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S.B. Kessler · T.A. Kalteis · A. Botzlar · Chirurgische Klinik und Chirurgische Poliklinik, Klinikum Innenstadt der Ludwig-Maximilians-Universität, München Prinzipien der chirurgischen Behandlung bei diabetisch- neuropathischer Osteoarthro- pathie änderungen im Zuge der Tabes dorsalis zurückführte. Ähnliche Knochende- struktionen treten jedoch auch bei an- deren neurologischen Erkrankungen auf, wobei heutzutage die diabetische Neuropathie zahlenmäßig bei weitem im Vordergrund steht. Epidemiologie Die Prävalenz der Neuroosteoarthropa- thie bei Diabetikern wird mit 0,1–16% beziffert [5, 8, 11]. Die erhebliche Schwan- kungsbreite erklärt sich durch variie- rende Definitionen und unterschiedli- che Intensität der Untersuchung. Auf- grund der verlängerten Überlebenszei- ten von Diabetikern muß in Zukunft mit einem vermehrten Auftreten der DNOAP gerechnet werden. Sowohl Pa- tienten mit Typ I als auch mit Typ II Diabetes mellitus können eine DNOAP entwickeln, zumeist nach einer Krank- heitsdauer von mehr als 10 Jahren. In seltenen Fällen kann der Charcot-Fuß jedoch auch die Erstmanifestation des Diabetes mellitus darstellen [14]. Eine geschlechtsspezifische Häufung ist nicht zu verzeichnen. Ein bilaterales Auftre- ten der Osteoarthropathie wird in bis zu 30% der Krankheitsfälle beschrie- ben [6]. Die diabetisch-neuropathische Osteo- arthropathie (DNOAP, Synonyme: Neu- roosteoarthropathie, Charcot-Fuß, Char- cot-Arthropathie), im klinischen Alltag meist Charcot-Fuß genannt, ist eine heimtückische Erkrankung, die zu spät diagnostiziert und unsachgemäß be- handelt eine progrediente Zerstörung des Fußskelettes verursacht. Zu häufig wird diese Komplikation des Diabetes mellitus verkannt und führt nicht sel- ten zur Invalidität der betroffenen Pati- enten. In den Anfangsstadien bleibt die Behandlung des Charcot-Fußes eine Do- mäne der konservativen Therapie. Bei progredientem Fußkollaps mit rezidivie- renden Ulzera, Weichteilinfekten, Fuß- deformitäten und Gelenkinstabilitäten müssen die betroffenen Patienten je- doch der operativen Versorgung in ei- ner spezialisierten chirurgisch-ortho- pädischen Klinik zugeführt werden, um die drohenden deletären Krankheits- verläufe aufzuhalten. Definition Die Neuroosteoarthropathie wird als nicht infektiöse Zerstörung einzelner oder multipler Knochen- und Gelenk- strukturen definiert, wobei zumeist das Fußskelett betroffen ist. Ein wesentliches Diagnosekriterium ist das Vorliegen ei- ner Neuropathie. Die Erstbeschreibung erfolgte 1868 von J.M. Charcot, der progrediente Kno- chen- und Gelenkzerstörungen bei Sy- philis-Patienten auf neuropathische Ver- Der Internist 10·99 | 1029 Übersicht Internist 1999 · 40:1029–1035 © Springer-Verlag 1999 Zum Thema Die diabetisch-neuropathische Osteoarthro- pathie (DNOAP) ist die nicht infektiöse Zer- störung einzelner oder mehrerer Knochen- und Gelenkstrukturen, überwiegend im Fuß- skelett lokalisiert.Von der DNOAP sind 0,1–16% der Diabetiker betroffen, wobei die Schwankungsbreite dieser Angabe mit un- terschiedlichen Definitionen und Untersu- chungsintensitäten erklärt wird. Die DNOAP wird in 3 Stadien eingeteilt. Im Stadium I liegt lediglich ein Knochenmark- ödem vor.Das Stadium II ist geprägt von Ent- mineralisierung und Osteolyse. Klinisch fin- den sich in Stadium I und II Überwärmung, Rötung und Schwellung des betroffenen Ge- lenks. Im Stadium III bilden sich diese klini- schen Symptome zurück, die Knochensub- stanz wird remineralisiert, es kommt aber zu Fehlstellungen, Sububluxationen, Luxatio- nen und Ulzerationen. Die DNOAP wird nicht selten zu spät diagno- stiziert, was zu fatalen Folgen führen kann. In dieser Übersicht werden Klinik, Epidemiolo- gie, Pathogenese, Diagnostik und Differenti- aldiagnostik sowie Therapie in gebotener Kürze dargestellt. Bereichert wird die Arbeit durch Therapieergebnisse am eigenen Kran- kengut der Autoren. Schlüsselwörter Osteoarthropathie, Diabetes · Diabetes, Osteoarthropathie · Diabetes, Komplikationen · Charcot-Fuß · Podopathie, diabetische Prof. Dr. S.B. Kessler Chirurgische Klinik und Chirurgische Poliklinik, Klinikum Innenstadt der Ludwig-Maximilians- Universität, Nußbaumstraße 20, D-80336 München& / f n - b l o c k : & b d y :

Prinzipien der chirurgischen Behandlung bei diabetisch-neuropathischer Osteoarthropathie

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Page 1: Prinzipien der chirurgischen Behandlung bei diabetisch-neuropathischer Osteoarthropathie

S.B. Kessler · T.A. Kalteis · A. Botzlar · Chirurgische Klinik und Chirurgische Poliklinik,

Klinikum Innenstadt der Ludwig-Maximilians-Universität, München

Prinzipien der chirurgischenBehandlung bei diabetisch-neuropathischer Osteoarthro-pathie

änderungen im Zuge der Tabes dorsaliszurückführte. Ähnliche Knochende-struktionen treten jedoch auch bei an-deren neurologischen Erkrankungenauf, wobei heutzutage die diabetischeNeuropathie zahlenmäßig bei weitemim Vordergrund steht.

Epidemiologie

Die Prävalenz der Neuroosteoarthropa-thie bei Diabetikern wird mit 0,1–16%beziffert [5, 8, 11]. Die erhebliche Schwan-kungsbreite erklärt sich durch variie-rende Definitionen und unterschiedli-che Intensität der Untersuchung. Auf-grund der verlängerten Überlebenszei-ten von Diabetikern muß in Zukunftmit einem vermehrten Auftreten derDNOAP gerechnet werden. Sowohl Pa-tienten mit Typ I als auch mit Typ IIDiabetes mellitus können eine DNOAPentwickeln, zumeist nach einer Krank-heitsdauer von mehr als 10 Jahren. Inseltenen Fällen kann der Charcot-Fußjedoch auch die Erstmanifestation desDiabetes mellitus darstellen [14]. Einegeschlechtsspezifische Häufung ist nichtzu verzeichnen. Ein bilaterales Auftre-ten der Osteoarthropathie wird in biszu 30% der Krankheitsfälle beschrie-ben [6].

Die diabetisch-neuropathische Osteo-arthropathie (DNOAP, Synonyme: Neu-roosteoarthropathie, Charcot-Fuß, Char-cot-Arthropathie), im klinischen Alltagmeist Charcot-Fuß genannt, ist eineheimtückische Erkrankung, die zu spätdiagnostiziert und unsachgemäß be-handelt eine progrediente Zerstörungdes Fußskelettes verursacht. Zu häufigwird diese Komplikation des Diabetesmellitus verkannt und führt nicht sel-ten zur Invalidität der betroffenen Pati-enten.

In den Anfangsstadien bleibt dieBehandlung des Charcot-Fußes eine Do-mäne der konservativen Therapie. Beiprogredientem Fußkollaps mit rezidivie-renden Ulzera, Weichteilinfekten, Fuß-deformitäten und Gelenkinstabilitätenmüssen die betroffenen Patienten je-doch der operativen Versorgung in ei-ner spezialisierten chirurgisch-ortho-pädischen Klinik zugeführt werden, umdie drohenden deletären Krankheits-verläufe aufzuhalten.

Definition

Die Neuroosteoarthropathie wird alsnicht infektiöse Zerstörung einzelneroder multipler Knochen- und Gelenk-strukturen definiert, wobei zumeist dasFußskelett betroffen ist. Ein wesentlichesDiagnosekriterium ist das Vorliegen ei-ner Neuropathie.

Die Erstbeschreibung erfolgte 1868von J.M. Charcot, der progrediente Kno-chen- und Gelenkzerstörungen bei Sy-philis-Patienten auf neuropathische Ver-

Der Internist 10·99 | 1029

ÜbersichtInternist1999 · 40:1029–1035 © Springer-Verlag 1999

Zum Thema

Die diabetisch-neuropathische Osteoarthro-

pathie (DNOAP) ist die nicht infektiöse Zer-

störung einzelner oder mehrerer Knochen-

und Gelenkstrukturen, überwiegend im Fuß-

skelett lokalisiert.Von der DNOAP sind

0,1–16% der Diabetiker betroffen, wobei die

Schwankungsbreite dieser Angabe mit un-

terschiedlichen Definitionen und Untersu-

chungsintensitäten erklärt wird.

Die DNOAP wird in 3 Stadien eingeteilt. Im

Stadium I liegt lediglich ein Knochenmark-

ödem vor. Das Stadium II ist geprägt von Ent-

mineralisierung und Osteolyse. Klinisch fin-

den sich in Stadium I und II Überwärmung,

Rötung und Schwellung des betroffenen Ge-

lenks. Im Stadium III bilden sich diese klini-

schen Symptome zurück, die Knochensub-

stanz wird remineralisiert, es kommt aber zu

Fehlstellungen, Sububluxationen, Luxatio-

nen und Ulzerationen.

Die DNOAP wird nicht selten zu spät diagno-

stiziert, was zu fatalen Folgen führen kann. In

dieser Übersicht werden Klinik, Epidemiolo-

gie, Pathogenese, Diagnostik und Differenti-

aldiagnostik sowie Therapie in gebotener

Kürze dargestellt. Bereichert wird die Arbeit

durch Therapieergebnisse am eigenen Kran-

kengut der Autoren.

Schlüsselwörter

Osteoarthropathie, Diabetes ·

Diabetes, Osteoarthropathie · Diabetes,

Komplikationen · Charcot-Fuß · Podopathie,

diabetische

Prof. Dr. S.B. KesslerChirurgische Klinik und Chirurgische Poliklinik,

Klinikum Innenstadt der Ludwig-Maximilians-

Universität, Nußbaumstraße 20,

D-80336 München&/fn-block:&bdy:

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Klinische Symptomatikund Stadieneinteilung

Die DNOAP durchläuft mehrere Stadien,für deren Klassifikationen verschiedeneEinteilungen publiziert wurden. Interna-tional ist die Einteilung nach Eichen-holtz (1966) am weitesten verbreitet [3].Unserer Auffassung nach genügt dieseKlassifikation den heutigen Anforde-rungen nur noch mit Einschränkung,weil frühe Stadien und unterschiedlicheVerlaufsformen der DNOAP unzurei-chend berücksichtigt werden. Eine aktu-elle Einteilung, die neben der klinischenSymptomatik auch apparative Hilfsmit-tel berücksichtigt und eine Richtlinie fürdie Therapieentscheidung gewährleistet,enthält folgende Stadien (Tabelle 1):

Stadium I

Im Stadium I manifestiert sich dieDNOAP als Überwärmung, Rötung undSchwellung des betroffenen Fußes. DieSchmerzsymptomatik variiert interin-dividuell stark und wird vom Ausmaßder begleitenden sensiblen Neuropa-thie bestimmt. Die Haut ist im akutenStadium der Osteoarthropathie intakt.Anamnestisch kann von den Patientenoftmals kein adäquates Trauma beschrie-ben werden.

breitet es sich im weiteren Krankheits-verlauf auf die umliegenden Weichteileaus, wo es der klinischen Untersuchungzugänglich wird. Jedes Weichteilödemim Fußbereich eines Neuropathikers isthochgradig verdächtig auf das Initial-stadium eines Charcot-Fußes. In dieserPhase erscheint unserer Meinung nacheine magnetresonanztomographischeAbklärung gerechtfertigt, wohingegensie in den späteren Stadien nur eine un-tergeordnete Rolle spielt.

Stadium II

Bei länger bestehendem Marködem er-folgt ein osteoklastischer Abbau derKnochensubstanz, der in der Röntgen-aufnahme als Transparenzvermehrungbis hin zur Osteolyse einzelner odermehrerer Knochen erkennbar wird(Stadium II.a). Diese Entmineralisie-rung geht mit einer reduzierten Kno-chenfestigkeit einher und führt je nachEntmineralisierungsgrad und mecha-nischer Belastung der betroffenen Ske-lettabschnitte zu einer progredientenKnochenfragmentierung und Gelenk-destruktion mit Subluxations- und Lu-xationsfehlstellungen (Stadium II.b).

Stadium III

Unabhängig davon, ob die Knochen-substanz eingebrochen ist oder nicht,wird der Knochen nach variabler Zeitremineralisiert. In dieser Phase klingen

Während in den konventionellenRöntgenaufnahmen und computerto-mographisch in diesem Frühstadiumnoch keine pathologischen Auffälligkei-ten zu erkennen sind, kann die Magnet-resonanztomographie (MRT) vereinzeltbereits intraossäre Ödeme aufzeigen(Abb. 1).

Während das Ödem anfangs nochauf den Knochen beschränkt bleibt,

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Übersicht

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Tabelle 1

Aktuelle Stadieneinteilung der DNOAP

Klinische Symptomatik Stadium Diagnostik

Überwärmung I KnochenmarködemRötung (MRT) Schwellung II.a Entmineralisierung

Osteolyse(konventionelles Röntgen)

II.b EntmineralisierungOsteolyseossäre FragmentierungGelenkdestruktion(konventionelles Röntgen)

Überwärmung ↓ III.a RemineralisierungRötung ↓ intaktes FußskelettSchwellung ↓ (konventionelles Röntgen)

III.b Remineralisierunggeringgradige Fehlstellung(konventionelles Röntgen)

III.c RemineralisierungSubluxation/Luxationdrohendes/vorhandenes Ulkus(konventionelles Röntgen,ggf. CT zur OP-Planung)

Abb. 1 m Intraossäres Ödem im Frühstadium (Stadium I) der DNOAP

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das Weichteilödem und die Hautrötungab, die Überwärmung ist rückläufig.Ohne vorangegangene Knochenfrag-mentierung oder Gelenkdestruktion re-sultiert eine Heilung ad intregrum (Sta-dium III.a).

Eingetretene Knochendestruktio-nen sind irreversibel. Geringe Fehlstel-lungen sind aber von untergeordneterBedeutung, insbesondere dann, wenndie stabilisierenden Kapselbandstruk-turen erhalten sind und die Gesamtsta-tik des Fußes weiterhin gewährleistenist (Stadium III.b).

Ausgeprägte Fehlstellungen bzw.Luxationen verändern die Makroanato-mie und die Statik des Fußskeletts (Sta-dium III.c). Typischerweise bricht dasLängsgewölbe des Fußskelettes ein undes resultiert der für die Neuroosteoar-thropathie typische Schaukelfuß (Syn-onyme: Wiegenfuß, Tintenlöscherfuß,rocker-bottom-deformity) (Abb. 2a). Re-

Neurovaskuläre Theorie

Die neurovaskuläre Theorie nimmt einelokale Hyperperfusion des erkranktenFußes infolge einer autonomen Neuro-pathie an. Durch die pathologische In-nervation der Gefäßmuskulatur würdendie peripheren arteriellen Gefäße maxi-mal dilatiert und der verstärkte Blut-strom würde, entsprechend einem Aus-waschphänomen, eine vermehrte Kno-chenresorption bedingen. Das morpho-logische Korrelat dieses Vorgangs wäredie für die akute Phase der Osteoarthro-pathie typische Entmineralisierung, dieFolge eine verminderte Belastungsbar-keit der betroffenen Skelettstrukturenmit Spontanfrakturen bereits bei inad-äquaten Traumata.

Neurotraumatische Therapie

Die neurotraumatische Theorie stellt diesensible bzw. sensomotorische Neuropa-thie in den Mittelpunkt der Erklärungs-versuche. Durch die verminderte Berüh-rungs- und Schmerzempfindung wür-den kontinuierliche Fehlbelastungen desFußes sowie repetitive Mikro- und Ma-

zidivierende Plantarulzera sind die Fol-ge der pathologischen Druckverteilungmit Spitzenwerten unter den promi-nenten Knochenstrukturen (Abb. 2b).

Lokalisation

Die beschriebenen Veränderungenkönnen an jedem Gelenk des Fußes unddes Sprunggelenks auftreten. Am häu-figsten sind fortgeschrittene osteo-arthropathische Destruktionen undEinbrüche am Lisfranc- und Chopart-Gelenk lokalisiert, seltener am Tibio-talar- und Subtalar-Gelenk oder imVorfußbereich.

Pathogenese

Lange Zeit wurden unterschiedlicheTheorien zur Pathogenese der diabeti-schen Osteoarthropathie z.T. konkur-rierend diskutiert.

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Abb. 2 m a Stadium III.c der DNOAP mit Ausbildung des typischen Schaukel- oder Wiegenfußes,b Chronisches Plantarulkus bei eingebrochenem Längsgewölbe

Abb. 3 m DNOAP am Chopart- bzw. Lisfranc-Gelenk bei einer 36jährigen Patientin, präoperativ (a)

und nach Arthrodese (b)

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krotraumata begünstigt. Diese sollendie chronische Destruktion von Weich-teil- und Knochenstrukturen verursa-chen und zum Vollbild der neuropathi-schen Osteoarthropathie mit ossärenund artikulären Destruktionen führen.Verstärkt würden diese extrinsischenFehlbelastungen durch muskuläre Dys-balancen der Fuß- bzw. Unterschenkel-muskulatur infolge der zumeist beglei-tenden motorischen Neuropathie.

Ungeklärte Fragen

Die Ätiopathogenese der DNOAP ist si-cherlich noch nicht ausreichend geklärt.So können unserer Meinung nach die inder Frühphasen der DNOAP erkennba-ren, streng lokalisierten Knochenmark-ödeme einzelner Fußknochen weder mitder neurovaskulären noch mit der neu-rotraumatischen Hypothese erklärt wer-den.Auch wird die vereinfachte Vorstel-lung der Knochenresorption infolge ei-ner lokalen Hyperperfusion den kom-plexen Stoffwechselabläufen im Kno-chengewebe nicht annähernd gerecht.Daher sind experimentelle Studien er-forderlich, um die pathophysiologischenGrundlagen der neuropathischen Osteo-arthropathie aufzudecken und kausaleTherapieansätze zu ermöglichen.

Beispielsweise konnte eine Arbeits-gruppe um Gough (1997) anhand vonserologischen Parametern bei Diabeti-kern mit akuter DNOAP signifikant er-höhte Osteoklastenaktivitäten bei nor-maler Osteoblastenaktivität nachwei-sen [4]. Damit konnte in dieser Studiefür die akute DNOAP eine Entkoppe-lung der physiologischerweise rückge-koppelten Knochenan- und -abbauvor-gänge gezeigt werden, ein vielleicht ent-scheidender Faktor in der Pathogeneseder DNOAP.

Diagnose undDiffentialdiagnose

Klinische Diagnostik

Wie bereits beschrieben, ist jeder ge-schwollene, überwärmte und geröteteFuß bei einem Diabetiker mit nachge-wiesener Neuropathie dringend auf ei-ne DNOAP verdächtig. Die sensible Neu-ropathie kann mit den üblichen Unter-suchungsmethoden nachgewiesen wer-den: vermindertes Vibrationsempfinden(Stimmgabeltest), pathologische Mus-

infektiösen Prozeß hin und gibt die dif-ferentialdiagnostische Abgrenzung zumakuten Stadium der DNOAP, in welchemintakte Hautverhältnisse vorliegen.

Die hämatogene Osteomyelitis istam Fußskelett und im Erwachsenenal-ter eine Rarität und kommt daher alsDifferentialdiagnose zur DNOAP nichtin Betracht.

In verschiedenen Publikationenwerden zur Differenzierung zwischenDNOAP und Osteomyelitis szintigraphi-sche Untersuchungstechniken empfoh-len [7,9].Tatsächlich ist der szintigraphi-sche Befund bei einer Osteomyelitis undeiner DNOAP mit jeweils lokaler Mehr-anreicherung prinzipiell gleich und zurDifferentialdiagnose ungeeignet. In derPraxis genügt in der Regel das klinischeBild und die korrekte konventionelleRöntgenaufnahme, um eine DNOAP voneiner Osteomyelitis zu unterscheiden.

Therapie

Eine frühzeitige und stadiengerechteTherapie ist entscheidend für den Ver-lauf und die Prognose der DNOAP.Wäh-rend bis vor kurzem fast ausschließlichkonservative Behandlungsmethoden fa-vorisiert wurden und die chirurgischenDisziplinen die Charcot-Arthropathieweitgehend vernachlässigt haben, er-schienen in den letzten Jahren vor allemin der englischsprachigen Literatur meh-rere Publikationen mit Berichten übererfolgreiche operative Behandlungsver-fahren bei der DNOAP [1, 2, 10, 12, 15, 16].

Konservative Therapie

Wesentlich für die Therapieplanung sindKrankheitsstadium, Lokalisation, Aus-maß und Komplikationen der Fußske-lettdestruktionen. Im akuten Stadiumder DNOAP (Stadium I und II) steht diekonservative Therapie weiterhin im Vor-dergrund. Eckpfeiler der Behandlungsind eine zumeist komplette Druckent-lastung und eine konsequente Ruhig-stellung des betroffenen Fußes, um einefortschreitende Destruktion der peda-len Knochen- und Gelenkstrukturen zuverhindern.

Im Frühstadium der DNOAP gelingteine suffiziente Behandlung des Kno-chenmarködems meist durch Teilentla-stung des betroffenen Fußes, wozu bei-spielsweise Sohlenversteifungen undGehstöcke eingesetzt werden können.

keleigenreflexe (verminderter oder auf-gehobener Achillessehnenreflex) undHypästhesie (fehlende Wahrnehmungdes Semmes-Weinstein-Monofilaments).Im chronischen Stadium der DNOAPkönnen Weichteilveränderungen wieHornhautbildung oder rezidivierendeUlzera indirekt auf Veränderungen desFußskeletts hinweisen. Eingetretene,schwerwiegende Deformitäten werdenklinisch direkt erkannt.

Röntgendiagnostik

Aufgabe der konventionellen Röntgen-diagnostik ist es, Ort und Ausmaß desKrankheitsprozesses zu bestimmen. DieAufnahmen müssen im dorso-planta-ren und im exakt seitlichen Strahlengangangefertigt werden, wenn irgend mög-lich unter Gewichtsbelastung. SchrägeEinstellungen sind bei speziellen Frage-stellungen nötig.

Computertomographie

Computertomografien sind nur erfor-derlich, wenn die konventionellen Stan-dardröntgenaufnahmen unzureichendinterpretiert werden können. Sie gebendie Anatomie der Osteolysen und derSinterungen wieder und können in die-ser Weise ergänzende Informationen zurOperationsplanung liefern.

Kernspintomographie

Die Kernspintomographie ist zum Nach-weis eines intraossären Ödems im Früh-stadium der DNOAP (Stadium I) indi-ziert.

Differentialdiagnostik

Die DNOAP wird auch heute noch trotzdes typischen klinischen Bildes häufigverkannt, weshalb die notwendigen The-rapiemaßnahmen verspätet eingeleitetwerden. Differentialdiagnostisch kön-nen u.a. Osteomyelitiden, aktivierte Ar-throsen, Tendovaginitiden oder trauma-tische Fußskelettfrakturen in Erwägunggezogen werden.

Im klinischen Alltag scheint die Ab-grenzung der DNOAP zur Osteomyeli-tis die größten Schwierigkeiten zu be-reiten. Bei einer exogenen Osteitis bzw.Osteomyelitis deutet ein eiterndes bzw.eitrig-belegtes Weichteilulkus mit in derTiefe sondierbarem Knochen auf den

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Übersicht

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Page 5: Prinzipien der chirurgischen Behandlung bei diabetisch-neuropathischer Osteoarthropathie

Eine vollständige, mehrmonatigeEntlastung und Ruhigstellung der be-troffenen unteren Extremität ist bei ra-diologisch erkennbarer Entmineralisie-rung (Stadium II) erforderlich. Hierfüreignen sich sogenannte total-contact-casts oder spezielle Entlastungsorthe-sen [13]. Der Krankheitsverlauf wird an-hand des klinischen Bildes kontrolliert.Erst wenn die klinischen Zeichen derAkutphase, also Schwellung, Überwär-mung und Rötung abgeklungen sindund radiologisch die Remineralisierungmit Ausbildung einer tragfähigen Kno-chensubstanz nachgewiesen werdenkann, darf mit einem schrittweisen Be-lastungsaufbau begonnen werden.

Wenn die Remineralisation einge-treten ist, richtet sich das weitere thera-peutische Vorgehen nach der Form undStabilität des Fußskelettes sowie nachden Weichteilverhältnissen. Bei fehlen-den oder nur geringgradigen Fehlstel-lungen des Fußskelettes (Stadium III.abzw. III.b) und intakten Weichteilman-tel werden die Patienten orthopädie-technisch bzw. orthopädieschuhtech-nisch weiterversorgt.

Operative Therapie

Die Operationsindikation stellt sich beiprogredientem Fußkollaps, bei Kno-chenprominenzen mit rezidivierendenUlzera und drohenden Weichteilinfek-ten sowie bei invalidisierenden Gelenk-instabilitäten und Fußdeformitäten (Sta-dium III.c).

Knochenprominenzen infolge vonSubluxationen und Luxationen können

rung der Knochensubstanz zusätzlichzu fördern.Auch lassen sich die Implan-tate im ödematös aufgeweichten, fragi-len Knochen nicht mit der notwendi-gen Stabilität fixieren.

Blande Ulzera stellen keine Kon-traindikation für eine Fusionsoperati-on dar, vielmehr wird deren Abheilungdurch eine operative Korrektur des Fuß-skelettes begünstigt.

Dagegen sind eitrig belegte Plan-tarulzera oder septische Prozesse eineKontraindikation. Schwere Weichteilin-fektionen müssen vor einer Fusions-operation durch Debridement, Antibio-se und Ruhigstellung im Fixateur exter-ne zur Abheilung gebracht werden.Wenndie Infektion so weit fortgeschritten ist,daß eine Sanierung auf diese Weise nichtmöglich ist, kommt nur noch die Am-putation in Betracht, eine Maßnahme,die heutzutage bei der DNOAP unterfrühzeitiger und gezielter Therapie fastimmer vermeidbar ist.

Ergebnisseeigener Operationen

Nach den dargestellten Behandlungs-richtlinien wurden an unserer Klinikvon 1996 bis Ende 1998 23 Diabetiker(24 Füße) mit Charcot-Osteoarthro-pathie operativ versorgt. Das Durch-schnittsalter betrug 53 Jahre (36–64), 15Patienten waren männlich, 8 weiblich.Die Lokalisationsverteilung der osteo-arthropathischen Veränderungen amFußskelett geht aus Abb. 5 hervor.

Alle Patienten wurden erst im chro-nischen Stadium (Stadium III.c) derDNOAP der operativen Versorgung un-terzogen. Operationsindikationen warenrezidivierende Ulzerationen, invalidi-sierende Gelenkinstabilitäten und Fuß-

durch vergleichsweise kleine operativeEingriffe abgetragen und geglättet wer-den.

Bei ausgeprägten Fußdeformitätenund -instabilitäten stehen operations-technisch verschiedene Verfahren zurVerfügung. Prinzipiell werden dabei diezerstörten Gelenke einer Arthrodese inKorrekturstellung unterzogen. Die Im-plantatwahl richtet sich nach der Lokali-sation der DNOAP, der verbliebenenossären Substanz und der zu erwarten-den mechanischen Belastung. Beispielefür unterschiedliche Fusionstechnikensind in den Abb. 3 und 4 gegeben.

Intraoperativ müssen avitale Knor-pel- und Knochenfragmente konsequentbis auf gesunden Knochen abgetragenwerden. Die Implantate müssen sicherverankert werden und nach den bekann-ten Prinzipien der Arthrodesentechni-ken interfragmentäre Bewegungen aus-schalten.

Bis zur vollständigen knöchernenDurchbauung ist postoperativ eine äu-ßere Protektion durch Gipsverbändeund Orthesen unerläßlich, in der Regelfür etwa 8 bis 12 Wochen. Aufgrund derbei Diabetikern gehäuften Wundhei-lungsstörungen und Wundinfektionensind postoperativ engmaschige Wund-kontrollen zwingend erforderlich.

Um drohende Komplikationen ge-ringzuhalten, ist die stadiengerechte In-dikationsstellung von wesentlicher Be-deutung. Kontraindiziert sind Fusions-operationen in den Ödem- und Demi-neralisationsstadien (Stadium I und II).Hier bestünde die Gefahr, durch denoperativen Eingriff die Entmineralisie-

Der Internist 10·99 | 1033

Abb. 4 m Lange verkannte DNOAP des oberen Sprunggelenkes bei einem 59jährigen Patientenmit ventrolateralen Einbruch der distalen Tibia, prä- (a) und postoperativ (b)

Page 6: Prinzipien der chirurgischen Behandlung bei diabetisch-neuropathischer Osteoarthropathie

deformitäten, die mit orthopädietechni-schen bzw. orthopädieschuhtechnischenMethoden nicht sinnvoll therapiert wer-den konnten.

20 Füße (20/24) wurden in Korrek-turstellung arthrodetisiert. Von diesenmußten drei wegen ausbleibender Kon-solidierung (3/20) und einer wegen ei-nes tiefen Wundinfektes (1/20) revidiertwerden. Gegenwärtig sind 3 Gelenke imRahmen von Mehrfachfusionen nochnicht konsolidiert. Bei 4 Patienten (4/24)mußte aufgrund vorbestehender, aus-gedehnter Weichteilinfekte bzw. septi-scher Komplikationen bereits primäreine Fuß- (2/24) bzw. eine Unterschen-kelamputation (2/24) vorgenommenwerden.

Im Rahmen der klinischen und ra-diologischen Verlaufskontrollen konntebei 17 fußerhaltend operierten Diabeti-kern (17/20) ein Ausheilungsstadium mitbelastungsfähiger Konsolidierung desFußskelettes und intakten Weichteilver-hältnissen erzielt werden.

Fazit für die Praxis

Die Pathogenese der diabetisch-neuropa-thischen Osteoarthropathie (DNOAP) istnoch nicht völlig verstanden. Der neurovas-kulären Hypothese zufolge kommt esdurch Hyperperfusion des an autonomerNeuropathie erkrankten Fußes zu vermehr-ter Knochenresorption. Nach der neuro-traumatischen Hypothese führen kontinu-ierliche Fehlbelastungen des Fußes bei ver-minderter Berührungs- und Schmerzemp-findung zu Mikro- und Makrotraumata.

Therapeutisch stehen zunächst kon-servative Maßnahmen im Vordergrund:komplette Druckentlastung, konsequenteRuhestellung und orthopädietechnischeVersorgung des betroffenen Fußes.

Operativ gilt es, Knochenprominen-zen, Subluxationen und Luxationen abzu-tragen oder zu glätten, Arthrodesen (Ge-lenkversteifungen) in Korrekturstellunganzulegen sowie avitale Knorpel- und Kno-chenfragmente zu resezieren und ggf. Im-plantate einzusetzen.Von großer Bedeu-tung ist eine konsequente postoperativeNachbehandlung. Die Ergebnisse operati-ver Interventionen sind überwiegend vonErfolg begleitet, infektiöse Komplikatio-nen gering und Amputationen bei DNOAPin aller Regel vermeidbar.

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Zusammenfassung

Die diabetisch-neuropathische Osteo-arthropathie (DNOAP) ist eine bedeu-tende, aber noch häufig verkannte Kom-plikation des Diabetes mellitus. Unbe-handelt führt sie zum Kollaps des Fuß-skelettes. Neben dem mechanischenFunktionsverlust drohen rezidivieren-de Ulzera, lokale Infektionen und septi-sche Verläufe.

Die rechtzeitige Diagnose und sta-diengerechte Therapie ist ausschlagge-bend für den Erhalt eines belastbarenFußes.

Das akute Stadium mit Überwär-mung, Rötung, Schwellung und Entmi-neralisierung des Fußes bleibt eine Do-mäne der konservativen Therapie mitkonsequenter Ruhigstellung und Entla-stung. Bei Subluxationen und Luxatio-nen mit drohender oder eingetretenerUlzeration besteht nach Remineralisie-rung die Indikation zur Arthrodese inKorrekturstellung.

Die klinischen Ergebnisse bestäti-gen dieses Therapiekonzept, welchesdurch Kombination von konservativenund chirurgischen Maßnahmen einedeutliche Reduktion deletärer Krank-heitsverläufe bei diabetisch-neuropa-thischer Osteoarthropathie erreicht.

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Übersicht

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Abb. 5 m Lokalisation der DNOAP im eigenen Patientenkollektiv (1996–1998)

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Der Internist 10·99 | 1035

Die Darstellungen weiterer Autoren hinsichtlich

einer Verbindung zwischen CFS und FM leiden an

dem Problem, Ordnung in die Vielfalt der Begriffe

und Definitionen zu bringen. Leider fehlt auch der

klare Hinweis zur Notwendigkeit einer gestuften

Diagnostik mit nachvollziehbarer Begründung bei

eventuellen Laboruntersuchungen. Sie merkt an,

daß alle Darstellungen hinsichtlich einer Verbin-

dung zwischen CFS und FM an dem Problem lit-

ten, Ordnung in die Vielfalt der Begriffe zu brin-

gen. Leider fehlt eine klare Aussage zum Ausmaß

labormäßiger Untersuchungen sowie der Not-

wendigkeit einer gestuften Diagnostik. Andere

Beiträge, von niedergelassenen Ärzten verfaßt,

mahnen eine umfassende organbezogene Dia-

gnostik an. Sie warnen vor einer vorschnellen Ein-

ordnung der Patienten in die Rubrik „psychogene

Erkrankung“ und damit eventuell

verbundenen schwerwiegenden

Nachteilen für die Betroffenen. Im

Gegensatz dazu wird das CFS in

einem anderen Beitrag als eine

Form der somatisierten Angstneu-

rose dargestellt.

So wichtig die Präsentation

dieser Bandbreite auch ist, fehlt

doch der Hinweis darauf, daß eine

einseitige Krankheitsattribution

nicht nur ein immenses Problem

für die Betroffenen, sondern auch

oft für die Behandelnden darstellt.

Das Vorhandensein geeigneter

Diagnoseparameter verneint das

Buch. Hingegen zeigt der Therapiesektor ein wei-

tes Spektrum von Interventionsmöglichkeiten.

Belege dafür, daß einzelne Verfahren auch

tatsächlich hilfreich wirken, fehlen jedoch. Die

Empfehlungen reichen von differenten und in

Deutschland nicht zugelassenen Substanzen wie

Ampligen zur Immunmodulation über die Fie-

bertherapie, die Psychotherapie, Fasten, Phyto-

therapie , Akupunktur, othomolekulare Therapie-

ansätze bis hin zu sportlicher Betätigung. In der

Literatur völlig neu und ein unglückliches Unter-

fangen ist der Versuch, im Zusammenhang mit

den hier beschriebenen Krankheitsbildern ein

weiteres Krankheitsbild, das Syndrom der rest-

less-legs, zu sehen.

Die zu einem komplexen Problem getroffe-

ne Auswahl und Akzentuierung der Themen trägt

zum Verständnis des Standpunkts der Autoren

bei. Da aber viele relevante Arbeiten aus der inter-

nationalen Literatur keine Berücksichtigung fin-

den, kann der Leser seinen eigenen Standort

schwerlich finden. Das Buch zu kennen ist jedoch

für alle Kollegen wichtig, die sich mit dieser The-

matik befassen. Die Betroffenen haben es vermut-

lich schon gelesen und werden womöglich da-

nach fragen.

W. A. Nix (Mainz)

Hrsg.: P.A.Berg Chronisches Müdigkeits- und FibromyalgiesyndromEine Standortbestimmung

Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1998.112 S., 11 Abb., 18 Tab., (ISBN 3-540-65093-8),brosch., DM 39,90

Wissenschaft ist nur dann kritisch, wenn sie den

aktuellen Erkenntnisstand ständig hinterfragt. Mit

einer Standortbestimmung können konkurrieren-

de Thesen so dargestellt werden, daß der Leser zu

einem eigenen Urteil befähigt wird. Dies wird zur

Notwendigkeit, wenn Krankheitsbilder so kontro-

vers diskutiert werden, wie es in dem vorliegen-

den Buch der Fall ist. Es spricht Themen an, die nur

schwer thematisch zur Deckung zu

bringen sind, und es werden wis-

senschaftliche Ansichten geäußert,

die komplexe medizinische Sach-

verhalte mit soziologischen, psy-

chologischen und weltanschauli-

chen Auffassungen verquicken.

Aus diesem Spannungsfeld

sind in der allgemeinen Diskussion

bislang auf der einen Seite über-

zeugte Befürworter der in dem

Buch vorgestellten Krankheitsbil-

der erwachsen samt einer Vielzahl

von Selbsthilfegruppen. In Initiati-

ven wird über politische Parteien

im Bundestag versucht, die Existenz

dieser Erkrankungen qua Verwaltungsakt anzuer-

kennen. Dem steht auf der anderen Seite eine oft

krasse Ablehnung gegenüber bis hin zu der Wei-

gerung, das Problem Chronique fatigue als einen

neuen und eigenständigen Beschwerdekomplex

oder als eine Krankheitsentität zu akzeptieren.

Vor diesem Hintergrund wird die im Buchti-

tel angesprochene Problematik in acht Beiträgen

abgehandelt. In der Einleitung faßt der Herausge-

ber aus der Rückschau auf eine lange ärztliche

Tätigkeit seine Erfahrung mit betroffenen Patien-

ten zusammen und verdeutlicht sie in Fallschilde-

rungen. Er bestätigt die Mitteilungen aus der Lite-

ratur, daß zwischen den Krankheitsbildern des

chronischen Müdigkeitssyndroms (CFS), dem Syn-

drom der multiplen chemischen Sensitivität

(MCS), dem Sick-building-Syndrom, der Fibromy-

lagie (FM) und dem Colon irritabile erhebliche

Überschneidungen bestehen und zunächst auch

die Erfahrung, daß kein labormäßiger Nachweis

für diese Krankheitsbilder möglich sei. Anhand

seines lebenslangen Interesses an Autoantikör-

pern gegen Serotonin, Gangliosiden und Phos-

pholipiden glaubt er dann doch einen die Bilder

vereinenden labormäßigen Zugang gefunden

und damit die Nachweisproblematik bereichert

zu haben.Weiter mahnt Berg in seinem Beitrag

an, die international bekannten Überlegungen

zur Auslösung der Krankheitsbilder durch Einflüs-

se aus der Umwelt und Infektionen ernst zu neh-

men. Und auch er glaubt, daß wechselseitige Be-

einflussungen von körperlichen und seelischen

Vorgängen in der Psychoneuroimmunologie

ihren Mediator haben.

Buchbesprechung