterhin keine schnel-le Lösung in Sicht. Mit der regelmäßigen Sym-metrie einer Sinuskurve haben sich die Bezie-hungen zwischen Nord- und Südkorea in denvergangenen Jahrzehnten zwischen dem ne-gativen und dem positiven Extrem hin- undherbewegt und dabei enorme Wechselwir-kungen im internationalen Kräfteumfeld, ins-besondere im Beziehungsgefüge mit den Ver-einigten Staaten von Amerika, der Volksrepu-blik China, Japan und Russland, entwickelt.Wer seine Beobachtungen in der Gegenwartabschließt, läuft Gefahr, schon morgen vonsich überstürzenden Ereignissen überraschtzu werden.

Gottfried-Karl Kindermann, einer der renom-miertesten Ostasienkenner im deutschspra-chigen Raum, hatte bei der Erstauflage seinesBuches „Der Aufstieg Koreas in der Weltpoli-tik“ den Schlusspunkt seiner Beobachtungenim September 1994 gesetzt. Im Jahr der Ver-öffentlichung hielt die Weltöffentlichkeit ange-sichts der Eskalation auf der koreanischenHalbinsel den Atem an. Kindermann füllte mitseinem sowohl im Informationsgehalt als auchin der Analysetiefe hervorragenden Werk einegroße Lücke.

Dennoch erging es seiner begeisterten Leser-schaft damals wie dem Zuschauer, dem kurzvor der Auflösung eines spannenden Fern-sehkrimis der Strom abgeschaltet wird. Weildie Zeit für eine Veröffentlichung drängte, en-dete der Beobachtungszeitraum der Erstauf-lage abrupt: noch vor dem Abschluss desRahmenabkommens zur Beilegung der erstennordkoreanischen Nuklearkrise, in einer Zeitder ungesicherten nordkoreanischen Füh-rungsnachfolge kurz nach dem Tode Kim IlSungs. Dem Leser war es somit selbst über-lassen, die kurz darauf eintretenden politi-schen Ereignisse einzuordnen und zu bewer-ten. Das nötige Rüstzeug hierzu hatte ihm derAsienkenner Kindermann zweifellos mit aufden Weg gegeben. Er hatte eine präziseAnalyse der historischen Wurzeln und Ur-sachen der Teilung Koreas vorgelegt unddas Schicksal der beiden koreanischen Teil-staaten in den Kontext des Beziehungsgefü-

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ges der umliegenden internationalen Akteureeingeordnet.

Auf eine Fortsetzung dieser Analyse, präg-nant, tiefgründig und dabei stets anschaulichund spannend, wie man es von KindermannsOstasienwerken gewohnt ist, hoffte, wer sichMitte der 90er-Jahre in die Erstausgabe ver-tieft hatte. Mehr als ein Jahrzehnt später hatsich der Politikwissenschaftler sein Korea-buch noch einmal vorgenommen. Der Beob-achtungszeitraum der Neuauflage wurde umüber zehn Jahre erweitert. Dadurch wurdenzahlreiche Ereignisse Gegenstand der Analy-se, die Mitte der 90er-Jahre selbst für Asien-kenner kaum erahnbar waren: Der Wahlsiegdes ehemaligen Dissidenten Kim Dae Jung inSüdkorea, die Wirtschaftskrise der späten90er-Jahre und die südkoreanische „Sonnen-scheinpolitik“ gegenüber Pjöngjang werden inder Neuauflage ebenso sorgfältig behandeltwie die Ereignisse im nördlichen Teil der Halb-insel, etwa die Festigung der Machtpositionvon Kim Jong Il oder die Verschärfung derKonfrontation während der zweiten nordko-reanischen Atomkrise.

Kindermann bleibt seiner politikwissenschaft-lichen Herangehensweise treu und verliert niedie Gesamtkonstellation der Akteure der Re-gion aus dem Blick. Insbesondere der ein-flussreichen Rolle der Vereinigten Staaten vonAmerika, sowohl als Gegenspieler Nordkoreasals auch als Partner Südkoreas, schenkt er vielAufmerksamkeit.

Dieses Buch ist für asienpolitische Kenner wieNovizen gleichermaßen geeignet. Letztere fin-den hier ein in klare historische Zeitabschnit-te gegliedertes Grundlagenwerk vor, dasihnen historische und kulturelle Hintergründeerläutert und sie von der Einigung der drei ko-reanischen Königreiche unter dem buddhis-tischen Königreich Shilla (668–935 n.Chr.) bisin die Gegenwart leitet, d.h. mitten hinein indas Hin und Her der immer wieder verscho-benen und neu angesetzten Pekinger Sechs-Parteien-Gespräche zur Lösung des nordko-reanischen Nuklearproblems. Für den fortge-schrittenen Koreakenner, der seine Kenntnisseüber einzelne politische Persönlichkeiten oderEpochen auffrischen will, ist dieses Buch mitseinen in sich geschlossenen einzelnen Kapi-teln von ebenso großem Wert. Den Korea-experten schließlich, von dem angenommenwerden darf, dass er die historischen Faktenohnehin parat hat, interessiert vor allem Kin-dermanns Einordnung und Bewertung derhistorischen, an erster Stelle aber der jüngs-ten Ereignisse auf der koreanischen Halb-insel.

Alle drei Gruppen werden dieses Koreabuchbegeistert lesen, am Ende aber, wie die Leserder Erstausgabe, ihre Enttäuschung über dasabermals notwendige abrupte Ende der Ana-lyse nicht verbergen können. Den Verfassertrifft hier keine Schuld. Die Koreafrage ist nachwie vor ungelöst und wird auch in den kom-menden Jahren noch viele unerwartete Ent-wicklungen bereithalten. Welchen Redaktions-termin Kindermann auch immer zu setzengewillt ist, an Stoff für eine Fortsetzung derAnalyse wird es ihm auch in den kommendenJahren nicht mangeln.

Susanne Luther

Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik derWeltherrschaft – vom Alten Rom bis zu denVereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005,331 Seiten, € 19,90.

Mit der Implosion des Sowjetreiches ist dieGeschichte, anders als man seinerzeit gehofftoder gefürchtet hatte, nicht zu Ende gegan-gen. Vielmehr präsentiert sie sich in einemneuen Gewand, in dem die verbliebene Su-permacht USA fortan Rahmen und Maßstäbefür internationales politisches Handeln setzt.Die hieraus entstandene Kontroverse um dieRolle der Vereinigten Staaten als weltweitagierende Ordnungsmacht führt HerfriedMünkler nicht nur in die Gefilde einer deskrip-tiven Untersuchung von Imperien, Imperialis-mus und Hegemonie, sondern auch zwangs-läufig zu Prognosen über die Dauer undStabilität der amerikanischen Vorherrschaft.

Wie vor ihm Peter Bender versucht auch deran der Humboldt-Universität lehrende Politik-wissenschaftler, das weltpolitische Selbstver-ständnis der USA in einen geschichtswissen-schaftlichen Kontext einzubetten. Allerdingsgeht es ihm weniger um strukturelle Analogienals vielmehr um die imperialen Rahmenbedin-gungen, innerhalb derer politische Eliten agie-ren. Entsprechend konzentriert er sich bei sei-ner systematischen Herangehensweise zu-nächst auf eine deutliche Begriffsabgrenzung.Beachtenswert für seine weiteren Reflexionenist dabei die These, dass Imperien, im Gegen-satz zu institutionellen Flächenstaaten mit ih-ren klar definierten Grenzen, übergreifende„Macht- und Einflussgefüge“ sind, die einergänzlich anderen Handelslogik unterliegen.

Nach dem einleitenden Kapitel vergleicht derAutor historische Fallbeispiele, die er nachSee- und Territorial-, nach Handels- und Mili-tärmächten kategorisiert. Anschließend unter-scheidet er Imperien hinsichtlich ihrer zeitli-

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chen und räumlichen Ausdehnung und mani-festiert – in Anlehnung an Michael Mann undMichael Doyle – das wesentliche Kriterium fürden langlebigen Erfolg eines Imperiums indem ausbalancierten Verhältnis von militäri-scher, ökonomischer, politischer und ideologi-scher Macht. Alle Imperien mit längerem Be-stand, so der Berliner Politologe, haben einenÜbergang von der bloßen Expansion zur Kon-solidierung des Reiches durch die verstärkteEinbindung ihrer Peripherie vollzogen. Alsmustergültiges Beispiel verweist er auf dieRegentschaft des römischen Kaisers Augus-tus und seiner Politik der Pax Romana. Indes-sen gelang anderen Imperien wie etwa demSteppenreich der Mongolen oder den spani-schen und portugiesischen Seemächten dasÜberschreiten der „augustinischen Schwelle“nicht, da ihnen keine langfristigen Konzeptio-nen zu Grunde lagen.

Im letzten Teil seiner Studie erläutert HerfriedMünkler den Begriff „Imperium“ auch ihmRahmen der Diskussion, ob den USA derSprung über die „augustinische Schwelle“ ge-lingen werde. Angesichts der Tatsache, dassinsbesondere in demokratischen Gesellschaf-ten die Nutzen und Kosten, die Vor- und Nach-teile imperialer Politik gegeneinander abge-wogen werden, kann die Asymmetrie derMacht zu erheblichen Problemen führen. DieVereinigten Staaten, die durch Krisen undKonflikte der Peripherie in eine von ihnen ur-sprünglich nicht erstrebte Rolle hineinge-zwungen wurden, könnten zwar nicht politischoder militärisch, aber psychisch und wirt-schaftlich zum Rückzug gezwungen werden.Unterdessen werde auch die EuropäischeUnion auf entsprechende Vorgänge in ihrerUmgebung reagieren und sich stärker am Mo-dell des Imperiums orientieren müssen, umgefährliche Instabilitäten im postimperialenRaum der ehemaligen Sowjetunion notdürftigbefrieden zu können.

„Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vomAlten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ istnicht zuletzt Dank seines vorurteilsfreienBlicks auf den Komplex imperialer Herrschafteine überaus kluge Studie, die sich von denAllgemeinplätzen, wie sie in der Diskussionum das amerikanische Imperium heute an derTagesordnung sind, wohltuend abhebt. Sievermag die Schwächen des europäischenOrdnungsmodells ebenso zu erhellen wie dieTatsache, dass allein die USA derzeit Weltpo-litik zu gestalten vermögen.

Zusammenfassend kann man dem Autor zuseiner in vielfacher Weise bemerkenswertenPublikation uneingeschränkt gratulieren. Sie

liefert einen interessanten Beitrag zu einerwichtigen Debatte und ist auf Grund HerfriedMünklers Ansatz, seine Argumentation nichtausschließlich ideengeschichtlich, sondernebenso zeitgeschichtlich zu exemplifizieren,auch für eine breite Öffentlichkeit zugänglich.Komplettiert wird sie durch elf Karten und einefundierte Literaturliste.

Christian Fischer

Diamond, Jared: Kollaps – Warum Gesell-schaften überleben oder untergehen. Ausdem Amerikanischen von Sebastian Vogel.Frankfurt: S. Fischer Verlag, 6. Aufl., 2005, 702Seiten kt., € 22,90.

J. Diamond ist in Deutschland vor allem durchzwei Werke sehr bekannt geworden: „Der Drit-te Schimpanse“ (1994) und „Arm und Reich –Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“(1998). 1998 erhielt er den begehrten Pulitzer-preis. Er versteht die Geschichtswissenschaftals historische Naturwissenschaft und siehtals bislang ungelöste Aufgabe die Etablierungder Geschichtswissenschaft als solche. Zudieser neuen interdisziplinären Wissenschaftgehören vor allem die Ökologie, Evolutions-biologie, Geologie, Klimatologie, Demogra-phie und Kosmologie. In seinem neuen Werkuntersucht er die Bedingungen für den Zu-sammenbruch früherer und heutiger Gesell-schaften und berücksichtigt dabei fünf zen-trale Faktoren: Umweltschäden, Klimaverän-derung, feindliche Nachbarn, freundlicheHandelspartner sowie die Reaktion der Ge-sellschaft auf ihre Umweltprobleme. Zwischenden fünf zentralen Faktoren besteht ein Be-ziehungsnetz. Die untersuchten Gesellschaf-ten in früheren Zeiten sind die Osterinsel, dieAnasazi, die Maya, die Wikinger und Norman-nisch-Grönland, die Gesellschaften der Ge-genwart sind Ruanda, die Dominikanische Re-publik und Haiti, China und Australien. Nachder Analyse der fünf Faktoren, die zum Zu-sammenbruch der Gesellschaft führen kön-nen und auf der Basis der historischen Natur-wissenschaften werden praktische Lehren ge-zogen. Im Mittelpunkt stehen die Antwortenauf folgende Fragen: Warum treffen mancheGesellschaften katastrophale Entscheidun-gen? Warum stimmen die Interessen vonGroßunternehmen, Umweltschützern und derGesamtgesellschaft häufiger überein, als manauf Grund der gegenseitigen Vorwürfe ver-muten würde? Welche Veränderungen tragenam wirksamsten dazu bei, dass große Firmen,die derzeit der Umwelt schaden, sich künftigumweltfreundlicher verhalten? In diesem Zu-

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sammenhang stehen die Branchen Erdöl, Erz-und Kohlebau, Holzgewinnung und Fischereiim Mittelpunkt. Welche Unterschiede beste-hen zwischen der Welt der Vergangenheit undunserer Situation heute? Welche Lehren kön-nen wir aus den Erkenntnissen der histori-schen Naturwissenschaften ziehen? Die ent-scheidende abschließende Frage lautet: Waskann der Einzelne tun? Diese Frage beant-wortet der Autor im dem Abschnitt „Weiter-führende Literatur“. Hier erhalten die Leserin-nen und Leser konkrete Vorschläge und kon-struktive Hinweise. Faszinierend ist, dass die„historische Naturwissenschaft“ in Verbin-dung mit dem Zusammenbruch früherer undheutiger Gesellschaften Gemeinsamkeitenzeigt, die unabhängig vom Zeitfaktor Gültig-keit haben. Dabei spielen die bereits erwähn-ten fünf Faktoren eine entscheidende Rolle.Der Zusammenbruch einer früheren Gesell-schaft kann als ein schlimmstmögliches Sze-nario für das genommen werden, was unsselbst in der Zukunft bevorsteht. Durch Glo-balisierung, internationalen Handel, Flugver-kehr und Internet teilen sich heute alle Staatender Erde die Ressourcen, und alle beeinflus-sen einander! Ein immer wiederkehrendesThema des Buches ist die explosionsartigeZunahme von Umwelt- und Bevölkerungspro-blemen, die ihren Ausdruck in inneren Unru-hen und Krieg finden. Dies gilt in Verbindungmit früheren Gesellschaften (z.B: Osterinsel,Mangareva, Maya und Tikopia), aber auch beisolchen aus unserer Zeit (z.B. Ruanda, Haitiund andere).

J. Diamond wagt auch an einigen Stellenseiner Analyse weitreichende Prognosen. DieAntwort auf die Frage „Welche Folgen hat es,wenn die Chinesen ihren Ehrgeiz verwirk-lichen, den Lebensstandard der Industrielän-

der zu erreichen?“ lautet: „Wenn China denStandard der Industrieländer erreicht, werdensich Ressourcenausbeutung und ökologischeSchäden auf der Erde ungefähr verdoppeln(...). Das ist der wichtigste Grund, warumChinas Probleme automatisch zu Problemender ganzen Welt werden“. Die gravierendenökologischen Probleme Australiens könnenauf insgesamt neun schädliche Eingriffe indie Umwelt zurückgeführt werden: Rodungder einheimischen Pflanzenwelt, Überwei-dung durch Schafe und Kaninchen, übermä-ßige Ausbeutung der Nährstoffe, Bodenero-sion, von Menschen verursachte Dürre, Un-kraut, falsche politische Entscheidungen undzunehmende Versalzung. Diese schädlichenEingriffe gelten allerdings nicht für Australienallein.

An verschiedenen Beispielen aus der Ge-schichte und Gegenwart kann J. Diamondzeigen, wie internationales Verhalten im Zu-sammenhang mit Wertekonflikten eine Ge-sellschaft in manchen Fällen davon abhält,eine Lösung anerkannter Probleme zu su-chen, in anderen Fällen es jedoch nicht ge-lingt.

Das vorliegende Werk kann als ein gelungenesBeispiel für die neue „historische Naturwis-senschaft“ gesehen werden. Es regt zum in-terdisziplinären und systemischen Denken anund weist auf die komplexen Beziehungenzwischen Ökologie und Kosmologie hin. Dadie Wechselwirkungen der einzelnen Fakto-ren im Beziehungsnetz oft undurchsichtigsind, kann es leicht zu weitreichenden, unge-wollten Nebenwirkungen mit katastrophalenSpätfolgen kommen.

Gottfried Kleinschmidt

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Politische Studien, Heft 408, 57. Jahrgang, Juli/August 2006

Folgende Neuerscheinungen aus unseren Publikationsreihen können von Interes-senten bei der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftunge.V., Lazarettstraße 33, 80636 München (Telefon: 089/1258-260/266) oder im Inter-net unter www.hss.de/publikationen.shtml bestellt werden:

● aktuelle analysen– Die Bundestagswahl 2005 – Neue Machtkonstellation trotz Stabilität der poli-

tischen Lager– Welchen Sozialstaat wollen wir?– Europa Ziele geben – Eine Standortbestimmung in der Verfassungskrise

● Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen– Nachhaltige Zukunftsstrategien für Bayern – Zum Stellenwert von Ökonomie,

Ethik und Bürgerengagement– Globalisierung und demografischer Wandel – Fakten und Konsequenzen zweier

Megatrends

● Berichte & Studien– Deutsche Sicherheitspolitik – Rückblick, Bilanz und Perspektiven

● Studies and Comments– India’s New Dynamics in Foreign Policy

Über den Buchhandel zu beziehen:

● Alois Glück/Bernhard Vogel/Hans Zehetmair (Hrsg.): Solidarische Leistungs-gesellschaft – Eine Alternative zu Wohlfahrtsstaat und Ellbogengesellschaft.Freiburg: Verlag Herder, 2006. (ISBN-13: 978-3-451-23014-1)

Ankündigungen

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Autorenverzeichnis

Stefan EbnerStipendiat der Studien-förderung für Universi-täten der Hanns-Seidel-Stiftung, München

Jean-Claude Juncker,Dr. h.c.Premierminister desGroßherzogtumsLuxemburg

Gottfried-Karl Kinder-mann, Prof. Dr. Dr. h.c.Koordinator der Arbeits-gemeinschaft für die Ge-schichte und Politik Ost-und Südostasiens an derLMU München sowieLehrbereichsvertreter fürInternationale Politik ander Hochschule für Poli-tik, München

Donate Kluxen-Pyta,Dr.Ressort Bildungspolitik,Bundesvereinigung derDeutschen Arbeitgeber-verbände, Berlin

Patrick Moreau, Dr.Politikwissenschaftlerbei SOPHIAPOL, Paris

Rita Schorpp, Dr.Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung,Sachsen

Markus Taube, Prof. Dr.Professur für Ostasien-wirtschaft/China an derWirtschaftswissenschaft-lichen Fakultät und Di-rektor des Zentralinstitutsfür Ostasienwissenschaf-ten an der UniversitätDuisburg-Essen

Willi LangeStellvertretender Referatsleiter ‚China‘des Instituts für Internationale Be-gegnung und Zusammenarbeit derHanns-Seidel-Stiftung, München

Reinhard C. Meier-Walser, Dr.Leiter der Akademie für Politik undZeitgeschehen sowie Chefredakteurder Politischen Studien der Hanns-Seidel-Stiftung, München

Jürgen WilkeReferatsleiter ‚China‘ des Institutsfür Internationale Begegnung undZusammenarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung, München

Junhua Zhang, Dr.derzeit Gastwissenschaft-ler am Wissenschaftszen-trum Berlin für Sozialfor-schung und Lehrbeauf-tragter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissen-schaft der Freien Univer-sität Berlin

Kay Möller, Dr.Mitarbeiter des Forschungsinstitutsder Stiftung Wissenschaft undPolitik, Berlin