155
Frankfurter Institut Stiftung Marktwirtschaft und Politik Reform des Föderalismus Mit Beiträgen von Hans-Wolfgang Arndt, Hans Herbert von Arnim, Charles B. Blankart, Dieter Chenaux-Repond, Ingolf Deubel, Klaus-Dirk Henke und Oliver D. Perschau, Bernd Huber, Rainer Hildmann, Otto Graf Lambsdorff, Karl Lichtblau, Fritz W. Scharpf, Ulrich van Suntum Beiträge zu einer gemeinsamen Tagung von Frankfurter Institut Stiftung Marktwirtschaft und Politik und Institut der deutschen Wirtschaft Köln Konrad Morath (Hrsg.)

Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

1

Frankfurter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und Politik

Reform des Föderalismus

Mit Beiträgen von

Hans-Wolfgang Arndt, Hans Herbert von Arnim, Charles B. Blankart, Dieter Chenaux-Repond,Ingolf Deubel, Klaus-Dirk Henke und Oliver D. Perschau, Bernd Huber, Rainer Hildmann, OttoGraf Lambsdorff, Karl Lichtblau, Fritz W. Scharpf, Ulrich van Suntum

Beiträge zu einer gemeinsamen Tagung vonFrankfurter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und Politik undInstitut der deutschen Wirtschaft Köln

Konrad Morath (Hrsg.)

Page 2: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

2

© Mai 1999

Frankfurter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und PolitikKisseleffstraße 10 � 61348 Bad Homburg

ISBN 3-89015-069-1

Diese Veröffentlichung geht zurück auf die gleichnamigegemeinsame Tagung von

Frankfurter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und Politik

und Institut der deutschen Wirtschaft Köln

am 1. und 2. Dezember 1998 im Gästehaus Petersberg.

Gefördert von der

informedia-Stiftung

Gemeinnützige Stiftung für Gesellschaftswissenschaftenund Publizistik, Köln

Page 3: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

3

Frankfurter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und Politik

Konrad Morath (Hrsg.)

Reform des Föderalismus

Page 4: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

4

Der deutsche Föderalismus, einst Ausweis klugerStaatsverfassung und große Chance für ein buntes, wett-bewerblich und effizient organisiertes Nebeneinander derLänder, hat sich in sein Gegenteil verkehrt.

Die über Jahrzehnte immer weiter vorangetriebeneAufgabenvermengung von Bund und Ländern und diedazu entwickelte, heute kaum noch durchschaubare Um-verteilungsmaschinerie haben das Land in seiner Gesamt-heit geschwächt statt gestärkt und seinen Bürgern um ver-meintlicher Vorteile willen letztlich Einbußen gebracht.

Die Verlustliste dieser Systemdeformation erinnert andie Fehlentwicklung der kollektiven Sicherungssysteme:Freiheit und Gestaltungsspielräume wurden aufgezehrtdurch Gleichheit auf niedrigerem Niveau, Selbständig-keit und Eigenverantwortung eingetauscht gegen nivel-lierende Unterstützung durch das Kollektiv, Wettbewerbersetzt durch Aushandeln und Abhängigkeiten.

Die zwangsweise Organisation �gleichwertiger Le-bensverhältnisse� und bündischer �Solidarität� endete ineiner Vernebelung von Verantwortung und in völliger Ver-kehrung der Anreizmechanismen. Eigene Anstrengungenwerden uninteressant, wenn die Versäumnisse der ande-ren noch belohnt werden.

So ist die Situation des Föderalismus ein Spiegelbilddes traurigen Zustands unserer Gesellschaft und ihrer Sy-steme. In ihrer Entwicklung wurde, ganz im goethischenSinne, Vernunft zum Unsinn und Wohltat zur Plage.

Wir müssen uns daran machen, vieles wieder gerade-zurücken. Die Entkernung des föderalen Gebäudes unddie Freilegung seiner tragenden Elemente spielen dabeieine zentrale Rolle. Gert Dahlmanns

Page 5: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

5

Deutschland ist, so steht es im Grundgesetz, ein de-mokratischer und sozialer Bundesstaat. In der Tat: De-mokratie und Sozialstaat sind � bei aller Kritik im einzel-nen � als unumstrittene Eckwerte des GemeinwesensDeutschland im öffentlichen Bewußtsein fest verankert.Beim Stichwort �Bundesstaat� darf man sich in dieserHinsicht nicht so sicher sein. Was den föderalen Staat aus-macht und welche Chancen er für eine gedeihliche Ent-wicklung aller Beteiligten bietet, ist längst in den Hinter-grund getreten. Mit Föderalismus assoziiert der Bürgerwohl in erster Linie die wechselseitige Blockade von Bun-destag und Bundesrat und den anhaltenden Streit um denLänderfinanzausgleich. Oder er denkt an Innen-, Umwelt-und Finanzministerkonferenzen, deren Mitglieder ihreAufgabe allem Anschein nach vor allem darin sehen, Län-derspezifisches abzuschleifen und durch bundeseinheitli-che Regelungen zu ersetzen.

Welcher Kontrast zu anderen Föderalstaaten wie etwader Schweiz � oder zur Ordnung der jungen Bundesre-publik! Die Urfassung des Grundgesetzes war noch klaran der föderalen Idee ausgerichtet. So enthielt sie zumBeispiel eine generelle Zuständigkeitsvermutung zugun-sten der Länder und ordnete nur einen relativ kleinenKatalog von Aufgaben unmittelbar dem Bund zu. Diegroße Mehrzahl der Regelungsbereiche � vom bürgerli-chen Recht über das Recht der Wirtschaft bis zum Um-weltrecht � legte es als Gegenstände der konkurrierendenGesetzgebung zunächst in die Hand der Länder. Zu die-ser Trennung der Verantwortlichkeiten paßte ein Trenn-system für die Steuerverteilung, das die Einnahmen ausden unterschiedlichen Steuerarten eindeutig dem Bundbzw. den Ländern zuordnete.

Heute spielt Grundgesetzartikel 72 Absatz 2, der dasGesetzgebungsrecht des Bundes im Bereich der konkur-rierenden Gesetzgebung an klare Bedingungen knüpft,praktisch keine Rolle mehr. Zum Nachweis der Zustän-

Editorial Konrad Morath

digkeit des Bundesgesetzgebers genügt mittlerweile in derRegel die lapidare Behauptung, die Voraussetzungen die-ses Artikels seien erfüllt.

Auch auf der finanz- und wirtschaftspolitischen Ebe-ne haben sich Verantwortlichkeiten verwischt und Kom-petenzen zugunsten des Bundes verschoben. Gewiß istder Weg von den in der Urfassung des Grundgesetzesniedergelegten Normen zur heutigen Finanzverfassungmit berechtigten Anliegen und guten Gründen gepflastert.Doch wie so oft bedeutet auch hier �gut gemeint� nochlängst nicht �gut�. Das gilt in Teilen für die in das Grund-gesetz aufgenommenen Gemeinschaftsaufgaben, bei de-nen solidarisches Einstehen füreinander die Leitidee ge-wesen sein mag, in deren Folge aber die Bürger Bayernsmit in Haftung für die regionale Wirtschaftspolitik Nord-rhein-Westfalens genommen oder die saarländischen Steu-erzahler für den Küstenschutz in Niedersachsen mit zurKasse gebeten werden. Anreize für rationale wirtschafts-politische Entscheidungen und für verantwortliches Fi-nanzgebaren setzen solche Strukturen nicht.

Gut gemeint, aber deshalb noch lange nicht gut istauch der Steuerverbund, der den Gemeinschaftsaufga-ben Gemeinschaftseinnahmen gegenüberstellt, freilich mitdem Ergebnis, daß steuerlich relevante Gesetzgebungebenfalls nur noch �gemeinschaftlich� erfolgen kann. Vor-haben, die den Finanzverbund von Bund und Ländernberühren, sind nur noch im Einvernehmen zwischen Bun-destag und Bundesrat durchsetzbar. Somit besitzen beideHäuser eine strategische Position, die ihnen die Blockadedes jeweiligen anderen erlaubt. Prekär wird das, wenndie Oppositionsparteien des Bundestags den Bundesratdominieren. Dann droht jeder Ansatz konstruktiver Poli-tik unterzugehen, weil � der �Reformstau� in den letztenJahren der Ära Kohl belegt das � die politischen Akteuredas allgemeine Wohl im Zweifelsfall ihrem parteitakti-schen Kalkül unterordnen.

Page 6: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

6

Konrad MorathEditorial

Der Länderfinanzausgleich ist das in der Öffentlich-keit am häufigsten diskutierte Beispiel für die fragwürdi-ge Entwicklung des deutschen Föderalismus. Das Aus-gleichsniveau hat heute eine kaum mehr überbietbareHöhe erreicht: Der horizontale Finanzausgleich sorgt da-für, daß jedes Bundesland mindestens 99,5 Prozent derländerdurchschnittlichen Pro-Kopf-Finanzkraft erreicht.Spiegelbild dieser umfassenden Nivellierung ist eine kon-fiskatorische Abschöpfung zusätzlicher Steuereinnahmen.Das macht die Pflege der eigenen Steuerbasis im Sinneeiner standortfreundlichen Steuerpolitik für die verant-wortlichen Landespolitiker so gut wie reizlos. Umgekehrtbleibt Politik, die sich nicht um die eigenen Steuerquellen� also vorwiegend um wirtschaftlich erfolgreiche Unter-nehmen und die dort Beschäftigten � kümmert, weitge-hend straflos. Denn negative finanzielle Folgen solcherNachlässigkeit werden automatisch auf den Bund unddie anderen Länder abgewälzt.

Die beim Bundesverfassungsgericht anhängige Klagevon Baden-Württemberg und Bayern gegen diese frag-würdige Ausgestaltung föderaler Solidarität hat Signalwir-kung. Man darf hoffen, daß der damit in die Öffentlich-keit getragene Streit um die anstehende Neuordnung desLänderfinanzausgleichs, durch das Auslaufen der jetzigenRegelung zum Ende des Jahres 2004 ohnehin unausweich-lich, zum Anlaß für eine tiefer greifende Debatte überdas richtige Miteinander der Gebietskörperschaften un-terschiedlicher Ebenen wird.

Wünschenswert wäre vor allem, daß dabei die Chan-cen, die ein föderaler Staat bietet, wieder stärker ins Be-wußtsein von Bürgern und Politikern gerückt werden.Diese Chancen liegen insbesondere im Wettbewerb derGebietskörperschaften � besonders der Länder � um diebesseren Lösungen in den jeweiligen Zuständigkeitsbe-reichen. Das betrifft die Ausgestaltung der Staatstätigkeit,also das dem Bürger angebotene Güter- und Leistungs-bündel. Das betrifft ebenso die Effizienz der öffentli-chen Verwaltung, die Form und den Umfang der Be-steuerung und nicht zuletzt die Ausgestaltung der auf dieStandortqualität zielenden Politik.

Die Tagung �Reform des Föderalismus�, im Dezem-ber 1998 gemeinsam von Frankfurter Institut und Institutder deutschen Wirtschaft Köln veranstaltet, hat sich mitHerausforderungen auseinandergesetzt, die sich dem zu-kunftsfähigen Bundesstaat stellen. Auf grundsätzlicherEbene ist das die Frage nach dem richtigen Weg zwischeneinem offenen Wettbewerb der Gebietskörperschaftenund dem davon ausgehenden Druck zu Effizienz undrationalem Staatshandeln auf der einen und einer weitge-henden Kooperation von Bund und Ländern auf der an-deren Seite. Auf praktischer Ebene liegt die Aufgabe un-ter anderem darin, Steuersystem und Finanzausgleich soeinzurichten, daß die Anreize zu eigenverantwortlichemHandeln insbesondere für die Länder optimiert werden.

Die Beiträge zu dieser Tagung beleuchten den Statusquo, legen die Defizite der heutigen Finanzverfassung of-fen und analysieren die zu einer Reform des Föderalis-mus notwendigen Elemente. Sie bleiben dabei nicht imAbstrakten; sie sind praxisbezogen und bieten konkreteReformvorschläge. Der vorliegende Band stellt sie inüberarbeiteter und zum Teil erheblich erweiterter Fassungzusammen.

Page 7: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

7

Inhalt

Rainer Hildmann � Begrüßung 9

Die Chancen des föderalen StaatesUlrich van Suntum � Die Idee des wettbewerblichen Föderalismus 13Fritz W. Scharpf � Föderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern? 23Hans Herbert von Arnim � 50 Jahre Föderalismus in Deutschland: Perversion einer Idee 37Otto Graf Lambsdorff � Finanzverfassung für eine subsidiäre Demokratie 47

Wettbewerb der SteuersystemeBernd Huber � Steuerwettbewerb im Föderalismus � Ideal und Wirklichkeit 55Ingolf Deubel � Wettbewerb um Steuerquellen: Anmerkungen aus praktischer Sicht 67

FinanzausgleichHans-Wolfgang Arndt � Verfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs 75Karl Lichtblau � Finanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag 93

Regionalisierung � Europäisierung: Die Zukunft des föderalen StaatesKlaus-Dirk Henke und Oliver D. Perschau � Föderalismus im zusammenwachsenden Europa:

Aspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung 119Charles B. Blankart � Zehn Thesen zur Zentralisierung der Staatstätigkeit 145Dieter Chenaux-Repond � Föderalismus � eine schweizerische Sicht 151

Die Autoren 155

Page 8: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

8

Page 9: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

9

In seinem Buch �Das Wunder Europa� geht der Wirt-schaftshistoriker Eric Lionel Jones der Frage nach, wieund wo Wirtschaftswachstum im Sinn eines anhaltendenAnstiegs des Durchschnittseinkommens erstmals entstandund weshalb Europa in diesem � nennen wir ihn ruhig so� Standortwettbewerb so überaus erfolgreich war. Jonesstreicht neben vielen Erläuterungen Aspekte heraus, dieuns als Teilnehmer dieser der Reform des Föderalismusgewidmeten Tagung elektrisieren müssen:

� Der Wettbewerb der politischen Einheiten Europasuntereinander und gegenüber der Außenwelt hat dazugeführt, daß die Ressourcen problemorientierter ein-gesetzt wurden als anderswo.

� Die � relativ stabile � Kleinräumigkeit und die Freizü-gigkeit zwischen den Nationalstaaten bot Möglichkei-ten, in vielen Bereichen, nicht zuletzt in der Wirtschaft,die jeweils besten Verfahren zu verbreiten. Dadurchentging Europa der Gefahr der Verknöcherung undÜberbürokratisierung, wie sie in den RiesenreichenAsiens zu beobachten gewesen waren.

�Eine relativ gleichbleibende Umwelt und vor allemdie Schranken, die in einer wettbewerbsorientierten poli-tischen Arena der Willkür gezogen waren, scheinen dieprimären Voraussetzungen für Wachstum und Entwick-lung gewesen zu sein�, schreibt Jones in der Einleitung zuseinem Buch.

Freizügigkeit und Wettbewerb der Regionen, beidesgleichermaßen Stimulantien wirtschaftlicher Entwicklungwie Instrumente der Machtkontrolle, scheinen mir in derTat die wichtigsten Zutaten zum wirtschaftlichen Erfolgvon Gesellschaften. Das gilt heute nicht weniger als zuden Zeiten, in denen die Blüte Europas begann.

Man sollte sich dieses Zusammenhangs bewußt sein,wenn man sich dem hier gestellten Thema zuwendet. Eine

Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit jafast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident desBundesrates eine gemeinsame Kommission von Bundes-tag und Bundesrat einrichten will mit dem Auftrag, diemittlerweile von vielen als notwendig erkannte Neuord-nung der Finanzverfassung und der Gesetzgebungskom-petenz vorzubereiten, dann kann man das nur begrüßen.Denn das föderale Miteinander in Deutschland ist re-formbedürftig. Wir spüren das an den für alle Beteiligtenschädlichen Folgen der Regeln, nach denen wir Finanz-ausgleich betreiben; wir spüren das auch an der mangeln-den Kompetenz der Länder, unabhängig vom Bund undvon anderen Ländern Dinge zu regeln, die in erster Liniesie selbst betreffen.

Die wachsende Verflechtung und Vermengung derpolitischen Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Län-dern führt in den Augen vieler Bürger dazu, daß keinermehr verantwortlich ist und daß keiner mehr versucht,neue Wege zu gehen. In der Tat: Es gilt, die zunehmendeVerlagerung der Gesetzgebungskompetenzen auf denBund umzukehren und die Stellung der Länder im föde-ralen System zu stärken. Und es gilt, bei allem Strebennach Einheit die Vielfalt in Europa zu erhalten, allen Zen-tralisierungs- und Harmonisierungstendenzen zum Trotz.

Was getan werden kann und muß, um der föderalenIdee in Deutschland und in Europa wieder verstärktGeltung zu verschaffen, wird auf dieser Tagung �Reformdes Föderalismus�, zu der das Frankfurter Institut unddas Institut der deutschen Wirtschaft eingeladen haben,ausführlich diskutiert werden. Als Mitglied des Stiftungs-rates der informedia-Stiftung und als Mitglied des Stif-tungsrates des Frankfurter Instituts begrüße ich Sie zudieser Tagung ganz herzlich und wünsche Ihnen erkennt-nisreiche, spannende eineinhalb Tage hier auf dem Pe-tersberg.

Begrüßung Rainer Hildmann

Page 10: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

10

Page 11: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

11

Die Chancen des föderalen Staates

Page 12: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

12

Page 13: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

13

1 Einleitung

Der Föderalismus ist in Deutschland innerhalb kurzerZeit zum Modethema avanciert. Nachdem er lange Zeiteher Gegenstand akademischer Erörterungen war, folgtseit etwa einem Jahr eine Konferenz bzw. Veröffentli-chung zum Thema Föderalismus der nächsten. Dazu dürf-ten vor allem folgende Gründe beigetragen haben:

� Der europäische Integrationsprozeß: Mit dem Maas-trichter Vertrag und der endgültigen Entscheidung füreine Europäische Währungsunion ist vielen plötzlichbewußt geworden, welch tiefgreifende Konsequen-zen sich daraus für die nationale Souveränität ergeben.Der Streit um die konkurrierenden Ansätze der Har-monisierung einerseits und des Systemwettbewerbsandererseits hat inzwischen höchste politische Aktuali-tät erlangt. Er betrifft fast alle zentralen wirtschafts-politischen Bereiche, namentlich die Steuerpolitik, dieSozialpolitik, die Umwelt- und Arbeitsschutzpolitiksowie die Lohnpolitik (Hannowsky/Renner, 1996;Heinemann, 1995).

� Das Scheitern der Steuerreform der Regierung Kohl:Die unterschiedlichen parteipolitischen Mehrheiten inBundestag und Bundesrat und die daraus entstandenegegenseitige Blockade haben schlaglichtartig deutlichgemacht, in welchem Ausmaß inzwischen die ur-sprünglich im Grundgesetz angelegten, klar getrenn-ten Verantwortlichkeiten durch Mischfinanzierung unddaraus resultierendem Einigungszwang der Gebiets-körperschaften verwischt worden sind (Homburg,1998; Peffekoven, 1998).

� Der Streit um den Länderfinanzausgleich und die in-terregionalen Transfers in den Sozialversicherungssy-stemen: Hier steht die grundsätzliche Frage zur Dis-kussion, inwieweit eine praktisch vollständige Nivel-

Die Idee des wettbewerblichenFöderalismus

Ulrich van Suntum

lierung der Länderfinanzen ohne Rücksicht auf ihreLeistungsfähigkeit allokativ und distributiv zu recht-fertigen ist (Reformkommission soziale Marktwirt-schaft, 1998).

� Der Globalisierungsprozeß setzt Länder und Regio-nen zunehmend unter Druck, im Standortwettbewerbeffizienter und flexibler zu reagieren als bisher. Dieserfordert entsprechende Gestaltungsspielräume auchauf den unteren Ebenen.

Dies sind jedoch nur aktuelle politische Anlässe, hinterdenen ein viel tiefergehendes Problem steht. Letztlich gehtes um die Frage, inwieweit sich die für eine Marktwirt-schaft konstituierende Grundidee des Wettbewerbs auchauf miteinander konkurrierende staatliche Institutionenübertragen läßt (Inman/Rubinfeld, 1997; Sauerland,1997). Dieser Kernidee des kompetitiven Föderalismussoll im folgenden nachgegangen werden.

2 Entwicklung der föderativen Idee

Föderalismus ist die räumliche Untergliederung einesstaatlichen Gemeinwesens in mehr oder weniger eigen-ständige Entscheidungseinheiten auf mindestens zweiEbenen, beispielsweise Bund und Länder. �Eigenständig-keit� bedeutet dabei das Vorhandensein entsprechenderKompetenzen und Ermessensspielräume der untergeord-neten Ebene in Exekutive, Legislative und/oder Jurisdik-tion. Etwa die Hälfte aller heutigen Nationalstaaten hateine föderative Struktur in diesem Sinne. Als ausgeprägtföderalistische Staaten gelten die USA, Kanada, Öster-reich, Deutschland und die Schweiz, während Frankreich,England und Dänemark Beispiele für zentralistische Staa-ten sind. Neue föderalistische Verfassungen sind in jüng-ster Zeit in Rußland und Südafrika entstanden.

Page 14: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

14

Ulrich van SuntumDie Idee des wettbewerblichen Föderalismus

Der Begriff des Föderalismus wurde während desenglischen Bürgerkrieges 1645 geprägt. Er basiert aufdem lateinischen Wort foedus für Bund oder Bündnis undwurde bereits im römischen Reich auch für Gebietskör-perschaften bzw. deren Zusammenschlüsse verwendet.Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Föderalis-mus erfolgt etwa seit dem 16. Jahrhundert in verschiede-nen Disziplinen, insbesondere in den Rechtswissenschaf-ten, in Politologie und Ökonomie. Schon in den SchriftenMontesquieus und de Tocquevilles wird die Funktion desFöderalismus als Schutz gegen die Allmacht des Zentral-staates hervorgehoben. Die politische Geburtsstunde desFöderalismus war die Verabschiedung der amerikani-schen Verfassung 1787 und die Veröffentlichung der so-genannten federalist papers von Hamilton, Madison und Jayin der gleichen Zeit.

3 Ökonomische Argumente für denkompetitiven Föderalismus

a Statische Effizienz: Berücksichtigungregionaler Präferenzunterschiede

Die ökonomische Theorie des Föderalismus ist relativjung und beginnt mit Tiebouts Beitrag von 1956. NachTiebout wird eine föderative Staatsstruktur tendenziell zueiner effizienteren Versorgung mit öffentlichen Güternführen, als dies bei deren zentraler Bereitstellung möglichwäre. Versorgungsniveau und -struktur in den einzelnenRegionen können und werden sich dann nämlich stärkeran den jeweiligen Präferenzen der in den einzelnen Re-gionen lebenden Bürger ausrichten. Das leuchtet zunächstunmittelbar ein.

Allerdings hängt die Relevanz dieses Argumentes da-von ab, wie stark sich die regionalen Präferenzen über-haupt voneinander unterscheiden. Tiebout hatte vor al-lem die Gemeinden als konkurrierende Regionen vorAugen. Hier gibt es offensichtliche Gründe für Präferenz-unterschiede, die in der Einwohnerstruktur oder auch in

den topografischen und meteorologischen Verhältnissenihre Ursache haben können. Beispielsweise ist der Bauvon Radwegen in Münster sicherlich sinnvoll, wenigerdagegen in Städten des Bergischen Landes wie Wupper-tal oder Velbert, wo es außerdem ständig regnet. Auchdie Frage, ob eine Gemeinde ein teures Theater oder lie-ber ein Fußballstadion bauen sollte, wird man in Wiesba-den möglicherweise anders beantworten als in Dortmundoder Gelsenkirchen.

Schwerer erscheint es zunächst, systematische Präferenz-unterschiede zwischen den Einwohnern größerer Gebiets-körperschaften, etwa verschiedener Bundesländer oderStaaten, zu begründen. Solche Unterschiede können zumeinen in der jeweiligen Kultur und Mentalität begründetliegen, vor allem aber in unterschiedlichen Einkommensni-veaus. Vieles spricht zum Beispiel dafür, daß soziale Si-cherheit, Freizeit oder Umweltschutz superiore Güter sind,die bei höherem Einkommen überproportional nachge-fragt werden. Selbst wenn es sich um normale Güter miteiner Einkommenselastizität von eins handeln würde, wärebereits aus der mikroökonomischen Theorie zu folgern,daß die Nachfrage nach öffentlichen Gütern mit dem Ein-kommensniveau einer Region wächst (vgl. Abb. 1).

1 Nachfragewirkungen einer Einkommens-steigerung

Um

wel

tqua

lität

Sozi

alst

anda

rds

materielle Güter

Indifferenzkurve

Page 15: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

15

Dann gilt aber auch im Umkehrschluß, daß die Be-wohner ärmerer Regionen unter sonst gleichen Bedin-gungen weniger hohe Sozial-, Sicherheits- und Umwelt-standards sowie längere Arbeitszeiten wünschen werdenals Bewohner reicherer Regionen. Entsprechende Unter-schiede in der jeweiligen Gesetzgebung sind dementspre-chend von Vorteil für die Menschen, während ein Zwangzur Einhaltung zentral festgelegter Standards zu Wohl-fahrtseinbußen gerade der ärmeren Länder und Regio-nen führen würde.

b Dynamische Effizienz: Dezentraler Suchprozeßnach neuen Lösungen

Das Tieboutsche Argument zielt auf die bestmögli-che Übereinstimmung des öffentlichen Güterangebotesmit den gegebenen Präferenzen und ist insoweit statischerNatur. Es wurde von Oates (1972), Olson (1969) undBreton (1987) um die wichtigen Aspekte der dynamischenWettbewerbstheorie ergänzt. Hinreichende Mobilität derBürger vorausgesetzt, wird der Wettbewerb der Regio-nen um die Bürger demnach auch zu größtmöglicherWirtschaftlichkeit und Flexibilität führen. Bedingung da-für ist, daß gemäß dem Prinzip der fiskalischen Äquiva-lenz die Nutznießer der regional bereitgestellten öffentli-chen Güter auch deren volle Kosten tragen. Dann wirdjede Unwirtschaftlichkeit oder Fehlallokation die Gefahrvon Abwanderungen implizieren. Die politisch Verant-wortlichen werden Abwanderungen aber in der Regelsowohl aus politischen wie auch aus wirtschaftlichenGründen (Mindestgrößenproblematik öffentlicher Güter)zu vermeiden trachten und daher schon im eigenen Inter-esse an einer sinnvoll dimensionierten und kostengünsti-gen Bereitstellung öffentlicher Güter interessiert sein.

Damit überträgt die ökonomische Förderalismustheo-rie das für die Unternehmen geltende Theorem der �un-sichtbaren Hand� des Wettbewerbs auch auf den Staat.In dynamischer Sichtweise ist der Föderalismus ein Ent-deckungsverfahren im Sinne Hayeks, welches die Suchenach effizienten Lösungen im Wege zahlreicher Parallel-

experimente ermöglicht und damit die Risiken einer zen-tralistischen Einheitslösung vermeidet.

4 Politökonomische Argumente für den Föde-ralismus

a Flexibilität bei der Umsetzung des Rechts

Aus der ökonomischen Theorie des Rechts lassen sichnoch weitere Argumente für eine föderative Staatsstruk-tur ableiten. Ansatzpunkt ist die Überlegung, daß jederStaat letztlich über mehr oder weniger schematische Ge-setze regiert. Da diese nun aber der Komplexität derWirklichkeit niemals gerecht werden können, bedürfensie stets der Interpretation und einer in gewissen Grenzenflexiblen Anwendung im Einzelfall. Das Wissen um dieUmstände des Einzelfalles ist aber nur dezentral verfüg-bar. Daher würde jeder zentralstaatliche Ansatz entwederauf dauernde grobe Fehlentscheidungen oder auf einenGesetzesperfektionismus hinauslaufen, der aufgrund sei-ner Unüberschaubarkeit schließlich nicht mehr handhab-bar wäre.

Betrachten wir dazu das Beispiel einer Betriebsgeneh-migung, etwa für eine chemische Fabrik. Vielfach kolli-diert das Ansiedlungsinteresse des Unternehmens mit demRuhe- und Sicherheitsbedürfnis der anwohnenden Bevöl-kerung. Außerdem ist das Interesse der Region an zusätz-lichen Arbeitsplätzen gegenüber etwaigen Risiken fürNatur und Umwelt abzuwägen. Solche Abwägungenkönnen sinnvollerweise weder von einer fernen Zentral-regierung noch auf der Grundlage einer schematischenGesetzgebung oder Rechtsprechung erfolgen. Die Ent-scheidung sollte vielmehr politisch auf der Ebene getrof-fen werden, auf der die Kosten und der Nutzen derAnsiedlung hauptsächlich anfallen. Dazu aber bedarf eseines föderativen Staatswesens mit entsprechenden Er-messensspielräumen der unteren Ebenen.

Ein anderes Beispiel sind die Regelungen für den Be-zug von Sozialhilfe. Hier kommt es sehr auf eine genaue

Page 16: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

16

Ulrich van SuntumDie Idee des wettbewerblichen Föderalismus

Kenntnis des Einzelfalls an, soll einerseits die mißbräuch-liche Inanspruchnahme dieser Leistungen vermieden undandererseits eine möglichst vollständige Erfassung derwirklich Bedürftigen erreicht werden. Eine bundeseinheit-liche Regelung im Detail wird aufgrund der dabei not-wendigerweise auftretenden Schematik nur entweder daseine oder das andere dieser beiden Ziele erreichen kön-nen (vgl. Abb 2). Dagegen eröffnen entsprechende Er-messensspielräume für die Behörden vor Ort die Chan-ce, eine weitaus bessere Übereinstimmung von Bedürfti-gen und tatsächlich durch die Sozialhilfe erfaßten Perso-nenkreisen zu erreichen.

Von juristischer Seite werden gegen solche Überlegun-gen die Argumente der Rechtseinheitlichkeit und derRechtssicherheit vorgebracht. Das sind aber nur andereAusdrücke für Unflexibilität und Bürokratie. Wer flexible,auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnittene Entscheidun-gen anstrebt, wird ein gewisses Maß an Unsicherheit undvielleicht sogar an Willkür hinnehmen müssen. Der Wett-bewerb zwischen den Regionen ist dennoch ein viel besse-rer Garant für die faire Behandlung aller Beteiligten als jedenoch so ausgeklügelte zentralstaatliche Gesetzgebung.

b Schutz des Bürgers vor der staatlichen Allmacht

Folgt man Brennan und Buchanan (1980), dann gehtes bei der Idee des kompetitiven Föderalismus sogar in

erster Linie um diesen Punkt, nämlich die Zähmung desallmächtigen staatlichen Leviathan. Auch ein demokratischlegitimierter Staat tritt gegenüber dem einzelnen Bürgernämlich stets als Monopolist auf. Er hat bei seiner hoheit-lichen Aufgabenerfüllung keinerlei Konkurrenz zu fürch-ten und greift zudem auch unmittelbar in die wirtschaftli-chen Entscheidungen der Privaten ein, indem er Geneh-migungen erteilt oder versagt, Auflagen macht, die Ver-tragsfreiheit beschränkt und mit positiven und negativenAnreizen verschiedenster Art bis hin zu Ge- und Verbo-ten das Verhalten seiner Bürger beeinflußt.

All dies bedeutet für die Freiheit der Menschen eineständige Bedrohung. Das gilt vor allem für Minderheiten,die naturgemäß am ehesten in Gefahr sind, im Namender Mehrheit unterdrückt oder ausgebeutet zu werden.Solche Minderheiten sind beispielsweise Unternehmer,Freiberufler und Vermieter, aber auch Ausländer, Rau-cher oder Hundebesitzer. Ihnen allen bietet der kompeti-tive Föderalismus Alternativen und damit Schutz vor un-fairer Behandlung. Ist beispielsweise ein Staat sehr restrik-tiv bei der Aufnahme von ausländischen Immigranten,dann ist es gut für diese, wenn es anderswo liberalereRegelungen gibt. Erschwert ein Bundesland durch seineschwerfällige Bürokratie Investitionen, dann gibt es da-gegen kein besseres Mittel als die Konkurrenz eines flexi-bleren Nachbarlandes. Und verbietet schließlich eine Ge-meinde die Haltung von sogenannten Kampfhunden,dann ist es für alle Beteiligten die beste Lösung, wenn fürdie Kampfhundbesitzer die Möglichkeit besteht, in tier-freundlichere Gemeinden umzusiedeln.

Auch Angehörige von Mehrheiten stehen als Einzel-personen der staatlichen Bürokratie oft wehrlos gegen-über. Das wird jeder bestätigen können, der schon ein-mal Ärger mit dem Finanzamt oder bei der Erteilungeiner Baugenehmigung gehabt hat. Zwar steht hier im-mer der Rechtsweg offen, aber dieser ist lang und be-schwerlich und hilft in der Sache oft nicht weiter, weilauch die Gerichte nach kodifizierten Regeln entscheidenmüssen und nur wenig Spielraum für vernünftige Abwä-gungen im Einzelfall haben. Solche Abwägungen wird

2 Treffsicherheit unterschiedlich restriktiverRegelsetzung

enger Gesetzesrahmen

weiter Gesetzesrahmen

BedürftigeMißbrauch

Page 17: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

17

man in der Regel auch von einer Behörde nicht erwartendürfen, es sei denn, der Bürger hat die Möglichkeit derAbwanderung zur Konkurrenz. So hat sich beispielsweisedas Verhalten des TÜV bei der Kfz-Hauptuntersuchungdrastisch zugunsten des Kunden gewandelt, seitdem dieKunden die Untersuchung auch von anderen Institutio-nen vornehmen lassen können. Nur wenn die staatlichenGebietskörperschaften miteinander um die Gunst desBürgers konkurrieren müssen, hat dieser eine realistischeChance, von ihnen fair und vielleicht sogar zuvorkom-mend behandelt zu werden.

Seit A.O. Hirshman (1970) unterscheidet man zwi-schen den beiden Optionen des exit und voice (Abwande-rung und Widerspruch) für den Bürger, der mit staatli-chen Entscheidungen unzufrieden ist. Daß der Föderalis-mus die Abwanderungsoption begünstigt bzw. überhaupterst ermöglicht, ist offensichtlich. Er befördert aber auchdas Instrument des Widerspruchs. Denn während der ein-zelne Bürger etwa auf der Gemeindeebene durchaus einerealistische Chance hat, sich Gehör und gegebenenfallsauch Erfolg zu verschaffen, sind die Hürden dafür in zen-tralistischen Staaten oft unüberwindbar. Letztlich bleibthier oft nur der Gang zum Verfassungsgericht oder garzum Europäischen Gerichtshof mit hohen Kosten undsehr ungewissen Erfolgsaussichten.

5 Grenzen der föderalistischen Idee

a Allokation öffentlicher Güter

Legt man die Unterteilung der Staatsaufgaben in Al-lokation, Distribution und Stabilisierung (Musgrave, 1959)zugrunde, dann ist zunächst festzustellen, daß sich dieAllokation öffentlicher Güter aus den vorgenanntenGründen grundsätzlich gut für eine Dezentralisierung eig-net. Gleichwohl unterliegt die föderalistische Idee Ein-schränkungen und Einwänden.

Diese betreffen zum einen das mögliche Vorhanden-sein externer Effekte zwischen den Regionen, die in der

Regionalökonomie auch als Spillovers bezeichnet werden.Beispielsweise kann die Umweltgesetzgebung nicht aus-schließlich in regionaler Verantwortung liegen, wenndurch umweltbelastende Emissionen (etwa von Kohlen-dioxid) auch Nachbarregionen negativ betroffen wären(Karl, 1998). Ein anderes Beispiel sind die interregionalenVerkehrsströme. Viele Städte und Regionen versuchen,ihre Bürger vor den negativen Auswirkungen des Durch-gangsverkehrs zu schützen, indem sie diesen so restriktivwie möglich behandeln. Da ihre eigenen Bürger bei derDurchfahrt durch andere Regionen aber ähnlichen Re-striktionen unterliegen, kommt insgesamt auf diese Weisekeine sinnvolle Abwägung zwischen den konkurrieren-den Zielen der Mobilität und dem Bedürfnis nach Schutzvor Lärm und Abgasen zustande. Das Vorliegen vonSpillovers erfordert daher entweder entsprechende Ver-handlungslösungen zwischen den betreffenden Regionenoder eben das ordnende Eingreifen übergeordneter staat-licher Instanzen.

Eine weitere Begrenzung föderativer Allokationsent-scheidungen liegt in nichtlinearen Kostenverläufen. Typi-scherweise gibt es bei vielen öffentlichen Gütern wie z.B.Verkehrsinfrastruktur, Verwaltungseinrichtungen oderauch Schulen gewisse Mindestauslastungen, ab denen ihre

3 Wohlstand und Siedlungsdichte

Woh

lsta

ndpr

o K

opf

Siedlungsdichte

Ballungsraum

LändlicheRegion

Page 18: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

18

Ulrich van SuntumDie Idee des wettbewerblichen Föderalismus

wirtschaftliche Bereitstellung erst möglich wird. Umge-kehrt treten in hochverdichteten Regionen oft Ballungs-kosten auf, die im Falle des Zuzugs weiterer Wirtschafts-subjekte den Wohlstand der bereits ansässigen Bürger undUnternehmen beeinträchtigen. Gleichwohl können dieprivatwirtschaftlichen Anreize zur Ansiedlung in Ballungs-gebieten auch nach Überschreiten des Ballungsoptimumsnoch höher sein als in den weniger dicht besiedelten Ge-bieten (vgl. Abb. 3).

Der Grund liegt darin, daß Ansiedlungsentscheidun-gen im allgemeinen auf der Grundlage der in einer Regionanfallenden Durchschnittskosten für öffentliche Gütererfolgen und nicht auf Basis der Grenzkosten (van Sun-tum, 1981). Zwar können die Regionen versuchen, durchgezielte positive bzw. negative Ansiedlungsanreize eineInternalisierung der dadurch begründeten externen Wohl-standseffekte zu erreichen. Aber dem sind nicht nurgesetzliche, sondern auch finanzielle Grenzen gesetzt, ins-besondere im Falle von wenig entwickelten Regionen.Letztere sind daher in Gefahr, in einen Teufelskreis ausgeringer Besiedlungsdichte, daraus resultierenden hohenDurchschnittskosten mit der weiteren Folge ausbleiben-der Neuansiedlungen bzw. sogar weiterer Abwanderun-gen zu geraten. Da dies auch aus gesamtwirtschaftlicherSicht allokativ negativ zu bewerten wäre, liegt hier einweiterer Grund für eine � freilich nur begrenzte � Ein-flußnahme übergeordneter Gebietskörperschaften. Bei-spielsweise finden die westdeutschen Transfers für Ost-deutschland in diesem regionalpolitischen Argument ihrewesentliche allokative Rechtfertigung.

Ein weiteres Argument gegen die rein föderative Or-ganisation des Angebotes öffentlicher Güter könnte dar-in liegen, daß einige dieser Güter meritorischen Charak-ter haben insofern, als auch ein gesamtwirtschaftliches In-teresse an einem ausreichenden Angebot in jeder Regionbesteht. Beispiele dafür sind eine hinreichende Versorgungmit Schulen, mit Kindergärten oder mit Einrichtungender Jugendhilfe. Freilich ist hier um so mehr Zurückhal-tung gegenüber Eingriffen in die regionale Autonomieangezeigt, je stärker es dabei ins Detail geht, etwa was die

sachliche und personelle Ausstattung solcher Einrichtun-gen betrifft.

b Stabilitäts- und Konjunkturpolitik

Eine auf regionaler Ebene eigenverantwortlich betrie-bene Konjunkturpolitik innerhalb eines wirtschaftlich in-tegrierten Gesamtgebietes verbietet sich aus zwei Grün-den. Erstens wäre sie wenig effektiv, weil die Konjunkturnun einmal ein gesamtwirtschaftliches Phänomen ist, ins-besondere in einem einheitlichen Währungsraum. Zumzweiten wird eine Teilregion innerhalb eines solchen Rau-mes etwa an isolierten fiskalischen Maßnahmen nur einsehr begrenztes Interesse haben, weil hier externe Effektein erheblichem Ausmaß auftreten: Die Region hätte allepolitischen und ökonomischen Kosten expansiver Maß-nahmen allein zu tragen, während der Nutzen der Kon-junkturstabilisierung � einen solchen einmal als gegebenunterstellt � allen Regionen zugute käme. Deshalb dürftees in Euroland nach der unwiderruflichen Wechselkurs-fixierung keine nationale Konjunkturpolitik der Mitglied-staaten mehr geben. Eher besteht die Gefahr eines pro-zyklischen Verhaltens der Teilstaaten, indem sie ihre Aus-gaben ohne Rücksicht auf konjunkturelle Rückwirkun-gen an den Einnahmen orientieren.

Das widerspricht aber nicht dem föderativen Gedan-ken an sich, und es bedeutet auch nicht, daß die Zentral-regierung � beziehungsweise ein entsprechendes Organder EU � über eigene Etats zur Konjunktursteuerung ver-fügen müßte. Vielmehr wäre es ohne weiteres möglich,nach dem Vorbild des deutschen Stabilitätsgesetzes dieTeilnehmerstaaten zu einer konzertierten Fiskalpolitik zuverpflichten, wenn dies nötig sein sollte. Von daher er-scheint es also durchaus möglich, etwa die Einkommen-und Körperschaftsteuern den untergeordneten Gebiets-körperschaften als Einnahmequellen zuzuweisen, zumalzumindest die Lohnsteuer kaum konjunkturreagibler istals etwa die Umsatzsteuer. Im übrigen dürfte die Haupt-verantwortung der Konjunkturstabilisierung ohnehin beider Europäischen Zentralbank liegen, jedenfalls wenn

Page 19: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

19

man keine Renaissance der überholten keynesianischenGlobalsteuerung unterstellt.

Unter die staatliche Stabilisierungsaufgabe fällt auchdas Anliegen, Monostrukturen in einzelnen Regionen zuverhindern, um diese nicht allzu anfällig gegenüber Bran-chenkrisen und -konjunkturen zu machen. Hier sind nunallerdings wieder in erster Linie die Regionen selbst ge-fragt. Beispielsweise ist die noch immer starke Abhängig-keit des Ruhrgebietes und des Saarlandes von den Mon-tanindustrien nicht zuletzt eine Folge der jahrzehntelangenstrukturkonservierenden Politik in diesen Regionen, diedurch zentralstaatliche Subventionen sogar noch begün-stigt und ermuntert worden ist. Hätten die Steinkohlehil-fen von den betreffenden Bundesländern selbst aufge-bracht werden müssen oder wären sie ihnen als nichtzweckgebundene, allgemeine Zuweisungen zugeflossen,so hätte dies eine sinnvollere Verwendung für entspre-chende Strukturpolitik �über Tage� sicher begünstigt.

c Einkommensumverteilung und Sozialpolitik

Was die Distributionsfunktion des Staates betrifft,wird in der ökonomischen Föderalismustheorie überwie-gend für ihre Ansiedlung auf der zentralen Ebene argu-mentiert. So weist Oates (1972) darauf hin, daß jederregional begrenzte Versuch einer interpersonellen Umver-teilung zur Abwanderung zumindest derjenigen dadurchBelasteten führen muß, die hinreichend mobil sind. Um-gekehrt würden potentiell Begünstigte aus anderen Re-gionen angezogen, so daß die Umverteilung schließlichscheitern müsse. Entsprechende Erfahrungen in derSchweiz � etwa nach Einführung einer �Reichtumssteu-er� im Kanton Basel-Land im Jahre 1977 � scheinen die-se These zu bestätigen (Blöchlinger/Frey, 1992).

Schon 1950 hatte Buchanan darauf hingewiesen, daßdie Zuweisung redistributiver Steuern an die Regionen inKombination mit dem Derivationsprinzip (regionale Ver-teilung der Einnahmen gemäß dem Aufkommen) zu in-effizienten Migrationen führt. Regionen mit überdurch-schnittlichem Anteil gutverdienender Einwohner werden

dann nämlich aufgrund fiskalischer externer Effekte füralle Wirtschaftssubjekte attraktiver erscheinen, als diesdurch ihre wirklichen Produktivitätsvorteile gerechtfertigtist. Buchanans Argumentation erscheint daher geeignet,einen regionalen Finanzausgleich aus reinen Effizienzüber-legungen heraus zu begründen (van Suntum, 1981). DieAlternative dazu wäre die Zuweisung aller redistributivenSteuern allein an den Zentralstaat.

Unter Allokationsgesichtspunkten wäre es nun aller-dings äußerst wünschenswert, daß die Gebietskörper-schaften einer Föderation nicht nur in bezug auf die Struk-tur ihres öffentlichen Güterangebotes, sondern auch inbezug auf sein Niveau miteinander konkurrieren. Dafürgibt es zwei Gründe:

� Erstens können die Bürger und Unternehmen dannwählen zwischen niedrigen Steuerlasten mit begrenz-tem öffentlichen Sektor und einem Mehr an Staat mitentsprechend höheren Steuerlasten. Das gleiche giltauch für das Niveau der Sozialversicherungen und dieentsprechende Abgabenlast. Diese Art von Wahlfrei-heit dürfte noch weit wichtiger sein als allein die Wahlzwischen verschiedenen Strukturen des öffentlichenAngebotes.

� Zweitens � und dieser Aspekt ist der wichtigere � blei-ben die oben angeführten Wahl- und Schutzmöglich-keiten der Bürger, die ein föderatives System ermög-licht, weitgehend stumpf, wenn es den regionalen Ge-bietskörperschaften an Anreizen mangelt, ihre Steuer-quellen zu pflegen. Wenn mit der Emigration keinefinanziellen Nachteile und mit der Immigration keinefinanziellen Vorteile für die Region verbunden sind,entfällt aber ein ganz wesentlicher Anreiz, die Präfe-renzen der Bürger zu berücksichtigen und sie zuvor-kommend zu behandeln. Ein gewisses Maß an finan-zieller Eigenverantwortung ist also geradezu konstitu-tiv für den kompetitiven Föderalismus, und diesschließt auch die Möglichkeit ein, daß das Einnahmen-und Ausgabenvolumen pro Einwohner regional un-terschiedlich ist.

Page 20: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

20

Eine Beschränkung der Teilregionen auf nicht-redis-tributive und nicht-konjunkturabhängige Einnahmequel-len scheint nun aber wenig praktischen Spielraum für ei-nen derartigen föderativen Steuerwettbewerb zu lassen.Hier tut sich ein auf den ersten Blick kaum lösbarer Ziel-konflikt auf: Einerseits möchte der kompetitive Födera-lismus Wettbewerb auch auf diesem Feld ermöglichen,indem die Bürger und Unternehmen tendenziell dorthinziehen können, wo ihnen das Verhältnis zwischen Abga-benlast und öffentlichem Güterangebot am günstigstenerscheint. Andererseits scheint dies aber den Verzicht aufjede steuerliche Umverteilungsabsicht zu erfordern, da esansonsten zu den von Buchanan und Oates befürchtetenineffizienten Wanderungsbewegungen käme.

Doch dieser Zielkonflikt läßt sich auflösen. Zunächstgilt das Verdikt gegen regionale Umverteilungsmaßnahmennur, soweit diese Maßnahmen mobile Produktionsfakto-ren betreffen; insbesondere der Boden als immobiler Fak-tor ist davon ausgenommen. Er stellt insoweit eine idealeSteuerbasis für die Teilregionen dar; nicht umsonst fließt jain Deutschland die Grundsteuer den Kommunen zu. Mankann diesen Zusammenhang auch andersherum formulie-ren: Die Besitzer von Boden und Immobilien dürften dieLeidtragenden der zunehmenden Mobilität von Kapitalund Arbeit sein, denn sie werden vermutlich einen wach-senden Teil der künftigen Steuerlast zu tragen haben.

Aber auch in bezug auf die mobilen Faktoren er-scheint ein effizienter regionaler Steuerwettbewerb durch-aus möglich. Es müßte dazu lediglich sichergestellt wer-den, daß damit keine Verschärfung der Umverteilungs-wirkungen des Steuer- und Transfersystems verbundenist. Erhebt beispielsweise eine Region höhere Unterneh-menssteuern als andere und stellt damit gleichzeitig bes-sere unternehmensspezifische Infrastruktur bereit, so ent-stehen keine fiskalischen externen Effekte im Sinne Buch-anans und damit auch keine allokationsschädlichen Wan-derungsanreize.

Auch ein regionaler Zuschlag zur Einkommensteuerkann weitgehend umverteilungsneutral gestaltet werden,wenn mit ihm ein besseres Güterangebot für alle Ein-

kommenschichten finanziert wird, beispielsweise Kinder-gärten oder Infrastrukturprojekte. Unterstellt man, daßdie Bezieher höherer Einkommen solche Güter absolutentsprechend höher bewerten als die Bezieher niedrigerEinkommen, so könnte man daraus eine proportionaleregionale Einkommensteuer bzw. einen entsprechendenZuschlag ableiten, der insoweit keine verzerrenden Wan-derungsimpulse geben würde. Eine derartige Gruppen-äquivalenz der regionalen Besteuerung wäre zwar kaumin perfekter Weise zu verwirklichen; die verbleibendenFehlanreize aufgrund fiskalischer externer Effekte dürf-ten aber bei geschickter Ausgestaltung geringer sein alsdie aus einem solchen Steuerwettbewerb resultierendenpositiven Anreize und Auswirkungen auf die Effizienzdes öffentlichen Sektors.

Ein regionaler Hebesatz auf die Einkommensteuerwäre einem reinen Trennsystem in vieler Hinsicht überle-gen. Steuerbasis und Abschreibungsmodalitäten wärenregional einheitlich, was Transaktionskosten sowohl beimStaat als auch bei den Steuerpflichtigen spart. Außerdemwürde die für den Steuerwettbewerb wichtige Transpa-renz der regionalen Unterschiede gewahrt, was bei einemTrennsystem mit möglicherweise regional völlig unter-schiedlichen Steuergesetzen nicht der Fall wäre. DerNachteil des Hebesatzsystems besteht allerdings darin,daß man sich auf die Grundzüge des Steuersystems nachwie vor zwischen den föderalen Ebenen einigen müßte(Homburg, 1998).

Im übrigen sollte die Verantwortung für die finanziel-le Abfederung und damit auch für die Bekämpfung derArbeitslosigkeit weitgehend dezentralisiert werden, so wiedies bei der von den Kommunen zu tragenden Sozialhil-fe ja auch der Fall ist. Auf diese Weise würde ein zusätz-licher Anreiz geschaffen, für günstige wirtschaftliche Rah-menbedingungen zu sorgen. Eindeutig kontraproduktivwäre es dagegen, die Verantwortung für die Beschäfti-gungspolitik auf eine noch höhere Ebene, etwa auf dieEuropäische Union zu verlagern. Dies kann nur insoweitin Betracht kommen, als es sich um konjunkturell verur-sachte Arbeitslosigkeit handelt.

Ulrich van SuntumDie Idee des wettbewerblichen Föderalismus

Page 21: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

21

6 Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse?

Als Zwischenfazit läßt sich festhalten, daß es in allendrei staatlichen Aufgabenfeldern Spielräume für födera-tiven Wettbewerb gibt. Am größten sind diese Spielräumezweifellos bei der Allokation öffentlicher Güter bezie-hungsweise der Umsetzung staatlicher Gesetze, die umso mehr reinen Richtliniencharakter haben sollten, je hö-her die Ebene ist, auf der sie verabschiedet werden. Wasdas Stabilisierungsanliegen betrifft, ist die regionale Ei-genverantwortung vor allem bei der Verhinderung vonMonostrukturen gefordert. Die personelle Einkommens-umverteilung eignet sich dagegen am wenigsten für einenWettbewerb der Regionen. Wie gezeigt werden konnte,bedeutet dies aber keineswegs den Verzicht auf einen re-gionalen Steuerwettbewerb im Sinne der Konkurrenzzwischen verschiedenen Niveaus der Staatsausgaben undder mit ihnen verbundenen Steuerlasten.

Diesen Überlegungen sowie generell regional unter-schiedlichen Staats- und Sozialleistungsquoten wird dasZiel einer �Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse� bzw.einer �Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen� entge-gengehalten. Ersteres stützt sich in der BundesrepublikDeutschland auf Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 sowie Art. 106 Abs.3 Nr. 2 des Grundgesetzes, letzteres hat im Bundesraum-ordnungsprogramm von 1975 eine eigenständige Legiti-mation gefunden (Zimmermann, 1987). Im Jahre 1994wurde der Wortlaut von Art. 72 Abs. 2 GG von �Wah-rung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse� in �Her-stellung gleichwertiger Lebensverhältnisse� umgewandelt.

Würde man diese Normen als Gebot identischer Le-bensbedingungen interpretieren, so stünden sie zumGrundgedanken des Föderalismus in einem unüberwind-baren Gegensatz, denn dieser setzt ja gerade auf die Un-terschiedlichkeit im Sinne regionalen Wettbewerbs. Beieiner so engen Interpretation könnte man sich den erheb-lichen finanziellen und organisatorischen Aufwand einesföderativen Systems auch gleich sparen (Homburg 1998).

Fiskalischer Föderalismus und gleichwertige Lebens-bedingungen lassen sich aber weitgehend miteinander

vereinbaren, wenn man letztere als Chancengleichheit deseinzelnen Wirtschaftssubjektes in allen Regionen interpre-tiert. Dies würde einen Finanzausgleich zwischen den Re-gionen nur in dem Maße bedeuten, wie die regionale Po-litik nicht selbst Verantwortung für Finanzkraftunterschie-de trägt. Verbleibende Unterschiede in den regionalen Le-bensbedingungen wären dann als Konsequenz des föde-rativen Wettbewerbs zu akzeptieren, auf den jedes Wirt-schaftssubjekt im Rahmen seiner demokratischen Wahl-möglichkeiten Einfluß nehmen kann. Um ein solches Sy-stem operational zu machen, müßte allerdings geklärtwerden, wo die unverschuldete Benachteiligung endet unddementsprechend die regionale Eigenverantwortung be-ginnt. Diese Frage kann an dieser Stelle nicht näher be-handelt werden.

7 Schlußbemerkung

Die ursprünglich mit den vorstehenden Prinzipien ei-nigermaßen kompatible Verfassung der BundesrepublikDeutschland ist im Laufe der Zeit immer stärker in Rich-tung auf ein kooperatives Modell verändert worden (Re-formkommission Soziale Marktwirtschaft, 1998). Auf-gaben, Finanzierungsquellen und Kompetenzen der dreigebietskörperschaftlichen Ebenen wurden miteinandervermischt und durch ein extrem nivellierendes System desFinanzausgleichs ergänzt. Damit haben sich die Verant-wortlichkeiten zunehmend weg von den unteren Ebenenund hin auf eine � in sich freilich sehr diffuse � zentraleEbene verlagert. Ähnliche Entwicklungen sind � wenn-gleich in wesentlich geringerem Ausmaß � in anderen fö-derativ organisierten Staaten wie der Schweiz und denUSA zu beobachten (Apolte, 1996; Blöchlinger/Frey,1992), und sie sind auch in der Europäischen Union zubefürchten. Mit großer Sorge muß man beispielsweisesehen, daß die EU zunehmend verbindliche Umwelt- undSozialstandards festlegt und damit die Möglichkeitenregionalen Wettbewerbs und der Flexibilität vor Ortimmer stärker beschneidet.

Page 22: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

22

Die neuere Förderalismustheorie macht Entwick-lungsprozesse dieser Art und ihre polit-ökonomischenHintergründe explizit zum Gegenstand der Analyse. Bre-ton/Scott haben bereits 1978 den Anstoß dazu gegebenund eine verfassunggebende Versammlung zur Steuerungsolcher Prozesse vorgeschlagen. 1993 hat die �EuropeanConstitutional Group�, eine Gruppe europäischer Rechts-und Sozialwissenschaftler, einen ähnlichen Vorschlag inAnlehnung an Hayeks Forderung einer �dritten Kammer�gemacht. In der Tat ist zu befürchten, daß ohne eine ent-sprechende institutionelle Absicherung des föderativenGedankens in der Europäischen Union der Zentralismusin Europa weiter um sich greifen wird. Dies folgt schondaraus, daß die untergeordneten Gebietskörperschaftenden Wettbewerb im allgemeinen scheuen und stattdessen,ähnlich wie die Unternehmen, eher zur Kartellierung nei-gen. Insbesondere was die Verantwortung für die Be-schäftigungspolitik betrifft, erscheint es den politischenEntscheidungsträgern verständlicherweise opportun, dieVerantwortung dafür auf höhere Ebenen abzuschieben.

Nachdem in Deutschland eine Reihe von Landtags-wahlen ansteht, ist die Chance nicht gering, daß Bundes-rat und Bundestag von den gleichen parteipolitischenKräften dominiert werden. In diesem Fall bestehen ei-gentlich günstige Aussichten für eine grundlegende Ver-fassungsreform. Allerdings sind es gerade diese Kräfte,die dem föderativen Wettbewerbsgedanken eher reser-viert bis ablehnend gegenüberstehen. Daher ist leider auchfür Deutschland in dieser Hinsicht eine eher pessimisti-sche Prognose zu stellen.

Literatur

Apolte, T. (1996): Fiskalföderalismus in den Vereinigten Staaten:Vorbild oder schlechtes Beispiel für Europa?, List Forum fürWirtschafts- und Finanzpolitik, 22. Jg., S. 170-194.

Biehl, D. (1988): Die Reform der EG-Verfassung aus der Sicht ei-ner ökonomischen Theorie des Föderalismus, in: M.E. Streit(Hg.), Wirtschaftspolitik zwischen ökonomischer und politischerRealität, Wiesbaden, S. 63-84.

Blöchlinger, H./Frey, René L. (1992): Der schweizerische Föderalis-mus: Ein Modell für den institutionellen Aufbau der Europäi-schen Union?, Außenwirtschaft, 47. Jg., S. 515-548.

Brennan, G./Buchanan, J.M. (1980): The Power to Tax. AnalyticalFoundations of a Fiscal Constitution, Cambridge.

Breton, A. (1987): Towards a Theory of Competitive Federalism,European Journal of Political Economy, Bd. 3, S. 263-329.

Breton, A./Scott, A. (1978): The Economic Constitution of FederalStates, Canberra.

Buchanan, J.M. (1950): Federalism and Fiscal Equity, American Eco-nomic Review Vol. 40, S. 583-599.

European Constitutional Group (1973), A European ConstitutionalSettlement, London.

Hamilton, A./Madison, J./Jay, J. (1961): The Federalist Papers, Cam-bridge Mass.

Hannowsky, D./Renner, A. (1996): Subsidiaritätsprinzip, Bürgersou-veränität und Ordnungswettbewerb. Occasional Paper Nr. 9 desEuropäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung Tübingen.

Heinemann, F. (1995): Die Finanzverfassung und Kompetenzausstat-tung der Europäischen Union nach Maastricht. Eine finanzwis-senschaftliche Soll-Ist-Analyse, Baden-Baden.

Hirshman, A.O. (1970): Exit, Voice, and Loyalty, Cambridge.Homburg, S. (1998): Im Gewirr der Kompetenzen, Frankfurter All-

gemeine Zeitung v. 31.10.1998, S. 15.Inman, R.P./Rubinfeld, D.L. (1997): The Political Economy of Fe-

deralism, in: Mueller, D.C. (Hg.): Perspectives on public Choice,Cambridge, S. 73-105.

Karl, H. (1998): Induziert föderalistische Umweltpolitik ein Wett-bewerbsversagen? in: Renner, A./Hinterberger, F. (Hg.): Zu-kunftsfähigkeit und Neoliberalismus, Baden-Baden, S. 407-423.

Musgrave, R.A. (1959): The Theory of Public Finance, New York.Oates, W.E. (1972): Fiscal Federalism, New York.Olson, M. (1969): The Principal of �Fiscal Equivalence�: The Divi-

sion of Responsibilities among Different Levels of Govern-ment, American Economic Review, Vol. 59, S 479-487.

Peffekoven, R. (1998): Die deutschen Länder am kollektiven Tropf,Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.4.1998, S. 17.

Reformkommission Soziale Marktwirtschaft (1998): Reform derFinanzverfassung, o.O.

Sauerland, D. (1997): Föderalismus zwischen Freiheit und Effizienz.Der Beitrag der ökonomischen Theorie zur Gestaltung dezentra-lisierter politischer Systeme, Berlin.

van Suntum, U. (1981): Regionalpolitik in der Marktwirtschaft, Ba-den-Baden.

Tiebout, C.M. (1956): A Pure Theory of Local Expenditures, TheJournal of Political Economy, Vol. 64, S. 416-424.

de Tocqueville, A. (1835): Democracy in America, London.Zimmermann, H. (1987): Föderalismus und �Einheitlichkeit der Le-

bensverhältnisse�, in: Schmidt, K. (Hg.): Beiträge zu ökonomi-schen Problemen des Föderalismus, Berlin, S. 35-69.

Ulrich van SuntumDie Idee des wettbewerblichen Föderalismus

Page 23: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

23

Föderale Politikverflechtung:Was muß man ertragen? Was kannman ändern?

Die Kritik am bundesdeutschen Föderalismus, seit fasteinem Vierteljahrhundert Gegenstand der wissenschaftli-chen Diskussion (Scharpf/Reissert/Schnabel, 1976), ist inden vergangenen Jahren auch von der Politik und vonden Medien aufgegriffen worden. Dabei werden zumeistmehrere Probleme vermengt, die zwar sachlich zusam-menhängen, aber trotzdem unterschieden werden müs-sen, wenn man ein begründetes Urteil über die Berechti-gung von Reformforderungen gewinnen will. Ich willmich hier auf drei davon konzentrieren.

Das erste Problem entsteht aus der Möglichkeit par-teipolitischer Blockaden der Bundespolitik unter Bedin-gungen, in denen der Bundesregierung eine oppositionel-le Mehrheit im Bundesrat gegenübersteht (Lehmbruch,1976/1998). Das zweite betrifft die generelle Schwerfäl-ligkeit und Intransparenz bundespolitischer Entschei-dungsprozesse, die auch bei parteipolitischer Gleichrich-tung beider Kammern aus der Notwendigkeit erwächst,bei praktisch allen wichtigen Gesetzesvorhaben nicht nurdie Mehrheit im Bundestag, sondern auch die mehrheitli-che Zustimmung der Landesregierungen zu gewinnen(Scharpf, 1985). Das dritte Problem schließlich betrifftdie Handlungsspielräume der Landespolitik, die durchbundesrechtliche Vorgaben, den Steuerverbund und denFinanzausgleich, und schließlich durch die vertikale undhorizontale Politikverflechtung in erheblichem Maße ein-geschränkt werden (Scharpf, 1989).

Alle drei Probleme können unter zwei normativenGesichtspunkten betrachtet werden, einem demokratie-theoretischen und einem effizienztheoretischen. Dabeimuß das Demokratiedefizit des deutschen Föderalismusbesonders gravierend erscheinen, wenn man von einemsehr schlichten, am Idealbild des britischen Westminster-Modells orientierten Demokratieverständnis ausgeht, wiees möglicherweise noch immer in der Grundschule ge-lehrt und in den Medien vorausgesetzt wird. Danach stel-

len die politischen Parteien Programme auf, zwischendenen der Wähler seine Wahl trifft. Die siegreiche Parteierhält freie Hand, ihr Programm in der Regierung durch-zuführen; die Opposition hat die Aufgabe, sie darin zuüberwachen und Fehler zu kritisieren; und bei der näch-sten Wahl hat die Regierung für die Ergebnisse ihrer Poli-tik die Verantwortung zu übernehmen. Beides, die Pro-grammbindung der Regierungspartei und ihre klare Er-gebnisverantwortung sollen sicherstellen, daß der imWahlakt ausgedrückte Volkswille die Inhalte der Politikbestimmen kann.

1 Das Demokratiedefizit des deutschenFöderalismus

Daß der deutsche Föderalismus mit diesem Modellnicht legitimiert werden könnte, liegt bei dem zuerst ge-nannten Problem der parteipolitischen Blockaden auf derHand. Im Westminster-Modell soll die Opposition dieRegierung kritisieren, aber sie soll ihr nicht in den Armfallen und die Durchführung ihres Programms blockie-ren können. Wenn dies trotzdem geschieht, kann die Re-gierung weder ihr vom Volk legitimiertes Programm ver-wirklichen, noch für das schließliche Ergebnis die Ver-antwortung übernehmen. Der zentrale Mechanismus, aufdem die Legitimationskraft des Modells beruht, wäre dannvollständig außer Kraft gesetzt. Nicht viel besser steht esum das zweite Problem. Hier ist zwar, da ohne den Stör-faktor der Parteienkonkurrenz die Landesregierungennicht am Stillstand der Gesetzgebung interessiert sein kön-nen, kaum mit einer völligen Blockade der Bundespolitikzu rechnen � wohl aber mit langwierigen Verhandlungen,an deren Ende oft allseits unbefriedigende Bund-Länder-Kompromisse stehen werden, die mit dem ursprüngli-chen Konzept der Bundesregierung nur noch wenig Ähn-

Fritz W. Scharpf

Page 24: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

24

Fritz W. ScharpfFöderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern?

lichkeit haben. Auch hier kommt es also zu einer intrans-parenten Verwischung der Verantwortlichkeiten und zuEntscheidungen, welche einem entweder programm-oder ergebnisbezogenen Zugriff des Wählervotumsweitgehend entzogen sind.

Überdies wird in der beschriebenen Situation auch die� einer anderen Variante schlichter Demokratietheorienzuzuordnende � Souveränität der Parlamente ausgehe-belt: Da die zum schließlichen Kompromiß führendenBund-Länder-Verhandlungen entweder im Vorfeld zwi-schen den Regierungen oder hinter den verschlossenenTüren des Vermittlungsausschusses geführt werden, müs-sen die Ergebnisse als fait accompli präsentiert und von denParlamenten ohne substantielle Änderungsmöglichkeit ak-zeptiert oder verworfen werden.

Ähnliches gilt auch für die Landespolitik. Wo die Auf-gaben durch bundeseinheitliche Gesetze, die Ressourcendurch bundeseinheitliche Steuern und den bundesrecht-lich geregelten Finanzausgleich und die Verwaltungspra-xis durch die horizontale Selbstkoordination der Landes-regierungen festgelegt sind, da bleibt wenig Raum fürprogrammatische Alternativen im Landtagswahlkampfoder für die Ausübung souveräner Parlamentsrechte(Große-Sender, 1990). Da nutzt es auch wenig, daß dieLandesregierung zum Ausgleich im Bundesrat an derGestaltung der Bundespolitik (und nun sogar der euro-päischen Politik) mitwirken darf (Kremer, 1988; Institutfür Europäische Politik, 1992). Die auf der höheren Ebe-ne verfolgten Verhandlungsstrategien der Regierung las-sen sich weder ex ante durch ein imperatives Mandat anWillensäußerungen der Wähler oder der Landtage bin-den, noch kann die einzelne Landesregierung für dasschließliche Ergebnis der Bund-Länder-Verhandlungenwirksam verantwortlich gemacht werden.

Kurz: Gemessen an den Demokratiemodellen, dieunsere öffentliche Diskussion bestimmen, erscheint derdeutsche Föderalismus in geradezu extremer Weise defi-zitär. Gute Demokraten, so muß man folgern, hätten eineVerfassung wie die unsere nie erfinden dürfen. Freilichhabe ich die zitierten Demokratiekonzepte nicht ohne

Absicht als �schlicht� qualifiziert. An ihnen gemessenmüßten Verfassungen wie die amerikanische oder dieschweizerische ebenso defizitär erscheinen � ja, im Prin-zip gälte diese Kritik nicht nur allen föderalen Verfassun-gen, sondern auch allen anderen politischen Systemen, indenen die alleinige Programmkompetenz und eindeutigeErgebnisverantwortung einer politisch geschlossenenRegierungspartei durchbrochen wird durch die �Veto-position� einer Zweiten Kammer, durch das Nebenein-ander eines direkt gewählten Präsidenten und einer parla-mentarisch verantwortlichen Regierung, durch Verhand-lungszwänge in einer Mehrparteienkoalition, durch dieVerwerfungskompetenz eines Verfassungsgerichts, durcheine unabhängige Nationalbank oder durch verfassungs-rechtlich geschützte Reservate der Tarifautonomie (Tse-belis, 1995). Gewiß, in der Verfassung des �semisouverä-nen� deutschen Staates (Katzenstein, 1987) kumulierensich mehr Vetopositionen als in den meisten anderen Län-dern, die man als vom Westminster-Modell abweichende�Konsensualdemokratien� beschreiben kann (Lijphart,1984). Aber das allein reicht gewiß nicht aus, um demdeutschen Modell seinen Platz unter den legitimen Ver-handlungsdemokratien (Czada/Schmidt, 1993) der west-lichen Welt zu bestreiten.

2 Effizienzdefizite des deutschenFöderalismus

Ich will diese Argumentation hier jedoch nicht weitervertiefen, sondern mich dem zweiten Kriterium zuwen-den, das für die gegenwärtige Diskussion sicher größereBedeutung hat als etwaige demokratietheoretische Skru-pel. Ich habe es oben �effizienztheoretisch� genannt, umdamit die Nähe zur Perspektive der ökonomischen Theo-rie des Föderalismus anzudeuten (Oates, 1977). In mei-nen eigenen Arbeiten erscheint es als Frage nach der Pro-blemlösungsfähigkeit politischer Systeme � das heißt nachder Fähigkeit, durch kollektives Handeln und mit den Res-sourcen des Gemeinwesens jene Probleme wirksam zu

Page 25: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

25

bearbeiten, die in modernen Gesellschaften weder vomeinzelnen Bürger selbst, noch vom Markt, noch durchfreiwillig-gemeinsames Handeln bewältigt werden kön-nen. In dieser Hinsicht, so scheint es, werden dem deut-schen Verfassungsmodell derzeit besonders schlechteZeugnisse ausgestellt, und auf diese Frage will ich michim weiteren konzentrieren.

1 Historische Wurzeln

Ehe ich zur Diagnose der aktuellen Lage des deut-schen Föderalismus komme, scheint es mir freilich gebo-ten, wenigstens kurz auf die Herkunft seiner besonderenStrukturen einzugehen (Bundesrat, 1989; Scharpf, 1989).Diese unterscheiden sich von dem in der ursprünglichenVerfassung angelegten und weithin als �normal� angese-henen �Trennmodell� dadurch, daß die Aufgaben vonBund und Ländern nicht in erster Linie materiell nachSachbereichen, sondern funktional nach Kompetenzarten(Gesetzgebung beim Bund, Verwaltung bei den Ländern)aufgeteilt sind. Überdies ist die Bundesrepublik der einzi-ge unter allen föderalen Staaten, der den Regierungen derGliedstaaten die unmittelbare Mitbestimmung über dieGesetzgebung des Bundes einräumt. Anderswo wird die-se Funktion entweder von direkt gewählten Senatorenoder von Delegierten der Landesparlamente wahrge-nommen. Diese besondere Konstruktion hat ihre Wurzelin der Verfassung des Bismarck-Reichs, welche die deut-schen Fürsten, Bundesgenossen und nicht Besiegte imKrieg von 1870/71, nicht entmachten konnte und sieüberdies im Bundesrat als Bollwerk gegen die drohendeParlamentarisierung brauchte (Nipperdey, 1986, 83). Dieparlamentarische und stärker zentralistische WeimarerReichsverfassung hat dann zwar die Rolle der Länder beider Gesetzgebung geschwächt, blieb aber bei der deut-schen Tradition, derzufolge Reichsgesetze in der Regelvon den Verwaltungen und mit den Mitteln der Länderausgeführt werden. Die Nationalsozialisten schließlichübertrugen 1934 alle Hoheitsrechte der Länder auf dasReich, das bis 1945 als unitarischer und zentralistischer

Einheitsstaat mit einheitlichen Gesetzen regiert wurde, unddie historischen Länder nur als Verwaltungseinheiten wei-terbestehen ließ.

Nach der Niederlage entstanden zunächst neue Län-der, unter der Kuratel der Besatzungsmächte und vondiesen nach eigenen Bedürfnissen zugeschnitten. Von denDeutschen wurden sie aber keineswegs als selbständigeStaaten, sondern als Treuhänder des handlungsunfähigenReiches verstanden. Jede Betonung der Eigenständigkeitdieser neuen Länder wäre als Separatismus verfemt wor-den. Deshalb blieb, obwohl das frühere Reichsrecht nunzur Disposition der Länder stand, die Rechtseinheit wei-testgehend erhalten, und als es schließlich zur Gründungdes westdeutschen Staates kam, bedurfte es mehrerer In-terventionen der Besatzungsmächte, um eine allzu zentra-listische Verfassung des neuen Bundesstaates zu verhin-dern (Morsey 1988). Unter den Deutschen jedenfalls wares so gut wie unstreitig, daß der weit überwiegende Teilder Gesetzgebungszuständigkeiten wiederum dem Bund� als ausschließliche, konkurrierende oder Rahmengesetz-gebungskompetenz � zustehen sollte. Deren Ausübungsollte � angesichts der höchst ungleichen Belastung derLänder durch Kriegszerstörung, Demontagen undFlüchtlingsströme mehr als verständlich � der Herstellung�einheitlicher Lebensverhältnisse� im Bundesgebiet die-nen. Die Länder behielten in gesicherter eigener Verant-wortung kaum mehr als die Bereiche der Landes- undKommunalverfassung, der Polizei und von Bildung undWissenschaft � und zur Vereinheitlichung des letzteren or-ganisierten sie noch vor der Gründung der Bundesrepu-blik die Kultusministerkonferenz (Hohn/Schimank 1989).Kurz: Föderalismus mußte wohl sein, aber einen Unter-schied sollte er nicht machen.

Für die Länder und ihre Politiker bot diese Konstella-tion kaum die Chance der eigenständigen politischenGestaltung. Um so größeren Wert mußten sie deswegenauf die Verwaltungskompetenzen legen, die der Bundihnen zumindest in den ersten Jahren der Republik ohne-hin nicht hätte streitig machen können, und vor allem aufihre Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung des Bun-

Page 26: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

26

des. Zwar stand das Bundesratsmodell in Herrenchiem-see und auch noch in den Beratungen des Parlamentari-schen Rats in Konkurrenz zu einem ernsthaft verfolgtenSenatsmodell, aber am Ende setzte sich doch die deut-sche Tradition durch � die überdies die Sachlogik einermit der Verwaltungskompetenz korrespondierenden le-gislativen Mitverantwortung für sich hatte.

Damit waren aber im Prinzip schon alle Elemente dergegenwärtig diskutierten Problematik im ursprünglichenGrundgesetz angelegt. Wenn die Rechtseinheit und dieEinheitlichkeit der Lebensverhältnisse gesichert werdensollte, dann mußte der Bund von dem umfangreichenKatalog konkurrierender Gesetzgebungszuständigkeitenextensiven Gebrauch machen; und wenn die Länder dieBundesgesetze als eigene Angelegenheit und mit eigenenMitteln ausführen sollten, dann mußte auch ihre Finanz-kraft mit den Mitteln der Steuerverteilung und des verti-kalen und horizontalen Finanzausgleichs weitgehend an-geglichen werden. Dann aber war es auch nur folgerich-tig, auch die wesentlichen Steuerpflichten der Bürger undUnternehmen durch Bundesgesetze einheitlich zu regelnund das daraus resultierende Steueraufkommen nach Be-darfsgesichtspunkten zwischen Bund und Ländern auf-zuteilen. So gesehen erscheint also die Finanzverfassungs-reform von 1969 nicht als Sündenfall in einer anfänglicham Trennprinzip orientierten Finanzverfassung, sondernals folgerichtige Komplettierung eines zunächst unvoll-ständig definierten Modells (Kommission für die Finanz-reform, 1966).

2 Gründe der Politikverflechtung

Angesichts der heutigen Diskussion erscheint es über-dies interessant, sich die Motive für diese Komplettierungund die fortschreitende Politikverflechtung zu vergegen-wärtigen. Das wichtigste dieser Motive folgt aus dem bis-her Gesagten: Mit Ausnahme von Bayern und Hamburghatte keines der neuen Länder eine eigene historischeIdentität, und die durch Krieg, Evakuierung, Flucht, Ver-treibung und Abwanderung aus der DDR durcheinan-

dergewürfelte Bevölkerung hatte wenig Sinn für die Pfle-ge landsmannschaftlicher Besonderheiten und deshalbauch eine geringe Toleranz für Unterschiede etwa im Bil-dungswesen oder im Wirtschaftsrecht, welche der Mobi-lität von Familien oder Unternehmen im Wege gestandenhätten. Überdies waren die Belastungen der einzelnenLänder durch Kriegszerstörung und Massenwanderungso ungleich, daß jede Betonung von Landesegoismen alsVerweigerung nationaler Solidarität auf Empörung ge-stoßen wäre. Die Landesregierungen hätten also durcheine Betonung eigenständiger Landespolitik kaum politi-sche Zustimmung gewinnen können.

Statt dessen sahen sie sich, sobald die Verhältnisse sichzu bessern begannen, dem Druck einer gefährlichen Ab-werbungs- und Überbietungs-Konkurrenz ausgesetzt: Dader Anspruch auf einheitliche Lebensverhältnisse verfas-sungsrechtlich legitimiert und politisch virulent war, wur-de jede Leistungsverbesserung in einem Land zur An-spruchsgrundlage in allen anderen. Dieser Druck äußertesich beispielsweise in einem Subventionswettlauf zwi-schen Ländern und Gemeinden, die immer höhere Steu-ermittel einsetzten, um den eigenen Anteil am begrenztenPotential mobilitätsbereiter Industrieinvestitionen zu er-höhen (Reissert/Schnabel, 1976, S. 76-98). Ein anderesBeispiel war die Beamtenbesoldung, wo jede Struktur-verbesserung in einem Land so viel politischen Druck inallen anderen Ländern erzeugte, daß im Ergebnis die ste-tige Angleichung an den jeweils besten Stand unvermeid-lich wurde. Ganz anders als heute unterstellt wird, führteder Standortwettbewerb also zunächst einmal zur Aus-weitung der Staatsfunktionen und zur Aufblähung derStaatshaushalte.

In den beiden erwähnten Fällen � und in vielen Fällenähnlicher Art � bot sich die Politikverflechtung als Aus-weg an: Indem die Länder sich untereinander zu einemdefensiven Kartell zusammenschlossen und sich dabeizugleich von der Mitwirkung des Bundes abhängig mach-ten, stärkten sie ihre Fähigkeit zur Abweisung von Inter-essentenforderungen (Scharpf/Reissert/Schnabel 1976,S. 18-22; Grande 1995). Das formale Mittel zu diesem

Fritz W. ScharpfFöderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern?

Page 27: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

27

Zweck war im ersten Fall die Einbringung der Landes-kompetenzen für die regionale Wirtschaftsförderung ineine �Gemeinschaftsaufgabe des Bundes und der Länder�;im zweiten Fall brachte eine neue Rahmenkompetenz desBundes für das Recht der Landesbeamten die Lösung �wobei der Bund selbstverständlich hier wie dort nur mitZustimmung der Ländermehrheit handeln konnte.

Die Finanzverfassungsreform von 1969 und die siebegleitenden anderen Verfassungsänderungen hatten alsoim Rahmen der gegebenen Verfassungsstruktur durchausgute Gründe für sich. Wenn die einzelnen Länder aus po-litischen oder faktischen Gründen schon nicht unabhän-gig voneinander handeln konnten, dann schien es nur fol-gerichtig, die Interaktion zwischen ihnen von der � insge-samt eher wohlfahrtsschädlichen � Form des nicht-ko-operativen Spiels aller gegen alle in die Form eines ko-operativen Spiels mit möglichst geringen Transaktions-kosten zu überführen. Diesem Zweck dienen die Dut-zende von ständigen �Konferenzen� und �Ausschüssen�der Ministerpräsidenten, der Fachminister, der Staatsse-kretäre und der Abteilungsleiter, in denen die allfälligenInteressenkonflikte kleingearbeitet und ein insgesamt docherhebliches Maß kollektiver Handlungsfähigkeit erzeugtwird (Benz, 1985; Renzsch, 1995).

3 Grenzen der Politikverflechtung

Freilich steht diese Handlungsfähigkeit unter zwei Re-striktionen. Die Bund-Länder-Politikverflechtung stößt,wie alle Verhandlungssysteme, auf erhebliche Schwierig-keiten bei der Regelung von Verteilungsfragen. Eine Ei-nigung ist zwar in der Regel möglich, wenn entweder Be-sitzstände gewahrt oder wenigstens die Gleichbehand-lung aller Beteiligten gesichert werden kann (Renzsch,1991). Wenn aber sachgerechte Lösungen nur durchUmverteilung zwischen den Ländern erreicht werdenkönnten, tendiert die Politikverflechtung zur Selbstblok-kade. Die zweite Restriktion wurde schon erwähnt. Sieentsteht unter Bedingungen des divided government (wie siesich unter anderen konstitutionellen Bedingungen auch in

den USA, in Australien oder in Frankreich (unter Bedin-gungen der cohabitation)1 ergeben können. Hier wie dortreicht es jedoch nicht, daß die parteipolitischen Orientie-rungen beider Kammern (oder die des Präsidenten unddes Parlaments) voneinander abweichen. Dies allein ließeimmer noch produktive Kompromisse zu, bei denen jedeSeite eigene Erfolge verbuchen (und öffentlich präsentie-ren) könnte. Das Verhandlungssystem verliert seine Funk-tionsfähigkeit erst, wenn eine zwischen Bundesregierungund Bundesratsmehrheit strittige Frage zum Gegenstanddes öffentlich ausgetragenen Machtkampfes zwischenRegierung und Opposition wird. Dann geht es auf bei-den Seiten nicht mehr um bessere oder weniger guteLösungen in der Sache, sondern nur noch um Sieg oderNiederlage � die andere Seite in den Augen ihrer Anhän-ger zu demütigen oder sie in den Augen der Wähler alshandlungsunfähig erscheinen zu lassen (Scharpf, 1997;1998). Das Ergebnis sind übrigens keineswegs immerPolitikblockaden � je nach den Umständen des Falles kannes auch hier zur populistischen Überbietungskonkurrenzkommen, wie sie etwa für die Kostenexplosion im Ge-sundheitswesen Anfang der siebziger Jahre verantwort-lich war.

Die deutsche Politikverflechtung hat also eindeutigeSchwächen � aber solche Schwächen haben auch andereVerfassungssysteme. Das britische Westminster-Systemhat schließlich nicht nur die in manchen Bereichen höchsteffektive Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik derachtziger Jahre ermöglicht, sondern auch die Stop-and-Go-Politik der fünfziger und sechziger Jahre, die Groß-britannien zum kranken Mann Europas gemacht haben,und die totale Handlungsunfähigkeit der siebziger Jahre,

1 In der Praxis werden mögliche Konflikte dadurch weitgehendvermieden, daß der Präsident (der bei parteipolitisch gleichge-richteten Regierungen an allen wichtigen Entscheidungen betei-ligt ist) sich im Verhältnis zu politisch divergierenden Regierun-gen im wesentlichen auf seine außenpolitischen Kompetenzenbeschränkt.

Page 28: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

28

die erst den Erfolg von Margaret Thatcher ermöglichte(Scharpf, 1987). Neuseeland hat zwar mit dem britischenWestminstersystem besonders radikale neo-liberale Refor-men durchgesetzt, aber unmittelbar danach eine Verfas-sungsänderung beschlossen, die mit dem Verhältniswahl-recht auch den Zwang zur Bildung von Koalitionsregie-rungen einführte. Das heute so hoch gelobte holländischeVielparteien-Verhandlungssystem mußte das Land erst indie tiefe Krise der siebziger und frühen achtziger Jahrestürzen, ehe Parteien und Gewerkschaften dann die Feh-ler korrigieren und die Bedingungen für den Wiederauf-stieg in den neunziger Jahren schaffen konnten (Visser/Hemerijck, 1998). Die Präsidialverfassung der Vereinig-ten Staaten schließlich ist mindestens so für politischeBlockaden anfällig wie die deutsche Politikverflechtung,und die USA verdanken ihren wirtschaftlichen Erfolg nachden tiefen Krisen der achtziger Jahre gewiß nicht einerbesonders handlungsfähigen staatlichen Politik.

Kurz: Der internationale Vergleich rechtfertigt kaumdie Hoffnung, daß mit einer Verfassungsänderung unseregegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme zu beseitigenwären. Die Staaten, die derzeit besser abschneiden als wir,haben ihre Erfolge unter Verfassungsbedingungen er-reicht, die nicht offensichtlich weniger schwierig warenals die unseren. Umgekehrt ist ja auch die deutsche Poli-tikverflechtung in der Vergangenheit recht erfolgreichgewesen. Sie hat weder das Wirtschaftswunder der fünf-ziger und frühen sechziger Jahre verhindert, noch standsie der brillanten Bewältigung der Rezession von 1965/66 im Wege. Selbst in der ersten großen Nachkriegskriseder siebziger Jahre hat sich das �Modell Deutschland�recht ordentlich bewährt; und auch in der zweiten Hälfteder achtziger Jahre hätten die meisten Länder, die unsheute als Vorbild vorgehalten werden, gerne mit uns ge-tauscht. Kurz, der �semisouveräne Staat� der Bundesre-publik hat bis in die neunziger Jahre hinein im internatio-nalen Vergleich keineswegs schlecht abgeschnitten (Kat-zenstein, 1987).

3 Chancen der institutionellen Reform

Das soll nicht heißen, daß der Zustand unserer politi-schen Institutionen mit der Malaise der neunziger Jahrenichts zu tun hatte, oder daß die Schwierigkeiten nun raschverschwinden würden, weil jetzt wenigstens für eine Wei-le der parteipolitische Konflikt zwischen den Mehrheitenin Bundestag und Bundesrat wieder ausgeschaltet ist. Erstrecht will ich nicht behaupten, daß Verfassungsänderun-gen nichts bewirken könnten. In Frankreich hat der Über-gang von der Vierten zur Fünften Republik die Hand-lungsfähigkeit des Staates wesentlich gesteigert, und auchder dramatische Kurswechsel der italienischen Politik, derentgegen allen Erwartungen die Erfüllung der Maastricht-Kriterien ermöglichte, hat gewiß auch mit dem Über-gang zu einem die Reorganisation des Parteiensystemsbegünstigenden Wahlrecht zu tun. Aber wenn man überinstitutionelle Reformen diskutiert, dann sind mindestenszwei Kriterien zu beachten: Die Vorschläge müssen aufeine zutreffende Diagnose des Zusammenhangs zwischenden Erfordernissen der sachlichen Politik und den diesenentgegenstehenden institutionellen Hindernissen gegrün-det werden; und noch wichtiger: die Vorschläge müssenim Prinzip innerhalb der gegebenen institutionellen Struk-tur und mit den darin handelnden Akteuren realisierbarsein. Alles andere wäre eine Vergeudung knapper politi-scher Energie.

1 Was man gar nicht versuchen sollte

In Neuseeland wurde die Abkehr vom Mehrheitswahl-recht durch ein Referendum beschlossen. Bei uns dage-gen könnte die von mancher Seite geforderte Einführungdes Mehrheitswahlrechts durch einfaches Gesetz beschlos-sen werden � aber wer würde darauf setzen, daß dieUnion der FDP und die Sozialdemokraten den Grünenein Todesurteil ausstellen werden? Alle anderen Reform-vorschläge bedürfen einer Verfassungsänderung, dieZweidrittelmehrheiten nicht nur im Bundestag, sondernauch in der Länderkammer erfordert. Das bedeutet, daß

Fritz W. ScharpfFöderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern?

Page 29: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

29

alle Vorschläge, die auf eine generelle Entmachtung desBundesrats hinauslaufen, von vornherein keine Chancehaben. Die Politikverflechtungsfalle (Scharpf, 1985)schließt es aus, daß einmal institutionalisierte Mitwirkungs-rechte den Ländern ohne gleichwertige Kompensationwieder genommen werden könnten. Das bedeutet auch,daß in wichtigen Politikbereichen die Bedingungen desdivided government in Zukunft immer wieder auftreten kön-nen. Sie können nicht verhindert, sondern nur dadurchentschärft werden, daß Regierung und Opposition beiden für das Gemeinwesen besonders wichtigen Fragenden parteipolitischen Konflikt auf Zeit still stellen. Diesist in der alten Bundesrepublik immer wieder gelungen,und man müßte es in der Tat als einen Kunstfehler derBeteiligten � insbesondere der Regierung � anprangern,wenn ein ernsthafter Versuch dieser Art scheitern sollte.Daß dabei die Opposition nicht zur Kapitulation gezwun-gen werden könnte, und daß deshalb das Programm derRegierung allfällige �Konsensgespräche� nicht unverän-dert überstehen kann, sollte freilich selbstverständlich sein.Wenn zwei politisch gegeneinander konkurrierende La-ger sich einigen sollen, muß jede Seite das Ergebnis ihrenAnhängern als einen wenigstens partiellen Erfolg präsen-tieren können.

Aber diese insgesamt skeptische Einschätzung derChancen von Verfassungsreformen schließt institutionel-le Veränderungen keineswegs aus. Jedoch müssen diesÄnderungen sein, die allen Seiten � Bund und Ländern,der jeweiligen Regierung und der jeweiligen Opposition� plausible Vorteile gegenüber dem derzeitigen Status quobieten können. Solche sollte es in der Tat geben, wennman die allseitigen Klagen über die Nachteile der Politik-verflechtung bedenkt.

2 Was vielleicht möglich wäre

In der Diskussion um die Möglichkeiten einer Ent-flechtung zwischen Bundespolitik und Landespolitik sinddrei Bereiche zu unterscheiden, in denen die Reformchan-cen sehr unterschiedlich einzuschätzen sind:

� der Abbau der Politikverflechtung im engeren Sinne,also der Gemeinschaftsaufgaben und der Finanzhil-fen entsprechend Art. 104a Abs. 4 GG;

� die (partielle) Rückkehr vom System der Gemein-schaftssteuern zu einem Trennsystem, und die Rück-verlagerung der Gesetzgebungskompetenz über dieSteuern, deren Aufkommen den Ländern zufließt, aufdie Länder; und

� die Rückverlagerung von Gesetzgebungskompeten-zen auf die Länder.

Von diesen drei Möglichkeiten könnte die erste, sosollte man denken, am leichtesten Zustimmung finden.Die Mischfinanzierung stand schon in den letzten Jahrender sozialliberalen Koalition im Feuer der politischenKritik; und ebenso wie Helmut Schmidt (Schmidt, 1980)hat auch Helmut Kohl ernsthaft versucht, sie zurückzu-drängen. Viel Erfolg hatten freilich beide nicht damit.Inzwischen sind einige der Fördertatbestände � insbeson-dere unter dem Druck der europäischen Subventions-kontrolle � in Westdeutschland so eingeschränkt worden,daß nun vielleicht eher die Chance bestünde, die durchBund-Länder-Programme definierte Förderung auf dieostdeutschen Länder zu beschränken, und sie dort in denvertikalen Finanzausgleich einzubauen.

Dies scheint jedenfalls für die regionale Wirtschafts-förderung und für die Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 4GG plausibel. Ob es auch für die Gemeinschaftsaufgabeder Hochschulbauförderung gilt, hängt in hohem Maßevon den überfälligen Reformen der Hochschulpolitik undder Hochschulfinanzierung ab, auf deren Optionen undChancen ich hier nicht näher eingehen kann. Wenn es etwanach holländischem Vorbild zu einer an der Studenten-zahl (oder der Zahl erfolgreich abgelegter Abschlußex-amen) orientierten Finanzierung käme, und wenn danndie Kopfquote für den einzelnen Studenten jeweils vondessen Heimatland aufzubringen wäre, so könnten auchkleine Länder wie das Saarland und Bremen eine eigeneUniversität betreiben, sofern diese nur für Studenten ausanderen Ländern attraktiv genug ist. In diesem Falle wür-

Page 30: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

30

de die Gemeinschaftsfinanzierung des Hochschulbausüberflüssig. Ähnliches gälte bei einer Einführung kosten-deckender Studiengebühren (die selbstverständlich durchein Stipendienprogramm ergänzt werden müßten). Abervon solchen Lösungen sind wir ja noch weit entfernt.

Noch größere Schwierigkeiten wären wohl bei einerAbschaffung der Gemeinschaftsaufgabe �Verbesserungder Agrarstruktur� zu erwarten, weil hier die Strukturun-terschiede zwischen den norddeutschen und den süddeut-schen, und erst recht die zwischen den ostdeutschen undden westdeutschen Agrarländern eine schematische Lö-sung über den Finanzausgleich kaum zulassen. Erst rechtgilt dies, wenn es entsprechend den Vorschlägen der Eu-ropäischen Kommission in Vorbereitung der EU-Oster-weiterung zu einer weitgehenden Renationalisierung derAgrarförderung käme.

Insgesamt aber kann im Bereich der Mischfinanzie-rung durchaus mit einer gewissen Bereitschaft zur Ent-flechtung nicht nur im Bund, sondern auch in den Län-dern gerechnet werden. Die Schwierigkeiten liegen hiereher im Detail als im Grundsätzlichen, und ich halte esdeshalb auch nicht für ausgeschlossen, daß eine auf die-ses Thema angesetzte Bund-Länder-Kommission prakti-kable und auch konsensfähige Lösungen entwickeln könn-te. Das Vorbild der Troeger-Kommission, deren Vor-schläge in den sechziger Jahren die Perfektionierung derPolitikverflechtung erreichten (Kommission für die Fi-nanzreform, 1966), sollte unter den veränderten Verhält-nissen am Ende der neunziger Jahre eher ermutigen alsabschrecken.

4 Vom Steuerverbund zum Trennsystem?

Sehr viel skeptischer sind die Erfolgschancen vonVorschlägen zur Entflechtung des Steuersystems einzu-schätzen. Vorab ist dazu festzustellen: Die Diskussionüber eine Rückkehr vom Steuerverbund zum Trennsy-stem wäre überhaupt nicht sinnvoll, wenn nicht zuvoroder zugleich auch das geltende System des Finanzaus-

gleichs so verändert würde, daß der Grenznutzen einerErhöhung oder Senkung des Aufkommens an Landes-steuern für das betreffende Land in erheblichem Maßezu Buche schlägt. Ohne diese Veränderung würde dieRückverlagerung der Kompetenz zur Festsetzung vonSteuersätzen auf die Länder lediglich einen ruinösen Steu-ersenkungswettlauf zwischen diesen auslösen, weil sie aufdiese Weise die Attraktivität des eigenen Standorts fürUnternehmen und andere Steuerzahler auf Kosten allerübrigen Länder verbessern könnten. Das heißt aber, daßdie hohe Hürde einer Reform des Finanzausgleichs ge-nommen werden muß, ehe es sich überhaupt lohnt, überdie Entflechtung des Steuersystems zu verhandeln.

Wenn jedoch ein geänderter Finanzausgleich die Vor-aussetzungen für eine eigenständige Steuerpolitik der Län-der geschaffen hätte, dann hinge die Attraktivität desTrennsystems aus der Sicht der Länder wie aus gesamt-staatlicher Perspektive in hohem Maße davon ab, welcheAufgaben und welche Steuern dann der Entscheidung desLandesgesetzgebers unterstellt werden sollen. Im Prinzipkann man sich hier durchaus an den Maximen orientie-ren, welche in der ökonomischen Theorie des Föderalis-mus entwickelt und im Beitrag von van Suntum (1999)dargestellt worden sind. Grundlegend ist hier die Maxi-me der fiskalischen Äquivalenz, derzufolge (1) Aufgaben-und Finanzierungszuständigkeiten nicht voneinander ge-trennt und (2) in der territorialen Gliederung so weit wiemöglich dezentralisiert werden sollen � vorausgesetzt,daß (3) die relevanten Effekte politischer Entscheidun-gen noch innerhalb der betreffenden Jurisdiktion interna-lisiert werden können.

Es liegt auf der Hand, daß die Konkretisierung dieserMaximen in hohem Maße sowohl von den realen Ver-hältnissen als auch von politischen Werturteilen abhängigist. Generell läßt sich allenfalls sagen, daß Umverteilungs-aufgaben (vorausgesetzt, sie sind politisch gewollt) im-mer auf der Ebene lokalisiert werden müssen, auf wel-cher der Gleichheitsanspruch definiert wird. Bezieht die-ser sich auf �alle Deutschen�, so müßte beispielsweiseder Bundesgesetzgeber die Sozialhilfe regeln und finan-

Fritz W. ScharpfFöderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern?

Page 31: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

31

zieren, während Regelungs- und Finanzierungskompeten-zen auf Landes- oder kommunaler Ebene nur dann ver-tretbar wären, wenn man (wie offenbar in Italien) dieMindestsicherung als eine Angelegenheit der lokalen Soli-darität definiert. Da es hier um normative Vorentschei-dungen geht, kann die ökonomische Theorie hier nur kri-tisieren, daß in Deutschland die Konnexität zwischenAufgaben- und Finanzierungszuständigkeiten bei der So-zialhilfe eklatant verletzt wird � eine Verletzung, die nurdeshalb erträglich bleibt, weil die deutschen Kommunenund Länder ja über Steuerverbund, Mischfinanzierungund Finanzausgleich am gesamtstaatlichen Finanzaufkom-men unter stark egalisierenden Kriterien partizipieren.Wollte man diesen Finanzierungsverbund jedoch entflech-ten, dann müßten in der Tat alle Kosten der Sozialhilfevom Bund getragen werden � und man verlöre damitden fiskalischen Anreiz zur sparsamen Mittelverwendungauf der lokalen Ebene.

Den Ländern und Gemeinden blieben dann in derTheorie nur noch jene allokativen Aufgaben, die ohneerhebliche Externalitäten den Haushalten und Unterneh-men innerhalb der eigenen Jurisdiktion zugute kämen. Fürderen Finanzierung könnte man ihnen dann den Zugriffauf alle jene Steuerarten eröffnen, die als Gegenleistungfür die Inanspruchnahme lokaler und regionaler öffentli-cher Einrichtungen und Dienstleistungen verstanden wer-den können. Neben den leistungsabhängigen Gebührenim engeren Sinne wären dies in erster Linie Steuern aufdie lokal in Anspruch genommenen Produktionsfakto-ren2 und die lokal erwirtschafteten Einkommen und Ge-winne der Haushalte und Unternehmen.

Freilich werden bei dieser abstrakt-theoretischen Be-trachtung zwei wichtige Umstände vernachlässigt: Auchwenn die Länder und Gemeinden nur noch allokativeAufgaben wahrzunehmen hätten (was derzeit ja keines-

wegs der Fall ist), ergäben sich erhebliche Probleme ausden Unterschieden ihrer anfänglichen Ausstattung und derjeweils zu bewältigenden Aufgaben. Im Ergebnis müß-ten deshalb die bisher weniger attraktiven Standorte (etwadie ostdeutschen Länder) wesentlich höhere Steuern er-heben, welche aber ihre Attraktivität für private Investo-ren weiter vermindern müßten. Die Folge eines mit denMitteln der Steuerpolitik betriebenen Standortwettbe-werbs wäre also die progressive Verelendung der anfäng-lich weniger gut ausgestatteten Standorte � ein Ergebnis,das politisch nicht konsensfähig wäre, und das auch Wohl-fahrtsökonomen nicht befriedigen könnte.

Zum zweiten haben fast alle für die Standortkonkur-renz relevanten Angebote der Länder und Kommunen �so etwa das Vorhandensein einer leistungsfähigen Ver-kehrs- und Kommunikations-Infrastruktur und qualifi-zierter Forschungs- und Bildungseinrichtungen � nichtnur den Charakter von öffentlichen Gütern, sondern auchFixkosten-Eigenschaften. Deshalb ist es nicht nur für daseinzelne Unternehmen rational, alle Möglichkeiten derSteuervermeidung zu nutzen, sondern es ist auch für daseinzelne Land rational, in der Konkurrenz um mobileUnternehmen den �Steuerpreis� unter die durchschnittli-chen Produktionskosten der von den Unternehmen ge-nutzten Standortvorteile zu senken. Kurz: Wenn die Stand-ortkonkurrenz mit den Mitteln des Steuerwettbewerbsausgetragen werden muß, entsteht die Gefahr einer wohl-fahrtsschädlichen �ruinösen Konkurrenz� zwischen denLändern. In der Tendenz käme es deshalb zu einer Verla-gerung der Finanzierungslast von den mobilen auf dieimmobilen Steuerquellen und damit zu einer wohlfahrts-theoretisch ungerechtfertigten Subventionierung der In-anspruchnahme öffentlicher Einrichtungen durch mobileInvestoren, Unternehmen und Steuerzahler.

Die mit dem Trennprinzip implizierte Steuerkonkur-renz der unteren Gebietskörperschaften erzeugt demnachProbleme, für die auch in der Theorie einfache und si-chere Lösungen jedenfalls nicht offensichtlich sind. Mankann also immerhin verstehen, weshalb die Landespoliti-ker aller Parteien auf gutgemeinte Empfehlungen zur

2 Bei einer Rückkehr zum Trennprinzip müßte man also durchausauch die Wiedereinführung der Gewerbe-Kapitalsteuer in Be-tracht ziehen.

Page 32: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

32

Wiederherstellung des Trennprinzips, oder auch nur zurEinführung von Hebesätzen der Länder und Kommu-nen bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer, bisherüberhaupt nicht eingegangen sind. Da aber ohne die Zu-stimmung der Landesregierungen die Finanzverfassungnicht geändert werden kann, müßten allfällige Reform-vorschläge sich sehr viel intensiver als bisher mit den Fol-geproblemen der Steuerkonkurrenz und mit den Mög-lichkeiten ihrer Vermeidung befassen, wenn sie die Skep-sis der Landespolitiker überwinden wollen.

Ebenso wichtig wäre überdies die klarere Identifikati-on des vermuteten Nutzens der Steuerkonkurrenz. In derderzeitigen Diskussion wird oft der Eindruck vermittelt,daß davon die Motivation der Landesregierungen undKommunalverwaltungen für eine effektive Wirtschafts-förderung abhinge. Dies ist unrealistisch. Der FreistaatBayern hat sich weder durch den Steuerverbund nochdurch den jahrzehntelangen Empfang großzügiger Aus-gleichsleistungen im vertikalen und horizontalen Finanz-ausgleich von einer wirtschaftsfreundlichen Standortpoli-tik abhalten lassen, die ihn über mehrere Jahrzehnte hin-weg vom unteren Ende an die Spitze des Länderver-gleichs gebracht hat. Ähnliches gilt für Nordrhein-West-falen, das der Strukturkrise in der Montanindustrie ja auchnicht tatenlos zugesehen hat, obwohl es dann höhere Aus-gleichszahlungen hätte erwarten können. Wenn andereLänder weniger eindrucksvolle Erfolge erzielten, dannkaum deshalb, weil ihnen ohne den Steuerwettbewerb derAnreiz dazu gefehlt hätte.

Im Gegenteil: Im Vergleich zu Bundesstaaten mit Steu-erwettbewerb und ohne Finanzausgleich � etwa den Ver-einigten Staaten oder der Schweiz � waren die interregio-nalen Unterschiede der Wirtschaftskraft oder der Durch-schnittseinkommen in der �alten� Bundesrepublik weit-aus geringer. Die Länder haben also die gleichmäßigereFinanzausstattung durchaus dazu genutzt, ihre Wirtschaftaktiv zu fördern. Der Grund liegt auf der Hand: Andersals manche Ökonomen offenbar unterstellen, brauchendie Landesregierungen nicht die Peitsche des Steuerwett-bewerbs, um sich um das wirtschaftliche Wohlergehen

ihres Landes zu kümmern. Die Konkurrenz, welche dieLandes- und Kommunalpolitik antreibt, geht nicht umhöhere Steuereinnahmen, sondern um Wählerstimmen �und solange die Wähler sich für Arbeitslosigkeit, Beschäf-tigung und Einkommen interessieren, müssen die Lan-des- und Kommunalpolitiker sich auch um die Interessender Unternehmen und die Qualität der wirtschaftsdienli-chen Leistungen und Einrichtungen des Standorts küm-mern. Kurz: Der von den Ökonomen als Zentralpro-blem definierte Steuerwettbewerb erscheint mir eher alsein non-issue, dessen Diskussion von den Hauptproblemendes deutschen Föderalismus ablenkt.

5 Wichtig sind die Gesetzgebungs-kompetenzen der Länder

Aber was wären denn die Hauptprobleme, wenn dieBlockade der Bundespolitik und die Ausschaltung desSteuerwettbewerbs zwischen den Ländern nicht dazugerechnet werden sollen? Sie liegen, so denke ich, in derBeschränkung des legislativen Handlungsspielraums derdeutschen Länder. Gewiß, die Länder haben freiwillig ander Ausweitung der Gesetzgebungskompetenzen desBundes mitgewirkt und diese sogar aktiv betrieben. Aberdies geschah zu einer Zeit, da die �Rechtseinheit� im ein-heitlichen �Wirtschaftsgebiet� noch eine erhebliche öko-nomische Bedeutung hatte. Sie sicherte gleiche Wettbe-werbsbedingungen für alle in unmittelbarer Konkurrenzmiteinander stehenden Produzenten, weil diese im Inlandunter den gleichen rechtlichen Auflagen produzieren muß-ten, und weil auch ausländische Anbieter sich auf demdeutschen Markt an die durch die nationale Gesetzge-bung definierten Normen zu halten hatten. Inzwischenaber haben sich die Verhältnisse in doppelter Weise ver-ändert.

Das für die Entscheidungen der Unternehmen maß-gebliche Wirtschaftsgebiet ist nicht mehr die nationaleÖkonomie, sondern der europäische Binnenmarkt. So-fern man dort einheitliche Normen für wünschenswert

Fritz W. ScharpfFöderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern?

Page 33: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

33

erachtet, werden sie nun auf europäischer Ebene defi-niert. Im übrigen aber herrscht in Europa der Grundsatzder �wechselseitigen Anerkennung� mit der Folge, daßalle Produkte, die im Ursprungsland legal produziert undvertrieben werden, auch auf dem deutschen Markt zuge-lassen werden müssen. Insofern kann also die nationaleGesetzgebung die Gleichheit der Wettbewerbsbedingun-gen nicht mehr sichern. Statt dessen konkurrieren nun aufdem europäischen Binnenmarkt und auf dem deutschenMarkt Produkte gegeneinander, die unter höchstunterschiedlichen rechtlichen Standortbedingungen pro-duziert worden sind (Scharpf, 1998a; 1999).

Zugleich hat aber im Zuge der Europäisierung undGlobalisierung der Wirtschaft die Intensität des Wettbe-werbs auf den Märkten für Güter und Dienstleistungenerheblich zugenommen � mit der Folge, daß auch diejeweiligen Standortbedingungen für die Wettbewerbsfä-higkeit der Unternehmen wesentlich wichtiger gewordensind. Unter diesen Standortbedingungen spielt das Ni-veau der Unternehmens- und Gewinnsteuern gewiß eineRolle, aber auf den Druck des internationalen Steuerwett-bewerbs kann die nationale Politik � wie das Beispiel an-derer unitarischer und anderer föderaler Staaten zeigt �durchaus in angemessener Weise reagieren. Dafür brauchtes keine Dezentralisierung der Steuerkompetenzen.

Im übrigen aber verlangt die Integration der interna-tionalen Märkte von den Anbietern in den Hochkosten-ländern eine immer stärkere Spezialisierung � mit derFolge, daß auch die sektorale und regionale Differenzie-rung der für die Wettbewerbsfähigkeit ausschlaggeben-den komparativen Vorteile erheblich an Bedeutung ge-wonnen hat. In kleineren Ländern mit einer einfachenProduktionsstruktur können diese durch die Politik dernationalen Regierung gezielt verbessert werden. In einemso großen und ökonomisch diversifizierten Land wie derBundesrepublik dagegen muß die sektorale und regiona-le Differenzierung der maßgeblichen komparativen Vor-teile durch die Politik der Sozialpartner und durch dieLandespolitik geleistet werden. Deren wichtigste Instru-mente waren bisher (trotz der Fesseln der Politikverflech-

tung und der europäischen Subventionskontrolle) die re-gionale Wirtschaftsförderung, die Infrastrukturpolitik, dieBildungs- und Weiterbildungspolitik und die Innovations-politik, die � wie die Erfolge Bayerns und Nordrhein-Westfalens ja zeigen � durchaus die internationale Wett-bewerbsfähigkeit regional höchst verschiedenartigerStandorte steigern können.

Die Frage ist allerdings, ob unter den heutigen Bedin-gungen die fiskalischen und administrativen Handlungs-spielräume der Länder allein noch ausreichen, um durchregionale Differenzierung des Mitteleinsatzes und desVerwaltungshandelns die Wettbewerbsfähigkeit der Un-ternehmen zu sichern, oder ob dafür auch die Möglich-keiten der rechtlichen Differenzierung erweitert werdenmüssen. Dafür spricht die Tatsache, daß es im internatio-nalen Vergleich kaum ein anderes Land gibt, in dem dieVerrechtlichung des Verwaltungshandelns so weit getrie-ben wurde wie in Deutschland. Überdies macht die Ab-hängigkeit des Bundesgesetzgebers (und des Bundesver-ordnungsgebers) von der Zustimmung des Bundesratsnicht nur allfällige Gesetzesänderungen, sondern insbe-sondere auch Versuche einer Deregulierung außerordent-lich schwierig. Das Bundesrecht kann also auf neue Sach-lagen oder geänderte Präferenzen nur sehr schwerfälligreagieren.

Gewiß: Wir verfügen auch über eine kompetente undintegere Verwaltung, die in der Lage ist, mit Rechtsnor-men pragmatisch und wirtschaftsfreundlich umzugehen� aber in vielen Bereichen liegt die sachliche Entschei-dung ja gar nicht bei den Verwaltungsbehörden, sondernbei den Verwaltungsgerichten, die gänzlich unbeeinflußtvom ökonomischen Erfolgszwang der Landesregierungihre Entscheidungen ausschließlich nach rechtlichen Kri-terien treffen. Das Recht, das sie anzuwenden haben, istaber in fast allen Fällen bundeseinheitliches Recht, das aufregional und sektoral unterschiedliche Problemlagen oderPräferenzen kaum Rücksicht nehmen kann. Dabei haben,wie gesagt, die Länder in der Vergangenheit eifrig mitge-wirkt � aber damals konnte die Rechtseinheit noch Schutzvor der Standortkonkurrenz bieten. Heute dagegen wer-

Page 34: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

34

den die Probleme, die standortübergreifend geregelt wer-den können, auf der europäischen Ebene geregelt, wäh-rend das einheitliche deutsche Recht immer mehr zur Fes-sel einer effektiven Standortpolitik der Länder wird.

Wenn man daran etwas ändern wollte, müßte man denKatalog der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzendurchforsten, um nach Materien zu suchen, deren Rück-übertragung auf den Landesgesetzgeber zu fordern wäre.Dafür böte sich im gegenwärtigen Zusammenhang insbe-sondere das �Recht der Wirtschaft� (Art. 74, Ziff. 11 GG)an, also das Recht von �Bergbau, Industrie, Energiewirt-schaft, Handwerk, Gewerbe, Handel, Bank- und Börsen-wesen, privatrechtliches Versicherungswesen�. Freilich zeigtschon diese Auflistung, wie problematisch eine pauschaleRückübertragung ganzer Kompetenzblöcke erscheinenmüßte. Dies illustriert etwa die 1993 auf Vorschlag derGemeinsamen Verfassungskommission beschlossene Mini-Reform, nach der nun ein Bundesgesetz bestimmen könn-te, �daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Er-forderlichkeit ... nicht mehr besteht, durch Landesrecht er-setzt werden kann� (Art. 72 Abs. 3 GG). Selbst dem Frei-staat Bayern sind zu dieser Option bisher nur wenige undeher triviale Vorschläge eingefallen.

Dies kann auch gar nicht anders sein, wenn der Bun-desgesetzgeber ohne besonderen Anlaß ganze Regelungs-bereiche an die Länder zurückgeben soll. Allein die Un-gewißheit über die künftigen Implikationen eines derartpauschalen Kompetenzverzichts muß die Bedenken imBundestag maximieren. Sehr viel praktikabler erschienedagegen ein Vorschlag, der im Bericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform von 1977 in einem Son-dervotum von Senator Dr. Heinsen so formuliert wurde(Enquete-Kommision, 1977, S. 76):

�Abweichend von Artikel 72 Abs. 1 können die Län-der im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebungeine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetzersetzen oder ergänzen, wenn nicht der Bundestag in-nerhalb von drei Monaten nach Zuleitung Einsprucherhebt.�

Der Vorschlag könnte auf die Rahmengesetzgebungerweitert und überdies durch den Zusatz ergänzt wer-den, daß der Einspruch des Bundestages nur dann Be-stand hat, wenn das Landesgesetz im Widerspruch stehtzu den (nunmehr ja justiziablen) Erfordernissen des Arti-kels 72 Abs. 2 GG (�wenn und soweit die Herstellunggleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oderdie Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen In-teresse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlichmacht�).

Käme es zu einer solchen Verfassungsreform, die ge-wiß nicht am Widerstand des Bundesrats scheitern wür-de, dann wären wir auf dem Wege zu einem innovati-onsfreundlichen Wettbewerbsföderalismus ein gutes Stückvoran gekommen. Dann läge es an den einzelnen Land-tagen und Landesregierungen, je für sich jene Aufgaben-bereiche zu identifizieren, in denen nach ihrer politischenÜberzeugung das einheitliche Bundesrecht die standort-bezogenen Gestaltungsmöglichkeiten zu sehr einengt, undjene landesgesetzlichen Regeln zu definieren, welche dieinternationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes fördernkönnten. Dann endlich könnte Nordrhein-Westfalen, ohneauf die anderen Länder warten zu müssen, die Hand-werksordnung liberalisieren; Hamburg und Berlin könn-ten, wenn sie denn wollten, den Ladenschluß ganz außerKraft setzen; Baden-Württemberg könnte den Kündi-gungsschutz auch für größere Unternehmen beseitigen;und Bayern könnte seine Universitäten entweder privati-sieren oder deren Finanzierung über kostendeckende Stu-diengebühren, verbunden mit sozial gestaffelten Vouchersund Unterhalts-Stipendien für begabte Landeskinder, si-cherstellen.3

3 Das Beispiel zeigt freilich, daß auch die Gesetzgebungs-Konkur-renz Anpassungszwänge für die anderen Länder erzeugt. WennBayern allein Studiengebühren einführte, müßten die auf Stu-dier-Freiheit bestehenden Länder Vorkehrungen gegen die �So-zialwanderung� bayrischer Studenten treffen; wenn Bayern sei-ne �Landeskinder� privilegieren dürfte, bräuchte es gemeinsameRegeln über die Definition der �Landes-Angehörigkeit�.

Fritz W. ScharpfFöderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern?

Page 35: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

35

Der Bundestag hätte in jedem Fall nur zu prüfen, obdurch solche Sonderregelungen die Gleichwertigkeit derLebensverhältnisse oder gesamtstaatliche Interessen ver-letzt werden. Wo immer diese Prüfung nicht negativ aus-fiele, hätte der deutsche Föderalismus eine neue Experi-mentierfähigkeit und neue Chancen des policy learning ge-wonnen. Im Prinzip könnten dann die deutschen Länderebenso nach eigenständigen Lösungen für ihre jeweiligenökonomischen Probleme suchen, wie dies heute nur denkleineren Nationalstaaten � Dänemark etwa oder denNiederlanden � möglich ist. Je nach dem Ausgang ihrerExperimente wäre dann entweder mit einer baldigenRevision, oder aber mit Imitation durch die anderen Län-der zu rechnen. Der Zugewinn an flexibler Problemlö-sungsfähigkeit könnte erheblich sein.

Im Vergleich zur Abschaffung des Finanzausgleichsoder zur Beseitigung des Steuerverbundes würde eineExperimentierklausel zugunsten eigenständiger landesge-setzlicher Regelungen im Bereich der konkurrierenden undRahmen-Kompetenzen des Bundes den Interessen derLandtage weit entgegenkommen und die Interessen derLandesregierungen jedenfalls nicht verletzen. Widerstandim Bundesrat wäre also kaum zu erwarten. Ob freilicheine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für eine derartigeLiberalisierung und Dezentralisierung der Gesetzgebungs-kompetenzen gewonnen werden könnte, steht auf einemanderen Blatt. Jedenfalls würde es sich lohnen, die fürVerfassungsreformen überhaupt verfügbaren politischenund publizistischen Energien auf diese insgesamt prakti-kable und erfolgversprechende Variante zu konzentrie-ren.

Literatur

Benz, Arthur (1985): Föderalismus als dynamisches System. Zentra-lisierung und Dezentralisierung im föderativen Staat. Opladen:Westdeutscher Verlag.

Bundesrat (Hg.) (1989): Vierzig Jahre Bundesrat. Tagungsband zumwissenschaftlichen Symposion in der Evangelischen AkademieTutzing vom 11. bis 14. April 1989. Baden-Baden: Nomos.

Czada, Roland/Manfred G. Schmidt (Hg.) (1993): Verhandlungsdemo-kratie, Interessenvermittlung, Regierbarkeit. Festschrift für Ger-hard Lehmbruch. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Enquete-Kommission (1977): Beratungen und Empfehlungen zurVerfassungsreform. Schlußbericht der Enquete-KommissionVerfassungsreform des Deutschen Bundestags. Teil II: Bund undLänder. Zur Sache 2/77. Bonn: Presse- und Informationszen-trum des Deutschen Bundestages.

Grande, Edgar (1995): Forschungspolitik in der Politikverflechtungs-Falle? Institutionelle Strukturen, Konfliktdimensionen und Ver-handlungslogiken europäischer Forschungs- und Technologiepo-litik. In: Politische Vierteljahresschrift 36, S. 460-483.

Große-Sender, Heinrich A. (Hg.) (1990): Kommission Erhaltung undFortentwicklung der bundesstaatlichen Ordnung innerhalb derBundesrepublik Deutschland � auch in einem Vereinten Europa.Bericht. Teil Eins. Düsseldorf: Landtag Nordrhein-Westfalen.

Hohn, Hans-Willy/Uwe Schimank (1990): Konflikte und Gleichge-wichte im Forschungssystem. Akteurkonstellationen und Ent-wicklungspfade in der staatlich finanzierten außeruniversitärenForschung. Frankfurt/Main: Campus.

Institut für Europäische Politik (1992): Die Landtage im Integrati-onsprozeß nach Maastricht. Vorschläge für eine Stärkung dereuropapolitischen Rolle. Gutachten für den Landtag von Nord-rhein-Westfalen. Düsseldorf: Landtag Nordrhein-Westfalen.

Katzenstein, Peter J. (1987): Policy and Politics in West Germany.The Growth of a Semisovereign State. Philadelphia: TempleUniversity Press.

Kommission für die Finanzreform (1966): Gutachten über die Fi-nanzreform in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart:Kohlhammer.

Kremer, Harry Andreas (Hg.) (1988): Die Landesparlamente im Span-nungsfeld zwischen europäischer Integration und europäischemRegionalismus. Referate und Diskussionsbeiträge eines Sympo-siums des Bayerischen Landtags am 9./10. Juni 1988 in Mün-chen. München: Bayerischer Landtag.

Lehmbruch, Gerhard (1998): Parteienwettbewerb im Bundesstaat.Stuttgart: Kohlhammer 1976 (2., erweiterte Auflage. Opladen:Westdeutscher Verlag).

Lijphart, Arend (1984): Democracies. Patterns of Majoritarian andConsensus Government in Twenty-One Countries. New Haven:Yale University Press.

Morsey, Rudolf (1988): Verfassungsschöpfung unter Besatzungsherr-schaft � das Werk des Parlamentarischen Rates. In: Bundesrat(Hg.): Stationen auf dem Weg zum Grundgesetz. Festansprachenaus Anlaß der 40. Jahrestage der Rittersturz-Konferenz, des Ver-fassungskonvents auf Herrenchiemsee und des Zusammentre-tens des Parlamentarischen Rates. Bonn: Bundesrat, S. 83-100.

Page 36: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

36

Nipperdey, Thomas: Föderalismus in der deutschen Geschichte. InNipperdey, Thomas: Nachdenken über die deutsche Geschichte.Essays. München: Beck 1986, S. 60-109.

Oates, Wallace E. (ed) (1977): The Political Economy of Fiscal Fe-deralism. Lexington, Mass.: D.C. Heath.

Reissert, Bernd/Schnabel, Fritz (1976): Fallstudien zum Planungs- undFinanzierungsverbund von Bund, Ländern und Gemeinden. In:Scharpf/Reissert/Schnabel (1976), S. 71-235.

Renzsch, Wolfgang (1991): Finanzverfassung und Finanzausgleich. DieAuseinandersetzungen um ihre politische Gestaltung in der Bun-desrepublik Deutschland zwischen Währungsreform und deut-scher Vereinigung (1948-1990). Bonn: Dietz.

Renzsch, Wolfgang (1995): Konfliktlösung im parlamentarischen Bun-desstaat. Zur Regelung finanzpolitischer Bund-Länder-Konflik-te im Spannungsfeld von Administration und Politik � Vorläu-fige Überlegungen. In: Rüdiger Voigt (Hg.): Der kooperativeStaat. Krisenbewältigung durch Verhandlung? Baden-Baden:Nomos, S. 167-192.

Scharpf, Fritz W. (1985): Die Politikverflechtungs-Falle: Europäi-sche Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich. In:Politische Vierteljahresschrift 26, S. 323-356.

Scharpf, Fritz W. (1987): Sozialdemokratische Krisenpolitik in Eu-ropa. Frankfurt/Main: Campus.

Scharpf, Fritz W. (1989): Der Bundesrat und die Kooperation aufder �dritten Ebene�. In: Bundesrat (Hg.): Vierzig Jahre Bundes-rat. Baden-Baden: Nomos, S. 121-162.

Scharpf, Fritz W. (1997): Nötig, aber ausgeschlossen. Die Malaise derdeutschen Politik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.6.1997,S. 35.

Scharpf, Fritz W. (1998): Zur Wiedergewinnung politischer Hand-lungsfähigkeit. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Demokratie neudenken. Verfassungspolitik und Regierungsfähigkeit in Deutsch-land. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, S. 55-70.

Scharpf, Fritz W. (1998a): Globalisierung als Beschränkung derHandlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik. In: Jahr-buch für Neue Politische Ökonomie 17, S. 41-66.

Scharpf, Fritz W. (1999): Regieren in Europa: demokratisch und ef-fektiv? Frankfurt/Main: Campus.

Scharpf, Fritz W./Bernd Reissert/Fritz Schnabel (1976): Politikver-flechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismusin der Bundesrepublik. Kronberg/Ts.: Scriptor.

Schmidt, Helmut (1980): Grundsatzfragen der Struktur des Gesamt-staates. Rede des Bundeskanzlers in der 494. Sitzung des Bun-desrates am 19.12.1980. Bulletin Nr. 134. Bonn: 23. 12. 1980:S. 1137-1141.

van Suntum, Ulrich (1999): Die Idee des wettbewerblichen Födera-lismus, S. 13-22 in diesem Band.

Tsebelis, George (1995): Decision Making in Political Systems: VetoPlayers in Presidentialism, Parliamentarism, Multicameralism

Fritz W. ScharpfFöderale Politikverflechtung: Was muß man ertragen? Was kann man ändern?

and Multipartism. In: British Journal of Political Science 25,S. 289-325.

Visser, Jelle/Anton Hemerijck (1998): Ein holländisches Wunder?Frankfurt/Main: Campus.

Page 37: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

37

�Reformblockade� war das Wort des Jahres 1997.Bundespräsident Herzog hatte den allgemein verbreitetenBefund in seiner Berliner Rede vom April 1997 auf dieFormel gebracht: �Wir haben kein Erkenntnisproblem,sondern ein Umsetzungsproblem�.1 Worauf Herzog in je-ner Rede erstaunlicherweise aber nicht einging, sind die tie-feren Gründe für die mangelnde Umsetzung. Er tat so, alsginge es nur darum, daß die Beteiligten genügend Mut undKraft für nötige Reformen aufbrächten, und beschränktesich deshalb darauf, an ihre Einsicht und ihren guten Willenzu appellieren. Reicht eine solche moral persuasion aber aus?

Eine ganz andere Perspektive eröffnete Hans-OlafHenkel.2 Die Reformblockade sei �systembedingt�, er-gänzte er Herzogs Rede. Die politischen Institutionen inDeutschland seien nicht mehr geeignet, ihre demokrati-sche Hauptaufgabe zu erfüllen, nämlich die Anreize fürdie politischen Akteure so zu setzen, daß sie Politik imInteresse der von ihnen Regierten machten. Henkel nann-te als Beispiele für Systemmängel das Verhältniswahlrechtund den Föderalismus in der derzeitigen Ausprägung.Doch schien dem Präsidenten des BDI die volle Glaub-würdigkeit zu fehlen. Die deutsche politische Kultur weistseit jeher zwei große Defizite auf: Das eine betrifft dieDemokratie, das andere die Wirtschaft. Macht in einersolchen � von Demokratie- und Wirtschaftsferne gepräg-ten � Ambiance ein Mann der Wirtschaft Vorschläge zurVerbesserung der Demokratie, so kann man sich schonim vorhinein vorstellen, wie sie aufgenommen und ge-zielt mißverstanden werden.3

Andererseits wissen wir gerade aus der Wirtschaft, inwelchem Maße der Output eines Systems von den Sy-stemdeterminanten abhängt. Spätestens seit dem Zusam-menbruch der kommunistischen Wirtschaftssysteme ist esin unser aller Bewußtsein übergegangen, daß etwa dieOstdeutschen in der DDR nicht deshalb wirtschaftlich sozurückgefallen sind, weil es ihnen etwa an Intelligenz, Fleiß

und Erfindungsreichtum gefehlt hätte. Entscheidend fürden Mißerfolg war vielmehr das System der Zentralver-waltungswirtschaft, das die Verantwortung verwischteund Leistung, Initiative und Innovationskraft nicht belohn-te, sondern bestrafte, und das zur Verschwendung an-reizte. Im Bereich der Wirtschaft wurde also unüberseh-bar, daß die besten Eigenschaften der Menschen nichtsnützen, wenn die Institutionen ungeeignet sind.

Warum aber sollten die Institutionen nur für den Be-reich der Wirtschaft entscheidende Bedeutung haben?Warum zögern wir, die Erkenntnis auch auf den Bereichder Politik zu erstrecken? Gilt hier nicht im Prinzip Ähn-liches? Derartige Fragen werden in den Sozialwissenschaf-ten zunehmend gestellt und haben in jüngerer Zeit unterdem Begriff �Neuer Institutionalismus� zur Wiederent-

50 Jahre Föderalismus inDeutschland: Perversion einer Idee

Hans Herbert von Arnim

1 Roman Herzog, Aufbruch ins 21. Jahrhundert, Rede im HotelAdlon in Berlin am 26.4.1997, Bulletin der Bundesregierung1997, S. 353, 354.

2 Hans-Olaf Henkel, in: Bissinger, Stimmen gegen den Stillstand.Roman Herzogs �Berliner Rede� und 33 Antworten, 1997, S.87, 89. Bedenkt man, daß Henkel die heftige System-Diskussi-on mit nur wenigen Sätzen auslöste, so zeigt dies, daß er offen-bar einen wunden Punkt getroffen hat. Henkel diagnostizierteangesichts großer Herausforderungen raschen Reformbedarfund fragte, �ob ein Land mit unserer föderalen Struktur, mitsechzehn Bundesländern, einem Verhältniswahlrecht überhaupteine Chance hat, sich so schnell zu verändern wie andere�. � Inähnliche Richtung, nur sehr viel umfassender, gehen die schonvor drei Jahren erarbeiteten bemerkenswerten Vorschläge derArbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU): Demo-kratiereform als Standortfrage. Anstöße zu einer ordnungspoli-tischen Diskussion, 3. Aufl., 1996.

3 Einerseits Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 11.7.1997,S. 4; �Der Rambo von Bonn�, Der Spiegel vom 21.7.1997, S.22; Otto B. Roegele, Rheinischer Merkur vom 25.7.1997, S. 1.Andererseits: Wirtschaftswoche vom 26.6.1997, S. 16ff.; Ro-bert Leicht, Die Zeit vom 18.7.1997, S. 4; Klaus v. Dohnanyi,Der Spiegel vom 21.7.1997, S. 24.

Page 38: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

38

deckung und systematischen Erforschung der Rolle undder Schlüsselbedeutung von Institutionen geführt.

Es wird im folgenden also � am Beispiel der Institu-tionen unseres bundesrepublikanischen Föderalismus �darum gehen zu prüfen, inwieweit die derzeitige Organi-sation und die �Spielregeln� der politischen Willensbil-dung heute noch passen und in welche Richtung sie gege-benenfalls fortentwickelt werden müßten, zugleich aberauch darum, ob und wie derartige Änderungen politischdurchgesetzt werden könnten. Der Komplex Föderalis-mus scheint mir für einen solchen Ansatz geradezu prä-destiniert.

Neugliederung der Länder gescheitert � imGegensatz zur Gebietsreform

Nach dem Zusammenbruch von 1945 und der Auf-lösung Preußens wurden die Länder und ihre Grenzenneu festgelegt und vorläufig zusammengestückelt. ImWesten kann man unter den Flächenländern nur bei Bay-ern einigermaßen von der Beibehaltung traditionellerGrenzen sprechen.

Es war von Anfang an klar, daß einige der besatzungs-rechtlichen Kunstprodukte keinen Bestand haben solltenund eine Neugliederung des Bundesgebiets erfolgen müs-se, um lebensfähige Länder zu schaffen. Da die Minister-präsidenten sich vor 1949 nicht einigen konnten, wurde dieAufgabe verschoben und ein zwingender verfassungsrecht-licher Auftrag zur Neugliederung der Bundesrepublik insGrundgesetz aufgenommen, wobei die letzte Entscheidungeinem Volksentscheid im gesamten Bundesgebiet vorbe-halten sein sollte. Art. 29 GG machte die Neugliederungganz bewußt zur Sache des Bundes, um zu verhindern,daß die Länder in eigener Sache entschieden und dabeiBesitzstandsinteressen eine zukunftsweisende Regelungblockierten. Ziel der vorgeschriebenen Neuregelung wares, die geschichtswidrigen und unrationellen Entscheidun-gen der Besatzungsmächte zu korrigieren und Länder zuschaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit ihre Auf-

gaben wirksam erfüllen können. Die Vorschrift sollte da-mit die �Grundlage für Fortbestand und Legitimation desföderalen Gedankens� sichern.

Das Vorhaben blieb jedoch hoffnungslos stecken mitAusnahme der gesondert in Art. 118 GG vorgesehenenNeuregelung im Südwesten, die 1952 erfolgte. Der letzteAnlauf war die Einsetzung einer Sachverständigenkom-mission unter Vorsitz des früheren Staatssekretärs Wer-ner Ernst. Ihre Vorschläge aus dem Jahre 1972 � sie emp-fahl eine Zusammenlegung der vorhandenen zehn west-deutschen Länder (ohne Berlin) auf fünf oder alternativsechs Länder � wurde aber von den kleineren Ländern,besonders von Hamburg, Bremen, Rheinland-Pfalz,Schleswig-Holstein und dem Saarland, die nach den Vor-schlägen in größeren Bundesländern aufgehen sollten, ent-schieden abgelehnt. Und die Bundesregierung und diegrößeren Länder machten keine Anstalten, diesen Wider-stand zu überwinden oder auch nur eine breite öffentli-che Diskussion über das unbequeme Thema in Gang zubringen. Zu sehr rührte die Neugliederung an Besitzstän-de nicht nur der etablierten Parlamente, Regierungen undVerwaltungen der betroffenen Länder, sondern auch derregionalen Gliederungen der politischen Parteien, derKammern und Verbände. Damit war genau das einge-treten, was man mit der zwingenden grundgesetzlichenVorschrift hatte verhindern wollen. Um zu vermeiden,daß das Bundesverfassungsgericht schließlich die Verfas-sungswidrigkeit des mehr als ein Vierteljahrhundert dau-ernden Nichthandelns feststellt, wurde 1976 das Grund-gesetz entschärft: Aus der bisherigen Muß- wurde eineKann-Bestimmung � und damit das ursprüngliche Vor-haben praktisch ad acta gelegt. Zugleich lag nun die letzteEntscheidung nicht mehr beim Bundesvolk, sondernwurde von Volksentscheidungen in den betroffenen Län-dern oder Gebietsteilen abhängig gemacht. Dadurchwurde die Neuregelung praktisch vollends unmöglichgemacht � ein Sieg von Partikularismen und Machtinter-essen von Landesfürsten, Landesparteien und sonstigenLandesinstitutionen, die um Einfluß und Status bangten,über Gemeinwohlbelange.

Hans Herbert von Arnim50 Jahre Föderalismus in Deutschland: Perversion einer Idee

Page 39: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

39

Die Undurchsetzbarkeit einer Ländergebietsreform hatAuswirkungen auch auf die Reformierbarkeit des Födera-lismus insgesamt. Heute sind die beiden kleinsten Altbun-desländer so überschuldet, daß Private in vergleichbarerSituation längst Konkurs hätten anmelden müssen. SolangeBremen und das Saarland (und nach der Vereinigung eini-ge besonders schwache neue Länder) das Maß dessen de-finieren, was ein Bundesland aus eigener Kraft leisten kann,bleibt eine wirkliche Reform des Föderalismus blockiert.Die Problematik hat sich im Zuge der Wiedervereinigungdurch das Hinzukommen fünf weiterer, besonders finanz-schwacher Länder noch verschärft.

Im Gegensatz zu den Ländern erwies sich auf kommu-naler Ebene eine durchgreifende Gebietsreform sehr wohlals möglich. Sie wurde vor etwa zweieinhalb Jahrzehntenin allen westdeutschen Flächenländern mit erstaunlicherKonsequenz durchgeführt. Kleine Gemeinden wurdenzusammengelegt und Umlandgemeinden in Kernstädteeingegliedert. Auf diese Weise wurden aus 24.282 Ge-meinden 8.518. In Nordrhein-Westfalen, wo die Zahl derGemeinden besonders rigoros zusammengestrichen wor-den war, blieben von 2.277 Gemeinden nur noch 396(relativ große) übrig, also nur etwa ein Sechstel.

Es müßte die Politikwissenschaft eigentlich faszinieren,nach den Gründen zu fragen, warum auf kommunalerEbene möglich wurde, was auf Landesebene so kläglichgescheitert war. Sachliche Argumente können eigentlichnicht den Unterschied gemacht haben. Denn sie sprachennicht minder für eine Gebietsreform der Länder. EineAntwort findet man wohl nur, wenn man auch hier dieInteressen derer, die in der Landespolitik das Sagen haben,mit ins Auge faßt: So sehr die Eigeninteressen der politi-schen Klasse der Länder, jedenfalls der kleineren, einerLänderneugliederung entgegenstanden, so sehr gingen sieumgekehrt mit einer kommunalen Neugliederung kon-form. Die Vergrößerung der Gemeinden drängte nicht-parteigebundene Kräfte, die in kleineren Gemeinden eineweit überproportionale Rolle spielen und sich etwa inkommunalen Wählergemeinschaften widerspiegeln, zurückund konzentrierte die politische Macht noch stärker in der

Hand der Parteien und ihrer politischen Klasse. Die Land-tagsabgeordneten, die über das Ob und das Wie der kom-munalen Gebietsreform entschieden, spielen ja fast durch-weg auch auf kommunaler Ebene eine dominierende Rol-le, etwa als kommunale Fraktionsvorsitzende und örtlicheund regionale Vorstandsmitglieder ihrer Partei, dies abervornehmlich in größeren Gemeinden, Städten und Land-kreisen, und mit der Vergrößerung �ihrer� Gebietskör-perschaft erhöhten sie automatisch diesen Einfluß (unddamit auch ihre Basis als Berufspolitiker).

Ausdünnung der Gesetzgebung der Länder �und damit ihrer eigentlichen Gestaltungskom-petenz

Liest man den Text des Grundgesetzes, so könnte manauf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, die Masseder Gesetzgebungszuständigkeit sei ziemlich gleichmäßigauf Bund und Länder verteilt. Aber der Schein trügt. Beider Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischenBund und Ländern hatte der Bund von Anfang an einÜbergewicht, das im Laufe der Zeit immer größer ge-worden ist. Nicht nur, daß zahlreiche Grundgesetzände-rungen dem Bund zu Lasten der Länder erhebliche zu-sätzliche Kompetenzen eingebracht haben. Der Bund hatseine Zuständigkeiten auch im Wege der Interpretation(zum Beispiel der Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG)immer weiter ausgedehnt (und dabei auch die Unterstüt-zung des Bundesverfassungsgerichts gefunden). Hinzukam, daß der Bund seine konkurrierende Gesetzgebungs-kompetenz voll ausgeschöpft und bei der Rahmengesetz-gebung häufig auch das Detail geregelt hat, so daß denLändern hier kaum noch etwas an Gesetzgebung übrig-blieb. Dabei ist die weitere Reduzierung der Gesetzge-bungskompetenz der Länder, die aus der europäischenEntwicklung resultiert, noch gar nicht erwähnt.

Das Abwandern der Gesetzgebungskompetenz zeigtsich exemplarisch im Bereich der Besteuerung, also derklassischen Parlamentszuständigkeit. Die letzte Steuer von

Page 40: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

40

einem gewissen Gewicht, die die Länder regeln konnten,war die Grunderwerbsteuer. Die Länder hatten sie durchSchaffung von Ausnahmetatbeständen aber allmählich zueiner Art Schweizer Käse gemacht, so daß 80 Prozentder Grunderwerbsfälle nicht mehr von der Steuer erfaßtwurden. Erst nach Übertragung der Gesetzgebung aufden Bund gelang eine vernünftige Reform, die die Aus-nahmen strich und die Tarife entsprechend senkte. DieSteuergesetzgebung liegt jetzt praktisch vollständig beimBund, der seine konkurrierende Kompetenz hier totalausgeschöpft hat. Während den Gemeinden immerhinüber die Festsetzung ihrer Hebesätze zur Gewerbe- undGrundsteuer ein unmittelbarer Einfluß auf ihre Steuer-einnahmen verblieben ist, hat das einzelne Land keineMöglichkeit mehr, die Höhe seiner Steuereinnahmendurch seine Gesetzgebung zu beeinflussen.

Zu einer weiteren Ausdünnung der Gesetzgebungs-und damit der eigentlichen Gestaltungskompetenz derLänder kam es im Zuge der Einführung und Verfesti-gung der Gemeinschaftsaufgaben. Schon in den sechzi-ger Jahren hatten Bund und Länder über eine Vielzahlvon Aufgaben gemeinsam entschieden und die anfallen-den Kosten (über Bundeshilfen) gemeinsam finanziert.Diese Praxis wurde 1969 durch Einführung der soge-nannten Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, 91b GG) ver-fassungsrechtlich abgesichert. Damit hatte sich der Bundmit Hilfe von Finanzzuweisungen in eigentlich den Län-dern obliegende Aufgabenbereiche �eingekauft�; zugleichboten diese und andere Verfassungsänderungen (Art. 104aAbs. 4 GG) dem Bund neue Möglichkeiten, seinen Ein-fluß auszuweiten.

Einheitsgesetzgebung der Länder

Darüber hinaus nutzen die Länder die dürftige ihnenverbliebene Gesetzgebungskompetenz kaum zu innovati-vem Handeln, sondern verabschieden vielfach mehr oderweniger identische Gesetze. Angesichts der weitgehendenGleichförmigkeit der verbliebenen Landesgesetzgebung

stellt sich die Frage, ob die verbreitete Klage der Länderüber den Verlust ihrer Gesetzgebungskompetenz nicht inWahrheit nur Fassade ist. Die entsprechende Frage stelltsich hinsichtlich der Unzahl von freiwillig geschaffenenKoordinierungsgremien zwischen den Ländern oder zwi-schen den Ländern und dem Bund auf den sogenanntendritten und vierten Ebenen. Das stärkt die Position derer,die argumentieren, es liege durchaus auch im Interesse derpolitischen Klasse der Länder, die Gesetzgebung beimBund zu konzentrieren, weil dadurch der Wettbewerb ge-schwächt und damit die Kontrolle ihrer politischen Lei-stung erschwert würde. Ich verweise insofern auf die be-merkenswerten Thesen von Charles B. Blankart (S. 145-149 in diesem Band).

Anschub der Kommunalverfassungsreformendurch Volksbegehren und Volksentscheid

Die umfassendste Gesetzesreform, die in den Län-dern in den letzten Jahren stattfand, die Reform derKommunalverfassungen, ging im Westen nicht von denLandesparlamenten aus, sondern wurde durch Regierun-gen, Volksbegehren und Volksentscheide angeschoben,1991 in Hessen und 1995 in Bayern.

Das 82-Prozent-Votum der hessischen Wähler für dieEinführung der Direktwahl von Bürgermeistern undLandräten und die erfolgreiche Volksgesetzgebung inBayern zur Einführung kommunaler Bürgerbegehren undBürgerentscheide wirkten für reformbereite Kräfte auchin anderen Landesparlamenten als Druck- und Drohmit-tel, um mangelnde politische Reformbereitschaft der je-weiligen Regierungsparteien zu überwinden und überalldie Direktwahl der Bürgermeister (und meist auch derLandräte) und die Möglichkeit kommunaler Bürgerbe-gehren und Bürgerentscheide einzuführen.

Gleichwohl wurden die so von der Basis erzwunge-nen Reformen von den Landesparlamenten zum Teilnoch regelrecht verpatzt. Ein Beispiel ist die Beibehaltungder Magistratsverfassung in Hessen, wo der Landtag zwar

Hans Herbert von Arnim50 Jahre Föderalismus in Deutschland: Perversion einer Idee

Page 41: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

41

durch Aufbringen der Thematik im Wahlkampf durchden damaligen Ministerpräsidenten Walter Wallmann ge-zwungen wurde, die Direktwahl der Bürgermeister ein-zuführen (was durch den besagten Volksentscheid abge-segnet wurde). Aber der Landtag versäumte die nötigenBegleitreformen (Abschaffung des Magistrats und Ein-führung der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschie-rens bei der Ratswahl). Ein anderes Beispiel sind Abson-derlichkeiten der neuen Kommunalverfassung in Nord-rhein-Westfalen, bei der die SPD zwar durch ein anlau-fendes Volksbegehren zur (von der politischen Klasseunerwünschten) Zusammenlegung der Positionen desVerwaltungschefs und des Ratsvorsitzenden und zur Di-rektwahl des nunmehr hauptberuflichen Bürgermeistersgezwungen wurde, dennoch aber versuchte, möglichstviel in der Hand zu behalten, beispielsweise durch dieRegelung, daß beim vorzeitigen Ausscheiden eines Bür-germeisters sein Nachfolger vom Rat (und nicht vomVolk) gewählt wird.4

Verwaltungskompetenz der Länder � keingleichwertiges Kompensat

Bei den Ländern verblieb zwar das Gros der Verwal-tungskompetenz, also der Befugnis, alle Gesetze, grund-sätzlich auch die des Bundes, auszuführen. Diese läßt aber� jedenfalls in dem ganz dominierenden Bereich der geset-zesgebundenen Verwaltung � kaum Spielräume zur politi-schen Gestaltung und ist deshalb im Vergleich zur Häu-fung der Gesetzgebung beim Bund von geringem politi-schen Gewicht (bringt aber � wegen der Personalintensitätder Verwaltung � hohe Kosten mit sich). Die Gestaltungs-möglichkeiten bei der Steuerverwaltung, also der Erhe-

bung der Einnahmen, sind noch geringer, weil diese bun-desgesetzlich geradezu perfektionistisch geregelt ist.

Steuerzuweisungen durch den Bund � Aus-höhlung der Länderautonomie

Auch die umfangreichen Steuererträge, die den Län-dern zufließen, sind insofern irreführend, als damit ganzüberwiegend Aufgaben finanziert werden, die vom Bundpolitisch festgelegt worden sind.

Die Konzentration der Gesetzgebung beim Bundkann also durch die Konzentration der Verwaltung beiden Ländern und durch die hohen Steuererträge, die denLändern zufließen, nicht kompensiert werden. Das ganzüberwältigende Schwergewicht der politischen Gestaltungliegt beim Bund.

Der Finanzausgleich bestraft Eigen-anstrengungen der Länder

Darüber hinaus ist der sogenannte Finanzausgleichganz überwiegend erfolgsunabhängig: Die Verteilung derMittel zwischen den Ländern ist derart nivellierend ange-legt, daß finanzstarke Länder nur geringe fiskalische An-reize haben, ihre Steuerkraft zu erhöhen, und es sich um-gekehrt für finanzschwache Länder noch weniger lohnt,durch eigene Anstrengungen die Subventionen seitens derGeberländer und des Bundes zu verringern. Dadurchdroht der eigentliche Lebensnerv des Föderalismus voninnen her vollends abgedrückt zu werden. Im übrigenwerden auf diese Weise die kleinen Länder, die sich einerNeugliederung der Bundesländer am massivsten wider-setzen, dafür perverserweise auch noch finanziell prämiert.Sie erhalten Zuschüsse für ihre überdurchschnittlich ho-hen Kosten der politischen Führung.

4 Zum Ganzen Hans Herbert von Arnim, Auf dem Weg zur op-timalen Gemeindeverfassung?, in: Klaus Lüder (Hg.), Staat undVerwaltung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissen-schaften Speyer, 1997, S. 297 ff.

Page 42: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

42

Kastrierung der Landesparlamente � beigleichzeitiger Aufblähung ihres finanziellenStatus

Diese Entwicklung hat wiederum gewaltige Rückwir-kungen auf die Verfassungen in den Ländern und imBund.

Die drastische Reduzierung der Landesgesetzgebunghat zu einem kumulativen Auszehrungsprozeß der Lan-desparlamente geführt, ist die Gesetzgebung doch ihr ei-gentliches Hausgut.

Die Kontrolle der Exekutive, das andere Hausgut derLandesparlamente, läuft zu einem guten Teil ebenfalls leer.Ganz abgesehen von der ohnehin bestehenden Kontroll-schwäche im parlamentarischen System können die Lan-desregierungen häufig auf paketartig geschnürte Abspra-chen mit anderen Ländern und dem Bund in Planungs-ausschüssen, Ministerpräsidenten- und Fachministerkon-ferenzen (wie zum Beispiel der Kultusminister-Konferenz)verweisen, auf deren Inhalt die Landtage dann keinenEinfluß mehr nehmen können, ohne die Absprache über-haupt zu gefährden.

In merkwürdigem Gegensatz zu der drastischen Ab-nahme der Aufgaben der Landesparlamente, die es ei-gentlich nahelegen würde, die parlamentarische Arbeitnebenberuflich und in zeitlich begrenzten Sitzungsperi-oden zu erledigen, steht die Aufblähung des finanziellenStatus der Landtagsabgeordneten. Vor 30 Jahren erhiel-ten Landtagsabgeordnete noch einen Bruchteil der Bezü-ge von Bundestagsabgeordneten. Inzwischen haben vieleLandtage ihren finanziellen Status so ausgebaut, daß siefast soviel wie Bundestagsabgeordnete bekommen.Selbst in einem sehr kleinen und armen Bundesland wiedem Saarland wurden die Landtagsmandate zu vollbe-zahlten und überversorgten Full-time-jobs gemacht. Dereigentliche Grund für diese sachlich schwer nachvollzieh-bare Schere zwischen abnehmenden Aufgaben und zu-nehmender Bezahlung liegt wieder in den Eigeninteres-sen der politischen Klasse: Sie kann von den finanziellaufgewerteten Mandaten nicht nur gut leben. Die Frei-

stellung trotz begrenzter Verpflichtungen setzt die Man-datsinhaber darüber hinaus auch in den Stand, auf Staats-kosten vor Ort dauernd Nominierungswahlkampf in denfür die Wiedernominierung an günstiger Stelle zuständi-gen Parteigremien zu führen und Herausforderern kaumeine Chance zu lassen.

Aufwertung der Landesregierungenund des Bundesrats � Auswirkungenauf die Bundespolitik

Die politische Gewichtsverschiebung zum Bund führtnicht nur zur Kastrierung der Landesparlamente, sondernauf Bundesebene auch zu einer Verschiebung der Gewich-te zwischen Bundestag und Bundesrat. Die Länder erhiel-ten zum Ausgleich für die Übertragung der Gesetzgebungauf den Bund immer mehr kollektive Zustimmungsbe-fugnisse bei der Bundesgesetzgebung, die durch extensiveAuslegung bestehender Vorbehalte (Art. 84 Abs. 1 und 85Abs. 1 GG) noch ausgedehnt wurden, so daß inzwischenweit über die Hälfte aller Bundesgesetze, und gerade diewichtigsten, zustimmungsbedürftig sind. Aber diese Mit-wirkung der Länder erfolgt im Bundesrat, einem Bundes-organ, und ist im übrigen von Verfassungs wegen nur Sa-che der Landesregierungen, nicht der Landesparlamente.

Auch die den Ländern � ebenfalls kompensatorisch �übertragenen Befugnisse, Verordnungen oder Verwal-tungsvorschriften zu erlassen, werden von den Landes-regierungen wahrgenommen.

Die Verlagerung des Gewichts auf die Landesregie-rungen in ihrer Rolle als Mitspieler an der Bundespolitikhat nun aber gravierende Rückwirkungen auf die Lei-stungsfähigkeit der Bundespolitik. Die zunehmendeMachtposition der Länderregierungen im Bundesrat kanndie Bewältigung gesamtstaatlicher Aufgaben erheblichbehindern. Das gilt nicht nur bei abweichender parteipo-litischer Mehrheit im Bundesrat, sondern auch dann, wenndie Länder ihre Zustimmung zu erforderlichen Verfas-sungsänderungen von besonders weitgehenden Zuge-

Hans Herbert von Arnim50 Jahre Föderalismus in Deutschland: Perversion einer Idee

Page 43: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

43

ständnissen auf anderen Gebieten abhängig machen undBundesregierung und Bundestag so erpressen. Ein Bei-spiel waren die Bund-Länder-Absprachen über die Fi-nanzierung der deutschen Einheit, bei denen die Ländersich ihre Zustimmung dadurch abhandeln ließen, daß siean den Finanzierungslasten nur unzureichend beteiligtwurden. Ein anderes Beispiel ist die Änderung des Art.23 GG, die den Ländern in Angelegenheiten der Euro-päischen Union auf Bundesebene weitgehende Mitspra-cherechte gibt. Auch diese haben sie quasi im Wege derErpressung durchgesetzt, weil der Bund zur Ratifizierungdes Maastricht-Vertrages die Zustimmung des Bundes-rats brauchte.

Sinn des Föderalismus � pervertiert

Die geschilderte Entwicklung des bundesrepublika-nischen Föderalismus hat dazu geführt, daß sein ur-sprünglicher Sinn verloren gegangen ist. Wenn in der �im Verhältnis zum Bund � kleineren Einheit des Landesgrößere Sach- und Bürgernähe und damit mehr Demo-kratie möglich sein soll � und darin liegen Idee undRechtfertigung des Föderalismus �, so setzt dies Kom-petenzen des Parlaments, Verantwortlichkeiten der Re-gierung gegenüber dem Parlament und damit dem Volkund einen Leistungswettbewerb zwischen den Ländernvoraus. Doch genau daran fehlt es. Die vom Volk ge-wählten Landesparlamente leiden an politischer Auszeh-rung. Ein Wettbewerb um die bessere Gestaltung findet� wegen der Übertragung der zentralen Gestaltungs-kompetenzen auf den Bund � nur noch sehr einge-schränkt statt. Die Landesregierungen sind auf Bundes-ratsebene und auf der �dritten� und �vierten� Ebene inAbsprachen mit anderen Länderregierungen und demBund eingebunden und werden dadurch für den Inhaltder Entscheidungen nicht nur gegenüber ihren Parla-menten, sondern auch gegenüber dem Volk weitgehend�unverantwortlich�. Das wäre vielleicht bis zu einemgewissen Grad hinnehmbar, wenn dafür die politische

Handlungsfähigkeit des Systems erhöht und die Fähig-keit, auf politische Herausforderungen zu antworten,verbessert würde. Tatsächlich aber ist das Gegenteil derFall.

Die Eigeninteressen der politischen Klasse:Dreh- und Angelpunkt der bisherigen Entwick-lung � und der mangelnden Reformchancen

Wer Änderungen zum Besseren ins Auge faßt, tut gutdaran, die Eigeninteressen der politischen Akteure nichtzu vernachlässigen. Ihre zentrale Rolle betont die NeuePolitische Ökonomie, und neuerdings erkennt auch diePolitikwissenschaft ihre Schlüsselbedeutung. Das spiegeltsich in der Renaissance des Begriffs �politische Klasse�,mit dessen Hilfe übereinstimmende Interessen von Be-rufspolitikern in Regierung und Opposition, in Bund undLändern an ihrem finanziellen, beruflichen und macht-mäßigen Status (und daraus resultierende Kartellierungs-tendenzen) thematisiert werden.5

Eine noch weitergehende These, die andere Politik-wissenschaftler aufgestellt haben, geht dahin, unsere po-litischen Parteien entwickelten sich zu �Kartellparteien�.Sie stützt sich bisher vor allem auf Beobachtungen imBereich des Wahlrechts, der staatlichen Parteienfinanzie-rung und parteipolitischen Ämterpatronage,6 sie fändeaber gerade im bundesdeutschen Föderalismus zusätzli-che Belege.

Wenn die dargestellte Pervertierung der bundesrepu-blikanischen Föderalismus-Institutionen in ganz erhebli-chem Maße Folge der Eigeninteressen der politischenKlasse ist, müssen alle erwogenen Änderungen zum Bes-seren sich gegen jene Eigeninteressen durchsetzen. Und

5 Hans Herbert von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Diepolitische Klasse � selbstbezogen und abgehoben, 1997, S. 42 ff.mit weiteren Nachweisen.

6 Dazu von Arnim, Fetter Bauch, a.a.O., S. 343 ff. mit weiterenNachweisen.

Page 44: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

44

daß diese in der Tat eine zentrale Rolle spielen, wurdebereits dargelegt:

� Eine Neugliederung der Bundesländer scheiterte anden Eigeninteressen der politischen Klasse.

� Umgekehrt ließ sich die kommunale Neugliederungnur durchsetzen, weil sie jene Interessen förderte.

� Die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz auf denBund kommt den Interessen der politischen Klasse aneiner Ausschaltung oder doch Minderung des Leistungs-wettbewerbs zwischen den Ländern entgegen.

� Der Finanzausgleich mit seinen nivellierenden Tenden-zen nimmt dem Leistungswettbewerb erst recht denfiskalischen Anreiz.

� Die Landesregierungen ließen sich ihre Zustimmung zuKompetenzverzichten der Länder im Interesse ihresStatus durch Zustimmungsvorbehalte bei der Bundes-gesetzgebung entgelten � und schwächten so die Hand-lungsfähigkeit der Länder und zugleich des Bundes.

� Die Landtagsabgeordneten hielten sich für ihre Ent-machtung durch Aufblähung ihres finanziellen Statusschadlos. Auch hier waren ihre Eigeninteressen die ei-gentliche Triebfeder.

Bedenkt man, daß sich in den Ländern auch sonst dieAuswüchse der Politikfinanzierung häufen (die statistischals �Kosten der politischen Führung� erfaßt wird), könn-te man fast den Eindruck gewinnen, die politische Klasseinstrumentalisiere die föderalistischen Strukturen gerade-zu zu dem Zweck, ihre Eigeninteressen besonders nach-haltig fördern zu können.

Vor diesem Hintergrund müssen sich auch alle Über-legungen zur Verbesserung mit der Frage auseinanderset-zen, unter welchen Bedingungen Reformen gegen dieEigeninteressen der politischen Klasse durchgesetzt wer-den könnten. Herzogs zugespitztes Wort, der sogenannteReformstau sei weniger ein Erkenntnisproblem als einUmsetzungsproblem, trifft dann auf Reformen des Fö-deralismus ganz besonders zu.

Das Volk als Gegengewicht?

Will man nicht resignieren und erwartet man auch vomBundesverfassungsgericht kein Durchhauen des Gordi-schen Knotens, so gibt es letztlich nur ein wirksames Ge-genmittel gegen alle Formen von Kartellierungstenden-zen der politischen Klasse: Die Aktivierung des Volkesselbst, das heißt, die Verbesserung der Durchlässigkeit desSystems für den Common sense der Bürger, sei es durchein bürgernäheres Wahlrecht, sei es durch Verbesserungund verstärkte Nutzung der Möglichkeiten direktdemo-kratischer Sachentscheidungen.7 So gelang es in zahlrei-chen Ländern, mit Hilfe tatsächlich durchgeführter (oderglaubwürdig angedrohter) Volksbegehren und Volksent-scheide Reformen der Kommunalverfassung auch gegenden Widerstand der parlamentarischen Mehrheiten durch-zusetzen. Innerhalb der Länder wäre an die Einführungder Direktwahl der Ministerpräsidenten und die Perso-nalisierung des Landtagswahlrechts zu denken.8 Geradein den Bundesländern, deren Aufgabe vornehmlich in derExekutive besteht, läge es nahe, den Ministerpräsidentenals Spitze der Exekutive auch direkt vom Volk zu wäh-len. Eine solche Reform ist von den Parlamenten selbstkaum zu erwarten. Durch Volksbegehren und Volksent-scheid, durch die man in vielen Ländern auch die Verfas-sung ändern kann, wären solche Reformen aber durch-setzbar. In Rheinland-Pfalz wird der Landesverband derkommunalen Wählergemeinschaften im Mai 1999 eindahingehendes Projekt starten.

Gelänge es nur in einem Land, durch Volksbegehrenund Volksentscheid eine wirklich grundlegende Umge-staltung der Staatsverfassung vorzunehmen und auf die-

Hans Herbert von Arnim50 Jahre Föderalismus in Deutschland: Perversion einer Idee

7 Näheres bei von Arnim, Fetter Bauch, a.a.O., S. 382 ff.8 Dies ist der Vorschlag der �Frankfurter Intervention�, einer

Gruppierung von 40 bekannten Persönlichkeiten, die sich � überdie Parteigrenzen hinweg � �einmischen� will; Recht und Poli-tik 1995, S. 16 ff. Siehe auch schon Hans Herbert von Arnim,Staat ohne Diener, 1993, S. 293 ff., jeweils mit weiteren Nach-weisen.

Page 45: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

45

se Weise die politische Klasse wirksam an die Bürger zu-rückzubinden, so könnte das wie ein demokratischer Ur-knall wirken und die Reformgestimmtheit auch auf an-dere Länder und den Bund überschwappen lassen.

Darüber hinaus haben wir mit der Schlußbestimmungdes Grundgesetzes nunmehr auch auf Bundesebene ei-nen Artikel, der besondere Rechte des Volkes hinsichtlichder Verfassungsgebung anerkennt. Art. 146 GG ermäch-tigt das Volk, sich in freier Entscheidung eine neue Ver-fassung zu geben. Welche rechtlichen Möglichkeiten dieseebenso knapp formulierte wie weitreichende Vorschrifteröffnet und daß sie tatsächlich eine Art demokratischenUrknall auslösen könnte, hat der Präsident der Humboldt-Universität, Hans Meyer, Ende 1998 in einem Vortragbei der Siemens-Stiftung in München dargestellt. DerBundesgesetzgeber hat es zwar bisher versäumt, die nöti-gen Ausführungsgesetze zu erlassen, damit von dieserVorschrift gegebenenfalls auch Gebrauch gemacht wer-den kann. Aber diese Verpflichtung besteht, und zwarvon Verfassungs wegen.

Direktdemokratische Institutionen bewußt zu kultivie-ren und auch Finanz- und Steuerfragen zu ihrem Gegen-stand zu machen dürfte im übrigen das einzige Mittel sein,den Staat in seine Schranken zu weisen und seine immerweitere Ausdehnung zu verhindern. Das belegen neuerevergleichende Untersuchungen über die Schweiz und dieUSA. Wer es wirklich ernst damit meint, den Staatsanteilmerklich zu verringern � und beinahe alle Bundestags-parteien haben das zu ihrem Ziel erklärt �, wird sich zu-allererst direkt-demokratischer Instrumente bedienenmüssen. Von daher erscheint es an der Zeit, unsere über-kommene und durch fehlinterpretierte Erfahrungen vonWeimar noch geschürte, aber eigentlich einer Demokratieunangemessene Angst vor dem Volk grundsätzlich zuüberdenken.

Page 46: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

46

Page 47: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

47

Finanzverfassung für einesubsidiäre Demokratie

�Das ist die Idee unseres Staates:�, so hat einmal deramerikanische Humorist P.J. O�Rourke über seine Regie-rung bemerkt, �Wenn sich genug Leute zusammentun undgemeinsam handeln, dann können sie sich etwas nehmenund nicht dafür bezahlen.�

Was in Amerika wahr ist, das ist in Deutschland, demLand der rekordhohen Umverteilungsquote, um so wah-rer. Daß vieles sowohl ökonomisch als auch moralischfalsch ist an unserem Wohlfahrtsstaat, das hat sich denScharfsinnigen unter uns schon seit langem erschlossen.Daß unser bundesdeutscher Föderalismus zu denschlimmsten Auswüchsen des �Sich-etwas-nehmen-und-nicht-dafür-bezahlen� zählt, hat sich erst in den letztenzwei Jahren in weiteren Kreisen herumgesprochen. Jetzt,da die Wahrheit an den Tag gekommen ist, sollte manüberlegen, was zu tun ist.

Im letzten Jahr habe ich zusammen mit einigen Mit-streitern � meist parteipolitisch unabhängigen Experten� zwei Manifeste der Friedrich-Naumann-Stiftung ver-öffentlicht, in denen ich besonders heftig die Reform desFöderalismus und des Länderfinanzausgleichs forderte.Sie haben mit dazu beigetragen, daß eine breite Diskussi-on über die strukturellen Defizite unseres Föderalismusentstand, die über den Kreis der bisher ausschließlich da-mit befaßten Finanzwissenschaftler hinausging.

Zur Zeit ergehe ich mich in Gedankenspielen, ob mandie Forderung nach einer umfassenden und abschließen-den Reform des Föderalismus nicht stark modifizierensoll. Vielleicht, so denke ich manchmal, sollte man nacheiner erfolgreichen Föderalismusreform � so sie dennkommt � ab und zu einmal das alte Modell wieder füreinige Jahre einführen.

Es hat nämlich überaus große didaktische Potentiale.Wir alle wissen über die Natur von staatlichen Um-

verteilungsmaßnahmen Bescheid. Nur die wenigsten vonihnen kommen den wirklich Bedürftigen zu. Der Expan-

sionsdrang des Staatsapparats findet hingegen am leich-testen Nahrung. Wir wissen aber auch, daß die Erkennt-nis, daß dies so ist, nur selten zur Besserung führt. Denn,erstens, Politiker und Beamte haben von diesem Spielselbst ja nur Vorteile. Und, zweitens, tangiert sie nur peri-pher, was für Folgen das für den Bürger hat � und dasauch nur in Zeiten kurz vor Wahlen.

Unser gegenwärtiger Föderalismus hat da einen ge-waltigen Vorteil gegenüber anderen Umverteilungssyste-men. Darin liegt sein didaktisches Verdienst. In den ande-ren Systemen greift der Staatsapparat in die Taschen derBürger. Im deutschen Föderalismus greifen sich die Staats-apparate gegenseitig in die Tasche. Es sind nun aber viel-fach Politiker, die am eigenen Leibe spüren,

� daß in der gegenwärtigen föderalen Finanzverfassungdie Faulen in ihrer Faulheit bestätigt werden, die Flei-ßigen aber für ihren Fleiß bestraft, denn nicht um-sonst beschweren sich Bayern und Baden-Württem-berg als Nettozahler;

� daß in der gegenwärtigen föderalen Finanzverfassungdie Bereitschaft vieler wächst, mehr auszugeben als siehaben, was jeder sehen kann, der etwa das Heimat-land von Herrn Lafontaine besucht;

� daß in der gegenwärtigen föderalen FinanzverfassungPolitiker letztlich zu Lasten ihrer Kollegen in anderenLändern immer großartigere Vorstellungen davonentwickeln, was ein großer Staat so alles kann, siehedie Koalitionsvereinbarungen zwischen SPD und PDSin Mecklenburg-Vorpommern;

� daß in der gegenwärtigen föderalen Finanzverfassungviele Beteiligte diesen Staat aber verachten, weil er siezu Almosentum und bürokratischer Abhängigkeit ver-dammt, was vielleicht einen Teil der Abwendung vie-ler Bürger der neuen Bundesländer vom politischenSystem der Bundesrepublik erklärt.

Otto Graf Lambsdorff

Page 48: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

48

Alles das wirft eine Frage auf: Wenn das gegenwärtigeSystem selbst für diejenigen so unangenehm ist, die esbetreiben, warum scheint denn zur Zeit jede Hoffnungauf Änderung so unbegründet?

Es mag sein, daß die Schmerzgrenze noch nicht er-reicht ist. Wir Deutschen ertragen offenbar gutwilliger alsandere alles, was uns von oben auf die Schultern gelastetwird. Es mag auch sein, daß der Lerneffekt erst mit derüblichen Verzögerung einsetzt, die sich naturgemäß an derFallgeschwindigkeit von Groschen orientiert � eine Wäh-rungseinheit, für die offenbar die regulären Gesetze derSchwerkraft nicht gelten.

Ich bin indes Optimist und glaube, daß man durchausHoffnung auf Besserung hegen sollte. Ich möchte näm-lich einfach nicht glauben, daß kein Bewußtsein für dieProbleme vorliegt. Das Institut der deutschen Wirtschafthat uns ja erschreckende Zahlen vorgerechnet:

� Die Länder mit besonders günstiger Finanzlage kön-nen die Früchte ihrer soliden Finanzpolitik nicht ge-nießen. �Überschüsse�, d.h. Einnahmen, die über 92%des Länderdurchschnitts liegen, werden nach einemprogressiven Tarif abgeschöpft. Obwohl die Steuer-einnahmen in diesen Ländern ca. 40% über demDurchschnitt liegen, bleiben ihnen nach der Umver-teilung gerade noch 2%.Unbelehrbar wie ich bin, kann und will ich nicht glau-ben, daß die das ewig hinnehmen.

� Auch finanzschwache Länder erfahren, so heißt es,hohe Belastungen, denn auch bei ihnen werden zu-sätzliche eigene Landessteuereinnahmen in enormemMaße abgeschöpft. So bleiben zum Beispiel im LandBremen von jeder zusätzlich eingenommenen Steuer-Mark nach Abzug des Länderfinanzausgleichs nurnoch 1,1 Pfennige übrig.Immer noch unbelehrbar wie ich bin, kann und willich nicht glauben, daß auch die das ewig hinnehmen.

Ich kann und will auch nicht glauben, daß die Politikerauf Landesebene sich weiter den Abbau von Kompe-

tenzen und Gestaltungsspielräumen gefallen lassen. Sieselbst hatten zu der schleichenden Zentralisierung und derständigen Abtretung von Landeskompetenzen an denBund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungnicht gerade wenig beigetragen. Sie taten es in Erwartungschnöder und kurzfristiger Umverteilungsgewinne.

Das wird sich bald rächen, denn umzuverteilen gibt esimmer weniger. Was dann bleibt, ist die politische Impo-tenz der Länder.

Alle diese Erkenntnisse schienen sich in der Endphaseder Ära Kohl in der damaligen Regierungskoalition lang-sam herumzusprechen. Selbst der damalige Finanzmini-ster legte Ideen zur umfassenden Reform des Länder-finanzausgleichs vor.

Jetzt haben wir eine neue Regierung. Der neue Kanz-ler hat vor der Bundestagswahl inniglich beteuert, daß ervom Abschied von der Umverteilungsmentalität im deut-schen Föderalismus nichts wissen möchte.

Aber wir haben uns ja schon in den ersten Wochender neuen Zeitrechnung daran gewöhnt, daß ein Kanz-lerwort keinesfalls immer das letzte Wort dieser Regie-rung sein muß. Der Kanzler kann schließlich nicht ver-hindern, daß die Neuordnung des Finanzausgleichs in die-ser Legislaturperiode auf die Agenda kommt. Außerdemsind die Karten nach dem Wahlsieg auf allen Ebenen vielgründlicher neu gemischt worden, als viele dies wahrneh-men.

Vielleicht haben wir verabsäumt, uns vor der Wahl dieFarbe der Gesichter mancher SPD-Länderchefs genaueranzusehen. Man weiß ja, daß Kleinkinder, die etwas ha-ben wollen, manchmal vor ihren Eltern trotzig die Luftanhalten, bis sie blau im Gesicht werden, um ihr Ziel zuerreichen.

So muß es manchem Ministerpräsidenten in SPD-re-gierten Ländern gegangen sein. Der Wahlsieg auf Bun-desebene schien jede Form von Selbstverzicht wert zusein. Um diesen Wahlsieg zu erringen, brauchte man ei-nen blockadefähigen Bundesrat � eine Institution, diedurch jede halbwegs sinnvolle Föderalismusreform, die

Otto Graf LambsdorffFinanzverfassung für eine subsidiäre Demokratie

Page 49: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

49

auf der Rückführung von Kompetenzen an die Länderbasieren muß, schwer an Bedeutung verliert.

Auch wollte man der Regierungskoalition kein sodurchschlagendes Erfolgserlebnis gönnen wie eine Re-form der Finanzverfassung. Das alles ist nun vorbei.

Die Lage ist heute wie folgt: Die bürgerlichen Partei-en haben noch kein Interesse an einem starken Bundesrat,da sie ihn ja noch nicht in ihrer Hand haben. Sie sind alsoweiterhin offen für Reformen.

Einige SPD-Länder brauchen keine Rücksicht mehrauf die in Wahlkampfzeiten nötige Geschlossenheit allerParteiebenen zu nehmen. Endlich können ihre Minister-präsidenten nun tief durchatmen, um ihrem Gesicht wie-der eine natürliche Hautfarbe zu geben.

Ministerpräsident Eichel in Hessen tat dies schon mitErleichterung, als er im Herbst 1998 eine Kommissionzur �Reform des Föderalismus� forderte. Dies verwun-dert nicht, ist doch Hessen als einer der großen Netto-zahler im Finanzausgleich eines der besonders hart ge-schröpften Länder. Es würde mich nicht wundern, wennauch Nordrhein-Westfalen � ein anderer Nettozahler �bald kräftig in das gleiche Horn stoßen würde. Minister-präsident Clement gehört ja zu den wenigen, die den Slo-gan der �Neuen Mitte� der SPD tatsächlich ernstzuneh-men scheinen.

Hinter vorgehaltener Hand geben einem selbst Ver-treter der finanzschwächeren Länder zu verstehen, daßsie immerhin an moderaten Reformen interessiert seien.So etwas findet sich sogar in manchen der neuen Bundes-länder. Fügt man dann noch hinzu, daß meine eigene Par-tei sich in letzter Zeit von einem tradierten Zentralismushin zu einer Position bewegt hat, die genuine Länderver-antwortlichkeiten, echte Subsidiarität und Wettbewerbs-föderalismus will, so ergibt sich das Bild eines breitenKonsenses, daß etwas unternommen werden muß.

Ich denke, die Kräfte, die diesen Konsens tragen, ha-ben bereits eine so große �kritische Masse� erreicht, daßman sie nicht mehr ohne jegliche Konzessionen überge-hen kann. Inzwischen habe ich sogar schon Worte des

Bundeskanzlers vernommen, daß er doch einer Födera-lismusreform-Kommission nicht so abgeneigt sei, wie eres noch vor der Wahl war.

Wie weit die Reformen am Schluß gehen werden,weiß ich nicht. Immerhin scheint mir sicher, daß die Rich-tung stimmen wird.

Vielleicht wird es � entschieden zu bescheiden! � nurauf eine leichte Abflachung der Umverteilungskurve beimFinanzausgleich hinauslaufen. Vielleicht kommt der Vor-schlag der Bundesländer Bayern und Baden-Württembergvom März 1998 zur Reform des Finanzausgleichs zumTragen, der einen linearen Ausgleichstarif von 50% füralle Länder vorsieht (d.h. von jeder zusätzlich erzieltenLandessteuermark bleiben den Ländern 50 Pfennig). Dieserlaubt immerhin noch so viel Umverteilung, aber auchso viel Spielraum, daß auch finanzschwache Länder wiedas Saarland dem eigentlich zustimmen könnten � wenn-gleich nicht sicher ist, ob sie es tun.

Ich selbst werde nicht von den Maximalforderungenabweichen, die ich vor einiger Zeit der Öffentlichkeitvorgestellt habe. Sie besiegeln auch formell den Abschiedvon der Umverteilungsethik, da sie die Forderung nachStreichung der Grundgesetzgebote auf Gleichwertigkeitbzw. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse beinhalten.

Die Umverteilungsethik führt in der Praxis nur zu ei-ner Konservierung gerade jener Strukturschwächen, diedie entsprechenden Länder so sehr zurückfallen lassen.

Zwei Leitlinien für die Reform des Finanzausgleichshalte ich für entscheidend:

� Es sollte die Menge der Transfers, die noch so Absur-ditäten wie Umsatzsteuervorwegausgleich, Einwoh-nerveredelung, Stadtstaatenprivileg, Hafenprivileg,Fehlbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen, Sonder-bedarfs-Bundesergänzungszuweisungen und vielesmehr umfaßt, radikal auf einen Transfer reduziertwerden.

� Nur noch der Notfall, wenn ein Land seinen grund-gesetzlich festgelegten Pflichten zur Wahrung der per-

Page 50: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

50

sönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte nichtmehr nachkommen kann, sollte zum Transfer berech-tigen.

Für die neuen Länder bedeutet dies sicher, daß sienoch eine Weile kräftig unterstützt werden. Aber insge-samt bedeutet dies zunächst einmal Selbstverantwortungfür die Länder. Diese Selbstverantwortung wird Poten-tiale wecken, die vernünftige Verwendung von Ressour-cen stärken und den Standortwettbewerb zwischen denRegionen fördern.

Ein kluges konstitutionelles Arrangement, so solltenwir wissen, ist ein entscheidender Faktor für wirtschaftli-chen Erfolg.

Wie weit wir in diese Richtung gehen, das hängt auchdavon ab, wie wir die Notwendigkeit und die Vorteileeiner umfassenden Reform des Föderalismus dem Bür-ger vermitteln. Hier sehe ich schwere Defizite.

Ich nehme mich selbst da nicht aus, wenn ich sage,daß die meisten Verfechter einer solchen Reform einembisweilen recht aufdringlichen Ökonomismus frönen. Dasist verständlich, weil die finanzpolitische Seite des Pro-blems das zur Zeit akuteste Problem darstellt.

Das ist auch verständlich, weil so viele der Reforman-hänger der Ökonomenzunft angehören, innerhalb derersich ordnungspolitisch sauberes Denken anscheinend bes-ser konserviert hat als in anderen Fachwissenschaften.

Dennoch: Das Thema bietet mehr.Es könnte unsere demokratische Kultur bereichern �

und dies sollte ab und zu auch einmal betont werden.Sowohl die rücksichtslose Selbstbedienungsmentalität vie-ler Politiker (aber auch Bürger) als auch die insgesamt zuhohe Steuer- und Umverteilungsquote sind nicht zuletztauch die Folge davon, daß die zunehmende Zentralisie-rung unsere eigentlich als bürgernah konzipierte Demo-kratie zu einer bürgerfernen Demokratie degenerieren ließ.

Jeder Bürger hat ja bekanntlich zwei Herzen in seinerBrust � ein Herz als Steuerzahler und ein Herz als Emp-fänger staatlicher Wohltaten. Vom taxpayer und taxeatersprechen die Amerikaner.

Je weiter entfernt der Staat, desto eher glaubt der Bür-ger, daß es eine anonyme �Gesellschaft� ist, die da guteGaben gibt, und nicht etwa konkrete Mitbürger, denen indie Tasche gegriffen wird. Der Bürger ist da meist nichtbesser als der vielgescholtene Politiker, was Käuflichkeitund Egoismus angeht. Der taxeater in der Brust gewinntschnell Überhand.

Je näher die Gemeinschaft ist, desto mehr werden dieTransfers auch von deren Ethos oder Gemeinsinn defi-niert und begrenzt. Dieses spräche vielleicht sogar für eineKommunalisierung wesentlicher Transfersysteme.

In jedem Fall wäre ein solcher Föderalismus auch iden-titätsstiftend und könnte so zur Stabilisierung der freiheit-lichen Ordnung beitragen. Dies hat mehr mit der kon-kreten Situation im heutigen Deutschland zu tun als mandenkt. Vielleicht hätte man so eher erreichen können, daßsich die Bürger der ehemaligen DDR nicht in dem Maßevon der bundesdeutschen Demokratie abwenden, wie siees in der vergangenen Bundestagswahl durch die hoheStimmabgabe zugunsten der PDS zeigten.

Man hätte vielleicht Chancen anbieten können, sichden unterschiedlichen Lebenserfahrungen angemesseneunterschiedliche politische Identitäten zu schaffen. Stattdessen wurden selbst die abstrusesten Bauvorschriftennach westlichem Muster in die neuen Länder übertragen.

Kein Wunder, wenn viele Menschen dann ihre Identi-tät durch eine Flucht in eine vermeintlich gemütlichereVergangenheit suchen.

Eine lebendige Demokratie entsteht nur dann, wennder Bürger wirklich das Gefühl hat, sie sei auch sein eige-nes Werk. Eine subsidiäre Demokratie, und damit eineechte Demokratie, ist daher nicht nur in den neuen Län-dern das Gebot der Stunde, sondern überall. Es mußSphären geben, in denen es exklusive bürgernahe Gestal-tungsräume gibt, die nicht antastbar sind.

Das gilt nicht zuletzt auch in bezug auf die Europäi-sche Union. Der Glaube, man müsse nur irgendwo einedemokratisch gesicherte Struktur als Souverän haben,dann stellten sich Bürgerrechte von alleine ein, ist falsch.

Otto Graf LambsdorffFinanzverfassung für eine subsidiäre Demokratie

Page 51: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

51

Die EU wird � entgegen dem Glauben, den viele Par-teiprogramme verbreiten � durch ein gestärktes Europa-parlament nicht automatisch bürgernäher.

Hier wie dort müssen Möglichkeiten eingeräumt wer-den, daß die untersten Ebenen auch tatsächlich ihre Sou-veränität in vielen Gebieten verteidigen können.

Schließlich ist eine subsidiäre Demokratie auch eineim liberalen Sinne wesentlich begrenztere Demokratie, inder Person und Eigentum, Menschenrechte und Markt-wirtschaft stärker geschützt werden.

Grenzen tun der Demokratie und ihren Bürgern eben-so gut wie jeder anderen Regierung.

Page 52: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

52

Page 53: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

53

Wettbewerb der Steuersysteme

Page 54: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

54

Page 55: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

55

Steuerwettbewerb im Föderalismus �Ideal und Wirklichkeit

1 Einleitung

Tocqueville hat einmal bemerkt, die Idee des Födera-lismus bestehe darin, die Vorzüge der Größe und derKleinheit von Staaten miteinander zu verbinden. DieserGedanke Tocquevilles trifft durchaus den Kern der ge-genwärtigen Föderalismusdebatte in Deutschland: Hiergeht es nämlich genau darum, inwieweit unsere föderalenStrukturen noch den Vorteilen der Kleinheit gerecht wer-den, ob also die Chancen, die Eigenständigkeit und Viel-falt im Föderalismus bieten, ausreichend genutzt werden.Die Befürworter einer Reform sehen die entscheidendenSchwächen des bestehenden Systems darin, daß die star-ke Zentralisierung und die vielfältigen kooperativen Ele-mente im deutschen Föderalismus die Entscheidungsspiel-räume und die Autonomie der Bundesländer zu stark ein-schränken, daß also � im Sinne Tocquevilles � von derMöglichkeit der Kleinheit zu wenig Gebrauch gemachtwird.

Aus ökonomischer Sicht stellt sich vor allem das Pro-blem, daß im gegenwärtigen System kein funktionsfähi-ger Wettbewerb zwischen den Bundesländern zustandekommt; Reformüberlegungen richten sich daher vor al-lem darauf, das Wettbewerbselement im deutschen Fö-deralismus wieder zu stärken und bestehende Fehlanreizeabzubauen. Dabei kann man drei Ansatzpunkte für Re-formen unterscheiden. Auf der Aufgaben- und Ausga-benseite sollen die Entscheidungskompetenzen der Län-der verbessert und Mischzuständigkeiten abgebaut wer-den; Stichworte sind hier das Hochschulrahmengesetzund die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a, b GG.Auf der Einnahmenseite steht einmal der Finanzausgleichim Mittelpunkt der Diskussion. Als weiterer Reform-schritt wird schließlich auch gefordert, von der bisher (fastausschließlich) bundeseinheitlichen Steuergesetzgebungabzurücken und den Ländern zumindest in gewissen

Grenzen eigene Besteuerungskompetenzen einzuräumen.Gerade die Idee einer solchen Steuerautonomie stellt einbesonderes Reizthema dar, bedeutet sie doch, daß damitzugleich auch der Steuerwettbewerb Einzug in den deut-schen Föderalismus halten würde. Jedes Bundesland mußsich dann nämlich mit seiner Steuerpolitik gegenüber denanderen Ländern behaupten; denn höhere Steuern, dienicht mit einem attraktiven Angebot an öffentlichen Gü-tern einhergehen, können Abwanderungsprozesse aus-lösen. Ein solches Wettbewerbselement bei der Besteue-rung läuft der Denktradition des deutschen Föderalismusfreilich zuwider. Deswegen ist auch der Widerstand ge-gen eine solche Reform besonders ausgeprägt.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine erfolgver-sprechende Reform unseres föderalen Systems ohne eineStärkung der Besteuerungskompetenzen der Länder unddamit ohne Elemente des Steuerwettbewerbs auskom-men kann. Um hier eine Antwort zu finden, empfiehlt essich, in drei Schritten vorzugehen. Erstens lohnt es sich,einmal zu überlegen, warum in anderen Föderalstaaten �ganz im Gegensatz zur deutschen Situation � Steuerwett-bewerb zugelassen wird: Wo liegen die Vorteile, die dieseLänder dazu bewogen haben, diese Lösung zu wählen?Zweitens muß man sich fragen, welche Folgen der Ver-zicht auf Steuerwettbewerb in Deutschland hat. Geradewenn man sich im Ergebnis für mehr Steuerwettbewerbausspricht, stellt sich aber eine dritte Frage: Welche prak-tikablen Möglichkeiten gibt es, die Steuerautonomie derLänder zu stärken?

2 Steuerautonomie und Steuerwettbewerb

Grundsätzlich ist eine Steuerautonomie der Länder mitder deutschen Finanzverfassung durchaus vereinbar. DieWirklichkeit sieht aber so aus, daß � abgesehen vom

Bernd Huber

Page 56: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

56

Hebesatzrecht der Gemeinden bei der Gewerbesteuerund Bagatellsteuern auf kommunaler Ebene � die ge-samte Steuergesetzgebung durch Bundesgesetze geregeltwird. Auch bei reinen Landessteuern wie der Kfz-Steuergelten bundeseinheitliche Regeln, so daß ein einzelnes Bun-desland keine Möglichkeit hat, z. B. die Höhe der Steuer-sätze in eigener Verantwortung zu verändern. Natürlichüben die Bundesländer als Kollektiv über den Bundesraterheblichen Einfluß auf die Steuerpolitik und die Steuer-gesetzgebung aus; dies ändert aber nichts daran, daß eineinzelnes Bundesland über keinerlei eigenständige Ge-staltungsspielräume bei der Steuerpolitik verfügt. DieseSituation ist in mancher Hinsicht paradox: Ein Bundes-land wie Nordrhein-Westfalen, das mehr Einwohner hatals viele Mitgliedsländer der EU, ist nicht in der Lage, auseigener Kraft von seinen Bürgern Steuern einzufordern,um z. B. dringende Infrastrukturinvestitionen finanzierenzu können.

Tatsächlich ist der völlige Verzicht auf eine eigenstän-dige Besteuerungskompetenz auch im internationalenVergleich völlig ungewöhnlich. In den meisten Föderal-staaten ist es zentraler Bestandteil der föderalen Struktur,daß die Gliedstaaten über eigene Besteuerungsrechte ver-fügen. Als Beispiele seien hier nur die USA, Kanada oderdie Schweiz genannt.1 Damit setzen diese Länder ihreGliedstaaten grundsätzlich einer Situation des Steuerwett-bewerbs aus. Offenbar überwiegen in der Einschätzungdieser Länder die Vorteile der Steuerautonomie und desdaraus resultierenden interregionalen Steuerwettbewerbsdie negativen Folgen, die dagegen in der deutschen Dis-kussion betont werden.

1 Welche Vorteile verspricht ein föderales Systemmit Steuerautonomie und interregionalemSteuerwettbewerb?

Ein wichtiger Grund, den Gliedstaaten in einem fö-deralen System eigene Besteuerungsrechte zu gewähren,liegt darin, damit ihre Autonomie und Entscheidungs-spielräume zu stärken. In Ländern wie den USA oder der

Schweiz mit einer langen föderalen Tradition bildet da-her die regionale Steuerkompetenz einen festverwurzel-ten Kern des föderalen Selbstverständnisses. RegionaleSteuererhebungsrechte erweitern die Handlungsmöglich-keiten in mehrfacher Hinsicht: Wird in einer Region dieGesamtsteuerbelastung der Föderation als zu hoch emp-funden, kann dies durch niedrigere regionale Steuersätzeteilweise ausgeglichen werden. Umgekehrt kann durcheine stärkere Besteuerung in der Region Wünschen nacheiner zusätzlichen Versorgung mit (regionalen) öffentli-chen Gütern Rechnung getragen werden. Grundsätzlichist zu erwarten, daß sich die Versorgung mit öffentlichenGütern in einer Region besser mit den Präferenzen ihrerBürger abstimmen läßt. Zudem ist zu bedenken, daß ei-gene Besteuerungsrechte die Abhängigkeit von der Zen-tralregierung reduzieren; auch dies erweitert potentiell dieSpielräume regionaler Politik.

Für die Bürger in den Regionen ergeben sich danebenweitere Vorteile: Die regional erhobenen Steuern habenden Charakter von �Steuerpreisen� für die regionalangebotenen öffentlichen Güter und Leistungen; dadurchwerden die Kosten und Nutzen alternativer Politiken fürdie Bürger transparenter und eine rationale Wahlentschei-dung erleichtert. Unter polit-ökonomischen Gesichts-punkten ist als positiver Effekt zu verzeichnen, daß dieVerantwortlichkeit der Regionalregierung gegenüber ih-ren Wählern gestärkt wird, denen sie über die Verwen-dung der gezahlten Steuern Rechenschaft ablegen muß.

Es gibt noch ein weiteres Argument, das für eine re-gionale Steuerautonomie spricht: Im allgemeinen ist zuerwarten, daß sich die Präferenzen für (regionale) öffent-liche Güter zwischen den Regionen unterscheiden. Bei ei-ner einheitlichen Besteuerung stellt sich sofort die Frage,wie solche Präferenzunterschiede berücksichtigt werdensollen. Das Problem läßt sich an einem einfachen, zuge-

Bernd HuberSteuerwettbewerb im Föderalismus � Ideal und Wirklichkeit

1 Dem deutschen Modell folgen dagegen Österreich und Austra-lien.

Page 57: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

57

spitzten Beispiel illustrieren. Unterstellt sei, daß das Steu-eraufkommen je Einwohner in allen Regionen gleich hochist, so daß nach diesem Kriterium ein distributiver Fi-nanzausgleich entfällt. Unterscheiden sich die Regionen inden Präferenzen für öffentliche Güter2, führt aber eineeinheitliche Besteuerung zwangsläufig in einigen Regio-nen dann zu einer Über-, in anderen zu einer Unter-versorgung mit regionalen öffentlichen Leistungen. Hierbietet eine regionale Besteuerungsautonomie einen einfa-chen Ausweg: Regionen mit niedriger Nachfrage werdenniedrigere Steuern erheben, solche mit hoher ihre Steuernerhöhen, so daß insgesamt ein effizienter(er) Versorgungs-grad erreicht wird.

Schon dieses sehr einfache Beispiel zeigt, daß eine re-gionale Besteuerungsautonomie auch zu interregional un-terschiedlichen Steuersätzen führt. Bei solchen Steuersatz-differenzen ist dann aber auch mit Wanderungsprozessenmobiler Haushalte und Produktionsfaktoren zwischenden Regionen zu rechnen. So werden sich Individuen mitgeringer Präferenz für öffentliche Güter in Regionen mitniedrigen Steuern und öffentlichen Leistungen niederlas-sen. Dies hat wiederum Rückwirkungen auf die regiona-le Steuerpolitik; denn jede Region muß bei ihren steuer-politischen Entscheidungen berücksichtigen, daß dadurchZu- oder Abwanderungsbewegungen ausgelöst werden.Genau dies bezeichnet natürlich das Phänomen des Steu-erwettbewerbs.

Tatsächlich führt dieser Steuerwettbewerbsprozeßunter bestimmten Bedingungen zu einem effizienten Wett-bewerbsgleichgewicht. Diesen Zusammenhang beschreibtdas berühmte Tiebout-Modell (Tiebout, 1956). DieGrundidee von Tiebout ist zunächst einmal einfach: JedeRegion bietet eine bestimmte Menge an (regionalen) öf-

fentlichen Gütern an, für die sie von den EinwohnernSteuern erhebt, die ökonomisch den Charakter von �Steu-erpreisen� haben; die Wirtschaftssubjekte wandern dannin die Region, die das für sie attraktivste Bündel von Steu-ern und Leistungen bietet (voting by feet). Durch das Wech-selspiel der Regionen als Anbieter und der Haushalte alsNachfrager von öffentlichen Gütern wird dann insgesamteine gesamtwirtschaftlich optimale Ressourcenallokationerreicht. Das Tiebout-Modell spricht klar für einen wett-bewerblichen Föderalismus; ähnlich wie Märkte bei pri-vaten Gütern sorgt der Wettbewerb der Regionen füreine effiziente Versorgung mit (regionalen) öffentlichenGütern. Aus dieser Sicht erscheint der Steuerwettbewerb,der den Finanzierungsaspekt des interregionalen Wettbe-werbs im Tiebout-Ansatz darstellt, nicht als Gefahr, son-dern als außerordentlich positives Element des Födera-lismus.

Die entscheidende Frage ist aber, ob man wirklicherwarten kann, daß der föderale Wettbewerb so pro-blemlos funktioniert, wie es das Tiebout-Modell mit sei-nen idealisierenden Annahmen (z. B. vollständige Mobili-tät der Haushalte) unterstellt. Hierzu findet man in dertheoretischen Literatur eine Flut von Beiträgen, die dasFür und Wider des Tiebout-Ansatzes diskutieren. EinErgebnis ist dabei besonders interessant: Ein effizienterüberregionaler Wettbewerb kommt um so eher zustan-de, je mehr Besteuerungsinstrumente die Regionen zurVerfügung haben (Myers, 1990; Wellisch, 1995). Von ei-ner Stärkung der Besteuerungskompetenzen sind alsopositive Wirkungen zu erwarten.

Darüber hinaus ist der Ansatz von Tiebout auch em-pirisch untersucht worden, und zwar vor allem für dieUSA, in denen ja wegen der ausgeprägten bundesstaatli-chen und kommunalen Besteuerungskompetenzen einreger föderaler Wettbewerb herrscht. Diese Studien lie-fern � auch aufgrund methodischer Probleme � keinvöllig klares Bild; immerhin deuten sie aber an, daß derTiebout-Mechanismus zumindest teilweise wirksam ist(Oates, 1994).

2 Beispielsweise kann man sich vorstellen, daß auch unter anson-sten gleichen Bedingungen wie Einkommen je Einwohner etc.die Nachfrage nach öffentlichen Gütern in Regionen mit größe-rer Bevölkerungsdichte höher ist.

Page 58: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

58

Zusammenfassend kann man also festhalten, daß derSteuerwettbewerb eine Reihe von Vorteilen verspricht;dies erklärt auch, warum viele Föderalstaaten denSteuerwettbewerb als Element ihrer Finanzverfassungzulassen und folgerichtig regionale Besteuerungsrechtegewähren. Dennoch ist aber die Skepsis gegen den Steu-erwettbewerb weit verbreitet; vor allem wird vielfach einsteuerliches race to the bottom befürchtet, das zu einem ge-fährlichen Schrumpfen der staatlichen Einnahmen führt.Die Frage ist daher, ob diese Sorgen berechtigt sind.

2 Welche Probleme kann der Steuerwettbewerbaufwerfen?

Ein wichtiger Aspekt des Tiebout-Modells besteht dar-in, daß die regional erhobenen Steuern den Charakter von�Steuerpreisen� haben und als Entgelt für die in der Re-gion angebotenen öffentlichen Güter angesehen werdenkönnen.3 Kurz: die Besteuerung orientiert sich am Prinzipfiskalischer Äquivalenz (Olson, 1969). Solange es diesenengen Zusammenhang zwischen Steuer und Inanspruch-nahme öffentlicher Leistungen gibt, ist ein ineffizienter steu-erlicher Unterbietungswettbewerb nicht zu befürchten. Erliegt auch nicht im Interesse der (mobilen) Steuerzahler;denn eine Senkung von Steuern hat ja gleichzeitig eine ge-ringere Versorgung mit öffentlichen Gütern zur Folge.

Probleme gibt es beim Steuerwettbewerb aber, so-bald vom Prinzip der Äquivalenzbesteuerung abgegan-gen wird. Abweichungen vom Äquivalenzprinzip kön-nen sich aus verschiedenen Gründen ergeben: Einmal ist

die praktische Umsetzung von Äquivalenzsteuern nichteinfach, da eine individuelle Zuordnung von Kosten undNutzen öffentlicher Leistungen vielfach nur schwer mög-lich ist. Auch die Verzerrungswirkungen des Gesamtsteu-ersystems setzen reinen benefit taxes enge Grenzen; bei derSteuerpolitik ist dann nämlich auch das Ziel zu berück-sichtigen, die excess burden der Besteuerung möglichst ge-ring zu halten. Der wichtigste Grund, warum in der Rea-lität vom Äquivalenzprinzip abgewichen wird, ist aberwohl, daß mit der Besteuerung auch Umverteilungszieleverfolgt werden, also explizit gerade keine fiskalischeÄquivalenz angestrebt wird.

Wie sich fehlende fiskalische Äquivalenz beim Steuer-wettbewerb auswirkt, illustriert exemplarisch der Fall ei-ner (Quellenland-)Besteuerung von mobilem Kapital.Solange jede Region den regionalen Kapitaleinsatz einerSteuer unterwirft, die die Grenzkosten der öffentlich be-reitgestellten Infrastruktur abdeckt, ergeben sich, ganz ge-mäß Tiebout, keine Probleme. Wenn die Regionen je-doch versuchen, höhere Kapitalsteuern zu erheben,kommt es zu einem Unterbietungswettbewerb. Für dieeinzelne Region besteht dann nämlich der Anreiz, ihreKapitalsteuern zu reduzieren und zu Lasten anderer Län-der zusätzliches Kapital anzulocken. Dadurch wird einSteuersenkungswettlauf in Gang gesetzt, an dessen Endedie Kapitalsteuer auf den Wert gedrückt wird, der sichbei einer reinen Äquivalenzbesteuerung ergibt.

Es wäre aber falsch, nun deswegen den Regionen ei-gene Besteuerungsrechte zu verweigern; denn es ist ja nachwie vor sinnvoll, daß die Regionen Steuern erheben kön-nen, die als Entgelt für die Inanspruchnahme öffentlicherLeistungen dienen. Der Steuerwettbewerb kann also kei-nesfalls als Rechtfertigung für den völligen Verzicht aufBesteuerungsautonomie herhalten; regionale Besteue-rungsrechte sind vielmehr dringend notwendig, um eineBesteuerung nach dem Äquivalenzprinzip zu ermöglichenund damit die allokativ erwünschte Lenkungsfunktion vonSteuerpreisen zu nutzen (Oates, 1994).

Bernd HuberSteuerwettbewerb im Föderalismus � Ideal und Wirklichkeit

3 Genauer gesagt, zahlt ein Wirtschaftssubjekt gerade die Grenz-kosten, die durch seine Zuwanderung bei der Bereitstellung desöffentlichen Gutes entstehen. Unterstellt man � wie bei vielenModellen in der Tiebout-Tradition � partielle Rivalität, ent-spricht die Steuer den marginalen Überfüllungskosten. Liegt einquasi-privates öffentliches Gut vor, ergibt sich eine Steuer inHöhe der volkswirtschaftlichen Grenzkosten der Herstellungdieses Gutes (Wellisch, 1995).

Page 59: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

59

Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, daßeiner Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip doch engeGrenzen gesetzt sind. Hier sind � wie erwähnt � einmalDurchführungsprobleme zu nennen; vor allem ist aberdie Äquivalenzbesteuerung ungeeignet, wenn es um dieFinanzierung z. B. von regionalen Umverteilungsaufga-ben, reinen öffentlichen Gütern oder öffentlichen Pro-jekten mit Unteilbarkeiten geht (Sinn, 1997).

Damit stellt sich die Frage, wie die Versorgung mitöffentlichen Gütern, bei denen eine (ausschließliche) Fi-nanzierung mit Äquivalenzsteuern nicht möglich ist, sicher-gestellt werden soll. Eine einfache Möglichkeit bestehtdarin, die Bereitstellung solcher Güter dem Zentralstaatzu übertragen. Die stetig wachsende Verlagerung vonAufgaben auf die Bundesebene belegt, daß von dieserLösung im deutschen Föderalismus reichlich Gebrauchgemacht wurde. Tatsächlich ist aber ein zentralstaatlichesAngebot eines öffentlichen Gutes nur sinnvoll, wenn auchein gesamtstaatliches Interesse an seiner Bereitstellungvorliegt, es sich also letztlich um ein nationales öffentli-ches Gut handelt. Wenn es dagegen um originäre Lan-desaufgaben wie z. B. die Hochschulen geht, spricht schondie Bündelung der Informationen über Kosten und Nut-zen auf regionaler Ebene für eine dezentrale Lösung(Oates, 1972). Zudem hat eine Zentralisierung weitereNachteile: Sie untergräbt die Autonomie und Eigenver-antwortlichkeit der Länder und höhlt so die föderalenStrukturen aus. Weiterhin ist zu bedenken, daß einerzentralstaatlichen Bereitstellung regionaler öffentlicherGüter eine Tendenz zur Überversorgung innewohnt.Wenn die Finanzierung aus dem allgemeinen Steuerauf-kommen erfolgt, muß man damit rechnen, daß die Re-gionen eine künstlich überhöhte Nachfrage entfalten, weilsie zwar das regionale öffentliche Gut voll nutzen, abernur einen Teil der Kosten tragen. Fazit: Auch wenn dieFinanzierung eines regionalen öffentlichen Gutes nachdem Äquivalenzprinzip ausgeschlossen ist, sollte dennocheine dezentrale Bereitstellung erfolgen, also die Aufgaben-und Ausgabenkompetenz bei der jeweiligen Region ver-bleiben.

Dies wirft allerdings die Frage nach der Finanzierungsolcher Güter auf. Hier kann man einmal daran denken,den Regionen einen Teil des allgemeinen gesamtstaatli-chen Steueraufkommens zu überlassen. Dies beschreibtletztlich den Weg, der in Deutschland gewählt wurde; vorallem über ihre Beteiligung an den Gemeinschaftsteuernfließen den Ländern Mittel zu, um ihre Ausgaben zu fi-nanzieren. Diese Lösung ist aber alles andere als befriedi-gend: Zum einen bleiben � wie erwähnt � länderspezifi-sche Präferenzunterschiede unberücksichtigt. Noch be-denklicher ist aber, daß bei dieser Lösung der Zu-sammenhang zwischen Kosten und Nutzen verwischtwird. Während die Nutzen in der Region verbleiben,werden die Kosten � wenn man auch noch den Finanz-ausgleich berücksichtigt! � aus dem Steueraufkommen desGesamtstaates bestritten. Dadurch wird ein Verhaltenbegünstigt, bei dem sich jedes Land zwar das jeweiligeAngebot an öffentlichen Leistungen zurechnet, die Ver-antwortung für die hohe Gesamtsteuerbelastung aberdem Bund zuweist. Hat sich diese Auffassung erst einmaldurchgesetzt, besteht die Gefahr, daß die Länder � wiein der Vergangenheit oft geschehen � auf eine Ausdeh-nung ihrer Einnahmen und Ausgaben drängen, währenddie Finanzierungsfolgen in Form höherer Steuern demBund angelastet werden. Kurz: Eine ausschließliche Fi-nanzierung aus dem Topf des Gesamtsteueraufkommensuntergräbt letztlich die Eigenverantwortlichkeit der Län-der. Diese Entwicklung birgt auf Dauer aber erheblicheGefahren für den deutschen Föderalismus; eine Reformerscheint dringend geboten.

Die einzige wirksame Therapie besteht dabei darin,den Ländern Finanzierungsmöglichkeiten zu eröffnen, diesie in eigener Verantwortung verwalten können (undmüssen). Hier bietet sich naturgemäß eine Stärkung derBesteuerungskompetenzen der Länder als Lösung an.Damit landet man aber wieder beim ursprünglichen Pro-blem: Wenn der interregionale Steuerwettbewerb nurnoch eine � faktisch nur sehr eingeschränkt wirksame �Äquivalenzbesteuerung zuläßt, ist diese Lösung verbaut.

Page 60: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

60

Bernd HuberSteuerwettbewerb im Föderalismus � Ideal und Wirklichkeit

Nun muß man sich allerdings fragen, ob die These vomrace to the bottom wirklich zutrifft. Hier gibt es verschiedenegrundsätzliche Einwände zu bedenken: In der Welt vonTiebout wird von einer geradezu unbegrenzten Mobilitätausgegangen; die reale Welt sieht allerdings anders aus:Grundsätzlich sind bestimmte Haushalte und Produktions-faktoren wie Boden als immobil anzusehen. Konsequenz:Schon die Besteuerung immobiler Haushalte oder Fakto-ren eröffnet einer einzelnen Region die Möglichkeit, überdie Grenzen einer reinen Äquivalenzbesteuerung hinauszu-gehen. Auch bei der Besteuerung mobiler Haushalte/Fak-toren liegen die Dinge komplizierter, als es bei einer einfa-chen Teilnahme an der Steuersenkungswettlauf-Debatteerscheinen mag. Gerade die Besteuerung von mobilemKapital verdeutlicht dies: Zum einen gibt es für eine einzel-ne Region keineswegs nur Anreize, Kapitalsteuern zu sen-ken, um Kapital zu attrahieren, sondern auch, diese Steuernhochzutreiben, um gebietsfremde Kapitaleigner zu bela-sten (Mintz, 1994). Auch bei Existenz von Arbeitslosigkeitund der Möglichkeit, nicht-lineare Steuern zu erheben, gibtes Tendenzen, Kapitalsteuern eher zu hoch anzusetzen, alssie zu reduzieren (Fuest/Huber, 1998; Huber, 1998).

Wie es um die Möglichkeit bestellt ist, auch in einerSituation des Steuerwettbewerbs eigenständig Steuern zuerheben, läßt sich aber letztlich nur empirisch klären. Da-bei lohnt sich ein Blick auf die internationale Steuerwett-bewerbslandschaft: Es wird nämlich vielfach argumen-tiert, daß es � vor allem bei der Kapitalbesteuerung � eindramatisches race to the bottom gibt. Diese Behauptungdient zugleich oft dazu, einen Steuerwettbewerb zwischenden Bundesländern von vornherein als völlig abwegigeIdee zu diskreditieren. Tatsächlich gibt es aber keinen stich-haltigen Beleg dafür, daß international ein ruinöser Steu-erwettbewerb stattfindet. Zwar wird hier bei der Kapi-talbesteuerung oftmals auf den Rückgang der Körper-schaftsteuersätze verwiesen; dieses Argument ist aber ir-reführend: Diese Entwicklung ist nämlich nicht auf denSteuerwettbewerb zurückzuführen, sondern Folge einerSteuerreformstrategie des tax rate cut cum base broadening,

bei der in den meisten Ländern einerseits die nominellenKörperschaftsteuersätze gesenkt wurden, gleichzeitig aberz. B. durch Abschreibungsverschlechterungen die Bemes-sungsgrundlage erweitert wurde. Daher ist es sinnvoll,nicht die reinen Steuersätze, sondern die Entwicklung desKörperschaftsteueraufkommens als Indikator für denSteuerwettbewerbsdruck heranzuziehen. Hier ist aberbestenfalls ein leichter Rückgang zu verzeichnen; nach ei-nem race to the bottom sucht man in der Realität vergeblich(Huber, 1997).

Dies bestätigt aber die Vermutung, daß auch im Steu-erwettbewerb Besteuerungsspielräume erhalten bleiben, dieüber eine Äquivalenzbesteuerung hinausgehen. Von daherkann man erwarten, daß die Länder auch bei öffentlichenGütern, bei denen das Äquivalenzprinzip versagt, in derLage sind, mit eigenen Steuereinnahmen zur Finanzierungbeizutragen. Dann spricht aber die Stärkung der Länder-autonomie und -verantwortlichkeit dafür, die Möglichkeiteiner eigenständigen Steuererhebung zu eröffnen.

Zusammenfassend kann man also folgendes festhalten:

� Eine Besteuerungsautonomie der Länder ist grund-sätzlich positiv zu beurteilen; sie verbessert die Bedin-gungen für selbständiges und eigenverantwortlichesHandeln.

� Auch der dann entstehende interregionale Steuerwett-bewerb ist keineswegs nachteilig, vielmehr kann mansich davon sogar eine Verbesserung in der Versorgungmit regionalen öffentlichen Gütern versprechen.

� Dies gilt auf jeden Fall für öffentliche Leistungen, beidenen eine Finanzierung nach dem Äquivalenzprinzipmöglich ist.

� Es ist nicht zu erwarten, daß es bei einem Ländersteu-erwettbewerb zu einem Race-to-the-Bottom kommtund dadurch die Besteuerungsspielräume auf eine rei-ne Äquivalenzbesteuerung reduziert werden.

� Daher kann eine Steuerautonomie der Länder auchhelfen, die Effizienz der Versorgung mit öffentlichen

Page 61: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

61

Gütern, bei denen eine Äquivalenzbesteuerung ausge-schlossen ist, zu verbessern.

3 Der Sonderfall Deutschland: Welche Folgenhat der Verzicht auf Steuerautonomie undSteuerwettbewerb?

Die Finanzverfassungen in den meisten Föderalstaa-ten weisen den Gliedstaaten eigenständige Besteuerungs-kompetenzen zu und nutzen daher die Chancen, die einSteuerwettbewerb eröffnet. Mit dem völligen Verzicht aufSteuerautonomie der Länder nimmt Deutschland dage-gen eine Sonderstellung ein. Dies hat nicht nur die Kon-sequenz, daß im deutschen Föderalismus die positivenWirkungen dieses Wettbewerbselements nicht zur Entfal-tung kommen; die völlige Ausschaltung des Steuerwett-bewerbs führt darüber hinaus zu Verwerfungen und Pro-blemen, die die ohnehin bestehenden Schwächen des fö-deralen Systems weiter verschärfen.

Hier ist einmal festzuhalten, daß in Deutschland zwarder Steuerwettbewerb ausgeschaltet wird, der fiskalischeWettbewerb deswegen aber keineswegs völlig ver-schwindet. Auch wenn es keinen Steuerwettbewerb gibt,haben die Länder z. B. Anreize, Kapital und Investitionenzu attrahieren, und stehen dabei in einem Wettbewerbs-verhältnis zueinander. Nur können sie bei diesem Wettbe-werb keine steuerlichen Instrumente nutzen, sondernmüssen auf andere Wettbewerbsparameter zurückgrei-fen. Deswegen gewinnen auf der Ausgabenseite Infra-strukturmaßnahmen, Beihilfen, Landesbürgschaften usw.überragende Bedeutung für die Standortpolitik und die-nen als Substitut für das fehlende steuerpolitische Instru-mentarium. Grundsätzlich ist dabei damit zu rechnen, daßder verstärkte Rückgriff auf Ausgabenpolitiken zu Inef-fizienzen führt (v. Weizsäcker, 1987; Fuest, 1995). Man-che fehlgeschlagene Beihilfe oder Landesbürgschaft wärevielleicht unterblieben, wenn die Länder auf das Instru-ment der Steuerpolitik hätten zurückgreifen können.

Kurz: Durch den Verzicht auf Steuerautonomie kommtes zu einer ineffizienten Substitution durch ausgabenpoli-tische Instrumente im fiskalischen Wettbewerb.

Ein weiteres Problem kommt hinzu: Durch die feh-lenden eigenen Besteuerungsrechte geraten die Länder ineine fatale Abhängigkeit vom staatlichen Gesamtsteuer-aufkommen, das zur zentralen Quelle der Ländereinnah-men wird. Der deutsche Finanzausgleich verschärft dieseTendenz noch. Es ist bekannt, daß Steuermehreinnah-men eines Landes nur zu einem kleinen Teil im Land sel-ber verbleiben, während der Löwenanteil im Finanzaus-gleichssystem vergemeinschaftet wird (Huber/Lichtblau,1998). Ein einzelnes Land kann daher nicht darauf hof-fen, von eigenen Steuermehreinnahmen z. B. infolge eineshöheren regionalen Wirtschaftswachstums nachhaltig zuprofitieren; die Abhängigkeit vom Gesamtsteuertopfnimmt dadurch noch zu.

Die Folgen sind fatal: Um die eigene Einnahmensitua-tion zu verbessern, bleibt dem einzelnen Land nur dieMöglichkeit, auf politischem Wege eine Verbesserung sei-ner Position bei der Verteilung des Gesamtsteueraufkom-mens anzustreben. Dadurch wird der politische Streit imFinanzausgleich angeheizt; die fehlende Steuerautonomiemacht den Föderalismus nicht nur ineffizienter, sondernauch konfliktträchtiger. Zudem begünstigt das bestehen-de System die Neigung der Länder, bei vielen Aufgaben� Stichwort: Gemeinschaftsaufgaben � den Bund alsPartner zu gewinnen, um auf diesem Wege zusätzlicheFinanzmittel zu erhalten; dadurch wird die ohnehin be-stehende Tendenz zur Zentralisierung weiter verstärkt.

Die fehlende Besteuerungskompetenz reduziert auchdramatisch die fiskalische Flexibilität der Länderhaushal-te. Als kurzfristig variables Einnahmeninstrument stehtden Ländern nur die Verschuldungspolitik zur Verfügung.Sind die Verschuldungsgrenzen ausgeschöpft, kann derHaushaltsausgleich nur noch durch Ausgabenkürzungenerfolgen; denen fallen dann oftmals gerade die investivenAusgaben zum Opfer. Die eigentliche Gefahr lauert aber

Page 62: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

62

Bernd HuberSteuerwettbewerb im Föderalismus � Ideal und Wirklichkeit

woanders: Es ist nicht auszuschließen, daß ein Land in sogroße Haushaltsschwierigkeiten gerät, daß die Gefahr derZahlungsunfähigkeit besteht. Als sich vor einigen Jahrenbei den Ländern Bremen und Saarland eine solche Situa-tion abzeichnete, entschied das Bundesverfassungsgericht,daß Länder, die in eine Haushaltsnotlage geraten, An-spruch auf Unterstützung durch den Bundesstaat haben.Aufgrund dieses Urteils überweist der Bund diesen bei-den Ländern Milliardenbeträge als Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zur Haushaltssanierung.

Die Probleme, die diese Entscheidung der Verfas-sungsrichter aufwirft, liegen auf der Hand: Vor allem klei-ne Bundesländer werden durch das Urteil geradezu ein-geladen, durch eine höhere Verschuldung eine verschwen-derische Ausgabenpolitik zu finanzieren und die Rück-zahlung der aufgenommenen Schulden auf den Bundabzuwälzen. Wegen dieser Begünstigung eines Moral-hazard-Verhaltens ist dieses Urteil des Verfassungsgerichtsimmer wieder heftig kritisiert worden. Andererseits ist zubedenken, daß die Entscheidung des Verfassungsgerichtsin der Logik des bestehenden föderalen Systems durch-aus folgerichtig ist. Solange den Ländern eigene Einnah-mekompetenzen verwehrt werden, gibt es letztlich kaumeine Alternative zur Lösung des Verfassungsgerichts,wenn man die Gefahr eines expliziten Länderbankrottsausschließen will.

Die daraus resultierenden Moral-hazard-Problemesind letztlich auch ein Preis, der für den völligen Verzichtauf Steuerautonomie und Steuerwettbewerb im deut-schen Föderalismus gezahlt werden muß. Die Anreize füreine übermäßige Verschuldung, deren Lasten auf Dritteabgewälzt werden, würden sich dramatisch vermindern,wenn die Länder über eigene Besteuerungskompetenzenverfügen. Wenn ein Land in eine Haushaltsnotlage gerät,könnte man dann nämlich verlangen, daß es erst einmalseine eigenen Besteuerungsspielräume ausschöpft, bevores auf Hilfe des Bundes hoffen kann.

Grundsätzlich besteht auch die Möglichkeit, Verschul-dungsanreize durch eine gesetzliche Einschränkung der

Kreditaufnahmemöglichkeiten der Länder einzudämmen.Solche Verschuldungsschranken sind aber überaus pro-blematisch, wenn ihre Einführung nicht mit der Gewäh-rung eigener Besteuerungskompetenzen für die Ländereinhergeht. Es ist nun einmal so, daß gegenwärtig dieVerschuldung bei den Ländern auf der Einnahmenseitedas einzige variable Element darstellt und für den Haus-haltsausgleich dringend benötigt wird. Es ist daher kaumvertretbar, durch Verschuldungsgrenzen die Ein-nahmenflexibilität weiter zu reduzieren. So wünschens-wert Regeln zur Defizitbegrenzung grundsätzlich sind, istihre Einführung so lange bedenklich, wie man den Län-dern eigene Besteuerungskompetenzen verweigert. DieseProbleme durchziehen im übrigen schon die Diskussionum den nationalen Stabilitätspakt, der die föderale Um-setzung der im europäischen Stabilitätspakt vereinbartenDefizit- und Verschuldungsgrenzen zum Ziel hat. DieLänder stehen bisher � nicht ganz ohne Grund � Ein-schränkungen ihrer Verschuldungsmöglichkeiten skeptischgegenüber. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß dieGewährung einer zumindest begrenzten Steuerautono-mie den Ländern die Zustimmung zu einer Begrenzungihrer Verschuldung erleichtern würde (Sachverständigen-rat, 1997). Auch von dieser Seite dürfte der Druck zu-nehmen, den Ländern in Zukunft eigene Besteuerungs-kompetenzen zuzubilligen.

Fazit: Der Verzicht auf Steuerautonomie und Steuer-wettbewerb im deutschen Föderalismus hat sich nichtbewährt, sondern vielmehr ineffizientes Ausgaben- undVerschuldungsverhalten begünstigt. Das Fehlen des Steu-erwettbewerbs, mit dem Deutschland international eineSonderstellung einnimmt, stellt daher eines der Schlüssel-probleme des deutschen Föderalismus dar, denen eineReform zu Leibe rücken muß.

Page 63: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

63

4 Wie lassen sich Steuerautonomie undSteuerwettbewerb im deutschen Föde-ralismus stärken?

Die vorhergehenden Überlegungen sprechen dafür,den Ländern eigene Besteuerungsspielräume und damitdie Möglichkeit zum Steuerwettbewerb zu eröffnen. DieFrage ist dann, wie eine solche Reform konkret aussehenkönnte. Als erster Schritt bietet sich an, stärker auf dieMöglichkeit zurückzugreifen, nach dem Prinzip fiskali-scher Äquivalenz Entgelte für die Inanspruchnahme öf-fentlicher Leistungen zu erheben. Dabei ist an Lösungenwie Studiengebühren, Schulgeld etc. zu denken. Die Zu-lassung solcher �Steuerpreise� beziehungsweise Gebüh-renlösungen erweitert nicht nur die Finanzierungsspiel-räume, sondern verspricht auch nachhaltige Effizienzver-besserungen.

Ebenso wichtig ist es aber, daß die Länder in die Lageversetzt werden, allgemeine Steuereinnahmen zu erzielen.Hier werden vor allem zwei Alternativen diskutiert, näm-lich zum einen der Übergang auf ein Trennsystem, zumanderen die Einführung eines Zuschlagsystems. DerGrundgedanke des Trennsystems besteht darin, dieGemeinschaftsteuern zu entflechten und wieder eindeutigeiner staatlichen Ebene zuzuweisen. Konkret könnte diesso aussehen, daß die Ertrags- und Gesetzgebungskompe-tenz bei der Umsatzsteuer dem Bund, bei der Einkom-men- und Körperschaftsteuer den Ländern zugeordnetwird. Beim Zuschlagsystem kann das bisherige Verbund-system bei den Gemeinschaftsteuern erhalten bleiben, denLändern (und Gemeinden) würde aber ein Zuschlagrechtbei der Einkommen- und Körperschaftsteuer eingeräumt.

Ein unbestreitbarer Vorzug des Trennsystems liegtdarin, daß es eine klare Abgrenzung der Kompetenzenvon Bund und Ländern vornimmt. Dadurch werdennicht nur die quälend langen Abstimmungsprozesse zwi-schen Bund und Ländern bei der Steuerpolitik abgekürzt,sondern auch die Verantwortlichkeiten bei der Steuerpo-

litik klargestellt, da Fehlentwicklungen sich eindeutig einerstaatlichen Ebene zuordnen lassen.

Ein Trennsystem hat aber auch Nachteile. Zunächsteinmal trägt es unmittelbar wenig dazu bei, die Besteue-rungsmöglichkeiten des einzelnen Bundeslandes und da-mit das Steuerwettbewerbselement im Föderalismus zustärken. Solange nämlich die Länder die ihnen zugewiese-nen Steuern gemeinsam bundeseinheitlich gestalten, kannvon einer Steuerautonomie der Länder keine Rede sein;ein einzelnes Land ist wie bisher auch dann nicht in derLage, selbständig Steuereinnahmen zu erzielen. Mit demÜbergang auf ein Trennsystem ist es also keinesfalls ge-tan; zusätzlich ist es notwendig, den Ländern eigenesteuerpolitische Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen.Als eine radikale Lösung könnte man daran denken, daßden Ländern im Rahmen des Trennsystems eine völligeSteuerautonomie zugebilligt wird und jedes Land z. B.eine eigene Einkommensteuer erhebt. Damit würde einSteuerwettbewerb sowohl im Hinblick auf die Gestal-tung der Bemessungsgrundlage als auch auf die Steuer-sätze eröffnet. Die Erfahrungen in anderen Ländern zei-gen, daß ein Wettbewerb der Bemessungsgrundlagen ineinem Föderalstaat gravierende Probleme aufwirft(OECD, 1998). Deswegen sind Länder wie Kanada oderdie Schweiz dazu übergegangen, die Steuerbemessungs-grundlagen der Gliedstaaten zunehmend zu harmonisie-ren, wobei aber � wohlgemerkt � die Wahl des Steuerta-rifs weiterhin auf regionaler Ebene erfolgt. Kurz: Esspricht viel dafür, den föderalen Steuerwettbewerb alseinen Wettbewerb der Steuersätze zu konzipieren. Ein sol-cher Wettbewerb läßt sich aber auch über ein Zuschlag-system verwirklichen; die Einführung eines Trennsystems,die viele grundlegende Änderungen der bestehenden Fi-nanzverfassung erfordern würde, erscheint daher als einunnötig komplizierter Weg, um mehr Steuerautonomieund Steuerwettbewerb im deutschen Föderalismus zu er-reichen.

Hinzu kommt ein weiteres Problem des Trennsystems:Dadurch, daß der Bund die Umsatzsteuer, die LänderEinkommen- und Körperschaftsteuer zugesprochen er-

Page 64: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

64

Bernd HuberSteuerwettbewerb im Föderalismus � Ideal und Wirklichkeit

halten, wird auch die Struktur direkter und indirekter Steu-ern gesamtstaatlich zementiert. Es ist richtig, daß sichdurch Bund-Länder-Vereinbarungen diese Struktur wie-der auflockern läßt (Reformkommission Soziale Markt-wirtschaft, 1998); letztlich bewegt man sich damit aberwieder zurück zum bisherigen System der Gemeinschaft-steuern.

Dies alles spricht dafür, für die Einführung einer Län-dersteuerautonomie eher auf das Zuschlag- als auf dasTrennsystem zu setzen. Ein Zuschlagsystem bei derEinkommen- und Körperschaftsteuer läßt sich im Rah-men der geltenden Finanzverfassung relativ leicht umset-zen. Wie ein solches System konkret ausgestaltet werdenkann, hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanz-ministerium bereits vor einigen Jahren dargelegt (Wissen-schaftlicher Beirat, 1992). Die wichtigsten Elemente einesZuschlagsystems lassen sich wie folgt beschreiben:

� Kern des Zuschlagsystems ist die Option für die Län-der, spezifische Zu- oder Abschläge auf Einkommen-und Körperschaftsteuer zu erheben.

� Bei der Einkommensteuer liegt es nahe, das Zuschlag-recht dem Wohnsitzland des Steuerpflichtigen zuzu-weisen; analog ist beim Lohnsteuerabzug zu verfah-ren. Allerdings gibt es auch Argumente, sich stärkeram Betriebsstättenprinzip zu orientieren (Henke undSchuppert, 1993).

� Am einfachsten ist es, wenn der Steuerzuschlag desjeweiligen Landes proportional zur Steuerschuld er-folgt; prinzipiell ist aber auch ein nichtlinearer Verlaufdenkbar, also auch eine echte Steuertarifgestaltungdurch das Land mit dem Zuschlagsystem vereinbar.

� Es ist möglich � und wohl auch sinnvoll �, Ober- undUntergrenzen für das Zuschlagrecht vorzusehen.4

Bei der Einkommensteuer bildet das Zuschlagsystemalso einen einfachen Ansatz, den Ländern eigenständigeBesteuerungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Probleme bereitet das Zuschlagsystem allerdings beider Körperschaftsteuer. Dies hängt einmal damit zusam-men, daß die deutsche Körperschaftsteuer � ökonomischgesehen � als Vorauszahlung auf die persönliche Einkom-mensteuer der Gesellschafter angelegt ist. Der Beiratschlägt daher zu Recht vor, ausgeschüttete Gewinne aufder Unternehmensebene zuschlagsteuerfrei zu stellen unddie Zuschlagsteuer bei der Einkommensbesteuerung derAnteilseigner in ihrem Wohnsitzland zu erheben. Bei deneinbehaltenen Gewinnen sieht der Beirat ein Modell vor,bei dem der nach Betriebsstätten zerlegte örtliche Ge-winn in den einzelnen Bundesländern der Zuschlagbe-steuerung unterworfen wird. Diese Lösung dürfte aller-dings mit erheblichen administrativen Problemen verbun-den sein und vor allem aber grundlegende Änderungenim Unternehmensteuerrecht erforderlich machen. Damitbesteht die Gefahr, daß wegen dieser vielfältigen prakti-schen Schwierigkeiten die Einführung des Zuschlagsy-stems auf die lange Bank geschoben wird. Deswegen istzu überlegen, ob nicht zumindest im ersten Schritt aufdie Zuschlagbesteuerung bei der Körperschaftsteuer ver-zichtet werden sollte.

Fazit: Es bieten sich durchaus praktisch gangbare Wegean, um eine Steuerautonomie der Bundesländer einzufüh-ren. Hier ist einmal die Stärkung der Finanzierungs-möglichkeiten nach dem Äquivalenzprinzip zu nennen;zum zweiten bietet sich die Einführung eines Zuschlag-systems an, das zunächst einmal bei der Einkommensteuerimplementiert werden kann.

4 Wichtig ist allerdings, daß die länderspezifischen Mehr- oderMindereinnahmen aus dem Zuschlagrecht nicht in den Finanz-ausgleich eingehen; ansonsten besteht die Gefahr, daß Steuerge-schenke zu Lasten Dritter gewährt werden.

Page 65: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

65

5 Abschließende Bemerkungen

Wenn man im deutschen Föderalismus dem Wettbe-werbscharakter wieder stärkere Bedeutung verschaffenwill, ist es dazu neben anderen Reformen auch erforder-lich, den Bundesländern eigene Besteuerungsmöglichkei-ten zu eröffnen und einen Steuerwettbewerb zwischenden Ländern zuzulassen. Auch wenn dieser Gedanke an-gesichts der deutschen Tradition gewöhnungsbedürftigist, sprechen wichtige Gründe für ein föderales Systemmit Steuerwettbewerb: Steuerautonomie und Steuerwett-bewerb sind der naheliegende Weg, um Selbständigkeitund Eigenverantwortlichkeit der Länder, an denen es imgegenwärtigen System fehlt, zu stärken. Vom Steuerwett-bewerb gehen heilsame Wirkungen in mehrere Richtun-gen aus: die Effizienz und Transparenz der Länderent-scheidungen verbessern sich, zugleich werden Defekte desbestehenden Systems wie die mangelnde Einnahmenfle-xibilität und die inhärenten Verschuldungsanreize nach-haltig abgemildert.

Das gegenwärtige System des deutschen Föderalismussteht � völlig zu Recht � in der Kritik. Zumindest auseuropäischer Perspektive bietet dieses System aber einenVorzug: Es liefert Anschauungsmaterial für das, was pas-siert, wenn man glaubt, in einem föderalen System völligauf Steuerautonomie und Steuerwettbewerb verzichtenzu können. Angesichts der vielfältigen Pläne zur Steuer-harmonisierung in Europa ist allerdings zu befürchten,daß hier nicht die richtigen Lehren gezogen werden.

Literatur

Fuest, C. (1995): Interjurisdictional Competition and Public Expen-diture, Finanzarchiv (Neue Folge) 52, S. 478-496.

Fuest, C./Huber, B. (1999): Tax Coordination and Unemployment,International Tax and Public Finance 6, S. 7-26.

Henke, K.-D./Schuppert, G.F. (1993): Rechtliche und finanzwissen-schaftliche Probleme der Neuordnung der Finanzbeziehungenvon Bund und Ländern im vereinten Deutschland. Gutachtenerstattet für die Freie und Hansestadt Hamburg, Baden-Baden.

Huber, B. (1997): Steuerwettbewerb: Gefahr oder Chance?, List-Fo-rum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bd. 23, S. 242-256.

Huber, B. (1999): Tax Competition and Tax Coordination in an Op-timum Income Tax Model, Journal of Public Economics 71,S. 441-458.

Huber, B./Lichtblau, K. (1998), Konfiskatorischer Finanzausgleichverlangt eine Reform, Wirtschaftsdienst 78. Jg., S. 142-147.

Mintz, J. (1994): Is There a Future for Capital Income Taxation?,Canadian Tax Journal, 42, S. 1469-1503.

Myers, G. (1990): Optimality, Free Mobility, and the Regional Au-thority in a Federation, Journal of Public Economics 43 (1),S. 107-121.

Oates, W. (1972): Fiscal Federalism, New York, Harcourt.Oates, W. (1994): Federalism and Government Finance, in: J. Quig-

ley, E. Smolensky (Hg.), Modern Public Finance, Cambridge,Harvard University Press, S. 126-151.

OECD (1998): OECD Wirtschaftsberichte Deutschland, Paris,OECD.

Olson, M. (1969): The Principle of Fiscal Equivalence: The Divisi-on of Responsibilities among Different Levels of Government,American Economic Review 59 (2), S. 479-487.

Reformkommission Soziale Marktwirtschaft (1998): Reform derFinanzverfassung, Gütersloh.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichenEntwicklung (1997): Für Wachstumsorientierung � Gegen läh-menden Verteilungsstreit, Stuttgart.

Sinn, H.-W. (1997): The Selection Principle and Market Failure inSystems Competition, Journal of Public Economics 66, S. 247-274.

Tiebout, C. (1956): A Pure Theory of Local Expenditures, Journalof Political Economy 64 (5), S. 416-424.

von Weizsäcker, C.-C. (1987): Föderalismus als Verjüngungskur, in:H. Buhofer (Hg.), Liberalismus als Verjüngungskur, Wiesbaden/Zürich, S. 217-223.

Wellisch, D. (1995): Dezentrale Finanzpolitik bei hoher Mobilität,Tübingen.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen(1992): Gutachten zum Länderfinanzausgleich in der Bundesre-publik Deutschland, Bonn.

Page 66: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

66

Page 67: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

67

Wettbewerb um Steuerquellen:Anmerkungen aus praktischer Sicht

Einleitung

Die Diskussion über den Wettbewerb um Steuerquel-len darf nicht isoliert geführt werden, sondern muß dieGesamtsituation des Föderalismus in der BundesrepublikDeutschland berücksichtigen.

Aufgrund des außerordentlich hohen Maßes an Ver-flechtung und Abstimmung zwischen Bund und Ländernsind die Aufgaben sowie die Leistungs- und die Kosten-standards der Länder im wesentlichen durch Bundesrechtund verbindliche Vereinbarungen zwischen den Ländernfestgelegt.

Durch die Beteiligung der Länder im Bundesrat istdabei weitgehend sichergestellt, daß der Bund keine ein-seitigen Festlegungen auf Kosten der Länder treffen kann.Der Selbstverwaltungsspielraum der Länder im Sinne ei-ner Absenkung ihrer Leistungs- und Kostenstandards istdeshalb in vielen wichtigen Politikfeldern relativ eng be-grenzt.

Bundeseinheitliche Tarife und Einstufungsregeln las-sen nur wenig Spielräume für länderspezifische Regeln.Dadurch, daß auch wesentliche Teile der Sozialleistungenaufgrund bundeseinheitlicher Regeln zu gewähren sind,werden strukturschwache Länder mit hochverdichtetenBallungsräumen erheblich stärker mit redistributiven Aus-gaben belastet als andere Regionen. Strukturschwächeschlägt sich deshalb nicht nur in Form geringerer Einnah-men, sondern vor allem auch in Form höherer Sozialaus-gaben nieder.

So hat zum Beispiel Berlin Sozialausgaben pro Ein-wohner von 2.709 DM1, während Bayern lediglich 904DM pro Einwohner aufwenden muß. Hätte Berlin nur

die durchschnittlichen Sozialausgaben von Bayern, könn-ten die Ausgaben somit um 6,2 Mrd. DM niedriger lie-gen. Durch die Festlegung einheitlicher Standards könnensich die Länder dieser ungleichen Belastung auch nichtentziehen. Selbst dann, wenn die Einnahmen gleichver-teilt wären, verfügten strukturschwache Länder deshalbaufgrund der teilweisen Dezentralisierung redistributiverAufgaben über weniger Mittel für nichtdistributive Auf-gaben als strukturstarke Länder.

Ohne Frage verfügen Länder und Gemeinden aller-dings im Bereich der Wirtschaftsförderung über nichtunbeträchtliche eigene Spielräume. Dies gilt nicht nur fürden Bereich offener und verdeckter Subventionen, son-dern vor allem für die Schaffung wirtschaftsbezogenerInfrastruktur, also für Flächenangebote, verkehrsmäßigeErschließung und Erreichbarkeit, Ausbildung von Ar-beitskräften, Attraktivität von Wohn- und Lebensräumenoder für die Leistungsfähigkeit der Verwaltungen und ins-besondere der Genehmigungsbehörden.

Im Bereich der Gemeinden kommen als weitere Pa-rameter die Hebesätze der Realsteuern und die Höhe vonGebühren und Beiträgen dazu. Die Kernfrage ist dabei,ob im jetzigen System ausreichende und richtige Anreizefür eine erfolgreiche Gemeinde- und Landespolitik ge-setzt werden.

Der Wettbewerb um regionalen Wohlstandund der Finanzausgleich

Die simple These, daß Politiker in einer Demokratiein hohem Maße wiederwahlorientiert agieren, hat sichempirisch vielfach bewährt.

Das wichtigste Ziel von wiederwahlorientierten Poli-tikern liegt in der Schaffung lokalen und regionalen Wohl-stands und damit auch in der Vermeidung bzw. Abmil-

Ingolf Deubel

1 Statistisches Bundesamt Fachserie 14 Reihe 3.1; eigene Berech-nung.

Page 68: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

68

derung sozialer Probleme. Die Bereitstellung öffentlicherDienstleistungen und einer entsprechenden Infrastruktursind notwendige Voraussetzungen zur Erreichung diesesZiels.

Die sozialen Probleme schlagen sich vor allem in denFolgen der Arbeitslosigkeit nieder. Von daher ist die Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit, soweit dies lokal und lan-despolitisch überhaupt leistbar ist, ein wesentliches Zwi-schenziel wiederwahlorientierter Politiker.

Die Wahrnehmung dieser Aufgaben ist bei ausreichen-den Einnahmen der öffentlichen Haushalte natürlich er-heblich leichter als bei leeren Kassen. Es wäre aber einegewagte und zumindest für die Bundesrepublik empi-risch auch kaum belegbare Hypothese, einen unmittelba-ren Zusammenhang zwischen den Anstrengungen zurVerbesserung der Wirtschaftsstandorte einerseits und derPrimär- und Sekundärverteilung der Steuereinnahmenandererseits herzustellen.

In der Praxis zeigt sich vielmehr, daß selbst bei einerNivellierung oder gar einer Übernivellierung im kommu-nalen oder im Länderfinanzausgleich erhebliche Anstren-gungen zur Schaffung regionalen Wohlstands, zum Ab-bau der Arbeitslosigkeit und zur Ansiedlung von Unter-nehmen erfolgen.

Wirtschaftlich erfolgreiche Länder wie Hamburg,Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalenhaben sich durch die hohe Ausgleichsintensität des Län-derfinanzausgleichs nicht davon abhalten lassen, alle An-strengungen zu unternehmen, um ihren Vorsprung vorden anderen Ländern zu halten; Bayern hat trotz relativgeringer finanzieller Anreize des Länderfinanzausgleichseinen sehr beachtenswerten Aufholprozess hinter sich, undes besteht die Absicht, in der wirtschaftlichen Ranglisteder Länder noch weiter nach oben zu steigen.

Bei den Forderungen nach einer Verringerung derAusgleichsintensität im Finanzausgleich dürfte es deshalbweniger um die Notwendigkeit zur Schaffung zusätzli-cher Anreize gehen, sondern vielmehr um den Wunschnach Absicherung von erzielten Vorsprüngen. Gesamt-wirtschaftlich gesehen stellt sich dabei allerdings die Fra-

ge, in welchen Regionen die Grenzproduktivität öffentli-cher Ausgaben am größten ist.

Es kann kaum Zweifel daran geben, daß die Grenz-produktivität öffentlicher Ausgaben in den neuen Län-dern und in den strukturschwachen Ländern höher ist alsin den strukturstarken alten Ländern. Dies gilt insbeson-dere dann, wenn in die öffentliche Infrastruktur investiertwird.

Wenn man allerdings die Erhaltung eines Wohlstands-vorsprungs für wichtiger hält als die Möglichkeit für dieneuen Länder, diesen Vorsprung zumindest abzumildern,kann man auch zu einer gegenteiligen Position kommen.

In bezug auf die neuen Länder halte ich eine solchegegenteilige Position nicht für vertretbar.

Ich sage allerdings genauso deutlich, daß das Anglei-chungsgebot des Grundgesetzes eben nur im Geltungs-bereich des Grundgesetzes greift. Auf europäischer Ebe-ne liegt wegen der hohen Autonomie aller Länder imBereich von Aufgaben, Standards und Steuerpolitik eineandere Situation vor. Für einen übernationalen Finanzaus-gleich gibt es zudem keine hinreichende Legitimation.

Dies ist eben ein wesentlicher Unterschied zwischeneinem Bundesstaat mit einem hohen Grad an Homoge-nität und Politikverflechtung und einem Staatenbund wieder EU.

Ein Beitrag zum Wettbewerb um Steuerquellen hätteohne explizite Berücksichtigung der geltenden Regeln desLänderfinanzausgleichs keinen praktisch verwertbarenNutzen. Von daher möchte ich zunächst einige Anmer-kungen zur jüngeren Kritik am Länderfinanzausgleichmachen.

Zum ersten finden wir eine echte Übernivellierung nurfür die neuen Länder. Diese Übernivellierung wird durchSonderbedarfsergänzungszuweisungen und weitere Zu-schüsse des Bundes herbeigeführt und ist aus den ebengenannten Gründen sowohl gewollt als auch notwendig.

Im Bereich der alten Länder dagegen ist eine systema-tische Übernivellierung entgegen vielfältigen Behauptun-gen allenfalls im Bereich der Stadtstaaten feststellbar. Dies

Ingolf DeubelWettbewerb um Steuerquellen: Anmerkungen aus praktischer Sicht

Page 69: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

69

gilt allerdings nur dann, wenn systemwidrig auf Einwoh-ner abgestellt wird. Damit würde dann aber der im Fi-nanzausgleich anerkannte höhere Bedarf pro Einwohnerder Stadtstaaten, der vor allem auf soziale Leistungenzurückzuführen ist, in Frage gestellt.

Die hoffentlich zeitlich nur befristeten Zahlungen desBundes an die in Haushaltsnotlagen geratenen LänderBremen und Saarland erfolgen aufgrund einer Entschei-dung des Verfassungsgerichts und sind nicht als systema-tische Übernivellierung zu werten.

Zum zweiten wird der Nivellierungsgrad im Länder-finanzausgleich durch die nur hälftige Einbeziehung derGemeindesteuereinnahmen überzeichnet.

Steuerstarke Länder verfügen nämlich auch über steu-erstarke Gemeinden und umgekehrt. So liegt zum Bei-spiel Thüringen nach dem Länderfinanzausgleich und denFehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen nicht bei99,5 %, sondern bei Einbeziehung aller Steuereinnahmender Gemeinden lediglich bei 91,6 %2 des Bundesdurch-schnitts.

Demgegenüber liegt zum Beispiel Hessen bei vollerEinbeziehung der Gemeindesteuereinnahmen nicht nurbei 104,2 %, sondern sogar bei 107,5 % des Bundes-durchschnitts. Oder anders ausgedrückt: Das finanz-schwächste Land, nämlich Thüringen, verfügt nachLänderfinanzausgleich und Fehlbetragsbundesergänzungs-zuweisungen einschließlich seiner Gemeinden lediglichüber 85,2 % der Einnahmen des steuerstärksten Bundes-landes, nämlich von Hessen. Berücksichtigt man, daß min-destens 80 bis 90 % aller Länderaufgaben dem Umfangund dem Standard nach bundeseinheitlich geregelt sind,verbleiben ohne weitere Zuschüsse für extrem steuer-schwache Länder keinerlei Spielräume mehr für eine au-tonome Landespolitik.

Zum dritten ist nachweisbar, daß zwischen den Aus-gaben der Länder und ihrer Steuerkraft trotz des Finanz-ausgleichs eine recht enge Korrelation besteht. Nimmtman, um Doppelzählungen zu vermeiden, als Maßstab

die bereinigten Ausgaben der Länder einschließlich derGemeinden und Zweckverbände, so liegen zwar im Be-reich der Flächenländer die neuen Länder in ihren Ausga-ben pro Kopf aufgrund der Sonderbedarfszuweisungendeutlich höher als die alten Flächenländer, aber innerhalbder alten Flächenländer haben nach der Jahresrechnung1995 Hessen mit 8.634 DM je Einwohner3 bei den ge-samten bereinigten Ausgaben und Bayern mit 8.170 DMbei den bereinigten Ausgaben ohne Zinsausgaben diehöchsten Werte, während Rheinland-Pfalz mit 7.503 DMinsgesamt und 6.924 DM ohne Zinsausgaben am spar-samsten ist. Bei den Ausgaben ohne Zinsen ist im übrigendas Saarland mit 7.303 DM je Einwohner am zweitspar-samsten. Selbstverständlich sind bei diesen Zahlen dieAusgaben der Geberländer für den Länderfinanzausgleichvorab abgezogen worden.

Diese Ergebnisse beruhen nicht nur auf entsprechen-der Sparsamkeit in Rheinland-Pfalz und im Saarland, son-dern sind vor allem auch das Ergebnis der schlechterenEinnahmesituation dieser beiden Länder. Da der größteTeil der Aufgaben und Standards aufgrund bundesein-heitlicher Regelungen vorgegeben ist, erfolgen die Ein-sparungen natürlich am ehesten im Bereich der Selbstver-waltungsaufgaben, die wiederum für landesspezifischeAttraktivierungsmaßnahmen besonders wichtig sind.

Zudem ist das Volumen des Finanzausgleichs zwischenden alten Bundesländern seit 1970 kontinuierlich von1,8 %4 der Steuereinnahmen der Länder und Gemein-den auf 0,5 % im Jahr 1997 zurückgegangen und vondaher nicht so bedeutsam wie zuweilen dargestellt.

Das zurückgehende Volumen im Bereich der altenLänder ist im übrigen ein deutlicher Hinweis auf die Wirk-

2 Verhältnis Ausgleichsmeßzahl zu Finanzkraftmeßzahl bei vollerEinbeziehung der Gemeindefinanzkraft gemäß vorläufiger Ab-rechnung des Länderfinanzausgleichs für 1997; eigene Berech-nung

3 Statistisches Bundesamt a.a.O.; eigene Berechnung4 Finanzberichte des Bundesministeriums der Finanzen, mehrere

Jahrgänge; eigene Berechnung

Page 70: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

70

samkeit des Systems. Denn ein guter Finanzausgleich istso angelegt, daß er sich auf Dauer weitgehend überflüs-sig macht.

Viertens ist der Länderfinanzausgleich in seiner jetzi-gen Ausgestaltung dennoch unbefriedigend. Notwendigist eine drastische Vereinfachung und insbesondere eineinfacher linearer Ausgleichssatz. Bei Wegfall des Umsatz-steuervorwegausgleichs und einer Einbeziehung der ge-samten mit bundesdurchschnittlichen Hebesätzen nor-mierten Gemeindesteuereinnahmen dürfte ein Ausgleichs-satz von ca. 60 bis 75 % zwischen der eigenen Steuer-kraft pro Bedarfseinheit und der durchschnittlichen Steu-erkraft pro Bedarfseinheit zu auch für die neuen Bun-desländer akzeptablen Ergebnissen führen.

Die Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleichmangelnder Steuerkraft müßten dann natürlich in die ori-ginären Steuereinnahmen der Länder überführt werden.Eine solche Änderung sollte rechtzeitig für die sowiesoanstehende Revision im Jahr 2005 umgesetzt werden.

Fünftens muß auf das erhebliche Volumen sonstigerZuweisungen des Bundes im Rahmen verschiedenerMischfinanzierungen hingewiesen werden. Meines Erach-tens könnte zur Herstellung einer größeren Autonomieder Länder in den meisten Fällen eine vollständige Verla-gerung des Bundesanteils auf die Steuereinnahmen derLänder erfolgen. Nur in Fällen massiver länderübergrei-fender externer Effekte sind Mischfinanzierungen heutenoch vertretbar. Für die neuen Länder könnten, solangedies noch notwendig ist, ergänzende allgemeine Zu-weisungen mit investiver Bindung zum weiteren Aufbauder Infrastruktur erfolgen.

Sechstens schließlich findet im Bereich der sonstigenregional angelegten Bundesausgaben5 eine Art negativerFinanzausgleich statt. Die Gruppe der finanzstarkenBundesländer (Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg) erhält pro Einwohnerim Schnitt 1.150 DM6 , die Gruppe der finanzschwachen

Bundesländer (Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schles-wig-Holstein, Saarland, Bremen) bekommt dagegen imDurchschnitt lediglich 968 DM pro Einwohner. Absolutgesehen fließen damit den steuerstarken Bundesländernrd. 3 Mrd. DM mehr zu als den steuerschwachen.

Ist mehr Steuerwettbewerb sinnvoll?

Meine bisherigen Ausführungen hatten zum Ziel, eini-ge wichtige Rahmenbedingungen des Föderalismus inner-halb der Bundesrepublik Deutschland darzustellen undÄnderungsbedarfe aufzuzeigen. Dies war notwendig, weildiese Rahmenbedingungen den Spielraum für einen Steu-erwettbewerb zwischen den Ländern unter Einbeziehungihrer Gemeinden erheblich einengen.

Für ein stringentes Wettbewerbsmodell fehlen inDeutschland praktisch alle Voraussetzungen, nämlich eineweitgehende Einnahmen- und Ausgabenautonomie derLänder und ihrer Gemeinden, eine überwiegende Identi-tät zwischen Kostenträgern (sprich Steuerzahlern) undNutzern öffentlicher Leistungen und das Zusammenfal-len von Aufgabenkompetenz und Ausgabenverantwor-tung. Dazu kommt, daß Länder und Gemeinden auchnoch bundeseinheitlich festgelegte Sozialleistungen erbrin-gen müssen, die gerade strukturschwache Regionen be-sonders belasten.

Solange diese Konstellation besteht, muß eine starknivellierende Verteilung der Gesamtsteuereinnahmen er-folgen. Dabei ist es relativ belanglos, ob die weitgehendeNivellierung durch Gemeinschaftsteuern oder in einemTrennsystem erfolgt.

Ingolf DeubelWettbewerb um Steuerquellen: Anmerkungen aus praktischer Sicht

5 Zuweisungen nach Art. 91a, 91b, 104a Abs. 3+4 GG, Aus-gleichszahlungen wegen Regionalisierung ÖPNV, Agrarausgaben(Bund und EU), Ausgaben für Forschung und Entwicklung,Ausgaben für Kohlebergbau

6 Eigene Berechnungen, Quellen: Zentrale Datenstelle der Landes-finanzminister, BM für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten,BT-DS 13/11091, Haushaltsplan des Bundes 1997

Page 71: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

71

Solange der Finanzausgleich relativ stark ausgleicht,kann auch die Steuerzerlegung zwischen den Ländernund zwischen den Gemeinden recht pragmatisch erfol-gen. Eine Absenkung der Nivellierung hätte erheblichkompliziertere Verfahren bei der Steuerzerlegung zurFolge.

Da in den nächsten Jahren für unser System derPolitikverflechtung und des Konsensprinzips keinedramatischen Veränderungen zu erwarten sind, sondernallenfalls marginale Korrekturen im Bereich der Misch-finanzierung und ab 2005 im Finanzausgleich, sehe ichwenig Sinn in einer theoretischen Diskussion über ein um-fassendes System des Steuerwettbewerbs innerhalb derBundesrepublik.

Diese Einschätzung bedeutet allerdings keineswegseine Zufriedenheit mit der Situation insbesondere auf derLänderebene. Es kann nicht richtig sein, daß die Steuer-kompetenz der Länder sich ausschließlich auf den Ver-waltungsvollzug und die Mitwirkung im Bundesrat be-schränkt. Selbst die Gemeinden haben im Bereich derRealsteuern mehr Möglichkeiten.

Zwar ist das Steuerfindungs- bzw. -erfindungsrechtder Gemeinden grundgesetzlich abgesichert, aber tatsäch-lich sind praktisch alle in Frage kommenden Steuerbemes-sungsgrundlagen durch die Bundesgesetzgebung belegt.

Aber immerhin verfügen die Gemeinden über das inden meisten Ländern sogar uneingeschränkte Recht zurautonomen Festlegung der Hebesätze der Grundsteuerund der Gewerbeertragsteuer.

Da in den kommunalen Finanzausgleichen der Län-der und auch bei den Umlagen der Gemeindeverbändegrundsätzlich nur normierte Hebesätze angerechnet wer-den, verbleiben die Mehr- bzw. Mindereinnahmen ausHebesatzvariationen vollständig in den kommunalenHaushalten.

Die Idealkonstellation wäre, wenn Hebesatzverände-rungen ausschließlich zur Finanzierung höherer oder ge-ringerer kommunaler Angebote an Infrastruktur undDienstleistungen und damit zur Realisierung einer fiskali-schen Äquivalenz genutzt würden.

Leider zeigt die Praxis, daß Hebesatzvariationen häu-fig nicht zur Erhöhung oder Senkung des kommunalenLeistungsangebots verwendet werden können, sondernzur Finanzierung steigender Soziallasten dienen müssen.So sind gerade strukturschwache Gemeinden trotz gerin-ger kommunaler Leistungsangebote häufig gezwungen,zur Finanzierung ihrer sozialen Aufgaben weit überdurch-schnittliche Hebesätze durchzusetzen.

Umgekehrt finden sich häufig Gemeinden mit gerin-gen sozialen Problemen, die sich trotz exzellenter Infra-strukturangebote niedrige Hebesätze erlauben können.

Dennoch hat sich das Hebesatzrecht sehr bewährt. Esstellt sich deshalb die Frage, ob auch auf der Ebene derLänder Zuschläge für einzelne Steuern sinnvoll sein kön-nen. Ich persönlich könnte mir das gerade auch aufgrundguter kommunaler Erfahrungen sehr gut vorstellen.

Insbesondere bei der Lohn- und Einkommensteuer,aber auch bei Einführung einer einheitlichen Unterneh-menssteuer ab 2000 oder 2001 halte ich eine entsprechen-de Diskussion für durchaus sinnvoll. Allerdings solltendann die Fehler der kommunalen Ebene möglichst ver-mieden werden. Es dürfte also nicht sein, daß zur Finan-zierung bundeseinheitlich vorgeschriebener Sozialleistun-gen überdurchschnittlich belastete Länder auch über-durchschnittliche Zuschläge erheben müßten.

Das bedeutet, daß länderspezifische Zuschläge nur danneingeführt werden sollten, wenn die Erträge zur Finanzie-rung von Leistungen verwendet werden könnten, die aufregionale Präferenzen zurückzuführen sind. Alternativ müß-te natürlich auch an verstärkte Gebühren- und Beitrags-lösungen auf Länderebene gedacht werden. Bei diesen In-strumenten wäre die fiskalische Äquivalenz in besonderseindeutiger Weise gesichert. Anwendungsfälle für länder-spezifische Zuschläge könnten zum Beispiel der beschleu-nigte Ausbau der Verkehrsinfrastruktur oder von Einrich-tungen für Wissenschaft und Forschung sein.

Wenn es den Ländern gelänge, unmittelbare Verbin-dungen zwischen Steuerlast und Infrastrukturangebottransparent zu machen, könnte ein solches System auchvon den Steuerzahlern akzeptiert werden.

Page 72: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

72

Mit diesem Ansatz ist meine Phantasie für einen Steuer-wettbewerb zwischen den Ländern innerhalb der Bundes-republik aber auch schon fast am Ende. Nicht vorstellenkann ich mir Hebesätze bzw. Zuschläge bei Steuern aufhochmobile Steuerbemessungsgrundlagen, wie zum Bei-spiel Finanzkapital bzw. Erträgen aus Finanzkapital.

Da eine fiskalische Äquivalenz kaum vorstellbar ist,dürfte nach den Erkenntnissen der Kooperationstheorieein Steuerwettbewerb in diesen Bereichen immer von denkleinsten Ländern gewonnen werden. Die größeren Län-der wären auf Dauer gezwungen, ihre Sätze denen derkleineren Länder anzupassen. Innerhalb der Bundesrepu-blik könnte ein Steuerwettbewerb um mobile Steuerbe-messungsgrundlagen allenfalls von Bremen oder demSaarland gewonnen werden. Alle anderen Länder undauch alle zusammen müßten dagegen verlieren.

Natürlich muß man Fakten zur Kenntnis nehmen. Inden letzten zehn Jahren hat der internationale Steuerwett-bewerb im Bereich mobiler Bemessungsgrundlagen zudeutlichen Steuersatzsenkungen geführt.7 Dieser Trendmuß nicht auch noch durch einen Unterbietungswett-bewerb der deutschen Länder angeheizt werden.

Außerdem müßte ein solcher Wettbewerb unter sonstgleichen Bedingungen dazu führen, daß die Steuersätzeauf immobile Bemessungsgrundlagen tendenziell ehersteigen müßten.

Lassen Sie mich aber auch noch auf ein anderes Pro-blem des Steuerwettbewerbs hinweisen, das sich auch inder Bundesrepublik langsam einschleicht. Sie wissen, daßdie Anwendung der Steuergesetze und die Erhebung derSteuern Länderangelegenheiten sind, wobei es vielfältigeAbstimmungsverfahren zwischen Bund und Ländern zurDurchsetzung der Einheitlichkeit gibt.

Nicht zuletzt aufgrund des relativ stark nivellierendenFinanzausgleichs, der insbesondere im Bereich der Ge-

Ingolf DeubelWettbewerb um Steuerquellen: Anmerkungen aus praktischer Sicht

meinschaftsteuern den einzelnen Ländern nur relativ klei-ne Anteile an Steuermehr-, aber insbesondere auch anSteuermindereinnahmen läßt, zeigen etliche Länder ausGründen der Wirtschaftsförderung eine wachsende Be-reitschaft zur aktiven Unterstützung von steuersparendenLösungen. Auch die eine oder andere steuerrechtlicheEntwicklung der letzten Jahre ist in diesem Zusammen-hang zu sehen.

Dieser schleichende Prozeß ist einer der wesentlichenGründe, warum ich durchaus Verständnis für die Forde-rungen nach einem Trennsystem habe. Aber auch hier sindschnell Grenzen erreicht. Ich kann mir zum Beispiel nichtvorstellen, daß die Länder akzeptieren könnten, wenn derBund die ertrags- und konjunkturabhängigen Bestandtei-le seiner Steuereinnahmen an die Länder abgeben würde,um im Gegenzug seinen Anteil im Bereich der indirektenSteuern zu vergrößern.

Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, daß sich dieDiskussion um die richtige Verteilung der Steuerquellenzwischen Bund und Ländern in den nächsten Jahren in-tensivieren wird.

Selbstverständlich darf es dabei nicht dazu kommen,daß die Bundeseinheitlichkeit der Definition der Steuer-bemessungsgrundlagen aufgegeben wird. Die Folgen fürdie Steuerzahler wären unübersehbar.

Dagegen halte ich eine Diskussion über länderspezifi-sche Steuersätze bzw. länderspezifische Zuschläge im Be-reich der Gemeinschaftsteuern durchaus für sinnvoll, undes lohnt sich auch, über einen stärkeren Einsatz von Ge-bühren- und Beitragslösungen auf Länderebene nachzu-denken.

Im übrigen wäre dies ein schönes Thema für Volks-entscheide als einem unmittelbaren Element der Demo-kratie. Denn letztendlich muß die Steuerpolitik an denInteressen der Bürgerinnen und Bürger und vor allemauch der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ausgerichtetwerden.

7 Jahresgutachten 1998/99 des Sachverständigenrates zur Begut-achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, S. 189 ff.

Page 73: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

73

Finanzausgleich

Page 74: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

74

Page 75: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

75

A government which robs Peter to pay Paulcan always depend on the support of Paul.George Bernard Shaw: Everybody�s Political What�s What

Der verfassungsrechtliche Spielraum für eine Reformdes Finanzausgleichs läßt sich nur dann bestimmen, wennman sich zunächst den geltenden Finanzausgleich vorAugen führt (Abschnitt A) und sodann die verfassungs-rechtliche Problematik des derzeitigen Rechtszustandesausleuchtet (B). Basierend auf diesen Erkenntnissen las-sen sich die aktuellen Vorschläge für eine Reform des Fi-nanzausgleichs an der Verfassung messen (C) und derSpielraum des Gesetzgebers für eine solche Reform be-stimmen (D). Da es in vielen Fällen nicht sinnvoll ist, das�Rad neu zu erfinden�, soll abschließend noch ein Blicküber die Grenzen geworfen werden, um zu sehen, obund inwieweit andere föderalistisch organisierte Staaten� hier insbesondere Österreich, die USA und die Schweiz� ihr Ausgleichssystem sinnvoller gestalten und ob diedortigen Regelungen auf die Bundesrepublik Deutsch-land übertragbar sind (E).

A Der derzeitige einfachgesetzliche und ver-fassungsrechtliche Finanzausgleich

Das Problem, um das es im bundesstaatlichen Finanz-ausgleich des Grundgesetzes letztlich geht, läßt sich mitden Worten des Präsidenten des Hessischen Rechnungs-hofs knapp und präzise fassen. Wie Präsident Müller am13. Februar 1997 bei der Vorlage seiner jährlichen �Be-merkungen zur Haushalts- und Wirtschaftsführung desLandes� sagte, könne es langfristig nicht dabei bleiben,daß das wirtschaftsstarke Hessen die höchsten Pro-Kopf-Steuereinnahmen aller Länder verzeichne, sich aber nach

dem Länderfinanzausgleich bei der Bewertung der Steu-erkraft der alten Flächenländer auf dem sechsten Platzwiederfinde. Das steuerschwache Saarland rücke dage-gen vom letzten auf den ersten Platz vor (FAZ vom14.2.1997, S. 5). Dieser unhaltbare Zustand könne nurdurch eine Verfassungsklage in Karlsruhe geändert wer-den, durch die der bisherige Länderfinanzausgleich neugeordnet werden müsse, da er zu einer �Übernivellie-rung� führe (a.a.O.).

Wenn sich auch das Problem, um das es geht, knappund präzise schildern läßt, so ist jedoch der Sachverhalt,der zu dem �unhaltbaren� Zustand führt, kompliziert.Er soll im folgenden in groben Zügen umrissen werden.

1 Das Verteilungssystem des Art. 106 GG

Die vertikale Verteilung des Steueraufkommens aufBund, Länder und Gemeinden, die in Art. 106 GG nor-miert ist, ist dem Grundsatz nach so bemessen, daß Bundund Ländergesamtheit in der Lage sein sollen, ihre Auf-gaben zu erfüllen. Falls sich das Verhältnis zwischen denEinnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länderwesentlich anders entwickelt, normiert Art. 106 Abs. 41.Hs. GG eine Pflicht zur Neufestsetzung der Umsatz-steueranteile. Die Aufteilung des Anteils der einzelnenLänder an den Steuereinnahmen der Ländergesamtheitregelt Art. 107 Abs. 1 GG.

2 Das Verteilungssystem des Art. 107 Abs. 1 GG

Mit Ausnahme des den Ländern zustehenden Um-satzsteueranteils werden die sonstigen Steuern nach demPrinzip des örtlichen Aufkommens verteilt (Art. 107 Abs.1 S. 1 GG). Die einzelnen Länder sollen an den Steuer-einnahmen beteiligt werden, die in ihrem Gebiet erwirt-schaftet werden. Das Ergebnis zeigt den Ländern, inwie-

Verfassungsrechtlicher Spielraumfür eine Reform des Finanzausgleichs

Hans-Wolfgang Arndt

Page 76: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

76

weit sie mit ihrer Wirtschaftspolitik Erfolg gehabt haben(Arndt, JuS 1993, 360). Die Höhe des den Ländern ge-mäß Art. 107 Abs. 1 S. 1 GG zustehenden Anteils be-stimmt sich grundsätzlich nach der örtlichen Zuständig-keit der Finanzämter. Dieser Grundsatz freilich würde beider Körperschaftsteuer und bei der Lohnsteuer innerhalbder Länder zu ungerechtfertigten Verzerrungen führen.Für die Körperschaftsteuer ist gemäß § 20 Abs. 1 AOdas Finanzamt örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich dieGeschäftsleitung eines Unternehmens befindet. Viele grö-ßere Unternehmen haben aber Niederlassungen auch inanderen Ländern. Diese Länder erhielten nach der in § 20Abs. 1 AO erfolgten Festlegung des örtlichen Aufkom-mens der Körperschaftsteuer nichts, obgleich der von derKörperschaftsteuer besteuerte Unternehmensgewinnauch in ihrem Bereich erwirtschaftet worden ist. Proble-matisch ist ebenfalls die Verteilung der Lohnsteuer. DieLohnsteuer wird zwar von den jeweiligen Arbeitnehmerngeschuldet (§ 38 Abs. 2 S. 1 EStG), doch nicht von ihnenan das Finanzamt gezahlt, in dessen Bezirk sie wohnen;vielmehr behält der Arbeitgeber den Lohnsteueranteil desArbeitnehmers ein und führt diesen Anteil an das für ihnzuständige Finanzamt ab (§ 38 Abs. 3 EStG). Dies wür-de, wegen der Konzentration der Lohnabrechnung aufeine Lohnabteilung bei Großunternehmen, zu erheblichenVerschiebungen führen. Um diese durch keinen vernünf-tigen Grund gerechtfertigten Verschiebungen und Ver-zerrungen auszugleichen, bestimmt Art. 107 Abs. 1 S. 2GG, daß durch Bundesgesetz für die Körperschaftsteuerund die Lohnsteuer Bestimmungen über die Abgrenzungsowie über Art und Umfang der Zerlegung des örtlichenAufkommens zu treffen sind. Damit bestätigt Art. 107Abs. 1 S. 2 GG den Grundsatz des Art. 107 Abs. 1 S. 1GG: In dem Land, in dem das Steuergeld erwirtschaftetwurde, soll es grundsätzlich verbleiben. Dieser Grund-satz wird einerseits über das Betriebsstättenprinzip undandererseits in typisierender Weise über das Wohnsitz-prinzip verwirklicht.

Für die Verteilung der Umsatzsteuer unter den Län-dern gilt die besondere Regelung des Art. 107 Abs. 1 S. 4

GG, wobei mit der Verteilung des Anteils der Länderge-samtheit (im folgenden: Länderanteil) an dieser Steuergleichzeitig die Wirkung eines Finanzausgleichs zwischenfinanzstarken und finanzschwachen Ländern angestrebtwird: Der Länderanteil am Aufkommen der Umsatzsteu-er wird zu 75 v.H. nach der Einwohnerzahl aufgeteilt(Art. 107 Abs. 1 S. 4 GG i.V.m. § 2 Abs. 1 Finanzaus-gleichsgesetz � FAG). Bereits diese Aufteilung hat gegen-über der Verteilung nach dem örtlichen Aufkommen ei-nen ausgleichenden Effekt zwischen den Ländern, weil ineinigen Ländern das Umsatzsteueraufkommen als Folgeder Konzentration von Wirtschaftsunternehmen wesent-lich höher liegt als in anderen Ländern.

Das verbleibende letzte Viertel des Länderanteils ander Umsatzsteuer wird zum Ausgleich zwischen finanz-starken und finanzschwachen Ländern verwendet. Finanz-schwache Länder, d.h. diejenigen, deren Steuereinnahmen(ohne Umsatzsteuer und ohne Steuereinnahmen der Ge-meinden nach § 8 FAG) je Einwohner unter 92 v.H. desLänderdurchschnitts liegen, erhalten aus diesem ViertelErgänzungsanteile, bis sie 92 v.H. des Länderdurchschnittserreicht haben (sog. Umsatzsteuerausgleich gemäßArt. 107 Abs. 1 S. 4 2.Hs. GG i.V.m. § 2 Abs. 2 FAG).Der danach noch verbleibende Betrag wird im Verhältnisder Einwohnerzahlen der Länder verteilt.

Eine weitere, das Umsatzsteueraufkommen der altenLänder umverteilende Regelung trifft § 1 FAG. Danacherhält der Bund aus dem Länderanteil am Umsatzsteuer-aufkommen einen Anteil von 50 % der Summe, die fürdie Annuitätentilgung des Fonds �Deutsche Einheit� er-forderlich ist, zuzüglich 2,1 Mrd. DM (§ 1 Abs. 2 S. 1FAG). Je die Hälfte dieser Lasten der Länder wird ge-mäß § 1 Abs. 2 S. 2 FAG im Verhältnis ihrer Einwohner-zahlen und ihrer Finanzkraft verteilt. Bei der Verteilung istaber zu berücksichtigen, daß die Beiträge finanzschwa-cher alter Länder gemäß § 1 Abs. 3 FAG zu Lasten derBeiträge finanzstarker Länder gesenkt werden. So mußteBaden-Württemberg beispielsweise 1996 zusätzlich 174Mio. DM zahlen; die Beitragspflicht von Schleswig-Hol-stein wurde um 124 Mio. DM abgesenkt. Diese unter-

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

Page 77: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

77

schiedlichen Belastungen sollen bis zum Jahre 2005 stu-fenweise um jährlich 5 % bzw. 15 % abgebaut werden.

3 Der horizontale Finanzausgleich desArt. 107 Abs. 2 S. 1 und 2 GG

Der Finanzausgleich des Art. 107 Abs. 2 GG soll dienach der Steuerverteilung des Art. 107 Abs. 1 GG nochverbleibenden Unterschiede bei den Steuereinnahmen ei-nes jeden Landes angemessen ausgleichen. Zwar erfolgtdurch die Verteilung der Umsatzsteuer schon eine gewis-se Nivellierung der Steuereinnahmen, doch erbringen dieErgänzungsanteile gemäß Art. 107 Abs. 1 S. 4 2.Hs. GGwegen der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder nochnicht den vom Grundgesetz angestrebten angemessenenAusgleich. Ziel des Art. 107 Abs. 2 GG ist es allerdings �wie sich dem Wortlaut �angemessen� entnehmen läßt �nur, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder, die nachder Steuerverteilung nach Art. 107 Abs. 1 GG noch ver-bleibt, in �gewissen Grenzen� (BVerfGE 1, 131) auszu-gleichen. Dieses Ziel steht bei genauer Betrachtung zu demdes Art. 107 Abs. 1 GG in Widerspruch. Durch die Steu-erverteilung nach dem örtlichen Aufkommen gemäßArt. 107 Abs. 1 GG sollen die Länder an ihrem wirt-schafts- und strukturpolitischen Erfolg beteiligt werden.Diese Erfolgszurechnung wird geschmälert, wenn diewirtschaftlich erfolgreichen Länder Ausgleichszahlungenan andere Länder leisten müssen.

In Art. 107 Abs. 2 GG verwirklicht sich das bündi-sche Prinzip des Einstehens füreinander, das nicht nur imVerhältnis von Bund und Ländern, sondern auch im Ver-hältnis der Länder untereinander gilt (BVerfGE 72, 330).Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG verlangt jedoch nur einen ange-messenen Ausgleich. Die dem bundesstaatlichen Prinzipentnommene Pflicht zur Ausgleichszahlung darf nichtdazu führen, daß die Einnahmen der Länder dasselbeNiveau haben. Es gehört zum Wesen des Bundesstaates,daß zwischen den Ländern Unterschiede bestehen (soschon BVerfGE 1, 131). Diesem Spannungsverhältniszwischen eigenstaatlicher Selbstverantwortung und bun-

desstaatlicher Solidaritätsverpflichtung sucht das Bundes-verfassungsgericht folgendermaßen gerecht zu werden:

�Das bundesstaatliche Prinzip begründet seinem We-sen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Einedieser Pflichten besteht darin, daß die finanzstärkerenLänder den schwächeren Ländern in gewissen Gren-zen Hilfe zu leisten haben. Diese Pflichtbeziehung führtnach der Natur der Sache zu einer gewissen Beschrän-kung der finanziellen Selbständigkeit der Länder. ...Ein Verstoß gegen das bundesstaatliche Prinzip könntedann in Betracht kommen, wenn der im FAG vorgese-hene Ausgleich die Leistungsfähigkeit der gebendenLänder entscheidend schwächte oder zu einer Nivellie-rung der Länderfinanzen führte� (BVerfGE 1, 131).

Das Spannungsverhältnis ist dementsprechend zwi-schen den Polen Hilfeleistungsgebot und Nivellierungs-verbot aufzulösen.

Die einfachgesetzliche Regelung des Länderfinanzaus-gleichs und damit der Versuch, den bundesverfassungs-gerichtlichen Forderungen gerecht zu werden, findet sichin den §§ 4 ff. FAG.

Nach der Terminologie des Finanzausgleichsgesetzeserhalten die ausgleichsberechtigten Länder Zuschüsse(Ausgleichszuweisungen) aus Beiträgen der ausgleichs-pflichtigen Länder (§ 4 FAG). Um entscheiden zu kön-nen, welche Länder ausgleichsberechtigt und welche aus-gleichspflichtig sind, findet eine Gegenüberstellung derFinanzkraftmeßzahl und der Ausgleichsmeßzahl eines je-den Landes statt. Die Finanzkraftmeßzahl ist dabei dieSumme der wesentlichen Steuereinnahmen eines Landesnach § 6 Abs. 1 FAG einschließlich im Prinzip der Hälfteder Steuereinnahmen seiner Gemeinden (§ 6 Abs. 1 FAGi.V.m. § 8 FAG). Während die Finanzkraftmeßzahl � wiees schon der Name andeutet � die Finanzkraft eines Lan-des dokumentieren soll, stellt die Ausgleichsmeßzahl denBezug zum bundesdurchschnittlichen Finanzaufkommender Länder her. Die Ausgleichsmeßzahl ist die Summezweier Zahlen: der Meßzahl zum Ausgleich der Länder-

Page 78: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

78

einnahmen und der zum Ausgleich der Einnahmen derGemeinden (§ 6 Abs. 2 FAG). Zur Berechnung jeder die-ser beiden Meßzahlen werden zunächst die Einnahmenaller Länder und im Prinzip die Hälfte der Einnahmenaller Gemeinden durch die Summe der Einwohner imgesamten Bundesgebiet geteilt. Diese Beträge der Län-der- und Gemeindeeinnahmen je Einwohner im Bundes-durchschnitt werden dann mit der Einwohnerzahl desLandes vervielfacht, dessen Ausgleichsmeßzahl ermitteltwerden soll. Bei der Ermittlung der Meßzahlen zumAusgleich der Ländereinnahmen werden die Einwohner-zahlen grundsätzlich mit 100 % gewertet. Eine Ausnah-me gilt allein für die Stadtstaaten Hamburg, Bremen undBerlin; deren Einwohnerzahlen sind mit 135 % zu werten(§ 9 Abs. 2 FAG). Rechnerisch ergibt sich dadurch für dieStadtstaaten eine höhere Einwohnerzahl. Diese höhereEinwohnerwertung, die �Einwohnerveredelung�, warbereits zweimal Gegenstand verfassungsgerichtlicher Aus-einandersetzungen. In beiden Fällen hat das Bundesver-fassungsgericht entschieden, die Berücksichtigung derstrukturellen Eigenart der Stadtstaaten durch die höhereEinwohnerwertung sei grundsätzlich zulässig (BVerfGE72, 415 ff.; 86, 148 ff.). Bei der Ermittlung der Meßzah-len zum Ausgleich der Gemeindeeinnahmen erfolgt eben-falls eine �Einwohnerveredelung� (§ 9 Abs. 3 FAG). Da-nach gilt: Je höher die Einwohnerzahl der Gemeinde, umso höher die Einwohnerwertung.

Beim Vergleich der Finanzkraftmeßzahl mit der Aus-gleichsmeßzahl wird deutlich, wie sich das Finanzaufkom-men des betreffenden Landes zur länderdurchschnittli-chen Finanzkraft verhält. Übersteigt die Finanzkraftmeß-zahl die Ausgleichsmeßzahl, so ist das Land nach Maßga-be des § 5 Abs. 1 i.V.m. § 10 FAG ausgleichspflichtig;erreicht die Finanzkraftmeßzahl die Ausgleichsmeßzahlnicht, ist das Land ausgleichsberechtigt (§ 5 Abs. 2 i.V.m.§ 10 FAG).

Bei dieser Berechnungsmethode ist die Einwohner-wertung ein bedeutender Faktor für die gesamten Zah-lungsströme im Finanzausgleich. Je höher die Einwoh-nerwertung eines Landes ist, um so höher wird bei der

Multiplikation die Ausgleichsmeßzahl dieses Landes. Fürfinanzstarke �einwohnerveredelte� Länder hat dies zurFolge, daß sich der Überschuß von Finanzkraftmeßzahlzur Ausgleichsmeßzahl verringert und damit dieses Landgeringere Ausgleichsbeiträge zu erbringen hat (Hamburg).Bei finanzschwachen �einwohnerveredelten� Ländernvergrößert sich durch eine höhere Ausgleichsmeßzahl dieDifferenz von der Finanzkraftmeßzahl bis zur Ausgleichs-meßzahl und führt damit für dieses Land zu höherenAusgleichszuweisungen (Bremen, Berlin).

Im Rahmen der Berechnung der Ausgleichsmeßzahlhat die Einwohnerwertung damit auch Auswirkungen aufdie Länder, die keine Einwohnerwertung erhalten. DieEinwohnerwertung führt zu einer fiktiven bundesweitenEinwohnerzahl, die die tatsächliche Einwohnerzahl über-steigt. Als Folge dieser fiktiv höheren Einwohnerzahl er-gibt sich bei der Division der Steuereinnahmen aller Län-der durch die Summe der Einwohner aller Länder einkleinerer durchschnittlicher Kopfbetrag, als wenn die Di-vision durch die Summe der tatsächlichen Einwohner er-folgte. Oder anders formuliert: Der durchschnittlicheKopfbetrag je gewertetem Einwohner ist wegen der Ein-wohnerwertung kleiner als der durchschnittliche Kopf-betrag ohne Einwohnerwertung. Bei der anschließendenMultiplikation des durchschnittlichen Kopfbetrages mitder Einwohnerzahl des jeweiligen Landes ergibt sich des-halb aufgrund des kleineren durchschnittlichen Kopfbe-trages auch eine kleinere Ausgleichsmeßzahl, als wenn manbei der Ermittlung des Kopfbetrages die tatsächlichenEinwohner als Meßgröße nehmen würde. Diese durchdie Einwohnerwertung verursachte kleinere Ausgleichs-meßzahl führt grundsätzlich zu größeren Überschüssenund zu geringeren Fehlbeträgen.

Die Bemessung der Ausgleichszuweisungen regelt § 10FAG. Durch die Ausgleichspflicht werden die ausgleichs-berechtigten Länder auf grundsätzlich mindestens 95 %der länderdurchschnittlichen Finanzkraft angehoben (vgl.§ 10 Abs. 1 bis 3 FAG). Die Höhe des Ausgleichsvolu-mens wird bestimmt durch die Zuweisungen an die fi-nanzschwachen Länder.

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

Page 79: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

79

Bei der Ermittlung der ausgleichspflichtigen Über-schüsse wird die Finanzkraft eines überdurchschnittlichfinanzstarken Landes zwischen 100 % und 101 % derdurchschnittlichen Finanzkraft der Ländergesamtheit mit15 %, zwischen 101 % und 110 % mit 66 % und über110 % mit 80 % zum Ausgleich herangezogen (§ 10 Abs.2 FAG). Die so ermittelten Beträge werden mit demVomhundertsatz (Abschöpfungsquote) zur Aufbringungder Ausgleichszuweisungen herangezogen, der erforder-lich ist, damit die Summe der Ausgleichsbeiträge mit derSumme der Ausgleichszuweisungen übereinstimmt. Da-durch kann eine Überschreitung der Prozentsätze des § 10Abs. 2 FAG eintreten. Dies war 1995 und 1996 der Fall.Übersteigt der Ausgleichsbeitrag eines ausgleichspflichti-gen Landes die Summe aus 15 v.H. seiner Finanzkraftzwischen 100 und 101 v.H. der Ausgleichsmeßzahl sowie80 v.H. seiner Finanzkraft über 101 v.H. der Ausgleichs-meßzahl, so ist der übersteigende Betrag auszugleichen(§ 10 Abs. 4 FAG). Man kann im Umkehrschluß auchsagen, einem finanzstarken Land müssen von seiner Fi-nanzkraft zwischen 100 und 101 v.H. 85 % und von sei-ner Finanzkraft über 101 v.H. 20 % verbleiben. Mit an-deren Worten: Von seiner Finanzkraft über 101 v.H. istein finanzstarkes Land im Höchstfalle mit 80 % zahlungs-pflichtig (§ 10 Abs. 2, 3 und 4 FAG).

Nach Anwendung dieses Ausgleichsverfahrens unterden Ländern ist zu prüfen, ob sich durch den Finanzaus-gleich die Finanzkraftreihenfolge bei den zahlungspflich-tigen Ländern verändert hat. Ein finanzschwächeres (�aus-gleichspflichtiges�) Land darf nämlich durch den Finanz-ausgleich höchstens zu dem vor ihm liegenden finanzstär-keren Land aufschließen, und ein finanzstärkeres Landdarf höchstens bis zu dem nächstschwächeren Land ab-sinken (§ 10 Abs. 5 FAG).

Vom Ausgleichsvolumen des Länderfinanzausgleichsentfielen 1996 auf den Umsatzsteuerausgleich nach Art.107 Abs. 1 S. 4 2.Hs. GG 13,7 Mrd. DM und auf denFinanzausgleich unter den Ländern nach Art. 107 Abs. 2S. 1 und 2 GG 12,3 Mrd. DM.

4 Die Bundesergänzungszuweisungen desArt. 107 Abs. 2 S. 3 GG

Nach Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG kann der Bundesge-setzgeber bestimmen, daß der Bund aus seinen Mittelnleistungsschwachen Ländern Zuweisungen zur ergänzen-den Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs gewährt.

Diese Bundesergänzungszuweisungen gibt es gemäߧ 11 FAG in fünf Ausprägungen, und zwar sogenannteFehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen, zwei ver-schiedene Formen der Sonderbedarfs-Bundesergän-zungszuweisungen sowie Übergangs-Bundesergänzungs-zuweisungen und Sonder-Bundesergänzungszuweisun-gen.

Die Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen wer-den gemäß § 11 Abs. 2 FAG an finanzschwache alte undneue Länder gewährt. Durch den Länderfinanzausgleichwerden die finanzschwachen Länder grundsätzlich aufmindestens 95 v.H. des Bundesdurchschnitts angehoben.Die verbleibenden 5 Prozentpunkte zum Durchschnittwerden zu 90 v.H. durch die Fehlbetrags-Bundesergän-zungszuweisungen ausgeglichen. Die Finanzkraft der fi-nanzschwachen Länder wird damit auf grundsätzlich99,5 v.H. des Bundesdurchschnitts angehoben.

Neun alte und neue Länder erhalten wegen überdurch-schnittlich hoher Kosten politischer Führung und der zen-tralen Verwaltung jährlich Sonderbedarfs-Bundesergän-zungszuweisungen gemäß § 11 Abs. 3 FAG. Die neuenLänder erhalten zum Abbau teilungsbedingter Sonderla-sten sowie zum Ausgleich unterproportionaler kommu-naler Finanzkraft ebenfalls Sonderbedarfs-Bundes-ergänzungszuweisungen (§ 11 Abs. 4 FAG).

Fünf alte Länder erhalten zum Ausgleich überpropor-tionaler Belastungen sogenannte Übergangs-Bundeser-gänzungszuweisungen (§ 11 Abs. 5 FAG). Zu guter Letzterhalten die beiden Länder Bremen und Saarland zurHaushaltssanierung sogenannte Sonder-Bundesergän-zungszuweisungen (§ 11 Abs. 6 FAG).

Das Gesamtvolumen der Bundesergänzungszuwei-sungen belief sich 1996 auf rund 25,2 Mrd. DM.

Page 80: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

80

5 Auswirkungen des Länderfinanzausgleichs

Für die ausgleichspflichtigen Länder haben die darge-stellten Ausgleichssysteme Auswirkungen in mehrfacher Hin-sicht. Der Umsatzsteuerausgleich führt ebenso wie der Län-derfinanzausgleich zu einer Umverteilung zu Lasten der fi-nanzstarken Länder. Außerdem erhalten diese keine Bun-desergänzungszuweisungen. Schließlich finanzieren die aus-gleichspflichtigen Länder die Bundesergänzungszuweisungenindirekt mit. Denn da es sich bei diesen Aufwendungen umnotwendige Ausgaben des Bundes handelt (Art. 106 Abs. 3Nr. 1 GG), verringert sich entsprechend die Beteiligung derLänder am Umsatzsteueraufkommen. Insoweit enthalten dieBundesergänzungszuweisungen einen rechnerisch erfaßba-ren Länder- und einen Bundesanteil.

Finanzschwache Länder dagegen profitieren zum Teilerheblich von diesem Ausgleichssystem. Selbst für ein klei-nes Land können sich diese Beträge auf mehrere Milliar-den jährlich summieren. Am Beispiel des Landes Bremenwird das Ausmaß der Finanzverschiebungen deutlich:Der Beitrag Bremens zur Finanzierung des Fonds �Deut-sche Einheit� wird 1996 um 52,3  Mio. DM ermäßigt;entsprechend erhöht sich der Umsatzsteueranteil Bremensum diesen Betrag. Im Länderfinanzausgleich werden vonden Steuereinnahmen 90 Mio. DM für Hafenlasten abge-setzt; verminderte Einnahmen führen zu höheren Aus-gleichsleistungen anderer Länder. Des weiteren wird dieEinwohnerzahl Bremens im Länderfinanzausgleich mit135 v.H. gewertet. Dies stellt Bremen zu Lasten andererLänder in Höhe von 635 Mio. DM und zu Lasten desBundes im Rahmen der Fehlbetrags-Bundesergänzungs-zuweisungen von 120 Mio. DM besser. Zusätzlich erhältBremen Bundesergänzungszuweisungen in Höhe von126 Mio. DM als Sonderbedarfs-Bundesergänzungszu-weisungen, 80 Mio. DM als Übergangs-Bundesergän-zungszuweisungen sowie 1,8 Mrd. DM als Sonder-Bun-desergänzungszuweisungen. Gemessen an der Ausgleichs-meßzahl wird damit die Finanzkraft des Landes Bremenallein durch den Länderfinanzausgleich und die Fehlbe-trags-Bundesergänzungszuweisungen auf 99,5 v.H. der

durchschnittlichen Finanzkraft angehoben. Unter Einbe-ziehung dieser übrigen Beträge erhält das Land Bremeneine Finanzausstattung weit über dem Länderdurch-schnitt.

B Die verfassungsrechtliche Problematik desderzeitigen Rechtszustandes

In welchem Umfang das Grundgesetz die originäreFinanzkraft eines Landes garantiert, hat das Bundesver-fassungsgericht (BVerfG) bislang nicht eindeutig geklärt.In Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG gehörtzur eigenen Finanzausstattung, zur eigenen Finanzkrafteines Landes nur das, was ihm von den im Lande erwirt-schafteten Steuern nach Durchführung des Umsatzsteu-erausgleichs nach Art. 107 Abs. 2 GG verbleibt. Nur die-se eigene Finanzausstattung steht für den Finanzausgleichunter den Ländern zur Verfügung als �Abgabe der lei-stungsstärkeren Länder aus Eigenem� (BVerfGE 72,386). Der Umfang des nach Art. 107 Abs. 2 GG �ange-messenen Ausgleichs� zwischen den Ländern wird vomGrundgesetz selbst nicht konkretisiert. Eine verfassungs-rechtliche Obergrenze für die Ausgleichspflicht eines fi-nanzstarken Landes gibt das vom BVerfG statuierte Ni-vellierungsverbot, das für sich allein jedoch lediglich dievöllige Gleichstellung der Länder verbietet. Die bundes-staatliche Solidarpflicht wird auch nicht durch ein verfas-sungsrechtliches Gebot zur Wahrung oder gar zur Her-stellung einheitlicher Lebensverhältnisse konkretisiert.Denn die Verfassung sieht dies für den Bereich des Fi-nanzausgleichs ausdrücklich nicht vor, und dieses Gebotkann der Verfassung auch nicht in der Gesamtschau alsverfassungsimmanenter Grundsatz entnommen werden.

Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten sind vorallem vier Problemkreise zu nennen, die die Zulässigkeitdes derzeitigen Finanzausgleichssystems in Frage stellen:

� verfassungsrechtliche Parameter für eine Obergrenzeder Solidaritätspflicht finanzstarker Bundesländer,

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

Page 81: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

81

� das vom Bundesverfassungsgericht statuierte Nivel-lierungsverbot mit seinen unterschiedlichen Auswir-kungen,

� die verfassungsrechtliche Problematik einiger Bundes-ergänzungszuweisungen und

� die verfassungsrechtlichen Auswirkungen des Ausblei-bens von Länderneugliederungen.

1 Verfassungsrechtliche Parameter für eineObergrenze der Solidaritätspflicht finanzstarkerBundesländer

Eine Obergrenze der bundesstaatlichen Solidarpflichtder finanzstarken Länder ergibt sich aus dem im Vermö-gensteuerbeschluß des BVerfG vom 22. Juni 1995 entwik-kelten Halbteilungsgrundsatz (BVerfGE 93, 121). Dieseverfassungsgerichtliche Rechtsprechung ist in der Literaturganz überwiegend und in der Rechtsprechung nur teilwei-se auf Zustimmung gestoßen (vgl. Nachweise NJW 1998,2552). Das vielzitierte Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH),in dem dieser eine Anerkennung der Halbteilung ablehnte,bezog sich allerdings ausdrücklich nur auf vor 1995 ver-wirklichte Steuertatbestände, die Geltungskraft diesesGrundsatzes auf spätere Zeiträume hat das Gericht offen-gelassen (NJW, a.a.O.). Der vom Bundesverfassungsgerichtstatuierte Grundsatz der �hälftigen Teilung zwischen pri-vater und öffentlicher Hand� gilt in entsprechender Weiseauch für die Solidarpflicht eines finanzstarken Landes:

� Wie dem Staatsbürger nach dem Grundsatz der hälf-tigen Teilung die Hälfte seines über Art. 14 Abs. 1 GGgeschützten Ertrages zu verbleiben hat, so muß auchdie Abgabepflicht aus dem Eigenen eines Geberlan-des auf die Hälfte seiner überdurchschnittlichen Fi-nanzkraft beschränkt bleiben.

� Wie der Bürger vor einem übermäßigen staatlichenZugriff auf sein Eigentum geschützt werden muß, somüssen auch die finanzstarken Länder vor den über-mäßigen Ausgleichsansprüchen der finanzschwachenLänder geschützt werden.

� Eine Solidarität, die dazu zwänge, mehr als die Hälfteabzugeben, ist mit der Grundentscheidung für Eigen-tum ebenso unvereinbar wie mit der Grundentschei-dung für Eigenstaatlichkeit.

� Die Pflichten eines Geberlandes und die Steuerpflichteines Bürgers fußen auf dem gemeinsamen Grund-gedanken der Solidarität, und gemein sind beiden auchdie Grenzen der Solidarpflicht. Ebenso wie es derGrundsatz der hälftigen Teilung verbietet, über dieseGrenze hinaus Steuern zu Umverteilungszwecken zuerheben, ist es mit den Grundlagen der bundesstaatli-chen Ordnung des Grundgesetzes unvereinbar � unddamit zugleich im Sinne des Art. 107 Abs. 2 S. 1 GGnicht �angemessen� �, wenn die Früchte wirtschafts-politischer Initiative und spezifischer Leistung einzel-ner Länder im Wege des Finanzausgleichs zu mehr als50 % abgeschöpft und umverteilt werden. Denn hin-ter den Finanzausgleichsleistungen finanzstarker Län-der steht die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereit-schaft ihrer Bürger, die über die Steuern den öffentli-chen Aufgaben ihrer Länder zukommt. Wenn nunmehr als die Hälfte des überdurchschnittlichen Anteilsan diesen Steuereinnahmen in andere Länder transfe-riert wird, werden die Bürger um den Lohn ihrer Lei-stung gebracht.

� Die Bürger in den einzelnen Ländern können als Wäh-ler das für die Haushalts- und Finanzwirtschaft ver-antwortliche Parlament nur kontrollieren und dessenVerantwortung einfordern, wenn sich die wirtschaftli-chen Auswirkungen der Landespolitik in positiver wiein negativer Hinsicht spezifisch auf �ihr� Land erstrek-ken. Damit ist eine Abschöpfung von mehr als 50 %auch mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Denneine Abschöpfung von mehr als 50 % des durch über-durchschnittlich erfolgreiche Wirtschaftspolitik bzw.überdurchschnittliche Sparsamkeit �Verdienten�nimmt dem Wähler die Möglichkeit, eben diese Über-durchschnittlichkeit durch entsprechende Stimmabga-be zu honorieren bzw. im umgekehrten Fall zu sank-tionieren.

Page 82: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

82

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

Von der föderalen Solidarpflicht wird allein die überdem Länderdurchschnitt liegende Finanzmasse eines Lan-des erfaßt. Denn nur insoweit liegt eine �unterschiedli-che� Finanzkraft im Sinne des Art. 107 Abs. 2 S. 1 GGvor, die einem angemessenen Finanzausgleich unterliegt.Die im Höchstfall zulässige Abschöpfung aus dieser über-durchschnittlichen Finanzmasse ist am realen � unveredel-ten � Einwohner auszurichten. Denn nur dieses Ergebnisentspricht der inneren Logik der hälftigen Teilung.

2 Das verfassungsrechtliche Nivellierungsverbotim System des bundesstaatlichen Finanzaus-gleichs

Das BVerfG stellte in seiner Entscheidung aus demJahr 1986 fest, daß der horizontale Finanzausgleich nichtzu einer Nivellierung der Länderfinanzen führen darf.Ebensowenig darf es nach Ansicht des Gerichts im Re-gelfall durch die Gewährung von Bundesergänzungszu-weisungen � im vertikalen Finanzausgleich � dazu kom-men, daß die Finanzkraft des begünstigten Landes diedurchschnittliche Finanzkraft der Länder nach der hori-zontalen Finanzkraft übersteigt.

a Leistungen an den Fonds �Deutsche Einheit� im Systemdes Finanzausgleichs

Die Leistungen aus dem Fonds �Deutsche Einheit�haben den horizontalen und vertikalen Finanzausgleich inden Jahren 1991 bis 1994 ersetzt. Die Abwicklung desFonds wird im Finanzausgleichsgesetz geregelt. Die Lei-stungen an den Fonds �Deutsche Einheit� wie auch dieAusgleichszahlungen der finanzstarken Länder an die fi-nanzschwachen Länder gehören im Ergebnis formell wiemateriell zu dem Länderfinanzausgleichssystem. Durchdie den Fonds �Deutsche Einheit� berührenden Zahlun-gen darf die Finanzkraft eines finanzstarken Landes inAnwendung des Nivellierungsverbots nicht unter diedurchschnittliche Finanzkraft der Länder absinken.

b Reichweite des Nivellierungsverbots im Hinblick aufdie Bundesergänzungszuweisungen

Im Regelfall dürfen Bundesergänzungszuweisungendie Finanzkraft eines begünstigten Landes nicht über diedurchschnittliche Finanzkraft hinaus verstärken. Nur beiSonderbedarfen einzelner Länder, die nicht dazu dienen,die Finanzkraft der leistungsschwachen Länder allgemeinanzuheben, darf als begründungspflichtige Ausnahme einLand, dessen Finanzkraft bereits den Durchschnitt erreichthat, mit Bundesergänzungszuweisungen begünstigt wer-den. Nur insoweit sind Bundesergänzungszuweisungennicht am Nivellierungsverbot zu messen.

Das Nivellierungsverbot zieht im übrigen nicht nurseine Grenze für den Zuweisungsumfang der finanz-schwachen Länder, sondern es gilt gleichsam komple-mentär auch für die ausgleichspflichtigen Länder. Über-durchschnittlich finanzstarke Länder dürfen durch dieAusgleichsstufen nicht auf eine unterdurchschnittliche Fi-nanzkraft absinken.

c Garantie der Finanzkraftreihenfolge

Das Nivellierungsverbot beschränkt nicht nur denUmfang von Finanzkraftverschiebungen im System desbundesstaatlichen Finanzausgleichs, sondern sichert mitder Garantie der Finanzkraftreihenfolge die gleichmäßi-ge Umsetzung der Verschiebungen auf alle Länder. Not-wendigerweise müssen deshalb die Reichweite des Ni-vellierungsverbots und die der Garantie der Finanzkraft-reihenfolge übereinstimmen.

d Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einwohner-veredelung

Das BVerfG hat zwar die Einwohnerwertung für dieStadtstaaten für zulässig, wenn auch nicht zwingend ge-halten. Durch den Stadtstaaten-Bonus wird der Schutz-bereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes betroffen,ohne daß ein sachlicher Grund für eine Differenzierung

Page 83: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

83

vorliegt. Die strukturelle Eigenart der Stadtstaaten ist fürsich kein sachlicher Grund. Das Brecht-Popitzsche Ge-setz (�Verdichtung führt zu Kostensteigerung�) wird ganzüberwiegend als widerlegt angesehen und begegnet fö-deralen Bedenken. Die nicht an die Stadtstaaten angren-zenden Flächenländer trifft nur eine verminderte Hilfs-pflicht. Das gemäß dem Grundsatz der Erforderlichkeitam wenigsten belastende Mittel ist aber immer dasjenige,welches Unbeteiligte schont und dem regionalen Charak-ter der Stadtstaatenproblematik gerecht wird.

e Ausrichtung des Nivellierungsverbots und derGarantie der Finanzkraftreihenfolge an der Finanz-kraft pro realem Einwohner

Die Einwohnerveredelung nach § 10 Abs. 2 und 3FAG ist zwar verfassungsrechtlich zulässig, jedoch nichtverfassungsrechtlich geboten. Die Veredelung hat somitnur den Rang einer einfachgesetzlichen Regelung, die alssolche nicht den Maßstab für eine verfassungsrechtlicheBeurteilung vorgeben kann. Verfassungsrechtlicher An-knüpfungspunkt für das Nivellierungsverbot ist daher wiefür den Halbteilungsgrundsatz nur der reale Einwohnerbzw. die nach den realen Einwohnerzahlen ermitteltedurchschnittliche Finanzkraft.

3 Zur Verfassungsmäßigkeit verschiedenerSonder-Bundesergänzungszuweisungen

a Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen wegenüberdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führungund der zentralen Verwaltung an kleine Länder

Diese Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungensind bundesstaatlich eher unerwünscht und verfassungs-rechtlich kaum noch vertretbar:

� Der Empfängerkreis wird unabhängig von der Ent-wicklung der Finanzkraft der begünstigten Länderfestgeschrieben. Damit werden auch Länder begün-

stigt, deren Finanzkraft nahe beim Länderdurchschnittliegt.

� Im Finanzausgleichsgesetz ist weder eine Pflicht zurÜberprüfung der Angemessenheit dieser Sonderbe-darfs-Bundesergänzungszuweisungen noch eine Befri-stung oder eine Revisionsklausel vorgesehen. Ein Landkann daher auch dann in den Genuß dieser Bundeser-gänzungszuweisungen kommen, wenn es finanzstarkwird.

� Die Frage der Zuweisungsberechtigung ist verfas-sungsrechtlich problematisch. Der Kleinheitsgrenze,die zwischenzeitlich immerhin für neun Länder gilt,mangelt es an einer überzeugenden Begründung.

b Übergangs-Bundesergänzungszuweisungen

Die Übergangs-Bundesergänzungszuweisungen kön-nen mit dem Gedanken eines Besitzstandsschutzes nichtgerechtfertigt werden und sind zudem als Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen verfassungsrechtlich nichtausreichend begründet. Diese Bundesergänzungszuwei-sungen können aber im Wege der verfassungskonformenAuslegung den Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisun-gen nach § 11 Abs. 2 FAG gleichgestellt werden. Deshalbgilt das vom BVerfG für § 11 Abs. 2 FAG statuierte Ni-vellierungsverbot auch für Zuweisungen nach § 11 Abs. 5FAG.

c Haushaltsnotlagen-Bundesergänzungszuweisungen

Die derzeitige Regelung der Haushaltsnotlagen-Bun-desergänzungszuweisungen in § 11 Abs. 6 FAG enthältzwar eine konkrete Zweckbestimmung, schöpft jedochdie vom BVerfG vorgegebenen Möglichkeiten insoweitnicht aus, als das sonst zulässige Ausmaß der Bundeser-gänzungszuweisungen (Verschaffung der durchschnittli-chen Finanzkraft) nur vorübergehend überschritten wer-den darf und die Gewährung der Bundesergänzungszu-weisungen daran gebunden wird, daß das betreffendeLand sich zur Aufstellung und Durchführung eines Sanie-

Page 84: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

84

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

rungsprogramms verpflichtet. Insbesondere der Faktorder nur vorübergehenden Hilfe wurde bislang nicht aus-reichend beachtet.

Beide bislang durch die Haushaltsnotlagen-Bundeser-gänzungszuweisungen begünstigten Länder (Bremen unddas Saarland) tragen daher die Darlegungslast, ob undwie diese Mittel effizienter als bislang eingesetzt werdenkönnen, um eine Sanierung zu erreichen. Ohne einen sol-chen mittelbaren, deutlich verschärften Eingriff in dieHaushaltsautonomie durch den Zwang zu weiteren Ein-sparungen dürfte die Gewährung weiterer Ergänzungs-zuweisungen sogar unzulässig sein, da sich andernfallskeine Überwindung der extremen Haushaltsnotlage ab-zeichnet.

4 Verfassungsrechtliche Konsequenzen desAusbleibens von Länderneugliederungen

Die permanente Unterstützung nicht überlebensfähi-ger Gebietskörperschaften, sei es durch Länderfinanzaus-gleich, sei es durch Bundesergänzungszuweisungen, wi-derspricht den verfassungsrechtlichen Vorgaben desArt. 107 Abs. 2 GG. Denn aus ihnen ergibt sich in An-knüpfung an den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzdes bundesfreundlichen Verhaltens eine akzessorischeUnterpflicht der Nehmerländer, bündische Solidarleistun-gen nicht auf unbegrenzte Zeit in Anspruch zu nehmen,ohne sich ernsthaft um Alternativen zu bemühen.

Drei Stufen können hier unterschieden werden: Aufder ersten Stufe stehen die Ansprüche der ausgleichsbe-rechtigten Länder gegen die Geberländer aus der bündi-schen Solidarpflicht des Art. 107 Abs. 2 GG heraus. Dem-gegenüber verpflichtet der Grundsatz der Bundestreue ineiner zweiten Stufe die Nehmerländer dann, wenn diefinanzielle Eigenständigkeit auf Dauer durch die Aus-gleichsleistungen nicht erreicht werden kann, auf ande-rem Wege, z.B. durch eine Fusion mit einem anderenLand, Abhilfe zu schaffen. Auf der dritten Stufe wird dieLänderangelegenheit Sache des Bundes. Soweit eine vomBund initiierte Neugliederung wegen des Erfordernisses

eines zustimmenden Volksentscheids erfolglos gebliebenist, wäre es unter anderem möglich, die Verpflichtungenvon Bund und Ländern zur Unterstützung des nicht le-bensfähigen Landes zu kürzen, um so die betreffendeLandesregierung und das Landesvolk selber die Konse-quenzen ihres Entschlusses der Eigenständigkeit tragen zulassen.

C Modellbeschreibung eines neuen Finanz-ausgleichs

Eine Analyse des geltenden Ausgleichssystems zeigt:Es genügt nicht, einzelne Ausgleichsregelungen anzupas-sen, es bedarf vielmehr einer grundlegend neuen Struk-tur. Um echte Anreizwirkungen zu schaffen, müssen diebisher getrennten Stufen �Umsatzsteuerausgleich� und�Länderfinanzausgleich im engeren Sinn� grundlegendneu gestaltet werden und die Bundesergänzungszuwei-sungen teilweise wegfallen. Freilich kann eine so weitge-hende Reform nicht ohne besitzstandswahrende Rege-lungen umgesetzt werden, da die Länder in höchst unter-schiedlichem Maß im Vergleich zum geltenden Recht fi-nanziell betroffen sind. Um diesen Anforderungen ge-recht zu werden, sieht der derzeitig überzeugendste Vor-schlag eines Finanzausgleichs, den die Bundesländer Bay-ern und Baden-Württemberg auf der Grundlage einesIW-Entwurfs1 vorgelegt haben, die folgenden Stufen vor:

1 Abschaffung des Umsatzsteuerausgleichs

Der dem Finanzausgleich vorgelagerte finanzkraftbe-zogene Umsatzsteuerausgleich entfällt. Der Länderanteil ander Umsatzsteuer wird insgesamt (zu 100 %) nach Ein-wohnern verteilt. Damit wird eine klare Trennung zwischen

1 Huber, B./Lichtblau, K. (1997): Systemschwächen des Finanz-ausgleichs � Eine Reformskizze, IW-Trends 1997, Nr.4, S. 1-21.Vgl. auch den Beitrag von Lichtblau, S. 95-115 in diesem Band.

Page 85: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

85

Steuerverteilung (�Eigenem�) und Steuerausgleich erreichtsowie die Voraussetzungen für stärkere Anreizwirkungendes Finanzausgleichs geschaffen. Mit der Abschaffung desfinanzkraftbezogenen Umsatzsteuerausgleichs wird dasBund-Länder-Verhältnis nicht berührt. Der im Rahmen desSolidarpakts zwischen Bund und Ländern gefundene Fi-nanzierungskompromiß bleibt erhalten.

2 Finanzausgleich unter den Ländern

Überschüsse und Fehlbeträge zur durchschnittlichenFinanzkraft werden einheitlich mit einer Quote von 50 %abgeschöpft und ausgeglichen. Dabei wird auf die unter-schiedliche, im Rahmen des Länderfinanzausgleichs nurschwer begründbare Einwohnerwertung sowohl für dieStadtstaaten als auch für unterschiedliche Gemeindegrö-ßen verzichtet. Die komplizierten Garantieregelungen aufEmpfänger- und Zahlerseite werden durch die klare Aus-gleichsregelung entbehrlich. Die komplizierten unter-schiedlichen Ausgleichsstufen auf Empfängerseite entfal-len deshalb ebenso wie die gestaffelten Tarife auf derZahlerseite.

3 Bundesergänzungszuweisungen

Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen (BEZ)sowie Ergänzungszuweisungen zum Ausgleich erhöhterKosten politischer Führung entfallen. Ein Wegfall vonFehlbetrags-BEZ ist im neuen Finanzausgleich unentbehr-lich, weil es andernfalls nicht möglich wäre, Übernivellie-rungen abzubauen und Anreizwirkungen für alle Länderzu schaffen. Ergänzungszuweisungen zum Ausgleichüberproportionaler Kosten politischer Führung mögenals Ausnahme für einen begrenzten Zeitraum hinnehm-bar gewesen sein. Ihre Beibehaltung würde jedoch dazuführen, daß bestehende Strukturen zementiert werden.Die gesetzlichen Regelungen zu den befristeten Sonder-bedarfs-BEZ bleiben unberührt. Damit wird � wie imSolidarpakt vorgesehen � der Aufbau in den neuen Län-dern ungeschmälert in bisheriger Weise gefördert.

4 Besitzstandswahrung

Um eine finanzielle Schlechterstellung der Empfän-gerländer zu vermeiden, erhalten diese Länder im Jahrder Einführung des neuen Rechts den Status quo als Fest-beträge (Besitzstandswahrung). Dies gilt ebenso für dieFehlbetrags-BEZ und für die BEZ für die Kosten politi-scher Führung. Den Festbeträgen werden die Verhältnissedes Jahres vor Inkrafttreten der Reform zugrundegelegt.Ab dem Folgejahr nach dem Übergang werden die Fest-beträge mit jährlich 2 Prozentpunkten schrittweise abge-baut. Durch die Abschmelzregelung bei den BEZ wer-den Mittel des Bundes freigesetzt. Dem Bund wird da-mit eine gezielte Gewährung von zusätzlichen Investiti-onshilfen in den neuen Ländern ermöglicht.

5 Auswirkungen des Modells

Das Modell führt dazu, daß bei keinem Land ein Ein-griff in die aktuelle Finanzsituation erfolgt. FinanzielleBrüche werden vermieden. Die Anreizwirkungen desneuen Finanzausgleichs greifen sofort; darauf kommt esentscheidend an. Finanzielle Einbußen im Vergleich zumgeltenden Recht werden durch langfristige Übergangsre-gelungen abgefedert. Künftig werden danach Steuer-mehreinnahmen eines jeden Landes stets allenfalls zurHälfte im Finanzausgleich abgeschöpft. Der bisherigeBesitzstand bleibt � mit einer sehr moderaten Abschmel-zung ab dem 2. Jahr der Neuregelung � erhalten. Aufdiese Weise wird einerseits den Empfängerländern einhohes Maß an Sicherheit gewährt, andererseits aber auchfür jedes Land ein großer Leistungsanreiz geschaffen.

Entscheidender Punkt sind die �Grenzwirkungen� desFinanzausgleichs, d.h. der Umfang der Abschöpfungs-wirkung bei künftigen Veränderungen der Steuereinnah-men. Das bisherige Ausgleichssystem � bestehend ausdem Umsatzsteuerausgleich und dem Länderfinanzaus-gleich im engeren Sinn � führt wegen seiner hohen Aus-gleichsintensität dazu, daß bei 7 von 16 Ländern zuletzt(im Jahr 1997) der Grenzeffekt des Finanzausgleichs der-

Page 86: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

86

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

art stark war, daß ihnen von 100 DM zusätzlichen Steu-ereinnahmen lediglich zwischen 1 und 3 DM nach Fi-nanzausgleich verblieben sind. Der Rest wird durch ge-ringere Zuweisungen in den verschiedenen Ausgleichsstu-fen aufgezehrt.

D Neuer Finanzausgleich und Verfassungs-recht

Die verfassungsrechtlichen Parameter, an denen sichder dargestellte und weitere Vorschläge messen lassenmüssen, sind unter (B) bereits dargelegt worden. Das dor-tige Prüfungsschema ist auf die Vorschläge von Bayernund Baden-Württemberg ebenso übertragbar wie auf alleweiteren Vorschläge, die bereits gemacht wurden und diemit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch zuerwarten sind. Bevor diese verfassungsrechtlichen Prü-fungsmaßstäbe an den geschilderten neuen Finanzaus-gleich angelegt werden, gilt es jedoch zu beachten: Fürdie Umsetzung und Realisierung aller Vorschläge sindpolitische Vorgaben wohl noch schwerer zu erfüllen alsverfassungsrechtliche.

Die wichtigste politische Frage im Zusammenhang miteiner Reform des Finanzausgleichs dürfte wohl diejenigesein, ob es dazu einer Verfassungsänderung bedarf oderob eine solche Reform mit einfacher Mehrheit beschlossenwerden kann. Denn es steht zu erwarten, daß die neue rot-grüne Regierung in vielen Fällen eine Zweidrittel-Mehrheitim Bundestag und Bundesrat ebensowenig beschaffenkönnen wird wie die bürgerlich-liberale Koalition bei vie-len Reformprojekten in den letzten Jahren. Der dargestell-te Vorschlag von Bayern und Baden-Württemberg bedarfkeiner Verfassungsänderung, eine Änderung des Finanz-ausgleichsgesetzes genügt. Dessen ungeachtet spricht aller-dings vieles dafür, in einem großen Kraftakt auch einegrundlegende Reform der Finanzverfassung vorzuneh-men. Ob dies gelingen wird, ist allerdings zu bezweifeln.

Vor einer Reform des geltenden Finanzausgleichs tür-men sich jedoch weitere � mehr politisch denn juristisch

zu nennende � Hindernisse auf: Alle den einfachgesetzli-chen Finanzausgleich betreffende, auf Art. 107 GG ge-stützten Gesetze bedürfen der Zustimmung des Bundes-rates. Zu der parteipolitisch betriebenen Blockade-Poli-tik, mit der der Bundesrat ja nicht nur in der Theorie miß-braucht werden kann, treten beim Finanzausgleich nochweitere Konfliktpotentiale hinzu: Mögen sich auch die ein-zelnen Landesregierungen nicht immer parteipolitischkonform verhalten wollen, so steht doch häufig im Vor-dergrund ihres Interesses die Wahrung des jeweiligen Be-sitzstandes. An dieser partikularistischen Sicht könnte eineim Gemeinwohl stehende Reform des Finanzausgleichesdurchaus scheitern. Jeder Reformvorschlag muß deshalbjedenfalls dann, wenn er sich Realisierungschancen bei-mißt, diesem Besitzstandsaspekt Beachtung schenken.

Verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet der dar-gestellte Reformvorschlag aus den folgenden Gründennicht:

1 Er wahrt die Obergrenze der Solidaritätspflicht, in-dem er die Abgabepflicht eines Geberlandes auf dieHälfte der überdurchschnittlichen Finanzkraft be-schränkt.

2 Damit wahrt er zugleich die Grenzen, die die bundes-staatliche Ordnung und das Demokratieprinzip jederFinanzausgleichsregelung ziehen. Zumindest die Hälf-te der wirtschaftspolitischen Initiative und der spezifi-schen Leistung einzelner Länder bleibt diesen erhal-ten. Damit bleibt den Wählern die Möglichkeit, durchdemokratische Wahlen überdurchschnittlich erfolgrei-che Wirtschaftspolitik durch entsprechende Stimmen-abgabe zu honorieren bzw. im umgekehrten Fall zusanktionieren.

3 Der Reformvorschlag wird auch der Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichts gerecht, die eine Ni-vellierung verbietet. Demgegenüber ist der geltendeFinanzausgleich, der bereits ohne Berücksichtigung derverschiedenen Bundesergänzungszuweisungen auto-matisch auf 99,5 % nivelliert, höchst problematisch.

Page 87: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

87

4 Der Reformvorschlag, der die Einwohnerveredelungebenso ausklammert wie sonstige �Sonderlasten�, ge-nießt damit nicht nur den Vorzug der Einfachheit,sondern klammert auf diese Weise zugleich die miteiner solchen Differenzierung verbundenen verfas-sungsrechtlichen Probleme aus.

5 Mit der Abschaffung des Umsatzsteuerausgleichs er-reicht der Reformvorschlag eine klare Trennung zwi-schen Steuerverteilung und Steuerausgleich und ver-stärkt die Anreizwirkungen des Finanzausgleichs. Ver-fassungsrechtliche Probleme entstehen dadurch nicht,da Art. 107 Abs. 1 GG dem einfachen Bundesgesetz-geber lediglich die Möglichkeit, aber nicht die Pflichteinräumt, einen dem Finanzausgleich vorgelagerteneinfachgesetzlichen, auf die jeweilige Finanzkraft be-zogenen Umsatzsteuerausgleich zu schaffen.

6 Der Abbau der Fehlbetrags-Bundesergänzungszuwei-sungen sowie der Ergänzungszuweisungen zum Aus-gleich erhöhter Kosten politischer Führung ist nichtnur verfassungsrechtlich unproblematisch, sondernsogar verfassungsrechtlich erwünscht. Die Ergän-zungszuweisungen zum Ausgleich erhöhter Kostenpolitischer Führung, die bereits sieben kleinere Bun-desländer erhalten, werden seit längerem unter verfas-sungsrechtlichen Gesichtspunkten angegriffen. DieFehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen, die auto-matisch jedes Land bislang auf 99,5 % der durch-schnittlichen Finanzkraft heranführen, tragen maßgeb-lich dazu bei, die Nivellierungsgrenze zu berühren undin Verbindung mit einzelnen Bundesergänzungszuwei-sungen sogar zu überschreiten. Ihre Beibehaltung wür-de dazu führen, bestehende Strukturen zu zementie-ren und erwünschte Anreizwirkungen zu unterdrük-ken.

7 Unter politischen, nicht unter juristischen Gesichts-punkten ist die Besitzstandswahrung des Reformvor-schlages gutzuheißen. Ohne Besitzstandswahrung dürf-te er nicht nur dramatisch an Realisierungschancen ein-büßen, ein abrupter Wechsel würde auch in der politi-schen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland

kaum hinnehmbar sein. Gegen den schrittweisen Ab-bau von jährlich 2 Prozentpunkten lassen sich verfas-sungsrechtliche Einwände ernsthaft nicht erheben.

Damit dürfte dieser Reformvorschlag, dem sicher nochweitere folgen werden, eine �doppelte Dividende� einfah-ren: Zum einen beseitigt er verfassungsrechtliche Problem-punkte und zum anderen schafft er ökonomisch gesundeAnreize für einen föderalen Wettbewerb, ohne durch einenabrupten Kurswechsel Widerstände zu provozieren. Zu-mindest im politischen Leben ist ein sanftes Umsteuern je-denfalls dann einer radikalen Kursänderung vorzuziehen,wenn, wie es bei dem gegenwärtigen Finanzausgleich derFall ist, sich ein System über Jahrzehnte zwar nicht bewährt,aber in den Köpfen der Bürger als eine spezifische Ausbil-dung des deutschen Föderalismus festgesetzt hat. Dies istfraglos beim deutschen kooperativen Föderalismus mitseinen Unitarisierungstendenzen der Fall. Dies ist � wie dar-gestellt � teilweise verfassungsrechtlich problematisch, einsanftes Umsteuern auf einen mehr wettbewerblich ausge-richteten Föderalismus ist dagegen verfassungsrechtlich weitweniger bedenklich und eröffnet dem einfachen Gesetz-geber größere Gestaltungsspielräume.

E Unterschiede und Gemeinsamkeiten derFinanzsysteme Bundesrepublik Deutsch-land, Österreich, Schweiz und USA

1 Die unterschiedlichen rechtlichen Vorgaben

a Steuergesetzgebungshoheit

In der Bundesrepublik wird das Steueraufkommender Länder durch die umfassende Gesetzgebungshoheitdes Bundes zentral festgelegt, eine eigene Steuerpolitiksteht den Ländern nicht zu. Ähnlich ist dies in Österreich,wo das eigenständige Besteuerungsrecht der Bundeslän-der gegenüber den Kompetenzen des Bundes ebenfallskaum eine praktische Bedeutung hat.

Page 88: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

88

Ganz anders stellt sich die Situation in der Schweizsowie in den Vereinigten Staaten dar. Die Gliedstaatendieser beiden Staaten bestimmen die Höhe ihrer Steuer-einnahmen grundsätzlich selbst. Die Kantone in derSchweiz verfügen über eine weitreichende, subsidiäreSteuerhoheit, die es ihnen gestattet, Art und Umfang derkantonalen Steuern selbst festzulegen. Auch die Bundes-staaten der USA besitzen eigene, umfassende Gesetz-gebungsrechte auf dem Gebiet der Steuern, mit derenHilfe sie den Umfang ihrer Steuereinnahmen gestaltenkönnen.

b Primäre Steuerverteilung

Während in der Bundesrepublik und in Österreich dieSteuereinnahmen überwiegend nach dem Verbundsystemgemeinsam erhoben und anschließend zwischen Bundund Gliedstaaten aufgeteilt werden, geschieht die primä-re Steuerverteilung in der Schweiz überwiegend nach demTrennsystem, indem das Aufkommen bestimmter Steu-erquellen entweder dem Bund oder den Kantonen aus-schließlich zugewiesen wird. In den Vereinigten Staatenwird weder das Verbund- noch das Trennsystem ange-wandt; gestützt auf ihre jeweilige Steuerhoheit erhebenBund und Einzelstaaten statt dessen in Konkurrenz zu-einander ihre Steuern.

c Maßnahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs

Erfolgt schon die primäre Einnahmenverteilung zwi-schen den Staaten höchst unterschiedlich, so differierendie Finanzsysteme in den vier Staaten noch in einem ver-stärkten Maße in ihren Maßnahmen bezüglich des hori-zontalen Finanzausgleichs.

In der Bundesrepublik und in Österreich begegnetman dem Faktum der unterschiedlichen Finanzkraft derwirtschaftlich starken und schwachen Bundesländer miteinem Einnahmen- bzw. einem Steuerkraftausgleich. Mit-tels einer Angleichung der den Ländern zur Verfügungstehenden finanziellen Mittel wird versucht, die Einheit-

lichkeit der Lebensverhältnisse über alle Gliedstaaten hin-weg zu gewährleisten.

In der Bundesrepublik erfolgt, nachdem die Steuernprimär grundsätzlich nach dem Prinzip des örtlichen Auf-kommens an die Länder fließen, ein Einnahmenausgleichin drei Schritten. Zunächst wird bereits bei der primärenAufteilung der Steuern auf die Bundesländer ein gewisserAusgleich vorgenommen, indem der Länderanteil amUmsatzsteueraufkommen zu 25 v.H. bevorzugt an finanz-schwache Länder vergeben wird. Anschließend findet eindirekter horizontaler Finanzausgleich statt, indem im Rah-men des Länderfinanzausgleichs finanzstarke Länder Ein-nahmen an finanzschwache abgeben müssen. In einemletzten Schritt gewährt der Bund freie Finanzzuweisun-gen an finanzschwache Bundesländer.

Das österreichische Finanzsystem kennt keinen direk-ten horizontalen Finanzausgleich. Vielmehr werden denBundesländern die Steuern fast ausschließlich entspre-chend der Bevölkerungszahl zugewiesen, so daß großeFinanzkraftunterschiede zwischen den Ländern gar nichterst entstehen können. Mögliche verbliebene Unterschie-de werden durch freie Finanzzuweisungen im Rahmendes �Kopfquotenausgleichs� weiter vermindert.

Findet in der Bundesrepublik und in Österreich einsystematischer Ausgleich auf der Einnahmenseite derGliedstaaten statt, so berücksichtigen die Finanzausgleich-systeme der Schweiz und der USA überwiegend die un-terschiedliche Finanzkraft der Gliedstaaten auf derenAusgabenseite. Über zweckgebundene, vertikale Trans-fers werden Ausgaben der finanzschwachen Gliedstaatengezielt bezuschußt, damit diese Staaten ihren Bürgern eingewisses Niveau an öffentlichen Leistungen garantierenkönnen.

Ein begrenzter horizontaler Ausgleich wird in derSchweiz vor allem über eine abgestufte Gewährung vonzweckgebundenen Bundeszuschüssen erreicht, indem derBund bei finanzschwachen Kantonen einen höheren An-teil an den Ausgaben für unterstützte Leistungen trägt alsbei finanzstarken Kantonen. Daneben sieht das Schwei-zer Finanzsystem auch noch einen beschränkten Einnah-

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

Page 89: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

89

menausgleich vor. Ein Teil der kantonalen Anteile amAufkommen von Bundessteuern fließt bevorzugt an fi-nanzschwache Kantone.

Im amerikanischen Finanzsystem dagegen ist ein rei-ner Ausgabenausgleich verwirklicht. Einige der zweckge-bundenen Bundesfinanzzuweisungen, die bestimmte öf-fentliche Leistungen der Gliedstaaten anregen sollen, wer-den gezielt an finanzschwache Bundesstaaten vergeben.Des weiteren wird für finanzschwache Staaten die vonden Gliedstaaten grundsätzlich geforderte Eigenbeteili-gung ermäßigt.

d Ausmaß der horizontalen Umverteilung

In der Bundesrepublik wird das unterdurchschnittli-che Steueraufkommen der finanzschwachen Gliedstaa-ten systematisch auf ein Niveau von 99,5 v.H. des bun-desdurchschnittlichen Steueraufkommens angehoben.Dafür wird unter anderem auch die Steuerkraft derfinanzstarken Bundesländer in Anspruch genommen,indem diese erhebliche Teile ihres überdurchschnittlichenSteueraufkommens an finanzschwache Bundesländerabführen.

In Österreich findet ebenfalls eine � im Umfang mitder Bundesrepublik vergleichbare � Umverteilung zugun-sten finanzschwacher Bundesländer statt. Schon die über-wiegend von der wirtschaftlichen Verursachung abwei-chende Verteilung der Steuern nach der Bevölkerungs-zahl nivelliert die Einnahmen aller Bundesländer in etwaauf ein bundesdurchschnittliches Niveau. Zusätzlich er-halten finanzschwache Bundesländer Finanzzuweisungendes Bundes, womit eine Anhebung auf den Bundesdurch-schnitt erreicht wird.

Im Vergleich zur Bundesrepublik und Österreich istdas Ausmaß der horizontalen Umverteilung in derSchweiz geringer. Finanzschwache Kantone werden durchMaßnahmen des Finanzausgleichs zwar begünstigt, siewerden allerdings nicht systematisch an ein Mindestniveauan steuerlichen Einnahmen herangeführt. Auch nach Voll-zug der Ausgleichsmaßnahmen bestehen erhebliche Un-

terschiede zwischen den Finanzausstattungen der Kantone.In den Vereinigten Staaten findet schließlich kaum eine

nennenswerte Umverteilung von finanziellen Mitteln zu-gunsten finanzschwacher Bundesstaaten statt. Die inner-halb einiger grants-in-aid vorgesehene Bevorzugung finanz-schwacher Bundesstaaten wird durch gegenläufige Effek-te kompensiert. Finanzkraftunterschiede zwischen denamerikanischen Bundesstaaten bleiben somit unverändertbestehen.

2 Die Interdependenzen zwischen dem Ausmaßdes horizontalen Finanzausgleichs und demzugrundeliegenden Finanzsystem

Betrachtet man die Finanzsysteme Österreichs sowieder Bundesrepublik, so fällt auf, daß mit dem hohenAusmaß der horizontalen Umverteilung einerseits einehohe Abhängigkeit der Gliedstaaten von im Verbundsy-stem erhobenen Steuern einhergeht und andererseits denBundesländern kaum eigene Besteuerungsrechte zustehen.

Betrachtet man im Gegensatz dazu die Finanzsystemeder Schweiz und der USA, so stellt man fest, daß dasniedrige horizontale Ausgleichsniveau in diesen Staatenmit einer weitgehenden finanziellen Unabhängigkeit derGliedstaaten gegenüber dem Bund verbunden ist. Sie ver-fügen über eigene, weitreichende Steuergesetzgebungs-rechte; ihnen stehen, anders als den deutschen und denösterreichischen Bundesländern, einträgliche Steuerquel-len offen, so daß sie sich größtenteils aus eigenen Steuernfinanzieren können.

Aus diesen Zusammenhängen wird deutlich, daß beiEinforderung finanzieller Eigenverantwortung � wie diesin der Schweiz und in den USA der Fall ist � den Glied-staaten auch ein entsprechendes Instrumentarium in Formeigener Besteuerungsrechte zugestanden werden muß.

In der Tat scheint in den vier föderativ organisiertenStaaten eine Beziehung zwischen dem Ausmaß des hori-zontalen Finanzausgleichs und dem zugrundeliegendenFinanzsystem zu bestehen. Im Verbund erhobene Steu-ern tendieren dazu, einen horizontalen Finanzausgleich zu

Page 90: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

90

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

begünstigen. Zusätzlich übt die aus den fehlenden Be-steuerungsrechten resultierende Einheitlichkeit der glied-staatlichen Steuern einen starken Impuls hin zu einem ho-rizontalen Ausgleich aus. Die Frage ist, wie sich diese Sach-verhalte erklären lassen.

Ein Verbundsystem scheint Begehrlichkeiten zu wek-ken, den auf einen Gliedstaat entfallenden Anteil am Steu-eraufkommen nicht am gliedstaatlichen Beitrag zu die-sem Aufkommen zu bemessen. Denn sind die Steuernim Rahmen des Verbundsystems erst einmal gemein-schaftlich erhoben, so muß sich die anschließende Auf-teilung der Steuern auf die Gliedstaaten nicht am jeweili-gen örtlichen Aufkommen orientieren. Vielmehr werdenvermeintlich �horizontal gerechtere� Verteilungsschlüssel� beispielsweise die Bevölkerungszahl � angewandt, nachdenen die Steuern gleichmäßig auf die Gliedstaaten ver-teilt werden.

Insbesondere in Österreich ist diese Aufteilung der Steu-ern nach horizontalen Gesichtspunkten zu beobachten. Diefür die Bundesländer wichtigen Anteile an den gemein-schaftlichen Bundesabgaben werden zum großen Teil nachder Bevölkerungszahl an die Länder vergeben, so daß dieFinanzkraft der Bundesländer bereits nach der primärenSteuerverteilung fast vollständig ausgeglichen wird.

Auch in der Schweiz, die insgesamt keinen umfassen-den horizontalen Ausgleich anstrebt, läßt sich ähnlichesbeobachten. Die wenigen mit den Kantonen geteiltenBundessteuern werden nicht ausschließlich nach dem ört-lichen Aufkommen auf diese verteilt, sondern auch nachVerteilungsschlüsseln, die den horizontalen Ausgleich för-dern.

Schließlich erfolgt auch in der Bundesrepublik dieVerteilung der Umsatzsteuer nach horizontalen Gesichts-punkten. Die Umsatzsteuer wird zum Teil nach der Be-völkerungszahl, zum Teil nach der Finanzkraft an die Bun-desländer vergeben.

Zusammenhänge sind auch zwischen dem Ausgleichs-niveau einerseits und den Besteuerungskompetenzen an-dererseits zu vermuten. Stehen den Gliedstaaten wie inder Bundesrepublik und in Österreich keine nennenswer-

ten eigenen Besteuerungsrechte zu, sondern werden dieden Ländern zukommenden Steuern vom Bundesgesetz-geber bestimmt, so resultiert daraus eine weitgehendeTransparenz der Ländereinnahmen. Aufkommensunter-schiede beruhen ausschließlich auf der Unterschiedlich-keit der zugrundeliegenden Steuerkraft.

Diese Transparenz begünstigt offenbar die Forderungnach einem Ausgleich der differierenden Finanzkraft. Fi-nanzielle Mittel werden nach der primären Steuervertei-lung zugunsten Finanzschwächerer umverteilt, Finanz-kraftunterschiede werden so vermindert.

Eine horizontale Umverteilung nach einer bereits voll-zogenen primären Steuerverteilung ist vor allem in derBundesrepublik zu beobachten. Als einziges der vier Fi-nanzsysteme sieht das bundesdeutsche System einen di-rekten horizontalen Finanzausgleich vor. FinanzstarkeBundesländer zahlen aus eigenen Finanzmitteln an finanz-schwache, um deren Finanzkraft auf ein hohes Mindest-niveau anzuheben. Zusätzlich unterstützt der Bund nochfinanzschwache Länder durch freie Finanzzuweisungen,welche deren Finanzkraft auf ein annähernd bundes-durchschnittliches Niveau bringt.

3 Zur finanziellen Eigenverantwortung derGliedstaaten

In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereitsdarauf hingewiesen, daß in den vier Staaten der finanziel-len Eigenverantwortung der Gliedstaaten recht unter-schiedliche Bedeutung beigemessen wird.

In Österreich und in der Bundesrepublik wird die fi-nanzielle Eigenverantwortung recht wenig eingefordert.In beiden Staaten dominieren Verteilungsgesichtspunktegegenüber den Anreizeffekten einer finanziellen Autono-mie der Gliedstaaten. Dies zeigt sich insbesondere in derjeweiligen Ausgestaltung und dem Ausmaß des horizon-talen Finanzausgleichs.

Sowohl in der Bundesrepublik als auch in Österreichwerden die Einnahmen der finanzschwachen Bundesstaa-ten systematisch auf ein bundesdurchschnittliches Einnah-

Page 91: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

91

menniveau angehoben. Um dies zu finanzieren, muß er-heblich von dem die finanzielle Eigenverantwortung stüt-zenden Prinzip der grundsätzlichen Steuerverteilung nachdem örtlichen Aufkommen abgewichen werden.

In Österreich werden die aufkommenstärksten Steu-ern zugunsten eines horizontalen Ausgleichseffektes schongar nicht nach dem örtlichen Aufkommen verteilt. DieBundesländer haben keinerlei finanzielle Anreize, ihr ört-liches Steueraufkommen zu erhöhen, da sie davon nichtunmittelbar profitieren.

In der Bundesrepublik folgt die Steuerverteilung zwargrundsätzlich primär dem örtlichen Aufkommen, aller-dings wird die daraus resultierende Finanzverteilung durchergänzende Maßnahmen des horizontalen Finanzaus-gleichs erheblich korrigiert. Ausgleichspflichtige Bundes-länder müssen einen großen Teil ihres überdurchschnittli-chen örtlichen Steueraufkommens abtreten. Ausgleichs-berechtigte Bundesländer erhalten ein bundesdurch-schnittliches Mindestniveau an Steuereinnahmen garantiert,unabhängig davon, was sie in ihrem Gebiet erwirtschaf-tet haben.

Die Maßnahmen zugunsten des horizontalen Finanz-ausgleichs vermindern also erheblich die Bedeutung desörtlichen Steueraufkommens für die deutschen und dieösterreichischen Bundesländer. Ihr Eigeninteresse an ei-nem möglichst hohen örtlichen Aufkommen ist wenigausgeprägt.

Die Vernachlässigung der finanziellen Eigenverant-wortung innerhalb der Finanzausgleichsysteme der Bun-desrepublik und Österreichs darf man allerdings nicht iso-liert betrachten. Sie findet ihre Entsprechung in Finanzsy-stemen, die der finanziellen Autonomie insgesamt keinengroßen Stellenwert beimessen. In der Bundesrepubliksteht den Bundesländern de facto keine eigene Steuerge-setzgebungshoheit zu. Des weiteren stammt der größteTeil der Steuereinnahmen der Bundesländer aus den imVerbund erhobenen Gemeinschaftsteuern; die Bundes-länder können deshalb wenig Einfluß auf die Höhe desihnen zufließenden Steueraufkommens ausüben. Ähnlichliegen die Verhältnisse in Österreich. Den dortigen Bun-

desländern steht ebenfalls faktisch keine Steuergesetzge-bungshoheit zu, um eigenständig Steuern zu erheben. DieAbhängigkeit der österreichischen Bundesländer von imVerbund erhobenen Steuern ist zudem noch ausgepräg-ter.

Im Vergleich zur Bundesrepublik und Österreich wirddie finanzielle Eigenverantwortung der Gliedstaaten in derSchweiz und in den USA sehr viel stärker eingefordert.Darin kommt zum Ausdruck, daß dort der regionalenfinanziellen Autonomie der Gliedstaaten ein höheres Ge-wicht beigemessen wird als Ausgleichsgesichtspunkten.

Das Ausmaß der horizontalen Umverteilung ist in denUSA und in der Schweiz relativ klein. Die Gliedstaatensind größtenteils auf das Steuersubstrat, das innerhalbihrer Grenzen erwirtschaftet wird, angewiesen. Ihr Inter-esse an der Steigerung des örtlichen Steueraufkommensdurch eine entsprechende Politik ist unmittelbar. Des wei-teren besitzen sowohl die Schweizer Kantone als auch dieamerikanischen Bundesstaaten eine fast unbeschränkteSteuerhoheit. Zudem stehen ihnen ergiebige Steuerquel-len offen. Die Schweizer Kantone haben mit der Ein-kommen- und weiteren Ertragsteuern ergiebige Steuer-quellen im Bereich der direkten Steuern, den amerikani-schen Bundesstaaten ist weitgehend vom Bund das Feldder indirekten Steuern überlassen.

Die ausgeprägte regionale und finanzielle Autonomieder Schweizer und amerikanischen Gliedstaaten ist histo-risch gewachsen. Unabhängig von den staatsrechtlichenund ökonomischen Vorteilen, die mit einer gliedstaatlichenAutonomie verknüpft sind, muß man anerkennen, daßangesichts der unterschiedlichen Ausgangslagen nicht alleEinzelheiten dieser Finanzsysteme nach Deutschland über-tragen werden können. Die Bundesrepublik ist in ihremCharakter unitarischer. Steuerbelastungs- und Leistungs-unterschiede sind in einem der Schweiz und den USAvergleichbaren Maße in der Bundesrepublik undenkbar.

Allerdings wäre es durchaus überlegenswert, ob nichteine größere finanzielle Autonomie der Bundesländer derBundesstaatlichkeit der Bundesrepublik besser entspricht.Vielfalt, Unterschiedlichkeit und ein gewisses Maß an

Page 92: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

92

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

Wettbewerb gehören zum Wesen eines Bundesstaats, sieführen zu allokativer Effizienz und Innovation. In derBundesrepublik ging die in den vergangenen Jahrzehntenerfolgte Ausweitung der horizontalen Umverteilung miteinem Wandel des Steuersystems von einem Trenn- zueinem Verbundsystem einher. Der heute bestehende, dieLänderfinanzen annähernd nivellierende Finanzausgleichist Ausdruck eines Finanzsystems, das den Bundesländerninsgesamt eine finanzielle Autonomie nicht zugesteht.

Finanzsystem und Finanzausgleich sind in vielfacherWeise miteinander verknüpft. Wenn im Mittelpunkt derjetzigen öffentlichen Diskussion der Finanzausgleich unddie mit ihm verbundenen positiven und negativen Lei-stungsanreize stehen, sollte man die Gelegenheit nutzen,auch das zugrundeliegende Finanzsystem kritisch zu hin-terfragen.

4 Folgerungen für mögliche Reformen des bun-desdeutschen Finanzausgleichs

Der deutsche Finanzausgleich ist bisher zu einseitig andem Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisseorientiert. Ein Zuviel an Gleichheit fordert allerdings dienotwendige Eigenverantwortung der Gliedstaaten nurungenügend ein und steht in Konflikt zur Grundidee desFöderalismus, einer weitreichenden gliedstaatlichen Au-tonomie.

Die Beispiele der USA und der Schweiz zeigen, daßdie Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nicht die Ultimaratio eines bundesstaatlichen Finanzausgleichs sein muß.In beiden Staaten strebt man eine Einheitlichkeit der Le-bensverhältnisse nicht an. Statt dessen werden finanz-schwache Gliedstaaten gezielt unterstützt, um ein Min-destniveau an öffentlichen Leistungen zu gewährleisten.Leistungsunterschiede über dem Mindestniveau werdenvon den Bürgern dieser Staaten als natürliche Folge einesbundesstaatlichen Systems mit dezentraler Einnahmen-und Ausgabenentscheidung akzeptiert.

Aus der unterschiedlichen Zielsetzung des Finanzaus-gleichs resultiert ein im Vergleich zum deutschen Finanz-

ausgleich deutlich geringeres Ausgleichsniveau. Der Fi-nanzausgleich in der Schweiz und in den USA ist somitnicht mit dem Problem fehlender Leistungsanreize kon-frontiert, da das geringere Ausgleichsniveau einen weni-ger merklichen Eingriff in das den Gliedstaaten zuste-hende Steueraufkommen bedingt.

Es stellt sich die Frage, ob nicht das in der Schweizund in den USA verfolgte Konzept einer ausschließlichenGarantie eines Mindestniveaus an öffentlichen Leistungenüber alle Bundesländer hinweg von der Bundesrepublikübernommen werden sollte.

Natürlich müßte dieses Konzept den Gegebenheitenin der Bundesrepublik angepaßt werden. Insbesonderewären amerikanische Verhältnisse allzu großer Leistungs-unterschiede in der Bundesrepublik undenkbar. Das Min-destniveau müßte wohl weit über dem amerikanischenbzw. schweizerischen liegen. Allerdings könnte es auchdeutlich das mit einer Einheitlichkeit der Lebensverhält-nisse verbundene Niveau unterschreiten.

Eine Änderung der Zielsetzung des deutschen Finanz-ausgleichs würde eine Reduzierung der Ausgleichsintensi-tät ermöglichen. Damit wäre auch der im bisherigen Sy-stem herrschende Mangel an Leistungsanreizen überwun-den. Eine Reduzierung der Ausgleichsintensität würdesowohl das Interesse der finanzstarken als auch der fi-nanzschwachen Bundesländer am eigenen örtlichen Steu-eraufkommen wieder stärken. Selbstverwaltung und Ei-genverantwortung sind wesentliche Elemente des Föde-ralismus. Ein Finanzausgleich, der den finanzschwachenGliedstaaten ein bundesdurchschnittliches Einnahmenni-veau unabhängig vom örtlichen Steueraufkommen si-chert, entläßt diese aus ihrer Eigenverantwortung.

Der bestehende Finanzausgleich bietet den ausgleichs-berechtigten Bundesländern keine Leistungsanreize zurHebung ihres örtlichen Steueraufkommens, da Geldervon außen die Einnahmen des Landes ohne eigene An-strengungen auf ein bundesdurchschnittliches Niveaubringen. Auch ein Zwang zum Sparen und zur Anpas-sung der Ausgaben an die finanziellen Möglichkeiten ver-mißt man bei der derzeitigen Regelung. Ein finanzieller

Page 93: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

93

Druck auf die Haushalte der finanzschwachen Bundes-länder kann sehr heilsam sein, indem er gesellschaftlichenVeränderungen den Weg ebnet sowie Innovationen an-regt. Indem man finanzschwachen Ländern jeglichen fi-nanziellen Druck nimmt, verhindert man dort notwendi-ge Reformen, die zu einer Verbesserung der wirtschaftli-chen Lage führen könnten.

Für eine Reduzierung der Ausgleichsintensität sprichtferner, daß der derzeitige Finanzausgleich nicht danachdifferenziert, ob die Finanzschwäche eines Landes ausunveränderlichen geographischen bzw. wirtschaftsstruk-turellen Ursachen resultiert oder als Folge einer falschenLandespolitik praktisch hausgemacht ist.

Ausgleichswürdig sind nur die strukturellen Unter-schiede. Wird indes die Finanzkraft der ausgleichsberech-tigten Länder automatisch annähernd auf den Bundes-durchschnitt angehoben, so spürt die Landespolitik die-ser Länder die wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Ent-scheidungen nicht. Schlechte Politik wird letztendlich nichtbestraft, die Konsequenzen einer verfehlten Landespoli-tik werden vielmehr auf andere Bundesländer abgewälzt.

Eine Reduzierung der Ausgleichsintensität würde nichtnur die Leistungsbereitschaft der ausgleichsberechtigtenBundesländer erhöhen, sondern es würde daraus vor al-lem auch eine Entlastung der ausgleichspflichtigen Bun-desländer resultieren; deren Interesse an der Pflege undAusschöpfung ihres örtlichen Steueraufkommens würdewiederbelebt werden. Hier liegt der eigentliche Schwach-punkt des bestehenden Finanzausgleichs. Der deutscheFinanzausgleich sieht als einziger der untersuchten Syste-me eine direkte Inanspruchnahme der Gliedstaaten mitüberdurchschnittlichem Steueraufkommen vor. Zudemgeschieht dies in einem überzogenen Maße. Die beste-henden Finanzausgleichsregelungen der Bundesrepubliksind insgesamt zu leistungsfeindlich.

Eine Inanspruchnahme von finanzstarken Bundeslän-dern, die eine Abschöpfung des überdurchschnittlichenSteueraufkommens von bis zu 80 v.H. vorsieht, strapa-ziert die Solidarität gegenüber finanzschwachen Bundes-ländern in einem hohen Maße. Die Schwäche des derzei-

tigen deutschen Finanzausgleichs läßt sich recht deutlichveranschaulichen, wenn man das Analogon im privatenBereich betrachtet: Müßte ein Steuerpflichtiger von jederzusätzlich verdienten Mark 80 v.H. an das Finanzamt ab-führen, würde er sich genau überlegen, ob er unter diesenBedingungen investiert, um sein Einkommen zu erhöhen.

Ein Finanzausgleich darf eine erfolgreiche Wirtschafts-und Strukturpolitik nicht in dem Maße �bestrafen�, wiedies nach den bestehenden Regelungen der Fall ist. Vorallem in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation und hoher Ar-beitslosigkeit bedarf es einer wirtschaftsstimulierendenLandespolitik, die Wachstum und Beschäftigung fördert.Wenn man zur Zeit über strukturelle Änderungen desdeutschen Steuerrechts diskutiert, die auf der Basis nied-riger Tarife das Klima für private Investitionen verbes-sern sollen, so sollte man auch die überzogene Ausgleichs-pflicht der finanzstarken Bundesländer überdenken. Denndiese nimmt den finanzstarken Ländern die Möglichkeit,über öffentliche Investitionen privaten Investitionen denWeg zu bereiten.

Im Zuge des globalen Wettbewerbs konkurrieren diedeutschen Bundesländer als Standort für unternehmeri-sche Investitionen weltweit mit anderen Regionen. Einwichtiger Standortfaktor ist dabei � neben der Höhe derProduktionskosten und der Steuerbelastung � sicherlichdie Güte der öffentlichen Infrastruktur. Ein Länderfi-nanzausgleich, der die finanzstarken Länder übermäßigbelastet, nimmt diesen die Möglichkeit, durch weitere öf-fentliche Investitionen in ihre Infrastruktur im weltweitenWettbewerb zu bestehen.

Die Politik muß sich fragen, ob sie durch eine Auf-rechterhaltung der Zielvorstellung � Einheitlichkeit derLebensverhältnisse � ein durchgängiges Niveau von Mit-telmäßigkeit etablieren will oder ob sie durch eine Redu-zierung der Ausgleichsintensität sich die finanzstarkenBundesländer als Leistungsträger bewahrt, was letztend-lich allen zugute kommt. Dabei soll dieses Plädoyer nichtmißverstanden werden. Nicht der völligen Abschaffungdes horizontalen Ausgleichs soll das Wort geredet wer-den. Ein gewisser Ausgleich der unterschiedlichen Finanz-

Page 94: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

94

Hans-Wolfgang ArndtVerfassungsrechtlicher Spielraum für eine Reform des Finanzausgleichs

kraft der Gliedstaaten in einem Bundesstaat ist im Sinneeines vergleichbaren Angebots an öffentlichen Leistun-gen förderlich und aus Gerechtigkeitsgründen angebracht.

Erforderlich ist vielmehr eine Neuinterpretation des-sen, was man unter einem �gerechten� Finanzausgleichversteht. Dieser muß neben den berechtigten Interessender finanzschwachen Länder auch die Interessen der fi-nanzstarken Bundesländer und dazu noch gesamtwirt-schaftliche Belange angemessen berücksichtigen. Es mußein neues Maß der Umverteilung bestimmt werden, wel-ches das Leistungsvermögen und die Solidarität der ge-benden Länder nicht übermäßig strapaziert und das Ei-geninteresse sowohl der finanzstarken als auch der finanz-schwachen Gliedstaaten an einem möglichst hohen örtli-chen Steueraufkommen bewahrt.

Page 95: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

95

Finanzausgleich: Reformoptionenund ein konkreter Vorschlag

Karl Lichtblau

1 Zankapfel Finanzausgleich � mehr als einVerteilungsstreit

Der Streit um Kompetenzen und Finanzen zwischeneinzelnen Gebietskörperschaften gehört zum politischenGeschäft wie das Feilschen um Preise auf dem Basar. Esist deshalb nicht verwunderlich, daß der Bund-Länder-Finanzausgleich immer wieder Anlaß eines Verteilungs-streites ist. Die Fronten scheinen dabei klar: Jeder willseine verfügbare Finanzmasse erhöhen und möglichstDritte an der Finanzierung der Aufgaben beteiligen, diefür ihn wichtig sind. Die Politiker schaffen es häufig nicht,diese Konflikte auf dem Verhandlungsweg selbst zu lö-sen. Sie haben wiederholt das Bundesverfassungsgericht1

angerufen, um höchstrichterlich feststellen zu lassen, obbestimmte sie belastende Regelungen des Finanzausgleichsmit der bundesdeutschen Verfassung vereinbar sind.

Diese Fragen sind viel wichtiger, als es auf den erstenBlick scheinen mag. Es geht um viel mehr als nur umeinen vordergründigen Verteilungsstreit. Der Finanzaus-gleich � oder allgemeiner: die Finanzverfassung � defi-niert die Regeln des Wettbewerbs der Regionen in einemföderativen Staat. Die Regelungen sind in der Aufgabeund Wirkung vergleichbar mit den Eigentumsrechten ineinem privaten Markt. Auch Wettbewerb der Regionenkann nur dann funktionieren, wenn Rechte und Pflichtender Akteure definiert sind und so ausgestaltet werden,daß alle Teilnehmer an diesem Wettbewerb hinreichendAnreize für effizientes Verhalten haben.

Der folgende Beitrag zeigt, daß der derzeitige deut-sche Finanzausgleich diese Anforderungen nicht erfüllt.Als wichtigste Fehlkonstruktion wird dabei die extremhohe Grenzabschöpfung zusätzlicher Steuereinnahmenherausgearbeitet. Zur Korrektur dieses Mangels wird einkonkreter Reformvorschlag unterbreitet, der eine not-wendige Voraussetzung für eine grundlegende Reform

der Finanzverfassung ist, weil der derzeitige Finanzaus-gleich alle Anreize für eine neue Austarierung des Kräfte-verhältnisses zwischen dem Bund und den Regionen imKeim erstickt.

2 Finanzausgleich � was ist das?

Der Finanzausgleich kann als die Zuweisung von Auf-gaben-, Ausgaben- und Einnahmenkompetenzen aufverschiedene (Gebiets-)Körperschaften in einem föderalaufgebauten Staat bezeichnet werden. Wer in Deutsch-land über Finanzausgleich redet, meint meistens nur diehorizontale Umverteilung von Steuereinnahmen auf derLänderebene und die ungebundenen Transfers, die dar-über hinaus in Form sogenannter Bundesergänzungszu-weisungen gezahlt werden2. Dieser Vorgehensweise wird� weitgehend � auch hier gefolgt.

Der Finanzausgleich verfolgt eine Reihe allokativer unddistributiver Zielsetzungen. Die allokative Aufgabe kannsehr allgemein als die Annäherung an eine idealtypischeReferenzlösung aufgefaßt werden. Als Referenzmaßstabwird dabei üblicherweise die Zuweisung der Aufgaben-,Ausgaben- und Einnahmenkompetenzen herangezogen,wie sie sich bei einem idealtypischen Wettbewerb der Re-gionen (van Suntum, 1981) ergibt. Dieser Wettbewerbbasiert auf zwei Grundprinzipien:

1 Zuletzt gingen Bayern und Baden-Württemberg im Sommer1998 diesen Weg, weil sie den bestehenden Länderfinanzaus-gleich aufgrund der hohen Nivellierungswirkungen für nichtverfassungsgemäß halten (Landesregierung BW, 1998).

2 In dieser Abgrenzung bleiben andere vertikale Transfers, die imRahmen von sogenannten Mischfinanzierungssystemen (z.B. Ge-meinschaftsaufgaben, Investitionszuweisungen, Geldleistungsge-setze) gezahlt werden, unbeachtet.

Page 96: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

96

� Dezentralitätsprinzip: Die Bereitstellung kollektiverGüter soll dezentral erfolgen, denn nur dann kann einhinreichend differenziertes und den Präferenzen derEinwohner entsprechendes Güterbündel angebotenwerden. Die Bürger können auf zwei Wegen � durchWahlentscheidungen und Wanderungen � Einfluß aufdie Art und den Umfang der kollektiv bereitgestelltenGüter nehmen. Die beiden Sanktionsmöglichkeitenzwingen die Anbieter dieser Leistungen � die Regio-nen � zur Effizienz.

� Fiskalisches Äquivalenzprinzip: Effizienz ist immerdann zu erwarten, wenn der Kreis der Nutznießer ei-ner Leistung dem Kreis der Kostenträger entspricht(Olson, 1969; Oates, 1972). Bei Bereitstellung eines lo-kalen öffentlichen Gutes, das nur den EinwohnernNutzen stiften soll, verlangt das fiskalische Äquivalenz-prinzip, daß die Kosten der Bereitstellung vollständigvon den Einwohnern der Länder getragen werdenmüssen. Jede andere Regelung wäre unsinnig, weilZuschüsse aus anderen Regionen oder dem Zentral-staat zu einer suboptimal hohen Nachfrage nach die-sen Gütern führen würde.

Der Wettbewerb der Regionen funktioniert in derRealität nicht perfekt3 und liefert Marktergebnisse, diegesellschaftlich nicht akzeptiert werden. Dies begründeteine Reihe allokativer und distributiver Eingriffe.

1 Allokative Ziele des Finanzausgleichs

� Spillovers: Ergänzende Finanzausgleichsregelungenkönnten aufgrund regionaler Externalitäten notwendigwerden. Sie liegen dann vor, wenn Gebietsexterne vonder Bereitstellung eines Gutes profitieren, d.h. dieses ko-stenlos konsumieren können. Da eine Region nur ihreneigenen Nutzen bei der Entscheidung über die Bereit-stellung dieses Gutes berücksichtigt, besteht die Gefahr,daß sie aus gesamtwirtschaftlicher Sicht zuwenig davonanbietet. Dabei muß sorgfältig zwischen verschiedenenArten von Externalitäten unterschieden werden. Wenn

bei Bereitstellung eines Gutes in einem Land nur einanderes Land (etwa das angrenzende Nachbarland)profitiert, verlangt die Allokationseffizienz, daß sich die-se Länder � in welcher Form auch immer � auf einegemeinsame Bereitstellung (Finanzierung) des Gutes ei-nigen. Aus dem Coase-Theorem folgt, daß eine zen-trale Regelung nicht notwendig ist und Verhandlungenzumindest unter idealtypischen Bedingungen zu gesamt-wirtschaftlich effizienten Lösungen führen. Falsch wäreaber eine Finanzausgleichsregel, die die Aufgabe der Be-reitstellung dieses Gutes dem Gesamtstaat überantwor-tet � also auch alle anderen Länder heranziehen würde.Die beiden betroffenen Länder hätten dann Anreize,die Menge dieses Gutes zu erhöhen, weil sie zwar denvollen Nutzen haben, andere aber einen Teil der Ko-sten tragen sollen. Genau dies will das fiskalische Äqui-valenzprinzip verhindern.Eine andere Lösung ist notwendig, wenn die Bereit-stellung eines Gutes in einem Land jedem anderenLand einen Nutzen stiften würde. Entweder muß dieAufgabe der Bereitstellung dieses Gutes auf die ge-samtstaatliche Ebene verlagert werden, oder der Zen-tralstaat muß durch vertikale zweckgebundene Zuwei-sung4 dafür sorgen, daß die Länder diese öffentlicheLeistung bis zu einem Optimalniveau erhöhen. Unge-bundene Finanzausgleichtransfers können damit nichtbegründet werden (Peffekoven, 1997).

3 Siehe Blankart (1996) für eine Zusammenstellung der Argumen-te, daß Wettbewerb der Regionen zu keinem ruinösen Wettbe-werb führt.

4 Ein bekanntes Ergebnis in der Literatur ist, daß solche Exter-nalitäten durch zweckgebundene vertikale Transfers internali-siert werden sollten, die der Höhe nach offen sind und anteiligvon der Zentralinstanz und der Region finanziert werden müs-sen (Mischfinanzierung). Die Höhe der Zuschußquote (Preissub-vention) sollte dem Anteil am Grenznutzen jeder zusätzlichenEinheit des Gutes entsprechen, die Gebietsexternen zufließt(Gramlich, 1993; Thomas, 1997). Keinesfalls können solche re-gionalen Spillovers zur Begründung eines ungebundenen Finanz-ausgleiches herangezogen werden.

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 97: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

97

� Fiskalische Externalitäten: Vor allem in der theoreti-schen Literatur zum Steuerwettbewerb werden wan-derungsinduzierte fiskalische Externalitäten als ein Pro-blem diskutiert, das staatliche Interventionen begrün-den könnte. Zu solchen fiskalischen Externalitätenkann es kommen, weil die Haushalte bei ihren Wan-derungen � voting by feet (Tiebout, 1956) � nicht be-rücksichtigen, daß sie dadurch die Kosten der Bereit-stellung eines öffentlichen Gutes erhöhen (es muß jetztvon weniger Einwohnern finanziert werden) und ent-sprechend in den Zuwanderungsregionen reduzieren.Dies kann zu einer ineffizienten räumlichen Bevölke-rungsverteilung führen5. Diese Effekte mögen existie-ren, sie können aber nur schwer durch Finanzaus-gleichtransfers internalisiert werden. Mögliche Ansatz-punkte sind Verhandlungslösungen (Thomas, 1997)oder eine Steuerpolitik, die entweder ausschließlichimmobile Faktoren besteuert oder nur Äquivalenz-steuern erhebt6.

� Marktversagen bei Infrastruktur: Umverteilungen vonSteuereinnahmen könnten sinnvoll sein, wenn sich Re-gionen hinsichtlich der Grenzproduktivitäten bei Er-stellung lokaler öffentlicher Güter (z.B. Infrastruktur)unterscheiden. Bei privaten Gütern sorgt der Markt �zumindest in den Modellen der neoklassischen Wachs-tumstheorie � für den Ausgleich der Grenzprodukti-vitäten. Anders sieht es bei öffentlichen Gütern aus,die nicht in einem privaten Markt angeboten werdenkönnen. Reichere Länder haben keine Anreize, staatli-che Infrastruktur in ärmeren Ländern zu finanzieren,es sei denn, die Externalitäten sind höher als die Ren-dite einer Investition im eigenen Land. Schließt manden letzten Fall aus, könnten divergierende Grenz-produktivitäten eine Begründung für einen Finanzaus-gleich von West nach Ost sein, der allerdings wieder-um in einer First-best-Lösung in Form zweckgebun-dener Transfers organisiert werden müßte.

� Versicherung: Finanzausgleichsregelungen könntenauch als Versicherung interpretiert werden. Wenn exante unsicher ist, welches Land � gemessen an den

erzielten Steuereinnahmen � eine über- oder unter-durchschnittliche Entwicklung haben wird, könntennicht-zweckgebundene Finanzausgleichszahlungen alseine Versicherungsprämie gegen eine ungünstige Ent-wicklung interpretiert werden. Abgesehen davon, daßaufgrund einer sehr stabilen Finanzkraftrangfolge zwi-schen den Ländern die heute Starken nur wenig An-reiz haben, eine derartige Versicherung abzuschließen,spricht ein viel wichtigeres Argument gegen eine sol-che Interpretation. Eine solche Versicherung würde ineinem Markt deshalb nicht abgeschlossen werden, weilein Schadensereignis, bei dem die Versicherung zahlenmuß, nicht sinnvoll definierbar ist. Die Begründungfolgt aus einem Moral-hazard-Argument. Eine Versi-cherung kann nur dann funktionieren, wenn die Versi-cherung selbst keinen (großen) Einfluß auf das Ver-halten des Versicherungsnehmers hat � also keine An-reize bestehen, Vorkehrungen zur Verhinderung desSchadensfalls zu vermindern. Das ist in aller Regeldann anzunehmen, wenn ein objektiver Schaden (Un-fall, Tod, Krankheit) feststellbar ist. Eine Versicherunggegen unterdurchschnittliche Finanzkraftentwicklungeines Landes erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Esist nicht unterscheidbar, ob diese Verschlechterung aufein durch das Land nicht zu vertretendes Ereignis zu-rückzuführen oder einfach die Folge einer geänderten

5 Ein gesamtwirtschaftliches Optimum liegt vor, wenn gleichzei-tig die Bedingungen der Bereitstellungseffizienz und der räum-lichen Effizienz erfüllt sind. Die erstere verlangt im einfachstenFall die Erfüllung der Samuelson-Bedingung (Summe derGrenzraten der Substitution muß der Grenzrate der Transfor-mation entsprechen). Räumliche Effizienz verlangt im einfachenFall, daß die Grenzprodukte der Arbeit abzüglich des privatenKonsums und des Verbrauchs an öffentlichen Gütern � auch inForm von Überfüllungen � in allen Regionen gleich hoch seinmüssen (Flatters/Henderson/Mieszowski, 1974; Zodrow/Mieszkowski, 1986; Überblick bei Thomas, 1997).

6 Dieser Punkt wird in Huber, B.: Steuerwettbewerb � Ideal undWirklichkeit (S. 55-65 dieses Bandes) ausführlich diskutiert undbraucht hier nicht weiter verfolgt zu werden.

Page 98: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

98

Arbeit-Freizeit-Entscheidung seiner Bürger ist. Wenndas Land erwartet, daß sein Verhalten keinen Einflußauf den Durchschnitt hat, wird eine Versicherung dasStreben nach einer möglichst hohen Steuerkraft redu-zieren.

Als Zwischenfazit läßt sich festhalten: Aus allokations-theoretischer Sicht gibt es nur wenig Gründe für einenungebundenen Finanzausgleich zwischen den Regionen.

2 Distributive Ziele des Finanzausgleichs

Der Finanzausgleich � zumindest in der Praxis derBundesrepublik Deutschland � verfolgt ein regionalesAusgleichsziel. Finanzausgleichszahlungen in Form unge-bundener horizontaler oder vertikaler Transfers sindwichtige Instrumente, um das Verfassungsziel der �Her-stellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesge-biet� (Artikel 72, Absatz 2 GG) zu erreichen. Dabei ver-pflichtet das Grundgesetz den Gesetzgeber dazu, �daßdie unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessenausgeglichen wird� (Artikel 107, Absatz 2 GG). DieNotwendigkeit eines solchen Ausgleichs zwischen �armen�und �reichen� Regionen wird in Deutschland von kei-nem politischen Entscheidungsträger ernsthaft bestritten.Eine Kontroverse gibt es lediglich über den Umfang unddie konkrete Ausgestaltung dieses Finanzausgleiches. DasGrundproblem besteht darin, daß Allokation und Ver-teilung auch im Wettbewerb der Regionen nicht unab-hängig voneinander sind. Das Ausmaß und die konkreteAusgestaltung der Umverteilungspolitik hat Rückwirkun-gen auf die Funktionsfähigkeit dieses Wettbewerbes.

3 Der deutsche Finanzausgleich: Dominanzdes Verbundsystems

Das deutsche Finanzausgleichssystem ist heute weitvon der Referenzlösung entfernt, wie die Orientierung andem Wettbewerbsmodell sie empfehlen würde. Schon

immer hat die bundesdeutsche Verfassung eine Zwitter-stellung zwischen einem Konkurrenzföderalismus und ei-nem dem Ausgleichsgedanken verpflichteten unitaristi-schen Föderalismus eingenommen. Art. 30 GG sieht beider Kompetenzverteilung eine grundsätzliche Zuständig-keitsvermutung bei den Ländern; das in Art. 28 GG nie-dergelegte Selbstverwaltungsrecht der Kommunen weistin die gleiche Richtung. Dem steht die konkurrierendeGesetzgebung nach Art. 72 GG gegenüber, die eine bun-deseinheitliche Regelung verlangt, �wenn und soweit dieHerstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundes-gebiet� es erfordert. In der Verfassungswirklichkeit hatder Ausgleichsgedanke den Konkurrenzgedanken ver-drängt (Stober, 1989, S. 100).

Der Übergang von dem Trennsystem zu einer weit-gehenden Verwirklichung des Verbundsystems in derSteuerverteilung in den Finanzreformen von 1955 und1969, die Dominanz des Bundes im Rahmen der kon-kurrierenden Gesetzgebung vor allem im Steuerrecht, dieAusweitung von Mischfinanzierungstatbeständen durchdie Einführung der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufga-ben oder Investitionshilfen nach Art. 104a GG, die imZeitablauf zunehmende garantierte Mindestfinanzkraft fürBundesländer im Finanzausgleich7 bis hin zur faktischenKoordinierung originärer Länderaufgaben in den Fach-ministerkonferenzen belegen dies nachhaltig8.

Wie stark die Gebietskörperschaften auch auf derAusgabenseite miteinander verflochten sind, verdeutlichtTabelle 1. Von den gesamten Einnahmen des Bundes(Steuern, sonstige Einnahmen und Nettokreditaufnahme)gingen 1997 knapp 60 Milliarden DM oder 12 % als Zu-weisungen an die Länderhaushalte; unter Einschluß der

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

7 Die jedem Bundesland garantierte Mindeststeuerkraft stieg von88,75 % (1955) über 95 % (1992) auf heute 99,9 % (Reform-kommission, 1998, S. 7).

8 Für einen Überblick über die Probleme der bundesdeutschen Fi-nanzverfassung siehe OECD (1998), die sich in ihrem letztjäh-rigen Deutschlandbericht mit diesem Thema schwerpunktmäßigbefaßt hat.

Page 99: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

99

Umverteilung der Mineralölsteuern waren es sogar 14 %.Das entsprach fast einem Fünftel des Haushaltsvolumensder Länder. Die Gemeinden wiederum leben fast zurHälfte von Zuweisungen der Länder. Die horizontalenTransfers auf der Länderebene betrugen 1995 rund 25Milliarden DM oder 8,5 % der Steuereinnahmen der Län-der.

Dieses Verbundprinzip findet seine Entsprechung aufder Aufgabenseite, denn der faktische Zwang zu einemvergleichbaren Angebot öffentlicher Güter in allen Re-gionen hat die Möglichkeiten zur Regionalisierung von

Aufgabenkompetenzen weitgehend beseitigt. Zwangsläu-fig kommt in einem solchen System einem Finanzaus-gleich eine wichtige Bedeutung zu. Wenn alle Regionenfaktisch ein ähnliches Leistungsbündel anbieten sollen unddie Finanzierung in der Region durch Zentralisierung derSteuererhebungskompetenz beschnitten ist, kann der not-wendige Budgetausgleich nur über Finanzausgleichtrans-fers erfolgen.

Um die konkreten Probleme des bundesdeutschenFinanzausgleichs im nächsten Kapitel diskutieren zu kön-nen, sollen die wichtigsten Regelungen kurz erläutert wer-den.

Primärer Finanzausgleich (Steuerverteilung)

Die primäre Steuerverteilung regelt die Zuordnungder Steuereinnahmen auf die Gebietskörperschaften. Nuretwa ein Viertel der Steuereinnahmen entfielen 1997 aufSteuereinnahmen, die ausschließlich einer Gebietskörper-schaft (Bund, Länder oder Gemeinden) nach dem Trenn-system zustehen. Viel bedeutsamer sind die Gemeinschaft-steuern9 , die nach einem festen Schlüssel auf Bund, Län-der und Gemeinden verteilt werden. Beispielsweise er-hält bei der Lohnsteuer jedes Bundesland 42,5 Prozentseines Aufkommens; 42,5 Prozent gehen an den Bundund 15 Prozent an die Gemeinden des betreffenden Lan-des. Variabel ist die Verteilung der Umsatzsteuer gestaltet:Die Anteile der Gebietskörperschaften können jedes Jahrgeändert werden. 1997 erhielten der Bund 50,5 Prozentdes Aufkommens und die Länder 49,5 Prozent.

Danach erfolgt bei einigen Steuerarten eine Zerlegung,die die Einnahmen nach bestimmten Konzepten umver-teilt. Bei der Einkommensteuer wird das Wohnsitzprin-

1 Einnahmen und Ausgaben der Gebietskörper-schaften im Verbund 1997Milliarden DM

Einnahmen Bund Länder Gemeinden Gesamt

Steuereinnahmen 403,1 293,2 100,8 797,1Sonstige Einnahmen 42,4 57,2 95,0 194,6Nettokreditaufnahme 63,7 35,5 4,8 104,0Haushalt, brutto 509,2 385,9 200,6 1095,7

VerflechtungenBund· an Länder1 -59,1 59,1 0,0· von Ländern 4,7 -4,7 0,0Länder· an Gemeinden -91,3 91,3 0,0· an Länder ±25,2 0,0Gemeinden· an Länder 8,0 -8,0 0,0· an Gemeinden ±73,6 0,0

Summe -54,4 -28,9 83,3 0,0

nachrichtlich:

Fonds �Deutsche Einheit�... Länder an Bund 6,9 -6,9 0,0... Gemeinden an Länder 4,4 -4,4 0,0

Mineralölsteuer/ÖPNV -12,0 12,0 0,0

1 Hauptsächlich Bundesergänzungszuweisungen, Gemeinschafts-aufgaben, Investitionshilfen und Geldleistungsgesetze. Enthalten sind0,7 Milliarden DM Zuweisungen an Gemeinden. Enthalten sind nurZahlungen an die Länderhaushalte, nicht alle Zahlungen des Bun-des an Dritte (Zahlungen in die Länder).Quelle: BMF (1998a), Zentrale Datenstelle (1998), eigene Berech-nungen

9 Dazu gehört auch heute faktisch die Mineralölsteuer, an derenAufkommen allerdings zu vorab fixierten Beträgen (1997: 12Milliarden DM) die Länder beteiligt sind. Dafür haben sie ab1995 im Zuge einer Änderung der Zuordnung der Aufgaben-kompetenzen die Verantwortung für den öffentlichen Personen-nahverkehr übernommen.

Page 100: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

100

zip durchgesetzt: insbesondere Lohnsteuer, die im Landder Betriebsstätte abgeführt wurde, wird dem Wohnsitz-land des Steuerpflichtigen zugeschlagen. Davon profitie-ren vor allem Länder mit einem hohen ländergrenzen-überschreitenden Pendlersaldo. Bei der Körperschaftsteu-er wird hingegen das Betriebsstättenprinzip durchgesetzt.Die Umsatzsteuer wird nicht nach dem örtlichen Auf-kommen, sondern nach Einwohnern verteilt.

Sekundärer Finanzausgleich (Umverteilung)

An dieser Ausgangsverteilung setzt der sekundäre Fi-nanzausgleich an, dessen Aufgabe � grob gesprochen �darin besteht, eine Umverteilung zwischen �armen� und�reichen� Ländern vorzunehmen, wobei zusätzlich auchnoch Leistungen des Bundes an �arme� Länder zu be-rücksichtigen sind. Der sekundäre Finanzausgleich erfolgtin drei Schritten:

� Umsatzsteuervorwegausgleich: Im ersten Schritt wirddie im primären Finanzausgleich vorgenommene, anden Einwohnerzahlen orientierte Umsatzsteuervertei-lung verändert. Maximal 25 Prozent des Umsatzsteu-eraufkommens der Länder werden dazu verwendet,Zahlungen an Länder zu leisten, deren Steuereinnah-men je Einwohner weniger als 92 Prozent des Län-derdurchschnitts betragen. In die Feststellung desDurchschnittswertes fließen aber nur die Landessteu-ern sowie die Länderanteile an der Einkommensteu-er, der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer ein.Umverteilt wurden 1997 auf diesem Wege insgesamt13,2 Mrd. DM, hauptsächlich zu Gunsten der neuenLänder.

� Länderfinanzausgleich im engen Sinn: In diesem zwei-ten Schritt werden auf Grundlage eines Vergleichesder Finanzkraft und des Finanzbedarfes eines LandesTransferzahlungen von �reichen� zu �armen� Ländernbestimmt. Die Finanzkraft eines Landes ergibt sich imwesentlichen aus seinen Steuereinnahmen (nach Um-satzsteuervorwegausgleich) zuzüglich etwa der Hälfte

der Steuereinnahmen seiner Gemeinden.10 Währenddie Finanzkraft die tatsächliche Einnahmesituation wi-derspiegelt, stellt der Finanzbedarf eine Verteilungs-norm dar. Grundsätzlich sieht der Finanzbedarf einegleiche Finanzausstattung je Einwohner für alle Län-der vor, wobei allerdings eine Einwohnergewichtungvorgenommen wird, die vor allem die Stadtstaatenim Vergleich zu den Flächenländern und Gemeindenmit einer hohen Einwohnerdichte begünstigt. So wer-den die Einwohner von Stadtstaaten mit dem Faktor1,35 gewichtet, um dadurch einen über 35 Prozentüber dem Durchschnitt liegenden höheren Finanz-bedarf auszudrücken.Übersteigt die (tatsächliche) Finanzkraft eines Landesseinen (theoretischen) Finanzbedarf, wird es im Län-derfinanzausgleich als finanzstark eingestuft und ist mitMaßgabe seiner überschüssigen Finanzkraft aus-gleichspflichtig; finanzschwache Länder sind dement-sprechend ausgleichsberechtigt. Nach einem kompli-zierten Verfahren werden nun die Ausgleichszahlun-gen zwischen finanzschwachen und finanzstarken Län-dern bestimmt. Die Ausgleichsleistungen werden sobemessen, daß die finanzschwachen Länder minde-stens 95 Prozent des Länderdurchschnitts erreichen.Zur Finanzierung dieser Zahlungen werden die (rela-tiven) Überschüsse der finanzstarken Länder mit ei-nem progressiven Ausgleichstarif belegt. Im Rahmendieses Schrittes wurden 1997 knapp 12 Milliarden DMzwischen den Ländern umverteilt.

� Bundesergänzungszuweisungen: Die dritte Stufe dessekundären Finanzausgleichs bilden Leistungen desBundes an finanzschwache Länder. Für die weiterenAusführungen besonders wichtig sind dabei die Fehl-

10 Berücksichtigt werden darüber hinaus die Förder- und Spielban-kenabgaben. Außerdem können die Länder mit Seehäfen ihreFinanzkraft durch Pauschalbeträge reduzieren. Diese Regelungist sehr strittig und wenig systemkonform (Peffekoven, 1994,296); sie soll aber aufgrund der geringen quantitativen Bedeu-tung nicht weiter diskutiert werden.

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 101: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

101

betrags-Bundesergänzungszuweisungen, weil diese un-mittelbar an den oben definierten Finanzkraft- undFinanzbedarfsrelationen anknüpfen und damit unmit-telbar Teil dieses komplizierten Tarifsystems sind. Die-se Zahlungen decken 90 % der Lücke ab, die bei denfinanzschwachen Ländern nach Länderfinanzausgleichnoch zum Länderdurchschnitt besteht. Da der Län-derfinanzausgleich bereits eine Mindestausstattung von95  % des Finanzbedarfs garantiert, bedeutet dies, daßdurch die Zahlungen des Bundes die finanzschwachenLänder auf mindestens 99,5 % des Länderdurch-schnitts hochgeschleust werden.

Anschließend zahlt der Bund eine Reihe weiterer Bun-desergänzungszuweisungen zum Ausgleich besondererLasten einiger Länder. Dazu zählen die Sonderbedarfs-Ergänzungszuweisungen an die neuen Länder zur Finan-zierung des Aufbaus Ost, Zahlungen zum Ausgleich über-proportionaler Kosten der politischen Führung bei klei-nen Ländern, Übergangshilfen an die alten Bundesländerzur Kompensation von Härten, die bei der Einbeziehungder neuen Länder in den Finanzausgleich entstanden sind,sowie Haushaltshilfen für die Länder Bremen und Saar-land. Der entscheidende Unterschied zu den horizontalenLänderzahlungen und Fehlbetrags-Ergänzungszuweisun-gen besteht darin, daß diese anderen vertikalen Bundes-hilfen als Lump-sum-Transfers gewährt werden, also derHöhe nach fixiert und nicht von der Veränderung derrelativen Steuerkraft der Länder abhängig sind.

Nach diesen Zahlungen des sekundären Finanzaus-gleichs gewährt der Bund durch eine Reihe von Maßnah-men (Gemeinschaftsaufgaben, Investitionshilfen, Geldlei-stungsgesetzen) weitere Transfers, die allerdings zweck-gebunden sind, d.h. nur für bestimmte, vorab festgelegteVerwendungsarten eingesetzt werden. Dafür wurden1997 rund 45 Milliarden DM (inklusive des Anteils derLänder am Mineralölsteueraufkommen) vom Bund andie Länderkassen überwiesen.

4 Probleme des bundesdeutschenFinanzausgleichs

Im folgenden Abschnitt werden die wesentlichen öko-nomischen Probleme des Finanzausgleichs diskutiert,wobei vor allem der horizontale Länderfinanzausgleichund die Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen imVordergrund stehen werden.

1 Fiskalische Belastung

Zunächst interessiert die Frage, wie quantitativ bedeut-sam die horizontale Umverteilung auf Länderebene ist.Dabei werden die Länder mit ihren Gemeinden als Ein-heit betrachtet und der kommunale Finanzausgleich ver-nachlässigt. 1997 wurden von dem Gesamtsteuerauf-kommen von Ländern und Gemeinden knapp 6 % imRahmen des Umsatzsteuervorwegausgleiches und desLänderfinanzausgleiches im engen Sinn umgeschichtet.Aufschlußreicher als diese Durchschnittsangabe sind al-lerdings die positiven bzw. negativen Transferquoten der�reichen� und der �armen� Länder. Das Ergebnis hängtvon der Definition dieser beiden Klassen ab. Zählen wirzur Gruppe der finanzstarken Länder diejenigen mit ei-ner überdurchschnittlichen originären Pro-Kopf-Steuer-kraft, errechnet sich eine Belastungsquote von 7,8 %. Fürdie Empfänger � die Länder mit einer unterdurchschnitt-lichen Steuerkraft � sind die Zahlungen wesentlich wich-tiger. Sie betragen immerhin 18 % ihrer originären Steu-erkraft11 . Die Spannweite zwischen den Ländern in die-

11 Das Ergebnis ändert sich nicht unerheblich, wenn zur Definiti-on von �starken� und �schwachen� Ländern der unterschiedli-che Finanzbedarf der Länder berücksichtigt wird, wie er vorallem durch die Einwohnerwertungen in den spezifischen Rege-lungen des Finanzausgleichsgesetzes festgelegt ist. Gelten dieLänder, die im Rahmen des Umsatzsteuervorwegausgleichs unddes Länderfinanzausgleiches insgesamt einen Transfer leisten(Ausgleichsbeträge erhalten), als finanzstark (-schwach), beträgtdie durchschnittliche Belastung der Zahlerländer 7,1% und dieBegünstigung der Empfängerländer 36,7%.

Page 102: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

102

ser reinen Steuerkraftbetrachtung ist erheblich. Die Trans-ferquoten schwanken auf der Zahlerseite zwischen 12,4 %in Hessen und 2,4 % in Niedersachsen.

Auf der Empfängerseite liegt die Transferrate zwi-schen 3,3 % (Saarland) und 55,8 % in Thüringen. DieTransferquoten waren in der Vergangenheit � vor allemin der Zeit vor der Einbeziehung der neuen Länder inden Finanzausgleich � niedriger. Allerdings ist ein solcherintertemporaler Vergleich sehr problematisch, weil sichdie Bemessungsgrundlage � die originäre Steuerkraft derLänder � durch Anpassungen in der primären Steuerver-teilung und den damit verbundenen Verschiebungen inder vertikalen Aufgabenverteilung mehrfach veränderthat12.

Festzuhalten bleibt, daß die durchschnittliche Belastungder finanzstarken Länder im horizontalen Finanzausgleichderzeit 7 % beträgt und damit relativ klein ist. Dieses Er-gebnis wird im übernächsten Abschnitt bei der Diskussi-on der Grenzbelastung nochmals aufgegriffen und eineentscheidende Rolle spielen.

2 Übernivellierung

Der derzeitige Finanzausgleich wird vor allem auf-grund von Übernivellierungseffekten und einer zu star-ken Abschöpfung der überdurchschnittlichen Finanzkraft(siehe nächster Abschnitt) kritisiert. Übernivellierungen lie-gen dann vor, wenn die Monotoniebedingung verletztist, d.h. die ursprüngliche Rangfolge in der Finanzkraft jeEinwohner vor Finanzausgleich durch die Ausgleichslei-stungen verändert wird. Nach vorherrschender Meinungder Wissenschaft13 und der Politik14 muß aus anreizpoli-tischen Gründen, aber auch aus normativen Gerechtig-keitsüberlegungen ein rationales Finanzausgleichssystemdiese Monotonie-Eigenschaft erfüllen. Solche Übernivel-lierungen können auftreten, wenn als Ausgangsbasis dieSteuerkraft je Einwohner gewählt wird; denn die Berech-nung von Transferzahlungen nehmen darauf nicht Bezug.Die in Anhang 2 ausgewiesenen Änderungen der Reihen-folge müssen deshalb nicht überraschen15 .

2 Durchschnittsbelastung im Finanzausgleich1

1997, in Prozent

Hessen -12,4Bayern -8,5Baden-Württemberg -8,1Nordrhein-Westfalen -6,9Hamburg -4,8Schleswig-Holstein -4,1Rheinland-Pfalz -2,6Niedersachsen -2,4Saarland 3,3Bremen 5,5Berlin 23,2Brandenburg 42,0Sachsen 46,5Mecklenburg-Vorpommern 52,2Sachsen-Anhalt 54,2Thüringen 55,8

Durchschnitt 2 5,9

Finanzstarke Länder3 -7,8Finanzschwache Länder3 18,2Zahlerländer im Finanzausgleich4 -7,1Empfängerländer im Finanzausgleich

436,7

1 Relation aus Umsatzsteuer-Vorwegausgleich plus Länder-Finanz-ausgleich zu Steuereinnahmen der Länder (incl. Gemeinden) nachZerlegung. 2 Ausgleichszahlungen zu Gesamtsteuereinnahmen derLänder. 3 Länder mit über(unter)durchschnittlicher Steuerkraft jeEinwohner. 4 Länder mit positiven (negativen) Transfers aus USt-Vorwegausgleich und Länder-Finanzausgleich.Quelle: BMF (1998b), Statistisches Bundesamt (1998), eigene Be-rechnungen

12 So wurde 1994 der Anteil der Länder am Umsatzsteueraufkom-men von 37% auf 44% erhöht, um die Lasten der Länder imhorizontalen Finanzausgleich zu verringern, die durch die Ein-beziehung der neuen Länder entstanden sind.

13 Siehe für diese und andere Anforderungen an einen rationalenFinanzausgleich Buhl/Pfingsten (1986), Michalk (1989), Licht-blau/Fuest (1991) oder Peffekoven (1987, 1994). Auch dasBundesverfassungsgericht hat in einer früheren Entscheidung(BVerfGE, 86, 148, 250ff) einen Verstoß gegen das Monotonie-gebot beanstandet.

14 Auch die jüngste Verfassungsklage Baden-Württembergs gegenden Finanzausgleich basiert auf diesem Argument (Landesregie-rung Baden-Württemberg, 1998).

15 Zu einer Verletzung der Monotonie-Eigenschaft kann es auchdann kommen, wenn als Bezugsbasis nicht die originäre Steuer-

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 103: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

103

Eine zielführende Diskussion um das Nivellierungs-verbot muß sich der beiden Fragen annehmen, ob dieEinzelregelungen bei der Bestimmung der verschiedenenhorizontalen und vertikalen Transfers sachgerecht sindund ob diese Einzelregelungen nicht in einem Gesamtsy-stem konsistenter zusammengefaßt werden können.

3 Grenzbelastungen

Ökonomisch interessanter als die Debatte um die Mo-notonie-Eigenschaft des Finanzausgleichs ist eine Analyseder Grenzbelastungswirkungen des Systems. Dabei ist zufragen, in welchem Ausmaß zusätzliche Steuereinnahmen

eines Bundeslandes durchden Finanzausgleich abge-schöpft werden. Diesekönnen konfiskatorischeAusmaße annehmen, ohnedas Nivellierungsverbotzu verletzen. Die hohenGrenzbelastungen müssenals das ökonomische Kern-problem des Finanzaus-gleichs betrachtet werden.

Sinnvoll können nurdie Teile des Finanzaus-gleichssystems in dieseAnalyse einbezogen wer-den, die in direkter Ab-hängigkeit zu der Steuer-kraft eines Landes stehen.Die folgende Rechnungberücksichtigt deshalb nurden Umsatzsteuer-Vor-wegausgleich, den Länder-

finanzausgleich im engeren Sinn und die Fehlbetrags-Bun-desergänzungszuweisungen.

Tabelle 3 zeigt das Ergebnis für jedes Bundesland undfür den Fall, in dem jedes Land unter sonst gleichen Be-dingungen 1997 jeweils eine Million DM Lohn- und Ein-kommensteuer mehr eingenommen hätte. Die Grenzab-schöpfungen im Finanzausgleich sind erheblich und errei-chen im Saarland rund 92 %, d.h. von einer zusätzlichenMillion DM Lohnsteuereinnahmen verbleiben dem Land(einschließlich seiner Gemeinden) nach Finanzausgleichnur noch 81.000 DM. Der Rest geht im Wege der Steuer-verteilung bzw. über verringerte Finanzausgleichsansprü-che verloren und fließt dem Bund (408.000 DM) oderden anderen Ländern (510.000 DM) zu. Besonders wich-tig ist dabei, daß auch die finanzschwachen (neuen) Län-der von besonders hohen Grenzbelastungen betroffensind. Geradezu absurd sind die Ergebnisse vom Stand-punkt der Länderhaushalte: In elf Bundesländern hat der

kraft je Einwohner, sondern die Finanzkraft-Finanzbedarfs-Re-lation gewählt wird und damit die spezifischen Bedarfselemen-te des Finanzausgleichsgesetzes Berücksichtigung finden.

3 Grenzabschöpfungen im Finanzausgleich 1997Zuflüsse, Umverteilungen und Abflüsse einer Million DM zusätzlicher Lohnsteuerin 1000 DM

Bundesland Bruttozufluß Umverteilung Nettoabfluß Nettozufluß

Land und USt- Länder- BEZ2 Bund Andere Land undGemeinden Vorweg- finanz- Länder Gemeinden

ausgleich ausgleich1

Saarland 575 -415 -79 0 408 510 81Bremen 575 -1 -457 -33 407 509 84Hamburg 575 -2 -488 0 374 541 85Mecklenburg-Vorp. 575 -409 -81 0 408 506 86Thüringen 575 -402 -84 1 408 502 90Brandenburg 575 -402 -84 1 408 502 90Sachsen-Anhalt 575 -400 -84 1 408 501 91Sachsen 575 -384 -91 1 408 490 102Berlin 575 -3 -471 1 374 524 102Rheinland-Pfalz 575 -4 -177 -266 655 217 128Niedersachsen 575 -7 -167 -251 655 196 150Hessen 575 -5 -380 0 374 436 190Baden-Württemberg 575 -9 -319 0 374 379 247Bayern 575 -11 -299 0 374 361 265Nordrhein-Westfalen 575 -16 -274 0 374 341 285Schleswig-Holstein 575 -2 -167 0 374 221 405

1 Einschließlich Garantieklauseln. 2 Nur Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen.Quelle: BMF (1998), Huber/Lichtblau (1997), eigene Berechnungen

Page 104: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

104

Landesfinanzminister sogar weniger Geld in der Kasseals vorher. Dies erklärt sich daraus, daß im Rahmen desLänderfinanzausgleichs die Mehreinnahmen der Gemein-den zur Hälfte zu Lasten des Landeshaushalts angerech-net werden. Bei einer Verschiebung von einer Million DMLohnsteuer im Zuge einer Standortverlagerung einesUnternehmens von Nordrhein-Westfalen nach Sachsenhätten am Ende sogar beide Länderfinanzminister weni-ger in der Kasse als vorher (Huber/Lichtblau, 1997). Beiderart hohen Grenzbelastungen wirkt der Finanzausgleichwie eine �konfiskatorische Besteuerung� zwischen Ge-bietskörperschaften. Die Höhe der Grenzbelastung hängtvon verschiedenen Faktoren ab. Die wichtigsten sind:

� Primäre Steuerverteilung: Ein Teil der Grenzbelastungwird durch den Steuerverbund verursacht, denn vonjeder zusätzlichen DM muß jedes Land 42,5 % anden Bund abführen.

� Progressiver Tarif: Die Progressionswirkung kommtaus verschiedenen Kanälen. Der erste ist der Umsatz-steuer-Vorwegausgleich. Er füllt die Differenz zwi-schen Landessteuerkraft und 92 % des Durchschnitts-niveaus vollständig auf. Liegt ein Land unter dieser92 %-Marke � das betrifft alle neuen Länder � führteine Erhöhung der Landessteuerkraft zu einem Rück-gang des Transfers um genau den gleichen Betrag, ver-nachlässigt man die Erhöhung der 92 %-Grenze durchdiese zusätzliche Einnahme. Deshalb verlieren die neu-en Länder von ihrer Bruttoeinnahme von 575.000 DMzusätzlicher Einkommensteuer schon im Durchschnittrund 60 % in diesem ersten Umverteilungsschritt16.Für die anderen Länder ist der USt-Vorwegausgleichfür das Marginalkalkül nicht sehr bedeutend. Es gibtnur kleine Verschiebungen, die auf die Veränderungder 92 %-Auffüllgrenze infolge des erhöhten Steuer-aufkommens zurückzuführen sind.Die zweite Ursache ist der progressive Stufentarif,der dem Länderfinanzausgleich im engeren Sinn zu-grunde liegt. Eine Finanzkraft unter 92 % des Fi-nanzbedarfs wird zu 100 % aufgefüllt; eine Lücke

im Bereich zwischen 92 % und 100 % immerhin nochmit 37,5 %. Für die Höhe der Grenzbelastung in die-sem Teilschritt kommt es also entscheidend daraufan, welcher Teil des Tarifs gerade relevant ist, d.h.wo die marginale Erhöhung der Einnahmen wirk-sam wird. Auch auf der Zahlerseite gibt es einen Stu-fentarif. Die überschießende Finanzkraft im Bereichzwischen 100 und 101 % wird nur zu 15 %, die zwi-schen 101 und 110 % zu 66 % und die über 110 %zu 80 % abgeschöpft. Dies kann sich erhöhen oderverringern, je nachdem, ob die Abschöpfungen mitdiesem Normaltarif ausreichen, um die Ansprücheder Empfängerländer abzudecken17. 1997 fiel als ein-ziges Land Hessen in diesen Spitzenabschöpfungs-bereich und verlor deshalb hier relativ mehr als an-dere. Umgekehrt ist der Fall Schleswig-Holstein. Die-ses Land ist erst 1997 vom finanzschwachen Emp-fängerland zum finanzstarken Zahlerland geworden;seine überschießende Finanzkraft liegt deshalb voll-ständig im Bereich zwischen 100 und 101 % seinesFinanzbedarfs, die nur mit 15 % belastet wird. Des-halb hat Schleswig-Holstein von allen Ländern mitAbstand die niedrigste Grenzbelastung von nur rund60 %. 1996 war das noch anders; die Grenzbela-stung lag damals bei 88 %.Verschärft wird die Grenzbelastung nochmals durchdie Fehlbetrags-BEZ, die die nach Länderfinanzaus-gleich verbleibende Differenz zwischen Finanzkraftund Finanzbedarf zu 90 % ausgleicht. Betroffen sinddavon vor allem die relativ finanzschwachen westdeut-schen Länder Niedersachsen und Rheinland-Pfalz.

16 Die Rate liegt deshalb unter 100 %, weil in die Bemessungs-grundlage neben der Einkommensteuer auch die landeseigenenSteuern eingehen, die in der Beispielrechnung unverändert blie-ben.

17 Daneben sind eine Reihe sogenannter Garantieklauseln zu be-achten, die auch die Grenzbelastungen beeinflussen. Sie sollenaber nicht weiter analysiert werden. Grenzbelastungserhöhendwirken diese Klauseln vor allem in Hamburg.

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 105: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

105

� Einwohneranteil: Auch die Größe eines Landes be-einflußt die Grenzbelastung. Die Bemessungsgrund-lage für die Ausgleichszahlung ist die Differenz zwi-schen Finanzkraft und Finanzbedarf. Der Finanzbe-darf hängt direkt von der Größe des Landes ab, denner ist als sein �veredelter� Einwohneranteil an den Ge-samtsteuereinnahmen im Finanzausgleich definiert.Große Länder können deshalb einen höheren Anteileiner zusätzlichen Steuereinnahme als Eigenanteil be-halten. Die Grenzbelastung für Nordrhein-Westfalenals großem Bundesland ist deshalb niedriger als beikleineren Ländern mit einer ähnlichen hohen Pro-Kopf-Finanzkraft (z.B. Baden-Württemberg). Beson-ders hoch ist natürlich umgekehrt dadurch die Grenz-belastung in Hamburg.

Es ist zu erwarten, daß derart hohe GrenzbelastungenFehlanreize bei der Wirtschaftspolitik hervorrufen:

� Ein erstes Problem ergibt sich hier unmittelbar bei derSteuerverwaltung, die den Bundesländern obliegt.Offensichtlich haben die Länder wenig Anreiz zur ef-fizienten Steuerdurchsetzung, da die Kosten z. B. vonzusätzlichen Steuerprüfern vom Land zu tragen sind,dadurch zu erzielende Mehreinnahmen aber zum gro-ßen Teil abfließen. Grundsätzlich lassen sich diese Pro-bleme allerdings durch eine Reorganisation oder durchVorgaben auf bundesstaatlicher Ebene lösen.

� Gravierender sind die Konsequenzen für die Struk-turpolitik. Die Ansiedlung von neuen Unternehmenhat für ein Bundesland vielfältige Konsequenzen, diesich als ein Bündel von Vor- und Nachteilen darstel-len. So steht vielfach die Schaffung zusätzlicher Ar-beitsplätze einer zusätzlichen Umweltbelastung gegen-über. Die gleiche Überlegung gilt aber auch auf fiska-lischer Ebene. Die Ansiedlung von Unternehmen istmit Ausgaben z. B. für Infrastruktur verbunden, führtaber auch zu zusätzlichen Steuereinnahmen. Werdensolche Mehreinnahmen durch den Finanzausgleichabgeschöpft, hat ein Bundesland weniger Anreiz,

Unternehmen anzusiedeln. Kurz: Der Finanzausgleichwirkt als Wachstumsbremse.

� Ein weiteres wichtiges Problem besteht darin, daß dergegenwärtige Finanzausgleich konsumtive im Ver-gleich zu investiven Ausgaben begünstigt. Konsumti-ve Ausgaben, wie z. B. eine Subventionierung von Kin-dergärten, kommen den Bürgern eines Bundeslandesunmittelbar zugute; investive Ausgaben, z. B. im In-frastrukturbereich, führen hingegen zu einer Erhöhungdes Einkommens, die der Besteuerung unterliegt.19

Diese Steuermehreinnahmen fließen im geltenden Fi-nanzausgleich nun aber zum großen Teil aus der Regi-on ab. Dadurch entsteht ein Anreiz, konsumtive Aus-gaben vorzunehmen, bei denen solche Steuerabfluß-effekte nicht auftreten. Die hohe Grenzbelastung imFinanzausgleich verschärft dieses Problem.

Als Fazit läßt sich festhalten: Einer relativ moderatenDurchschnittsbelastung steht eine extrem hohe Grenz-belastung gegenüber. Dies hat negative Anreizwirkungen;der Keil zwischen Grenz- und Durchschnittsbelastungeröffnet aber gleichzeitig Chancen für Reformen.

4 Verletzungen des Äquivalenzprinzips

Oben wurde dargelegt, daß der ungebundene Finanz-ausgleich kaum geeignet ist, allokative Aufgaben zu über-nehmen und Marktunvollkommenheiten des Wettbe-werbs der Regionen auszugleichen. Der bundesdeutscheFinanzausgleich versucht dies aber und wirkt damit in diefalsche Richtung.

� Einwohnerwertung: Die Aufgabe der Internalisierungvon Spillovers könnte auf den ersten Blick die höhe-ren Einwohnerwertungen für die Stadtstaaten und Ge-meinden mit hoher Einwohnerdichte begründen,

19 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch aus theoretischer SichtRichter/Wellisch (1993).

Page 106: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

106

wenn diese Agglomerationsräume tatsächlich Dienst-leistungen für das Umland bereitstellen20, die sie imMarkt nicht entlohnt bekommen. Der Finanzausgleichist allerdings zur Internalisierung dieser Effekte dasfalsche Instrument, denn es handelt sich um keine ge-nerellen, alle Länder betreffende Externalitäten, son-dern nur um ein regionales Stadt-Umland-Problem.Unter Effizienzgesichtspunkten sollte die Internalisie-rung dieser Effekte auch in der Region durch Ver-handlung der Betroffenen (Coase-Theorem) gelöstwerden (Kapitel 2). Dies spricht dafür, den Finanz-ausgleich zu einem reinen Steuerkraftausgleich umzu-gestalten und auf eine �Veredelung� der Einwohner-zahlen zu verzichten (Arndt, 1997).

� Steuerzerlegung nach dem Wohnortprinzip: Proble-matisch erscheint es auch, das Einkommensteuerauf-kommen im Zuge der Steuerzerlegung vollständignach dem Wohnsitzprinzip zuzuordnen. Dies vermin-dert indirekt die Anreize für die Schaffung von Ar-beitsplätzen, weil über die Zerlegung die �Schaffungvon Schlafplätzen� (Wohnorte) bevorzugt wird. Einewenigstens teilweise Abkehr von dem Wohnsitzland-prinzip bei der Zerlegung (Reformkommission, 1998)hätte auch eine willkommene praktische Implikation.Durch die derzeitige Regelung sind vor allem Stadt-staaten benachteiligt, die Arbeitsplätze für das Um-land anbieten. Allein Hamburg verlor durch die Zer-legung der Lohnsteuer rund 1,7 Milliarden DM, wasetwa einem Viertel des Aufkommens entspricht. EineÄnderung der Zerlegungsregel könnte helfen, die Ef-fekte der Einwohnerwertung gegenzufinanzieren undgerade für diese grenzüberschreitenden Stadt-Um-land-Regionen eine insgesamt bessere Lösung des Zu-ordnungsproblems zu erreichen.

� Kosten der politischen Führung: Aus ähnlichen Grün-den wie die Einwohnerwertungen sind auch Bundes-ergänzungszuweisungen zum Ausgleich überpropor-tionaler Kosten kleiner Länder nicht sachgerecht. Öko-nomisch wird argumentiert, daß subadditive Kosten-funktionen vorliegen und deshalb ein großes Land

öffentliche Güter billiger anbieten kann als zwei halbso große Länder (Homburg, 1994). Es liegen also stei-gende Skalenerträge vor. Kleine Länder könnten ingewissen Grenzen wachsen, ohne daß die Kosten derVerwaltung und der politischen Führung zunehmen.Der Finanzausgleich setzt keine Anreize, solche Ska-lenerträge auszunutzen, sondern er belohnt im Gegen-teil über Bundesergänzungszuweisungen noch �Klein-staaterei�. Auch hier wäre die Abschaffung die einzigrichtige Lösung.

� Gemeindesteuern: Wenig überzeugend ist die nur hälf-tige Berücksichtigung der Gemeindesteuern im Fi-nanzausgleich. Da der Bund-Länder-Finanzausgleichdie Beziehungen zwischen Ländern und ihren Kom-munen nicht regeln will, sollten die Länder einschließ-lich ihrer Kommunen als Einheit betrachtet werdenund mit ihrer gesamten Steuerkraft eingehen, wobeiallerdings eine Hebesatzpauschalierung21 beibehaltenwerden muß (Huber, 1998).

� Haftungsregeln: Das unter Allokationsgesichtspunktenbedeutsamste Problem eines föderativ aufgebautenStaates, dessen Regionen über Finanzausgleichsmecha-nismen eng verkoppelt sind, ist das Haftungsproblem.Es gibt keine glaubwürdige Konkursordnung für Ge-bietskörperschaften: Länder mit einer unsoliden Haus-haltspolitik können auf einen bailout vertrauen und da-mit rechnen, daß der Zentralstaat im Notfall für dieSchulden aufkommt. Wenn einzelne Länder auf sol-che Hilfen hoffen können, führt eine rationale Haus-haltspolitik ins Defizit. Die Bundesergänzungszuwei-sungen für das Saarland und Bremen zur Überwin-dung ihrer Haushaltsnotlagen, deren Einführung aufdas Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1992 zu-rückgeht, müssen als ein solches Signal begriffen wer-

20 Mit diesem Argument rechtfertigte das Bundesverfassungsge-richt 1986 die um 35% höhere Einwohnergewichtung vonStadtstaaten (BVerfGE 72, 330, S. 416).

21 Siehe für eine kritische Diskussion der Pauschalierungen imkommunalen Finanzausgleich Kuhn (1995).

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 107: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

107

den22. Ein rationaler Finanzausgleich sollte im Gegen-teil überschuldete Länder zwingen, die Steuern in ih-rem Land zu erhöhen oder die Ausgaben entspre-chend zu reduzieren.

5 Mischfinanzierungen

Mischfinanzierungen wie die Gemeinschaftsaufgaben,Investitionshilfen oder Geldleistungsgesetze stehen sehrin der Kritik. In kaum einem Konzept zur Reform derFinanzverfassung (Henke/Schuppert, 1993; Sachverstän-digenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichenEntwicklung, 1991; Wissenschaftlicher Beirat beim Bun-desministerium der Finanzen, 1992; ReformkommissionSoziale Marktwirtschaft, 1998; OECD, 1998; Krahwin-kel/Grobosch, 1998; Ottnad/Linnartz, 1997) fehlt derHinweis auf eine Abschaffung oder wenigstens eine deut-liche Rückführung23. Die Kritikpunkte (mangelnde Ef-fektivität der Aufgabenerfüllung, hoher Verwaltungs- undAbstimmungsaufwand, Verwischung der Verantwortlich-keiten, Kontrolldefizite durch fehlende Transparenz,Überinvestitionen wegen Verletzung des Äquivalenzprin-zips) sind bekannt (Lichtblau, 1995). Vor allem das letzteArgument ist dann richtig, wenn keine räumlich weit streu-enden Spillovers vorliegen. Wenn sie aber vorhanden sind,ist ein zweckgebundener Zuschuß bei anteiliger Finanzie-rung das grundsätzlich geeignete Instrument (s.o. Kapitel2). Das grundlegende Problem besteht darin, daß � mitAusnahme einiger komplizierter theoretischer Ansätze �keine wirklich überzeugenden Präferenzenoffenbarungs-mechanismen vorhanden sind, die sich in das bestehendeInstitutionengefüge in Deutschland einbauen ließen (siehedas folgende Kapitel 5).

Vielleicht ist aber die Antwort auf die Frage, warumMischfinanzierungen empirisch eine so große Bedeutunghaben, viel einfacher. Es könnte zumindest indirekt wie-der etwas mit den Grenzeffekten des Finanzausgleichs zutun haben. Mischfinanzierungen sind ein Weg, um denLändern � etwa bei Aufgabenverschiebungen � einenhöheren Anteil an den Gesamteinnahmen des Staates zu-

kommen zu lassen, ohne dabei die massiven (Grenz-)Um-verteilungswirkungen in Kauf nehmen zu müssen, die ein-treten, wenn die Mittel etwa in Form einer höheren Be-teiligung der Länder an den Gemeinschaftsteuern um-verteilt würden. Modellrechnungen zeigen, daß die neuenLänder einschließlich Berlin etwa 11 Milliarden DM we-niger hätten, wenn die rund 40 Milliarden Mischfinanzie-rungen über einen erhöhten Länderanteil an der Umsatz-steuer24 verteilt würden. Kleine und finanzschwache Län-der mit den bekannten hohen Grenzbelastungen habentraditionell einen großen politischen Einfluß in Deutsch-land. Vielleicht haben sie wegen eines Umverteilungs-systems, das sie begünstigen soll, eine insgesamt bessereLösung verhindert?

5 Reformoptionen des bundesdeutschenFinanzausgleichs

1 Trennung zwischen Allokation und Verteilung

Das wichtigste Ergebnis der obigen Analyse lautet: ImFinanzausgleich ist die Grenzbelastung etwa um den Fak-tor 10 höher als die Durchschnittsbelastung. Dieser Keileröffnet Möglichkeiten für eine Reform mit dem Ziel,die gewollte Umverteilung zwischen den Ländern mit ei-ner deutlich niedrigeren Grenzbelastung zu finanzieren.

22 Daß sich daraus Dauersubventionen ergeben könnten, ist einemHinweis des Finanzberichtes 1999 (BMF, 1998, 57) zu entneh-men. Dort heißt es wörtlich: �Es ist beabsichtigt, die 1998 aus-laufenden Sanierungshilfen für die Länder Bremen und Saarlandauf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsge-richtes als gemeinsame Finanzierung � je zur Hälfte � von Bundund Ländern fortzusetzen.� Deutlicher kann eine Einladung anandere Länder zum Schuldenmachen kaum ausgesprochen wer-den.

23 Für eine Diskussion des dahinterstehenden Modells des koope-rativen Föderalismus siehe Scharpf/Reissert/Schnabel (1976).

24 Ähnliche Ergebnisse ergeben sich bei einer Erhöhung des Län-deranteils an den Einkommensteuern.

Page 108: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

108

Um dies zu erreichen, wird im folgenden vorgeschlagen,die Allokations- und Verteilungsfunktion des Finanzaus-gleichs stärker zu trennen. Eine solche Reform sollte vierAnsprüchen genügen:

� Die Grenzbelastung soll für alle Länder und bei allendenkbaren Relationen zwischen Finanzkraftmeßzahlund Ausgleichsmeßzahl nachhaltig abgebaut werden.Dafür ist es notwendig, das verhängnisvolle Zusam-menwirken von Umsatzsteuer-Vorwegausgleich, Län-derfinanzausgleich und Fehlbetrags-Bundesergän-zungszuweisung zu durchbrechen.

� Dem Ausgleichsziel soll in angemessenem Ausmaßentsprochen werden.

� Durch die Reform soll sich die bisherige Finanzaus-stattung der einzelnen Bundesländer nicht wesentlichverändern. Hiermit ist die politische Akzeptanz ange-sprochen. Wenn es bei einer Reform Gewinner undVerlierer gibt, ist politischer Streit programmiert. Manmuß dann damit rechnen, daß auch ein ökonomischsinnvolles Reformkonzept im politischen Prozeß zer-rieben wird. Daher wird der folgende Reformvor-schlag so gestaltet, daß jedes Bundesland nach derReform die gleiche Finanzausstattung hat wie im altenSystem. Dies ist kein zwingender Bestandteil des Re-formkonzepts, sondern soll die politischen Realisie-rungschancen vergrößern.

� Das Reformkonzept soll sich möglichst einfach in dasbisherige Regelwerk des Finanzausgleichs einfügen.Die vorgeschlagene Reform ist als eine Sofortmaß-nahme zu begreifen. Denn nur wenn der Flaschenhalsder Grenzbelastungen abgebaut ist, haben die LänderAnreize, über eine weiterführende Reform der Finanz-verfassung zu diskutieren.

Durch die Kombination tarifabhängiger und pauscha-ler Transfers läßt sich eine Reform verwirklichen, die die-sen Anforderungen gerecht wird (Huber/Lichtblau, 1997,1998)25:

� Tarifabhängige Transfers: Die Differenzen zwischenFinanzkraft und Finanzbedarf werden mit einem li-nearen Satz von 50 % ausgeglichen. Die Garantieklau-seln werden genauso abgeschafft wie die Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen26 und der Umsatz-steuervorwegausgleich. Die Finanzkraft wird genau-so bestimmt wie bisher mit dem einzigen Unterschied,daß die Umsatzsteuer nach einem einheitlichen Pro-Kopf-Schlüssel verteilt wird. Auf Basis dieses Tarifswären 1997 Finanzausgleichszahlungen von nur 11,3Milliarden DM nötig gewesen.

� Pauschaltransfers: Durch pauschalierte Zuweisungenwerden im Jahr der Reform die Verlierer auf Kostender Gewinner kompensiert, so daß alle Länder imStartjahr die gleichen Einnahmen wie im alten Systemhaben. Die Höhe dieser Transfers wird für eine länge-re Frist (z.B. 10 Jahre) festgeschrieben. Diese Trans-fers können auch mit einer Abschmelzregel versehenwerden (Landesregierung BW, 1998). Wichtig ist nur,daß diese ex ante bestimmt wird und die Höhe derTransfers nicht von der Entwicklung der relativen Fi-nanzkraft eines Landes abhängt. 1997 hätten Pauschal-transfers in Höhe von 13,9 Milliarden DM gezahltwerden müssen, um die Verlierer (neue Länder, Saar-land, Bremen) auf Kosten der Gewinner (vor allemgroße Westländer) zu kompensieren.

Abbildung 1 verdeutlicht, daß dadurch die Grenzbe-lastung deutlich sinkt. In den neuen und in den kleinenwestdeutschen Ländern beträgt die Entlastung rund 25

25 Dieser Vorschlag wird auch von der OECD unterstützt, die indem letztjährigen Deutschlandbericht (OECD 1998) ausdrück-lich die Möglichkeit hervorhob, mit Lump-sum-Transfers dieGrenzbelastungen zu reduzieren, ohne dabei das Ausgleichsni-veau abzusenken. Auch der Vorschlag Bayerns und Baden-Würt-tembergs zur Reform des Finanzausgleichs (Bayerisches Staats-ministerium, 1998) ist im Kern mit dem hier diskutierten Mo-dell (siehe vor allem Huber/Lichtblau, 1997) identisch.

26 Zum Ausgleich kann der Umsatzsteueranteil der Länder ent-sprechend erhöht werden.

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 109: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

109

Prozentpunkte. Wegen des Einwohnereffektes ist sie inden größeren Ländern geringer und liegt zwischen 10 und20 Prozentpunkten. Ein Sonderfall ist Schleswig-Holstein,wo aus oben geschilderten Gründen die Grenzbelastungnach der Reform etwas höher liegt. Sollen solche Effekteausgeschlossen werden, muß entweder der lineare Tarifoder der Bundesanteil an der Einkommensteuer redu-ziert werden.

Die Vorteile einer solchen Reform liegen auf derHand. Durch die Pauschalierung eines Teiles der Finanz-ausgleichszahlungen können Umverteilungsziele erreichtwerden, ohne die Grenzbelastung des gegenwärtigen Sy-stems in Kauf nehmen zu müssen.

Der Reformvorschlag wirft unter langfristigen Ge-sichtspunkten drei Fragen auf:

� Nach der Laufzeit der festgelegten Pauschalzahlungenmuß über eine Anschlußregelung neu verhandelt wer-den. Der Finanzausgleich steht also damit dauerhaftauf der Agenda der Politik. Allerdings gibt es solcheRegelungen auch bei anderen wichtigen Transferinstru-menten. So werden beispielsweise die Höhe und Ver-

teilung der EU-Strukturfonds auch für mehrere Jahrefestgelegt und danach neu verhandelt.

� Die vorgeschlagene Trennung zwischen Allokationund Verteilung funktioniert nur dann, wenn die Län-der nicht antizipieren, wie die Nachfolgeregelungenfür die Pauschaltransfers nach Ablauf der Frist ausse-hen. Dies sollte aber durch einen hinreichend langenZeitraum sichergestellt werden können, in dem diePauschaltransfers fixiert sind.

� Es ist klar, daß der hier vorgelegte Reformvorschlagnur im Jahr des Überganges allen Ländern eine unver-änderte Finanzkraft nach Ausgleich garantiert. In denFolgejahren kommt es auf die Veränderung der Ent-wicklung der relativen Finanzkraft an. Zahlerländer,die eher eine Einebnung der bestehenden Finanzkraft-unterschiede und damit eine Reduzierung ihrer Ver-pflichtungen erwarten, könnten sich im bestehendenSystem besserstellen. Entscheidend hängt dieses Kal-kül natürlich von der Einschätzung des Aufholpro-zesses in den neuen Ländern ab. Modellrechnungenauf Basis der vorhandenen Steuerschätzungen zeigen,daß sich gerade die neuen Länder bei der Realisierungdes Vorschlags finanziell eher besserstellen würden.

Diesen Einwänden ist entgegenzuhalten, daß alle Län-der von der höheren Effizienz des neuen Systems profi-tieren könnten. Insgesamt wäre eine schnelle Angleichungder Finanzkraftunterschiede in Deutschland möglich,wovon sowohl die heutigen Empfänger- als auch dieZahlerländer profitieren würden.

2 Beseitigung allokativer Verzerrungen

In Abschnitt 4 des vorigen Kapitels wurden mit denEinwohnerwertungen, den Zerlegungsregeln, den Hafen-lasten und der nicht vollständigen Einbeziehung der Ge-meindesteuern die wichtigsten Bereiche angesprochen, dieaus allokativer Sicht nicht vernünftig geregelt sind und des-halb abgeschafft werden sollten (vgl. S. 105 ff.). Dies hät-te allerdings erhebliche Umverteilungswirkungen, ohne

SL

HB

HH

MV

TH

BB

ST

SN

BE

RP

NI

HE

BW

BY

NW

SH

0 20 40 60 80 100

Bundesanteil an der zusätzlichen Einkommen-

steuereinnnahme

Marginalbelastung nach der Reform

Marginalbelastung vor der Reform

1 Grenzeffekte im Finanzausgleich 1997Abschöpfung einer zusätzlichen Million DM Einkommen-steuer vor und nach der Reform

Quelle: BMF (1998), eigene Berechnungen

Page 110: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

110

deren Inkaufnahme andererseits keine Anreizegesetzt werden könnten, bessere Lösungen vorallem für das Kern-Umland-Problem der Stadt-staaten zu finden. Tabelle 4 zeigt die Ergebnisseunter der Annahme, daß gleichzeitig die obenskizzierte Reform durchgeführt wird. Natürlichwürden die Stadtstaaten erheblich verlieren. Klargesehen werden muß auch, daß die Stadtstaa-ten zusammen mit ihrem Umland (also Berlinzusammen mit Brandenburg bzw. Hamburgund Bremen zusammen mit Niedersachsen undSchleswig-Holstein) dabei insgesamt verlierenwürden. Im �Nordstaat� beträgt die Summe,die im Verhandlungswege auf die betroffenenLänder umgelegt werden müßte, immerhin 930Millionen DM. Berlin und Brandenburg wür-den sogar 2 Milliarden DM fehlen.

Eine Änderung der Zerlegungsregel bei derLohnsteuer würde vor allem Hamburg undNordrhein-Westfalen nutzen, während bei ei-nem vollen Einzug der Gemeindesteuern vorallem die reichen westdeutschen Länder negativbetroffen wären. Diese letztere Regelung wür-de vor allem den ostdeutschen Ländern nützen.

Eine simultane Einführung dieser � aus allo-kativen Überlegungen begründbaren � Ände-rungen würde insgesamt die Stadtstaaten zuzüg-lich ihres Umlandes treffen. In �Nordstaaten�müßten etwa 1,2 Milliarden DM Einnahmeausfälle ver-kraftet werden. In Berlin und Brandenburg sogar fast 1,8Milliarden DM. Wiederum lassen es diese Umverteilungs-wirkungen als unwahrscheinlich erscheinen, daß sich die-se an sich vernünftige Lösung durchsetzen wird, wennkeine Kompensationen angeboten werden. Die Zahlenverdeutlichen aber, wo ungefähr die Argumentationslini-en verlaufen werden, wenn es wirklich zu einer Debatteum eine Neuordnung des Finanzausgleichs geht.

Aus der Diskussion im vorigen Kapitel folgt auch, daßdie Bundesergänzungszuweisungen für den Ausgleichhoher Kosten politischer Führung abgeschafft und die

Haushaltshilfen nicht mehr verlängert werden sollten. Fürandere Sonder-Bundesergänzungszuweisungen bestehtkein akuter Reformbedarf, weil diese zeitlich befristetsind. Sie werden zum Jahr 2004 auslaufen und sollten nichtverlängert werden.

Die vorgeschlagenen Regelungen � vor allem die Ab-schaffung der Einwohnerwertung und die Bundesergän-zungszuweisungen für Kosten der politischen Führung �verringern die Anreize, nicht-optimale Ländergrößen auf-rechtzuerhalten. Damit erhöht sich die Chance, daß wirt-schaftlich sinnvolle Länderfusionen umgesetzt werden.Von einer Länderneugliederung (Ottnad/Linnartz, 1997,

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

4 Auswirkungen der Änderung verschiedener Regelungenim Finanzausgleich 1997 im Vergleich zur Basis-lösung mit linearem Tarif

1

Millionen DM

Bundesland Einwohner- Zerlegung2

Gemeinde- Simultanewertung steuern

3Einführung

Nordrhein-Westfalen 623,0 319,8 -401,2 415,8Bayern 628,3 -83,7 -337,8 275,3Baden-Württemberg 530,4 198,2 -360,8 389,4Niedersachsen 372,4 -453,1 43,2 32,9Hessen 288,4 262,2 -303,1 232,1Sachsen 235,2 -100,7 477,1 644,7Rheinland-Pfalz 200,3 -349,0 16,2 -77,5Sachsen-Anhalt 148,0 -56,4 295,5 410,6Schleswig-Holstein 152,1 -292,5 -38,3 -126,5Thüringen 142,1 -77,2 274,8 368,0Brandenburg 149,3 -116,5 240,4 308,1Mecklenburg-Vorp. 102,9 -52,1 168,0 238,3Saarland 52,1 -12,2 35,4 79,5Berlin -2169,4 59,7 156,6 -2078,8Hamburg -1054,1 632,0 -212,4 -754,9Bremen -401,1 121,5 -53,7 -356,8

HH, HB, Nds, SH -930,7 8,0 -261,2 -1205,3B, BB -2020,1 -56,9 397,0 -1770,8

Restl. Westländer 2322,5 335,3 -1351,2 1314,6Restl. Ostländer 628,3 -286,4 1215,3 1661,5

1 Basislösung: 50%iger Tarif auf die Überschüsse von Finanzkraft- und Finanz-bedarf, wobei die Umsatzsteuer nach Einwohnern verteilt und der USt-Vorweg-ausgleich abgeschafft wird. 2 Hälftige Zurechnung der Lohnsteuer nach demWohnsitz- und Betriebsstättenprinzip. 3 Volle Einberechnung der Gemeindesteu-ern bei Hebesatzpauschalierung und Abschaffung der Hafenlastregelung

Page 111: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

111

S. 175ff.) darf man sich aber nicht zuviel versprechen. Esmag damit die Erschließung einiger Effizienzreserven(etwa durch Verhinderung von Doppelinvestitionen)möglich werden. Auch ist es richtig, daß durch eine Zu-sammenlegung von stärkeren und schwächeren Länderndas Umverteilungsvolumen im Finanzausgleich insgesamtsinken würde, weil die Streuung der Wirtschaftskraft un-ter den Ländern kleiner würde. Unverändert bleibt aberdie Kluft zwischen den Regionen. Das Problem der Her-stellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilräu-men würde durch eine Länderneugliederung nicht gelöst,sondern nur eine Ebene tiefer aufgehängt und hauptsäch-lich dem kommunalen Finanzausgleich angelastet werden.Diese kommunalen Ausgleichssysteme sind im Hinblickauf hohe Grenzabschöpfungen oder allokative Verzer-rungen mindestens so ineffizient organisiert wie der Län-derfinanzausgleich27.

3 Verstärkter Wettbewerb der Regionen � diegenerelle Lösung?

Der heutige Finanzausgleich ist vor allem bei der Lö-sung der allokativen Aufgaben überfordert, die in Kapitel2 (S. 95 ff.) im Zusammenhang mit dem Wettbewerb derRegionen beschrieben wurden. Zwei wichtige Gründedafür sind, daß die geographischen Grenzen der admini-strativen Einheiten (Länder, Gemeinden) oft nicht mit demWirkungsbereich ihrer Tätigkeiten übereinstimmen und daßdie Gebietskörperschaften als monopolistische Allesanbie-ter kein hinreichend differenziertes und präferenzengerech-tes Angebot kollektiver Güter bereitstellen können. SchonBreton (1965) forderte deshalb unter dem Stichwort perfectmapping, bei der Erfüllung jeder öffentlichen Aufgabe füreine räumliche Übereinstimmung zwischen der Hoheits-ebene und der regionalen Streuung der Nutzen zu sorgen.Diese �variable Geometrie� ist Kerngedanke eines von Frey(1997) und Eichenberger (1996)28 vorgeschlagenen radi-kalen Wettbewerbsmodells zur Lösung des elementarenProblems des Finanzausgleiches, nämlich der Zuordnungder Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmekompetenzen.

Sie schlagen vor, den Bürgern das Recht zu geben, soge-nannte FOCJ (Functional Overlapping Competing Juris-dictions) zu gründen. Die Grundidee besteht darin, für dieBereitstellung jedes kollektiven Gutes einen oder mehrereClubs (Buchanan, 1965) zu gründen, die eine spezifischeöffentliche Aufgabe erfüllen. Für jedes kollektive Gut kannjetzt die Größe des Clubs so gewählt werden, daß wederÜberfüllungen vorliegen noch Skaleneffekte ungenutzt blei-ben. Da mehrere solcher Clubs (beispielsweise für Schu-len, Abwasserbeseitigung, Theater, Kindergärten etc.) be-stehen können, herrscht zum einen Wettbewerb und zumanderen die Möglichkeit, sehr unterschiedlichen Präferen-zen gerecht werden zu können. In diesem Modell gibt esalso nicht nur Wettbewerb der (bereits existierenden) Re-gionen, sondern Wettbewerb um die optimale Größe undZahl der Institutionen. Die Clubs selbst sind demokratischorganisiert und haben Hoheitsrechte. Sie können Zwangs-abgaben (Steuern) zur Finanzierung ihrer Aufgaben verlan-gen. Um Freerider-Probleme zu verhindern und eine Min-destversorgung mit Gütern zu sichern, kann der Staat eszur Auflage machen, daß jeder Bürger einer bestimmtenArt von Club (Schule, Abfallbeseitigung etc.) angehörenmuß. Der Frey/Eichenberger-Vorschlag birgt eine Reiheschwer lösbarer Probleme, die im Rahmen dieses Aufsat-zes nicht ausführlich diskutiert weden können, sondern nurkurz in Frageform erwähnt werden sollen:

� Wie kann sichergestellt werden, daß die Steuerlast derBürger nicht ihre Einkommen übersteigt, wenn derStaat die Mitgliedschaft in bestimmten Typen vonClubs vorschreibt, diese aber selbst ihre Preise bestim-men können?

� Werden die Wähler nicht überfordert, und sind dieOrganisationskosten nicht zu hoch?

27 Siehe für eine theoretische Analyse Kuhn (1990) und für prak-tische Beispiele aus Ländern Steinherr (1998), Parsche/Stein-herr, 1995 und Deubel 1984.

28 Siehe auch Casella/Frey (1992) und Frey/Eichenberger (1996).

Page 112: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

112

� Haben die Bürger überhaupt Anreize, solche Clubs zugründen, wenn erhebliche Externalitäten vorliegen undes deshalb für jeden rational ist, die Freerider-Positioneinzunehmen?

� Wenn bei Bereitstellung kollektiver Güter in bedeu-tendem Ausmaß Skalenerträge vorliegen, müssen dannnicht diese Märkte genauso reguliert werden wie pri-vate Märkte mit solchen Eigenschaften? Ändert sichdann die öffentliche Aufgabe nicht einfach von einemBereitstellungs- zu einem Regulierungsproblem?

� Können damit auch Umverteilungsfragen gelöst wer-den, vor allem dann, wenn die Transfers über die Re-gion hinausgehen? Kann es überhaupt einen Club ei-gennutzorientierter Bürger geben, die eine Zahlungs-bereitschaft für die Erfüllung eines regionalen Aus-gleichzieles haben?

Trotz vieler berechtigter Fragen bleibt die Grundideeder �variablen Geometrie� richtig, die schon heute in derInstitution der Zweckverbände in der Praxis Anwendungfindet. In einem System, das die starre Definition vonGebietskörperschaften aufhebt und die Einheiten aufga-benbezogen definiert, kann ein Großteil der allokativenAufgaben des Finanzausgleiches (gebietsübergreifendeSpillovers, Nichtausnutzung von Skaleneffekten, Präferen-zenoffenbarung) endogen im Wettbewerb gelöst werden.Der Finanzausgleich könnte auf seinen eigentlichen Kern� seine distributiven Aufgaben � zurückgeführt werden.

Umverteilungen in Form eines regionalen Ausgleichs-zieles oder eines personenbezogenen Verteilungsziels kön-nen in einem Wettbewerbssystem nur dann sinnvoll ver-folgt werden, wenn einige Beschränkungen akzeptiertwerden:

� Die Grenzbelastungen dürfen Anreize für eine wachs-tumsorientierte Politik nicht ersticken.

� Umverteilungen sind so lange unproblematisch, wieihr Ausmaß in der Region selbst festgelegt werdenkann und die Transfers ausschließlich regionsinternfinanziert werden. Dafür benötigen die Regionen aber

Freiräume bei der Festlegung ihrer Aufgaben und Aus-gaben. Konkret bedeutet das beispielsweise, daß dieLänder stärkere Kompetenzen bei der Festlegung ih-rer Personalausgaben haben müssen. Ein bundesein-heitliches Besoldungsrecht paßt deshalb nicht in einWettbewerbssystem.

� Wettbewerb bedeutet immer, daß eine gleichmäßigeVersorgung mit öffentlichen Gütern in allen Teilräu-men nicht garantiert werden kann. Ein ungebundenerFinanzausgleich kann nur für eine gewisse Mindest-ausstattung sorgen. Sollen bestimmte öffentliche Lei-stungen (Schule, Krankenversorgung) nicht von derZahlungsfähigkeit der Regionen abhängen, müßtendiese Aufgaben entweder auf die zentrale Ebene ver-lagert oder � wie bisher � von Bund und Regionengemeinsam erfüllt werden.

In Deutschland steht die Einführung eines radikalenWettbewerbssystems derzeit nicht auf der politischenTagesordnung. Es geht nur um die Korrektur derschlimmsten Fehlentwicklungen des unitaristischen, starkausgleichsorientierten Föderalismus. Das dem Wettbe-werbsföderalismus zugrundeliegende Leitbild zeigt aberdie Richtung an, in die Reformen der deutschen Finanz-verfassung führen sollten � auch wenn es Reformen derkleinen Schritte sein sollten.

6 Fazit

Die wichtigste Schlußfolgerung lautet: Die hohenGrenzbelastungen sind das ökonomisch wichtigste Pro-blem des Finanzausgleichs. Erst wenn dieser Flaschenhalsbeseitigt ist � etwa in Form des vorgelegten Reformvor-schlages �, können die anderen Probleme des Finanzaus-gleichs im Rahmen einer großen Finanzreform angegan-gen werden.

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 113: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

113

Anhang 1: Steuer- und Transfereinnahmen der Länder 1997, in 1000 DM

Steuern vor Zerlegung Steuern nach Finanzkraftabhängiger Finanzausgleich BEZ II2

SonstigeZerlegung Zerlegung vertikale

Umsatz- Einkommen- (Norm- USt-Vorweg- Länder-FA BEZ I1

Zuwei-Land steuer steuern verteilung) ausgleich sungen

3

Nordrhein-Westfalen 104.802 -7.680 -1.234 95.888 -3.549 -3.032 0 0 5.351Bayern 63.389 236 316 63.941 -2.382 -3.079 0 0 3.963Baden-Württemberg 56.038 -358 -566 55.113 -2.054 -2.424 0 0 2.991Niedersachsen 30.097 4.103 1.986 36.186 -1.548 672 1.008 406 2.631Hessen 37.882 -495 -2.528 34.859 -1.192 -3.130 0 0 1.945Sachsen 8.273 4.011 589 12.873 4.087 1.896 834 3.658 4.771Rheinland-Pfalz 23.251 -5.969 1.436 18.717 -792 305 457 580 1.307Sachsen-Anhalt 4.191 2.740 326 7.257 2.770 1.162 498 2.372 3.475Schleswig-Holstein 11.197 1.031 1.177 13.405 -543 -5 0 346 923Thüringen 3.779 2.318 404 6.501 2.519 1.110 455 2.172 2.888Brandenburg 5.080 1.814 544 7.438 2.150 976 469 2.149 3.277Mecklenburg-Vorp. 2.804 1.842 278 4.924 1.736 835 333 1.643 2.252Saarland 4.309 241 88 4.638 -50 203 199 1.817 393Berlin 14.607 1.550 -52 16.105 -681 4.425 844 2.881 3.262Hamburg 20.050 -5.158 -2.407 12.485 -337 -264 0 0 644Bremen 4.540 -227 -356 3.957 -134 351 130 1.990 254

Gesamt 394.289 0 0 394.289 0 0 5.227 20.013 40.326Transfervolumen 19.887 7.143 13.262 11.934

1 Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen. 2 Pauschal gewährte Bundesergänzungszuweisungen. 3 Zuweisungen im Rahmen von Ge-meinschaftsaufgaben (Art. 91a GG, Art 91b GG), Investitionshilfen und Geldleistungsgesetzen (Art. 104a Abs. 3,4 GG) und Ausgleichs-zahlungen für die Regionalisierung des ÖPNV; ohne sonstige Zuweisungen außerhalb dieser Programme (1997: 4,78 Mrd. DM).Quelle: BMF (1998a, 1998b), Zentrale Datenstelle (1998), Statistisches Bundesamt (1998); eigene Berechnungen.

Anhang 2: Veränderung der relativen Finanzkraft je Einwohner der Länder durch Transfers 1997Länderdurchschnitt der Finanzkraft je Einwohner = 100

Relative Finanzkraft (f) und Rang (r) eines Landes ....

vor Transfers nach Länder-FA nach BEZ I1

nach BEZ II2

nach sonst.Zuweisungen

Land f r f r f r f r f r

Nordrhein-Westfalen 111,1 4 103,5 5 102,1 5 97,3 11 94,0 11Bayern 110,4 5 100,9 7 99,6 7 94,9 13 92,4 12Baden-Württemberg 110,4 6 101,4 6 100,1 6 95,3 12 92,1 13Niedersachsen 96,2 10 93,8 10 95,2 10 91,7 16 89,7 16Hessen 120,3 3 105,4 4 104,0 4 99,0 10 96,1 10Sachsen 59,0 13 86,5 12 89,1 12 100,6 8 110,6 9Rheinland-Pfalz 97,2 9 94,6 9 95,7 9 94,0 14 91,6 15Sachsen-Anhalt 55,6 15 85,8 15 88,4 15 101,3 6 115,3 5Schleswig-Holstein 101,5 7 97,3 8 96,0 8 93,9 15 91,7 14Thüringen 54,5 16 84,8 16 87,5 16 100,4 9 112,4 8Brandenburg 60,4 12 85,8 14 88,5 14 100,7 7 114,7 7Mecklenburg-Vorpommern 56,4 14 85,9 13 88,5 13 102,0 5 115,2 6Saarland 89,1 11 92,1 11 94,7 11 123,0 4 118,7 4Berlin 97,3 8 119,9 3 123,3 3 133,8 3 138,9 2Hamburg 152,2 1 144,9 1 143,0 1 136,2 2 131,0 3Bremen 121,8 2 128,5 2 130,7 2 182,1 1 172,8 1

1 Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen. 2 Sonstige Bundesergänzungszuweisungen.Quelle: BMF (1998b), Zentrale Datenstelle (1998), eigene Berechnungen.

Page 114: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

114

Literatur

Arndt, Hans-Wolfgang (1997): Finanzausgleich und Verfassungsrecht,Gutachten im Auftrag des Landes Baden-Württemberg

Blankart, Charles B. (1996): Braucht Europa mehr zentralstaatlicheKoordination?, Wirtschaftsdienst, Heft II, 87-91

Breton, Albert (1965): A Theory of Government Grants, The Cana-dian Journal of Economics and Political Science, Vol. 31, 175-187

Bayerisches Staatsministerium für Finanzen: Der neue Finanzaus-gleich � einfach � föderal- gerecht, München 1998.

Buchanan, James M. (1965): An Economic Theory of Clubs, Econo-mica, Vol. 32, 1-14

Buhl, Hans Ulrich/Pfingsten, Andreas (1986): Eigenschaften und Ver-fahren für einen angemessenen Länderfinanzausgleich in derBundesrepublik Deutschland, Finanzarchiv, Band 44, 98-109

Bundesfinanzministerium (1998a): Finanzbericht 1999, BonnBundesfinanzministerium (1998b): Vorläufige Abrechnung des Fi-

nanzausgleichs unter den Ländern 1997, BonnBundesverfassungsgericht (1986): Entscheidungen des Bundesver-

fassungsgerichtes, Bd.72, 330-436, TübingenBundesverfassungsgericht (1992): Entscheidungen des Bundesver-

fassungsgerichtes, Bd. 86, 148-279, TübingenCasella, Alessandra/Frey, Bruno S. (1992): Federalism and clubs � To-

wards an economic theory of overlapping political jurisdictions,in: European Economic Review 36, 639-646

Deubel, Ingolf (1984): Der kommunale Finanzausgleich in Nord-rhein-Westfalen, Köln

Eichenberger, Reiner (1996): Eine �fünfte Freiheit� für Europa: Stär-kung des politischen Wettbewerbs durch �FOCJ�, Zeitschriftfür Wirtschaftspolitik, 45 Jg. Heft I, 110-131

Flatters, Frank/Henderson, Vernon/Mieszkowski, Peter (1974): PublicGoods, Efficiency, Regional Fiscal Equalization, Journal of Pu-blic Economics, Vol. 3, 99-112

Frey, Bruno S./Eichenberger, Reiner (1996): FOCJ: Competitive Go-vernments for Europa, in: International Review of Law andEconomics 16, 315-327

Frey, Bruno S. (1997): Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Ideeder FOCJ, Zürich

Fuest, Winfried/Lichtblau, Karl (1991): Finanzausgleich im vereintenDeutschland, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Hrsg.,Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Nr. 192

Gramlich, E.M. (1993): A Policymaker�s Guide to Fiscal Decentra-lization, National Tax Journal 46 (2), 229-235

Henke, Klaus-Dirk/Schuppert, Gunnar Folke (1993): Rechtliche und fi-nanzwissenschaftliche Probleme der Neuordnung der Finanzbe-ziehungen von Bund und Ländern im vereinten Deutschland,Baden-Baden

Homburg, Stefan (1994): Anreizwirkungen des deutschen Finanzaus-gleichs, Finanzarchiv, Band 51 (3), 312-330

Huber, Bernd/Lichtblau, Karl (1997): Systemschwächen des Finanz-ausgleichs � Eine Reformskizze, IW-Trends, Nr. 4, 1-21

Huber, Bernd/Lichtblau, Karl (1998): Konfiskatorischer Finanzaus-gleich verlangt eine Reform, Wirtschaftsdienst, Heft 3, 142-147

Huber, Bernd (1998): Steuerwettbewerb � Ideal und Wirklichkeit,Vortrag zur Konferenz �Reform des Föderalismus� Königswin-ter, S. 53-63 im vorliegenden Band.

Krahwinkel, Wilfried/Grobosch, Michael (1998): Der Finanzausgleich,Finanzwissenschaftliches Institut des Bundes der SteuerzahlerBaden-Württemberg e.V., Schrift Nr. 1

Kuhn, Thomas (1995): Theorie des kommunalen Finanzausgleichs,Heidelberg

Landesregierung Baden-Württemberg (1998): Normenkontrollan-trag-Klage des Landes Baden-Württemberg gegen den Finanz-ausgleich beim Bundesverfassungsgericht

Lichtblau, Karl (1995): Von der Transfer- in die Marktwirtschaft,Köln

Michalk, Jürgen (1989): Die Garantieklauseln im Länderfinanzaus-gleich, Wirtschaftsdienst, Heft 9, 446-453

Oates, W.E. (1972): Fiscal Federalism, New YorkOECD (1998): Wirtschaftsberichte 1997-1998 � Deutschland, Pa-

risOlson, Mancur (1969): The Principle of �Fiscal Equivalence�: The

Division of Responsibilities among Different Levels of Govern-ment, American Economic Review, Papers and Proceedings,Vol. 59, 479-487

Ottnad, Adrian/Linnartz, Edith (1997): Föderaler Wettbewerb stattVerteilungsstreit, Eine Studie des IWG, Bonn

Parsche, R./Steinherr, M. (1995): Der kommunale Finanzausgleichdes Landes Nordrhein-Westfalen, ifo Studien zur Finanzpolitik,Bd. 59, München

Peffekoven, Rolf (1987): Zur Neuordnung des Länderfinanzaus-gleichs, Finanzarchiv, Band 45, 181-228.

Peffekoven, Rolf (1998): Probleme des Länderfinanzausgleichs, Gut-achten, Anlage 9 der Verfassungsklage des Landes Baden-Würt-temberg gegen den Finanzausgleich vom 29.7.1998.

Peffekoven, Rolf (1994): Reform des Finanzausgleichs � eine vertaneChance, Finanzarchiv, Band 51, 281-311

Reformkommission Soziale Marktwirtschaft (1998): Reform derFinanzverfassung, Gütersloh

Richter, Wolfram/Wellisch, Dietmar (1993): Allokative Theorie einesinterregionalen Finanzausgleichs bei unvollständiger Landren-tenabsorption, Finanzarchiv, Band 50, 433-457

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichenEntwicklung (1992): Für Wachstumsorientierung � Gegen läh-menden Verteilungsstreit, Stuttgart

Scharpf, Fritz W./Reissert, B./Schnabel, F. (1976): Politikverflech-tung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in

Karl LichtblauFinanzausgleich: Reformoptionen und ein konkreter Vorschlag

Page 115: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

115

der Bundesrepublik, in: Hesse, J.J. (Hg), Politikverflechtung imföderativen Staat, Kronberg

Statistisches Bundesamt (1998): Finanzen und Steuern 1997, Fach-serie 14, Reihe 4, Wiesbaden

Steinherr, Matthias (1998): Kommunaler Finanzausgleich: Balanceaktzwischen Verteilungs- und Allokationszielen � Das BeispielRheinland-Pfalz, Ifo-Schnelldienst, Nr. 8, 15-24

Stober, Rolf (1989): Zur wirtschaftlichen Bedeutung des Bundes-staatsprinzips, in: Bayerische Verwaltungsblätter, 97 ff

Thomas, Ingo P. (1997): Ein Finanzausgleich für die EuropäischeUnion?, Kiel

Tiebout, C.M. (1956): A Pure Theory of Local Expenditures, Jour-nal of Political Economy 64 (5), 416-424

van Suntum, Ulrich (1981): Regionalpolitik in der Marktwirtschaft,Baden-Baden

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen(1992): Gutachten zum Länderfinanzausgleich in der Bundesre-publik Deutschland, Bonn

Zentrale Datenstelle der Landesfinanzminister (1998): Zahlungendes Bundes an die Länder 1997

Zodrow, G.R./Mieszkowski, P. (1986): Pigou, Tiebout, Property Ta-xation, and the Underprovision of Local Public Goods, Jour-nal of Urban Economics 19 (3), 356-370

Page 116: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

116

Page 117: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

117

Regionalisierung � Europäisierung:Die Zukunft des föderalen Staates

Page 118: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

118

Page 119: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

119

1 Vorbemerkung

Europa ist auf dem Wege zu einer Union, die ausge-prägt föderative Züge trägt. In diesem Prozeß stellt sichdie Frage nach dem föderalen Miteinander, nach den Auf-gaben und Kompetenzen der unterschiedlichen Gebiets-körperschaften auf noch komplexere Weise als für eineneinzelnen souveränen Bundesstaat. Denn wo bislang zweiEbenen � der Bund und die Länder � involviert waren,sind es in der Europäischen Union künftig drei. Wer sollwen kontrollieren, wer wo mitreden, wer wofür verant-wortlich sein, wer was entscheiden? Was folgt aus dereuropäischen Integration für die Regionen? Werden dieLänder relativ zum Bund gestärkt oder geschwächt?Welche Mitspracherechte sollten die Länder künftig beiEuropaangelegenheiten erhalten? Allen diesen Fragenwürde es sich lohnen, nachzugehen. Doch dafür fehlt eshier an Raum.

Statt dessen soll im folgenden lediglich die Frage deroptimalen Kompetenzzuweisung zwischen der Unionund ihren Mitgliedstaaten (unabhängig von deren innererStruktur) diskutiert werden, freilich am Beispiel zweierbesonders wichtiger Politikbereiche: die Ausgestaltung dersozialen Sicherungssysteme und die europäische Finanz-verfassung.

2 Zur Sozialverfassung der Europäischen Union

1 Die europäische Dimension der Sozialpolitik:Zur Ausgangslage1

Im Mittelpunkt des modernen europäischenWohlfahrtsstaates2 stehen die Systeme der sozialen Siche-rung � Krankenversicherung, Altersvorsorge, Absiche-rung gegen die finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit und

Pflegeversicherung. Sozialpolitisch motiviert ist darüberhinaus eine Vielzahl von Regulierungen des Arbeitsmark-tes, die insbesondere die Arbeitsbedingungen betreffen.Daneben tritt die staatliche Hilfe in besonderen Notlagen� beispielsweise in Form von Hilfen bei Naturkatastro-phen und Mißernten oder in Gestalt der Sozialhilfe.

Unterschiedliche historische Erfahrungen und unter-schiedliche Präferenzen haben zu spezifischen Systemender sozialen Sicherung in den einzelnen Mitgliedsstaatender Europäischen Union geführt.3  So sind die gesetzli-chen Systeme der sozialen Sicherung zum Beispiel in derBundesrepublik Deutschland, Frankreich und Hollandweitgehend durch Beiträge finanziert. Demgegenüber

Föderalismusim zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Klaus-Dirk HenkeOliver D. Perschau

1 Zur Darstellung dieses Abschnitts vgl. Dohse und Krieger-Bo-den (1998), Donges et al. (1996), Henke und Schaub (1998),Kolmar (1997) sowie Welter (1996).

2 Die Bundesrepublik Deutschland ist durch den Art. 20 I GGauf das Sozialstaatsprinzip festgelegt. Angestrebt wird die Ver-wirklichung �sozialer Gerechtigkeit� sowie � überlappend mitdiesem Ziel � die Gewährleistung öffentlicher Wohlfahrt in Ge-stalt von Daseinsvorsorge, sozialer �Versicherung� sowie Hilfein sozialen Nöten (vgl. Maunz und Zippelius, 1998, S. 102f.).Der aus dem Sozialstaatsprinzip ableitbare Auftrag zur Verwirk-lichung sozialer Gerechtigkeit ist durch �Ausgleich und Scho-nung der Interessen aller, eine annähernd gleichmäßige Förde-rung des Wohles aller Bürger und eine annähernd gleichmäßigeVerteilung der Lasten� charakterisiert. Generell folgt aus demSozialstaatsprinzip keine Pflicht zur Durchführung von be-stimmten sozialen Reformen; die konkrete Realisation der So-zialstaatlichkeit bleibt somit dem demokratischen Willensbil-dungsprozeß überlassen.

3 Als Unterscheidungsmerkmale im Hinblick auf die Ausgestal-tung der Systeme der sozialen Sicherung lassen sich nach Kol-mar (1997, S. 7) die Anspruchsvoraussetzungen, der Leistungs-anspruch, die Leistungsstruktur, die Finanzierungsregelungensowie die Organisationsstruktur nennen. Unterschiede zwischenden Systemen der EU-Mitgliedsstaaten existieren vor allem imHinblick auf die Leistungsvoraussetzungen.

Page 120: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

120

überwiegt in anderen Mitgliedsstaaten, so in Großbritan-nien und in den skandinavischen Ländern, die Steuerfi-nanzierung dieser Systeme; allerdings gewährleisten letz-tere nur eine Grundsicherung und werden daher oft durchbetriebliche und private Vorsorgeformen ergänzt. Bei al-len Unterschieden � auch in den Beitragssätzen � habensich aber alle Systeme mittlerweile zu Vollversorgungssy-stemen entwickelt.

Die Systeme der sozialen Sicherung stehen von ver-schiedenen Seiten unter Druck: Die Globalisierung, dieeuropäische Integration und nicht zuletzt die demogra-phische Entwicklung stellen immer höhere Anforderun-gen an die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Art,Umfang und Finanzierung der Sozialpolitik sind zu kriti-schen Standortfaktoren geworden.

Anhänger der Idee eines allumfassenden Wohlfahrts-staates fürchten den naheliegenden Wettbewerb der Sozi-alsysteme wegen des zu erwartenden Drucks auf Löhne,Arbeitsbedingungen und Sozialstandards. Tatsächlichkönnte die nationale Festsetzung sozialer Standards zu ei-nem Parameter im Standortwettbewerb werden, der eineeffiziente Ressourcenallokation gefährdet. Aus diesemGrunde werden in der Europäischen Union Forderun-gen nach identischen Startchancen für alle Individuen undUnternehmen laut, die auf eine Harmonisierung bezie-hungsweise auf eine Koordination der staatlichen und an-deren kollektiven Regulierungen abzielen, um ein level play-ing field herzustellen.

Dieser Gedanke hat in den vergangenen Jahrenbeträchtlichen Auftrieb erhalten. Zum Zeitpunkt derVerabschiedung der Römischen Verträge dominierte dieAusrichtung auf die wirtschaftliche Integration und denBinnenmarkt; sozialpolitische Aufgaben standen am Ran-de und beschränkten sich auf Regelungen zur Anrechen-barkeit von im Ausland erworbenen Sozialansprüchen.4 

In den 70er Jahren wurden im Zusammenhang mit Über-legungen zur Schaffung einer Währungsunion auch For-derungen nach einem sozialen Europa laut, die allerdingsmit dem Scheitern dieses Versuches wieder zu den Aktengelegt wurden. Durch das europäische Binnenmarktpro-gramm änderte sich dies nachhaltig, da nunmehr wiederForderungen nach der Regelung der sozialen Dimensionartikuliert wurden. Sie finden sich teilweise in Art. 3 EGVwieder, der u.a. die Voraussetzung zur Schaffung von eu-ropäischen Mindeststandards herstellt.

Ansatzpunkte für eine umfassende sozialpolitischeRegulierung durch die europäische Ebene eröffnen sichu.a. (1) durch die �Einheitliche Europäische Akte� sowie(2) durch das sozialpolitische Protokoll des �Vertragesvon Maastricht�, welches in den �Vertrag von Amster-dam� aufgenommen wurde. Art. 118a EGV begründetMindestvorschriften auf der europäischen Ebene zumSchutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer.Durch Art. 118b EGV sind die Sozialpartner zu vertrag-lichen Beziehungen auf der supranationalen Ebene er-mächtigt. Demgegenüber erlaubt das Protokoll zur Sozi-alpolitik sowie das korrespondierende �Abkommen zurSozialpolitik� eine zentralisierte Sozialpolitik. Die damitverbundenen Regelungen erstrecken sich auf die sozialeSicherheit und den Schutz des Arbeitnehmers bei Ver-tragsbeendigung, die Vertretung und kollektive Wahrneh-mung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, dieBeschäftigungsbedingungen von sich in der EU aufhal-tenden Drittstaatsangehörigen sowie auf die finanziellenBeiträge zur Beschäftigungsförderung und Schaffung vonArbeitsplätzen. Nach dem Regierungswechsel ist das Ver-einigte Königreich nicht mehr der entschiedene Gegnereiner gemeinsamen Sozialpolitik, der seinerzeit das Sozi-alabkommen nicht unterzeichnet hatte; das läßt im sozial-politischen Bereich eine zunehmende Harmonisierungoder Koordination erwarten. Das ist um so wahrschein-licher, als infolge des Abkommens zur Sozialpolitik diequalifizierte Mehrheitsregel auch auf andere Bereiche aus-gedehnt wurde � so zum Beispiel auf die Arbeitsbedin-gungen, die Chancengleichheit von Männern und Frauen

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

4 Für eine knappe Beschreibung der sozialpolitischen Aktivitätensiehe auch Breyer und Kolmar (1996) sowie die ausführlicheDarstellung bei Eichenhofer (1993).

Page 121: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

121

sowie die berufliche Eingliederung von Arbeitslosen. Indiesen Bereichen können Mindestvorschriften erlassenwerden. Zentralisierungspotentiale existieren vor allem imHinblick auf die Regulierung des Arbeitsmarktes sowieder Mitbestimmung. Sozialversicherungen und Transfer-zahlungen sind dagegen durch europäische Regelungennicht erfaßt. Allerdings stellt Art. 51 EGV sicher, daß dieFreizügigkeit nicht durch einen Verlust von Leistungsan-sprüchen der Sozialversicherungen behindert werdendarf. Aus diesem Grund sind Anrechnungssysteme fürerworbene Leistungsansprüche geschaffen worden ist.

Der �Vertrag von Amsterdam� hat die Grundlagenfür eine europäische Beschäftigungspolitik gelegt. DasBeschäftigungskapitel des EGV ermöglicht die Koordi-nation nationaler Beschäftigungsstrategien auf der euro-päischen Ebene und ergänzt darüber hinaus die nationa-len Strategien durch Anreize zur Förderung der Zusam-menarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten sowie zur Un-terstützung dieser Beschäftigungsmaßnahmen. DieseNeuerung kann als ein erster Schritt in Richtung auf eineaktive europäische Beschäftigungspolitik verstanden wer-den; darüber hinaus eröffnet sie der Europäischen Kom-mission einen Spielraum für die Durchführung eigenerbeschäftigungspolitischer Maßnahmen.

2 Allokative Implikationen einer europäischenSozialpolitik: Eine wohlfahrtsökonomischeAnalyse

Die rechtlichen Grundlagen erlauben der Europäi-schen Union sozialpolitische Eingriffe sowohl in den Ar-beitsmarkt als auch in die Systeme der sozialen Sicherungzum Zwecke der Harmonisierung beziehungsweise derKoordination der Politiken auf supranationaler Ebene.

Aus ökonomischer Sicht läßt sich eine europäischeSozialpolitik begründen, wenn Fehlallokationen auf an-dere Weise nicht zu beheben sind: Sofern unter den Be-dingungen des Binnenmarktprogrammes mit seinen vierFreiheiten � insbesondere bei Kapitalverkehrsfreiheit undFreizügigkeit der Arbeitskräfte � keine effiziente natio-

nale Sozialpolitik realisierbar sein sollte, könnte eine Har-monisierung und/oder Koordination der Systeme vonder europäischen Ebene aus durchaus sinnvoll sein.

Zweifelsohne kommt es in diesem Zusammenhangauf die konkrete Ausgestaltung der nationalen Sozialpo-litik an. Oft sind die mit einer nationalen Sozialpolitik be-wirkten Regulierungen keineswegs effizient; sie setzenFehlanreize und führen zur Verschwendung von Ressour-cen und letztlich zur Minderung der nationalen wie derindividuellen Wohlfahrt. Insoweit liegen Gefahren für dienationalen Sozialsysteme weniger im Binnenmarkt als inden eigenen Unzulänglichkeiten. Damit ist klar, daß letzt-lich auch die konkrete Ausprägung der nationalen Sozial-politik kritisch zu hinterfragen ist.

1 Systeme der sozialen Sicherung in der EuropäischenUnion: Erfordernis nach Harmonisierung und/oderKoordination?

Die der Europäischen Union zugrundeliegenden Ver-träge sehen bisher � mit Ausnahme der Setzung von Min-deststandards � keine Harmonisierung der Systeme dersozialen Sicherung vor. Angesichts äußerst unterschied-lich gestalteter Systeme dürfte dies auch nicht weiter ver-wundern. Hierin spiegeln sich unterschiedliche historischeEntwicklungen sowie Differenzen in den nationalen Prä-ferenzen wider. Diese Präferenzunterschiede legen nahe,die Systeme der Sozialen Sicherung nicht zu harmonisie-ren, sondern entsprechend dem Prinzip der Subsidiaritätim Verantwortungsbereich der einzelnen Mitgliedsstaatenzu belassen. Unterschiede in den Systemen der sozialenSicherung können für diesen Fall jedoch mit allokativenImplikationen verbunden sein, so daß sich � bei allemRespekt vor nationalen Eigenheiten � die Frage stellt, obnicht doch ein Mindestmaß an Harmonisierung oderKoordination erforderlich ist.

Es sind vor allem drei Argumente, die zugunsten ei-ner Harmonisierung vorgebracht werden: (1) Die Exi-stenz von Wettbewerbsverzerrungen aufgrund unter-schiedlicher Sozialversicherungssysteme mit unterschied-

Page 122: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

122

lichen Kosten, (2) die Gefährdung der Sozialversicherun-gen durch �ruinösen� Wettbewerb und (3) die Gefähr-dung der Freizügigkeit im Binnenmarkt durch unter-schiedliche Systeme (Welter, 1996, S. 208; vertiefendSchmähl, 1990). Diesen Argumenten ist im einzelnennachzugehen.

� Unterschiedliche Systeme der sozialen Sicherung be-dingen � in Abhängigkeit von den Überwälzungsmög-lichkeiten � unterschiedliche Kostenbelastungen für dieUnternehmen. Das kann auch zu Wettbewerbsverzer-rungen zwischen den Unternehmen führen. Allerdingsbegünstigt der institutionelle Wettbewerb, der durchFaktorwanderungen und deren allokative Rückwirkun-gen erzwungen wird, die Herausbildung von Sozial-versicherungssystemen, die am Prinzip der finanzma-thematischen Äquivalenz ausgerichtet sind sowie denPräferenzen der Individuen entsprechen und somitdem Prinzip der Wirtschaftlichkeit folgen. Die durchinstitutionelle Unterschiede bedingte Belastung derUnternehmen und der Arbeitnehmer mit unterschied-lichen Kosten setzt somit die Anreize für Verbesse-rungen der Systeme.

� Immer wieder wird die Befürchtung laut, der institu-tionelle Wettbewerb der Sozialversicherungssystemesei �ruinös�. Problematisch sei insbesondere die mitder Wanderung guter Risiken verbundene adverse Se-lektion. Diese Wanderungen belasten solche Siche-rungssysteme, in denen die Umverteilung zugunstenschlechter Risiken über die versicherungsmathemati-sche Äquivalenz deutlich hinausgeht. Adverse Selekti-on ist daher nur dann relevant, wenn ein Sozialversi-cherungssystem nicht nur die Absicherung der großenLebensrisiken zum Ziel hat, sondern in nennenswer-tem Umfang auch für (Um-)Verteilungsziele herange-zogen wird. Eine Rechtfertigung für supranationaleRegelungen bietet das Argument der adversen Selek-tion nicht. Ein Herunterkonkurrieren ist nicht zwin-gend, sobald die Auswirkungen der Umverteilungs-maßnahmen auf Zu- und Abwanderungen bei der

Gestaltung der Umverteilungsmaßnahmen durch diepolitisch Verantwortlichen berücksichtigt werden (Le-jour und Verbon, 1994).

� Unterschiedliche Sozialversicherungssysteme könnendie Freizügigkeit im Binnenmarkt aushebeln, wennbeim Wechsel in ein anderes Mitgliedsland der Verlustvon individuell erworbenen Sozialversicherungsan-sprüchen droht. Aus diesem Grunde sieht Art. 51EGV für die Sozialversicherungssysteme ein Systemvon Leistungsanrechnungen vor. Keine Probleme be-reitet zur Zeit die Arbeitslosenversicherung, da auf-grund der europäischen Koordination generell eineLeistungspflicht entsprechend den erworbenen Lei-stungsansprüchen besteht. Im Rahmen der Kranken-versicherung existieren ebenfalls koordinierende Re-geln; danach bleibt ein Arbeitnehmer bei einem maxi-mal zweijährigen Auslandsaufenthalt bei seiner heimi-schen Krankenversicherung versichert, wobei sich dieArt und Höhe des Leistungsanspruchs nach demGastland richtet und die Kosten von der heimischenVersicherung getragen werden. Durch die jüngstenUrteile des Europäischen Gerichtshofs eröffnet sichgegebenenfalls auch die Möglichkeit der Nutzung me-dizinischer Leistungen für alle Individuen in den EU-Mitgliedsstaaten. Hierdurch treten die Anbieter dieserLeistungen zueinander in Konkurrenz, was wiederumauch die Krankenversicherungen tangiert und einenSystemwettbewerb in Gang setzen könnte. Die Al-terssicherungssysteme in der Europäischen Union sindim Hinblick auf Wanderungen problematisch, vor al-lem weil die Zwangsversicherung eine Territorialisie-rung der Versicherungssysteme generiert, die im euro-päischen Kontext einen Koordinierungsbedarf erstschafft. Dagegen könnte die Altersvorsorge prinzipi-ell auf unproblematische Weise privat bereitgestelltwerden, wenn sie hinsichtlich Portabilität und Konsu-mentenschutz geeignet flankiert wird (Henke undSchaub, 1998, S. 188-193). Eine Liberalisierung derAlterssicherung � im Sinne der privaten Vorsorge �ist daher prinzipiell zu präferieren. Sofern eine völlige

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Page 123: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

123

Liberalisierung politisch nicht opportun sein sollte, bie-tet sich als Second-Best-Lösung die Aufgabe des Ter-ritorialprinzips in Verbindung mit der Ausrichtung derSozialversicherungen am Heimatlandprinzip an(Welter, 1996, S. 210; Kolmar, 1997). Durch den di-rekten Vergleich der verschiedenen nationalen Sozial-versicherungssysteme wird der Wettbewerb zwischenden Systemen erhöht, was wiederum eine Ausrichtungam Versicherungsprinzip begünstigt. Ein weitererSchritt wäre die Einführung von Wahlfreiheit zwischenden nationalen Sozialversicherungssystemen unabhän-gig vom Geburtsort und der Arbeitsstelle. Die Auf-gabe der Europäischen Union besteht dann in der Si-cherung des Wettbewerbs zwischen den Trägern dersozialen Sicherung.5 Zu den Rahmenbedingungen undihren Elementen bei der individuellen und der kollek-tiven Daseinsvorsorge siehe die Übersicht 1.

Weder die durch die sozialen Sicherungssysteme her-vorgerufenen Wettbewerbsverzerrungen noch der insti-tutionelle Wettbewerb als solcher noch die Notwendig-keit, Freizügigkeit innerhalb der EU zu sichern, könneneine Harmonisierung ökonomisch zwingend begründen.

Sinnvoll ist aber die Setzung von Rahmenbedingungen,die die Portabilität der Ansprüche und den Konsumen-tenschutz sicherstellen (vgl. diesbezüglich Henke undSchaub, 1998, sowie die Übersicht 2). Eine zentral koor-dinierte Regelung ist in diesem Zusammenhang denkbar,obgleich durchaus auch bilaterale Verträge hinreichend ef-fiziente Lösungen erlauben. Daneben tritt die Sicherstel-lung des Wettbewerbs zwischen den nationalen Sozial-versicherungssystemen durch die Europäische Union.

Eindeutige Veränderungen sind allerdings bei den na-tionalen Sozialversicherungssystemen erforderlich (Siebert,1996). Es gilt den Versicherungsaspekt der Systeme um-zusetzen und ihn von auf Umverteilung zielenden Trans-ferzahlungen zu trennen. Eine Erhöhung der Transparenzsowie eine stärkere Ausrichtung an den individuellen Prä-ferenzen wäre die Folge. Dies vermeidet auch Fehlanrei-ze in den nationalen Systemen; denn gerade die Fehlanrei-ze in den nationalen Sozialversicherungssystemen sind ver-antwortlich sowohl für allokative Fehlentwicklungen aufnationaler Ebene als auch für potentielle allokativeVerzerrungen zwischen den unterschiedlichen nationalen

5 Die in der Europäischen Union aktuell praktizierte Koordina-tionsverordnung ist recht kompliziert und verursacht darüberhinaus erhebliche Fehlanreize. So werden die in den Mitglieds-staaten einzeln erworbenen Rentenansprüche zwar zusammen-gerechnet, aber die Unterschiede in den Voraussetzungen fürLeistungsansprüche durch gemeinschaftliche Kürzungsregelnaufeinander abgestimmt. Donges et al. (1996, S. 38-40) legenzwei potentielle Lösungen dar. Bei der einen Lösung gilt für denVersicherungsnehmer ausschließlich das Herkunftslandprinzip.Anreize für Wanderungen sind vollständig beseitigt, aber auchder Wettbewerb zwischen den nationalen Systemen. Die ande-re Lösung erlaubt die Kombination der Versicherungen. Hierbeiwird zunächst unterstellt, daß der Versicherungsnehmer sein ge-samtes Arbeitsleben im Arbeitsland verweilt. Die so hypothe-tisch erworbenen Ansprüche werden dann mit den tatsächlichin dem konkreten Land verbrachten Jahren gewichtet. Die Sum-me der derart ermittelten landesspezifischen Ansprüche liefertdie tatsächlichen Leistungsansprüche.

SteuerlicheAspekte

Portabilität

Konsumen-tenschutz

SteuerlicheAspekte

Portabilität

Konsumen-tenschutz

Übersicht 1: Kollektive und individuelleDaseinsvorsorge für die Zeiten von Krankheitund Alter

Daseinsvorsorge Rahmenbedingungen

System- Mindest- Harmoni-wettbewerb standards sierung/Ko-

ordinationIndividuelleDaseins-vorsorge

KollektiveDaseins-vorsorge

Page 124: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

124

Systemen der sozialen Sicherung; diese Verzerrungen kön-nen wiederum die Quelle eines �Sozialtourismus� sein.Aber auch auf Umverteilung zielende Sozialtransfers ha-ben unter bestimmten Gegebenheiten ihre Berechtigung;der folgende Abschnitt geht hierauf näher ein.

2 Interpersonelle Umverteilung und mobileFaktoren

Sozialtransfers (zum Beispiel Sozialhilfe und Wohn-geld) sind Umverteilungszahlungen schlechthin; sie die-nen der Hilfe in der Not sowie der Sicherung des �sozia-len Friedens�.6  Umverteilung zwischen den Individuenwird durch eine Vielzahl von Maßnahmen � beispiels-weise in Gestalt der progressiven Besteuerung, von Ob-

jektsubventionen und Steuer-vergünstigungen sowie entspre-chender Komponenten der So-zialversicherungssysteme � insti-tutionalisiert.

Durch die Wanderung dermobilen Produktionsfaktoren �oft mit den Nettozahlern iden-tisch � entziehen sich diese derBelastung und verringern folg-lich die Finanzierungsbasis fürdie politisch gewünschten Um-verteilungsmaßnahmen. Proble-

me bereitet in diesem Zusammenhang regelmäßig die Be-steuerung des Faktors Kapital (vgl. auch die Ausführun-gen zum Steuerwettbewerb auf S. 139f.). Eine Besteue-rung des Kapitals an der Grenze ist aus wachstumstheo-retischen sowie wachstumspolitischen Gründen kritischzu hinterfragen. Der Zufluß von Realkapital erweitertprinzipiell das Produktionspotential und hierüber die Pro-duktivität und die Wertschöpfung der immobilen Fakto-ren. Dies wiederum schafft zusätzliche Steuereinnahmen.Für die Inanspruchnahme von öffentlicher Infrastruktursollte der Faktor Kapital entsprechend dem Äquivalenz-prinzip Gebühren entrichten und nicht durch eine Pau-schalsteuer belastet werden.

Die Mobilität des Faktors Arbeit ist in der Europäi-schen Union aufgrund sprachlicher und kultureller Bar-rieren nicht sehr hoch. Arbeit läßt sich daher mehr alsKapital für nationale Umverteilungsmaßnahmen heran-ziehen. Sofern solche Maßnahmen tatsächlich einzig undallein der Sicherstellung des �sozialen Friedens� dienen,werden sowohl mobiles Kapital als auch mobile Arbeits-kräfte freiwillig Zahlungen leisten, damit so gesellschaftli-che Stabilität entsteht, die wiederum Voraussetzung fürlängerfristige wohlstandssteigernde Investitionen ist. So-mit induzieren selbst freiwillige Beiträge für den Zweckder Umverteilung Nutzen bei den Nettozahlern. Es fragtsich daher, ob diese Art der Umverteilung noch den Cha-rakter eines �öffentlichen Gutes� besitzt.

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

6 Vgl. Welter (1996, S. 211). Solidarität ist u.a. begründet durchdas Empfinden der Zusammengehörigkeit; es ist nutzentheore-tisch eigennützig fundiert für ein Leben in einer unsicheren Welt(siehe Donges et al., 1996, S. 19). Unterstützung wird also der-jenige erhalten, der �ohne eigenes Verschulden in Bedrängniskommt, nicht wer auf solche Hilfe spekuliert und sich danachverhält�. Siehe auch die Ausführungen von Frey und Kirch-gässner (1994, S. 257-297) zu den Grundregeln der Verteilungauf der Ebene des gesellschaftlichen Grundkonsenses sowieBlankart (1998, S. 81-93) zur Begründung, aber auch zu denProblemen von Umverteilungsmaßnahmen.

Übersicht 2: Die doppelte Dimension der Portabilität vonLeistungsansprüchen eines Arbeitnehmers in der EU

Portabilität zwischen LändernPortabilität zwischenVersicherungen Land 1 Land 2

Versicherung A Ausgangslage ohne Beibehalten der Versicherungjeden Wechsel Wechsel des Landes

Versicherung B Wechsel der Versicherung Wechsel der VersicherungBeibehalten des Landes und des Landes

Hinweis: Die Situation ist nach privaten und öffentlichen Versicherungen zu trennen undverkompliziert sich beim Wechsel zwischen privaten und gesetzlichen Versicherungen.

Page 125: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

125

Problematisch ist dagegen, daß die Wanderungsfrei-heit praktisch auch den Nettoempfängern von Sozial-transfers offensteht. Die Empfänger von Leistungen kön-nen zwar nicht das Prinzip der Freizügigkeit in Anspruchnehmen, aber durch die Auslegung des Arbeitnehmerbe-griffs ist ihnen Mobilität möglich; so dürfen auch Arbeits-lose in das EU-Ausland wandern, wenn sie auf Beschäf-tigungssuche sind. Es existiert damit ein Anreiz für einen�Sozialtourismus�. Daher gilt es die Zuwanderung zu be-grenzen und regional begrenzte Umverteilungsclubs zuinstitutionalisieren (Welter, 1996, S. 212).

Ein weiteres Problem ist das des innergemeinschaftli-chen Sozialleistungstransfers (�Sozialleistungsexports�).Die Sicherung des �sozialen Friedens� ist regional be-grenzt. Sozialleistungen, die sich hieran ausrichten, solltendaher nicht zum Transfer freigegeben werden. Dies be-zieht sich somit insbesondere auf die Sozialhilfe, dasWohngeld sowie auf das Kindergeld. Demgegenübersind durch Beiträge erworbene Ansprüche aus den Sozi-alversicherungssystemen generell zum Transfer freizuge-ben, da hier der Versicherungsgedanke im Mittelpunktsteht. Dies bezieht sich insbesondere auch auf Dienstlei-stungen im Gesundheitsbereich. Daher gehen die aktuel-len Urteile des Europäischen Gerichtshofs in die richtigeRichtung, da hierdurch der Wettbewerb eine Stärkungerfährt. Die Zahlungsverpflichtung in das �Ausland�stärkt den Versicherungsgedanken und erhöht die Trans-parenz in bezug auf das Handeln der Regierung.

3 Die Europäische Währungsunion, der Arbeitsmarktund sozialpolitische Maßnahmen

Mit dem Übergang in die dritte Stufe der Europäi-schen Währungsunion tritt die Situation auf den Arbeits-märkten in den Mitgliedsstaaten in den Mittelpunkt desInteresses (vgl. die ausführliche Analyse von Dohse undKrieger-Boden, 1998). Inwieweit die monetäre Integrati-on eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte nach sich zie-hen wird, ist zur Zeit noch offen. Eine denkbare Reakti-on auf die Europäische Währungsunion ist die Schaffung

einer �europäischen Sozialunion�, die sowohl �Lohn-dumping� verhindern als auch die sozialen Standards desWohlfahrtsstaates erhalten soll. Die Möglichkeiten von so-zialpolitischen Maßnahmen in bezug auf den Arbeits-markt sind durch die Aufnahme eines Beschäftigungska-pitels in den EG-Vertrag gestiegen; insbesondere eineaktive Beschäftigungspolitik scheint in greifbare Nähe zurücken.

Arbeitsmarktregulierungen können aus wohlfahrts-ökonomischer Sicht durch asymmetrische Informationen,durch das Problem der Zeitinkonsistenz sowie durchmangelnden Wettbewerb begründet sein (Welter, 1996,S. 205; Vaubel, 1995, S. 113f.):

� Eine einheitliche Regelung von Arbeitsverträgen läßtsich auf Basis von asymmetrischen Informationendurchaus begründen; Art. 118a EGV legt Regelungenzum Schutz der Gesundheit und Sicherheit fest. Aller-dings bleibt offen, ob eine europaweite Regulierungden individuellen Präferenzen entspricht beziehungs-weise nicht doch dem Subsidiaritätsprinzip wider-spricht. Nationale Regelungen bieten den Arbeitneh-mern hinreichenden Schutz.

� Unter Umständen begründet die mangelnde Progno-sefähigkeit in bezug auf die Vertragslänge Regulierun-gen im Hinblick auf gesetzliche Kündigungsvorschrif-ten und Mitbestimmungsregeln, um so eine ineffizien-te Humankapitalbildung � als Reaktion auf die mitder Unsicherheit verbundenen Opportunismusgefah-ren � zu vermeiden (Zeitinkonsistenz-Problem). Daprinzipiell entsprechende Vereinbarungen im Interes-se von Arbeitnehmern und Arbeitgebern liegen sowienationale Regulierungen vorhanden sind, besteht aller-dings keine Notwendigkeit einer europäischen Lösung.Ein �ruinöser� Wettbewerb um wanderungsbereitesKapital betrifft keineswegs effiziente nationale Regu-lierungen, wohl aber ineffiziente Vereinbarungen.

� Mangelnder Wettbewerb am Arbeitsmarkt wird da-neben als Begründung für Arbeitsschutzvorschriftenund Mitbestimmungsregeln angeführt mit dem Argu-

Page 126: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

126

ment, nur durch diese Maßnahmen seien die Arbeit-nehmer vor Ausbeutung sicher. Jedoch dürften Dis-kriminierungen der Arbeitnehmer in erheblichemUmfang gerade durch arbeitsrechtliche Regulierungenhervorgerufen sein. Vor allem führen die Regulierun-gen zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit und damitzu einer Verringerung der Verhandlungsmacht derArbeitnehmer. Prinzipiell stärkt der zunehmende Wett-bewerb im europäischen Binnenmarkt die Position derArbeitnehmer, da (1) bei anfänglich geringen Löhnendurch attrahierte Direktinvestitionen die Nachfrage-macht der Arbeitgeber geschwächt wird und in derFolge die Löhne ansteigen und (2) das Verhandlungs-monopol von Gewerkschaften und Arbeitgeberver-bänden zur Disposition steht. Gerade in der Intensi-vierung des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt istdie Lösung der aktuellen Probleme der EU-Mitglieds-staaten zu suchen und zu finden. Eine umfassendeeuropäische Regulierung � sei es durch den öffentli-chen Sektor oder durch kollektive Entscheidungen derorganisierten Interessen � kann nur kontraproduktivsein (siehe vertiefend die Ausführungen von Dohseund Krieger-Boden, 1998).

Gleichwohl wird der zunehmende � durch die Euro-päische Währungsunion verstärkte � Wettbewerb aufdem Arbeitsmarkt angesichts der Konkurrenz der Nied-riglohnländer gegenüber den wohlhabenden Ländern alssoziales Dumping bezeichnet. Insbesondere die wohlha-benden Länder unterliegen einem Anpassungsdruck, dendiese als nicht zumutbar und unfair ansehen. Wäre dieseSicht angemessen, dann böte sich als Antwort eine An-gleichung der Sozialstandards in bezug auf den Arbeits-markt an, also einheitliche Arbeitsbedingungen in der Eu-ropäischen Union. Der Wettbewerbsvorteil der Niedrig-lohnländer ist aber keineswegs mit �sozialem Dumping�gleichzusetzen, sondern lediglich die Konsequenz eines �im Vergleich zu den wohlhabenden Staaten � niedrigerenEntwicklungsstandes (Donges et al., 1996, S. 26f.). DerWohlstand läßt sich generell auf die Arbeitsproduktivität

zurückführen; deren Steigerung dient der Wohlstandsmeh-rung und hat somit auch Implikationen für die Entwick-lung der Löhne. Die Entlohnung des Arbeitseinsatzeskann nun direkt dem Arbeitnehmer als Lohn zugute kom-men oder in Form von Prämien Versicherungsleistungenfinanzieren. Die Sozialleistungen sind also nicht losgelöstvon der wirtschaftlichen Entwicklung � d.h. von der Ent-wicklung der Arbeitsproduktivität � zu realisieren. EineAusweitung sozialer Leistungen setzt daher wirtschaftli-ches Wachstum voraus. In internationaler Hinsicht ist derStandortwettbewerb u.a. durch sozialpolitische Maßnah-men determiniert, die wiederum durch das erzielte Wohl-standsniveau bedingt sind, da das Sozialleistungsniveaueinkommensabhängig ist. Eine europäische Sozialpolitikbehindert den ökonomischen Entwicklungsprozeß unddamit die Möglichkeit des Nachziehens der Niedriglohn-länder. Eine europäische Sozialpolitik, die auf einheitlicheArbeitsmarktbedingungen abzielt, stellt vielmehr eine Be-hinderung des Wettbewerbs dar und ist letztlich eine Maß-nahme zur Protektion des Besitzstandes der wohlhaben-den Länder. Mit der Setzung von Mindeststandards wer-den vor allem die ökonomischen Aufholprozesse in denNiedriglohnländern erschwert; sie erzeugen darüber hin-aus Arbeitslosigkeit (vgl. Welter, 1996, S. 204). Hierausentsteht nahezu zwangsläufig die Forderung nach Trans-ferzahlungen zwecks Kompensation der ökonomischenKonsequenzen ebendieser Mindeststandards. Ein höhe-res Mindestniveau kann nur durch Fiskaltransfers kom-pensiert werden, da ansonsten die Arbeitslosigkeit in denNiedriglohnländern ansteigen würde. Somit ist die Über-nahme von Sozialstandards aus den wohlhabenden Län-dern sowohl für die wohlhabenden Länder als auch fürdie Niedriglohnländer kontraproduktiv.

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Page 127: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

127

3 Zur Finanzverfassung der EuropäischenUnion

Die Finanzverfassung legt � als Teil der Staatsverfas-sung � die finanzpolitische Kompetenzverteilung auf dieverschiedenen staatlichen Ebenen fest und definiert hier-über die den politischen Akteuren jeweils zugebilligtenHandlungsspielräume. Die konkrete Ausgestaltung der(Finanz-)Verfassung hat unmittelbar allokative Konse-quenzen, da auf deren Grundlage von den politischenAkteuren Entscheidungen mit weitreichenden Implikatio-nen gefällt werden (vgl. hierzu ausführlich Brennan undBuchanan, 1985).

Vor allem die Erhebung von Steuern ist ein zentralesElement staatlicher Souveränität. Sie dient der Finanzie-rung staatlicher Aufgaben, primär der Bereitstellung öf-fentlicher Güter, der Umverteilung zugunsten hilfsbedürf-tiger Individuen sowie der Lösung von Marktversagens-problemen durch kollektive Handlungen (Musgrave,1959). Diese Maßnahmen sind allerdings, wie die Erhe-bung der Steuern selbst, in der Regel nur unter Beteili-gung öffentlicher Agenten, d.h. politischer Entscheidungs-träger, durchführbar. Die Delegation auf Entscheidungs-träger bedeutet freilich ein Kontrollproblem. Folgt manden Überlegungen von Brennan und Buchanan (1980),dann sind die politischen Akteure vor allem an der Maxi-mierung der Steuereinnahmen interessiert, um diese in denDienst eigener Ziele zu stellen. Aus diesem Grunde istzunächst die Zuweisung von Besteuerungskompetenzenso zu gestalten, daß selbst bei eigennützigen politischenEntscheidungsträgern für die Stimmbürger akzeptableErgebnisse erreicht werden � Ergebnisse also, die mit denPräferenzen der Bürger und nicht nur mit denen der po-litischen Akteure korrespondieren (vgl. Kirchgässner,1994, S. 332). Die Ausrichtung des Steuersystems am Prin-zip der Leistungsfähigkeit eröffnet den politischen Ak-teuren einen diskretionären Spielraum, während das Äqui-valenzprinzip von Wicksell (1896) die politischen Ent-scheidungsträger wirksam beschränkt und somit die Prä-ferenzen der Stimmbürger umsetzt (vgl. Blankart, 1998a,

S. 175-200). Daneben besteht das Erfordernis nach Kon-trollmechanismen im Rahmen des politischen Systems;Ansatzpunkt hierfür ist eine föderale Staatsstruktur, dieden Stimmbürgern eine Kontrolle der politischen Akteu-re durch exit oder voice im Sinne von Hirschman (1970)ermöglicht.

Die Finanzverfassung muß somit zwei Zielen gerechtwerden; einerseits ist sie an der wohlfahrtsökonomischenEffizienz auszurichten und andererseits muß sie den po-litökonomischen Anforderungen im Sinne des Schutzesder Bürger vor einer übermäßigen Besteuerung genügen.Anders gewendet: Beim Design einer Finanzverfassungsind aus der konstitutionellen Perspektive neben Effizi-enz- und Verteilungsaspekten auch Schutzaspekte zubeachten, so daß auch die Ausprägung des politischenSystems und die mit ihm verbundenen Entscheidungs-wie Kontrollmechanismen hochgradig relevant sind (vonHagen, 1998; Persson und Tabellini, 1998).

Im Hinblick auf die Europäische Union sind grund-legende konstitutionelle Überlegungen zur Ausgestaltungder Finanzverfassung auf der Basis eines vertragstheore-tischen Ansatzes weiterhin aktuell, und zwar aus folgen-den Gründen. Zum einen ist die �konstitutionelle Unsi-cherheit� nicht beseitigt, da weiterhin Unklarheiten in be-zug auf künftige Aufgaben wie politische Strukturen derEuropäischen Union bestehen. Die politischen Struktu-ren sind angesichts der gravierenden Mängel im Hinblickauf die Kontrolle der politischen Akteure ebenfalls re-formbedürftig. Auf der supranationalen Ebene besitzendie politischen Akteure einen zu großzügig ausgestattetendiskretionären Spielraum, der der Kontrolle durch deneuropäischen Wähler entzogen ist. Zum anderen werdenmit der näherrückenden Osterweiterung weitere Refor-men in der Europäischen Union notwendig � so bei-spielsweise in bezug auf die Ausgabenstruktur der Euro-päischen Union. Aufgrund dieser Faktoren sollte eine ver-tragstheoretisch-konstitutionelle Sicht verwendet werden,die sich primär auf den prozeduralen Charakter einer Fi-nanzverfassung bezieht und weniger auf Endresultate.Grundlegend ist hierbei die Frage, welche Finanzverfas-

Page 128: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

128

sung die betroffenen Stimmbürger auf der konstitutio-nelle Ebene präferieren würden, wobei die obigen bei-den Sichtweisen zu berücksichtigen wären.

Die Finanzverfassung der Europäischen Union ist vonbesonderer Bedeutung, da erstmalig in der europäischenGeschichte Nationalstaaten eine supranationale Ebenegeschaffen haben, die (1) über nicht unerhebliche Kom-petenzen verfügt, die � zum Guten, aber auch zumSchlechten � diskretionär eingesetzt werden können und(2) deren Kompetenzbereichen die Individuen nur schwerentweichen können; die exit-Option ist nur unter erhebli-chen Kosten für die Individuen realisierbar. Aus diesemGrunde sind auch tiefergehende theoretische Überlegun-gen zwingend erforderlich. Im Zusammenhang mit derEuropäischen Union sind vier Aspekte zu klären:

� Welche Aufgaben soll die Europäische Union wahr-nehmen?

� Wie soll die Europäische Union künftig ihre Aufga-ben finanzieren?

� Sollen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäi-schen Gemeinschaft interregionale Transfers institutio-nalisiert werden?

� Welche Regeln sollen für die Koordination der natio-nalen Finanzpolitiken festgelegt werden?

Diese Themenkomplexe sind Gegenstand der nach-folgenden Betrachtung. Zunächst soll jedoch ein Blick aufdie bisherige Entwicklung und Ausgestaltung der Finanz-quellen der Europäischen Union geworfen werden.

1 Gegenwärtiger Stand der europäischen Finanz-verfassung

1 Ausgaben der Europäischen Union

Die Finanzverfassung der Europäischen Union spezi-fiziert durch Art. 3 und 3a EGV zunächst die Aufgabenin Gestalt der Gesetzgebungskompetenz. Die Ausübungvon Aufgaben ist in aller Regel auch ausgabenwirksam.

Der Finanzrahmen für die Ausgaben der EuropäischenUnion ist im Oktober 1993 durch eine interinstitutionelleVereinbarung zwischen Rat, Europäischer Kommissionund Europäischem Parlament für die Jahre 1993 bis 1999festgelegt worden. Diese Vereinbarung beruht auf demDelors-II-Paket, welches im Dezember 1992 vom Eu-ropäischen Rat auf dem Gipfel von Edinburgh beschlos-sen wurde und den finanziellen Rahmen der Union fürdie Jahre 1993 bis einschließlich 1999 absteckt. Durch dasDelors-II-Paket wird sowohl das Haushaltswachstumbegrenzt als auch die Struktur der Einnahmen und Aus-gaben festgelegt.

Zentral ist zunächst die Realwertsicherung des EU-Haushalts durch Vorgabe einer Haushaltsmittel-BSP-Quote. Im Zusammenhang mit der finanziellen Vorgabewurde eine Reduzierung des Anteiles der GemeinsamenAgrarpolitik und eine Erhöhung der Ausgaben für dieStrukturpolitik angestrebt; demgegenüber sollen die an-deren Bereiche proportional zum gesamten Haushalt an-steigen. Mittlerweile entfällt knapp die Hälfte der Ausga-ben der Europäischen Union auf die Gemeinsame Agrar-politik und ein gutes Drittel auf die Strukturmaßnahmenund die Kohäsion (siehe Tabelle 1). Der Wachtums-schwerpunkt liegt aber auf der Strukturpolitik; die quan-

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

1 Ausgabenstruktur der Europäischen UnionAnteil der Politikbereiche am EU-Gesamthaushalt in v.H.

Politikbereiche 1992 1993 1994 1995 1996 1997

Agrarpolitik 53.3 53.7 55.7 51.6 50.8 50.6

Strukturfonds 30.3 31.3 26.2 28.8 31.8 32.5

Interne Bereiche 6.8 5.6 6.5 6.0 5.9 6.2

Externe Bereiche 3.2 4.2 5.7 5.5 5.3 5.3

Verwaltung 5.0 5.2 5.9 5.8 5.3 5.1

Ausgleichszahlungen 1.5 0.0 0.0 2.3 0.9 0.3

Quelle: Europäische Kommission (1998), Anhang 8, S. 10.

Page 129: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

129

titative Zunahme wird darüber hinaus durch eine instru-mentelle Ergänzung komplettiert; durch den Kohäsions-fonds erhielt die Stärkung des wirtschaftlichen und sozia-len Zusammenhalts Priorität. Die vielfältigen Struktur-fonds konzentrieren sich zunehmend auf die ärmerenRegionen, so daß die Kohäsionspolitik letztlich zur re-gionalen Strukturpolitik wird. Begründet sind die Trans-fers im Rahmen der zahlreichen Strukturfonds durch dieExistenz regionaler Disparitäten in der EuropäischenUnion. Empfänger der Transfers sind Projekte in denwirtschaftlich schwachen Regionen, die anhand spezifi-scher Kriterien voneinander abgegrenzt sind (vgl. Nowot-ny, 1997, S. 120, Europäische Kommission, 1997, sowieDonges et al., 1998, zu den Veränderungen dieser Kriteri-en durch die �Agenda 2000�). Mit diesen interregionalenTransfers wird das Ziel der Angleichung der wirtschaftli-chen Leistungsfähigkeit der Mitgliedsstaaten angestrebt.

Somit gehen von der Ausgabenseite Finanzausgleichs-wirkungen in Gestalt einer regionalen Einkommensum-verteilung aus, denn sowohl die traditionellen Struktur-fonds als auch der neu geschaffene Kohäsionsfonds ha-ben nunmehr die Aufgabe der Beseitigung regionaler Ein-kommensdivergenzen. Aber auch von der GemeinsamenAgrarpolitik gehen regionale Umverteilungswirkungenaus. Durch die Agrar- und die Strukturpolitik werden ca.80% des EU-Etats für Umverteilungsmaßnahmen zwi-schen und innerhalb der Mitgliedsstaaten verausgabt(Busch, 1998, S. 20).

Im Vergleich zu den Ausgaben für die Agrarpolitikund die Strukturmaßnahmen sind die Ausgaben für dieinternen Politikbereiche (Sozialmaßnahmen, Energie,Umwelt, Binnenmarkt sowie Forschung und Entwick-lung) nicht sehr hoch; allerdings sind auch diese Ausga-ben seit 1988 überdurchschnittlich angewachsen (Busch,1998, S. 20-25). Eine überproportionale Zunahme habendie Ausgaben für die externen Politikbereiche erfahren;bei ihnen handelt es sich u.a. um Finanzhilfen an die mit-tel- und osteuropäischen Länder (PHARE-Programm)sowie an die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjet-union (TACIS-Programm).

Im Rahmen der �Agenda 2000� präsentiert die Euro-päische Kommission (1997) u.a. ihre finanziellen Vorstel-lungen in bezug auf die unterschiedlichen Politikbereiche.So sollen die Ausgaben für die Agrarpolitik unterdurch-schnittlich wachsen. Demgegenüber wird eine überpropor-tionale Zunahme der Ausgaben für die Strukturpolitik, dieinternen Politikbereiche und die Verwaltung präferiert. Diesist u.a. durch die sich abzeichnende Osterweiterung be-gründet. Die Integration der Beitrittskandidaten bedingteine Verschiebung der Ausgaben sowie einen Ausbau derStruktur- und Verwaltungsausgaben. Insgesamt bedeutetdie bevorstehende Osterweiterung einen nicht unerhebli-chen Handlungsbedarf in Hinblick auf eine Reform derAusgaben der Europäischen Union.

Die Beschlüsse des Europäischen Rats auf dem Berli-ner Gipfel im März 1999 haben in dieser Hinsicht zu kei-ner fundamentalen Änderung der Ausgabenstruktur ge-führt. Die Berliner Ergebnisse sehen � im Rahmen derfinanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2000 bis 2006� vor allem eine Trennung zwischen den Ausgaben derUnion in ihrer jetzigen Zusammensetzung (EU-15) undden mit den Beitrittsländern verbundenen Ausgaben vor.Bei der EU-15 dominieren weiter die Agrarausgaben,während der Schwerpunkt bei den Beitrittskandidaten aufden Strukturmaßnahmen liegt. Auseinandersetzungen sinddamit programmiert. Es bleibt abzuwarten, wann dienotwendigen Reformen umgesetzt werden.

2 Die Einnahmenseite der Europäischen Union

Die Finanzierung des EU-Haushaltes ist durch dieeuropäischen Verträge recht vage formuliert. Anwendungfinden die Art. 201 EGV sowie Art. F III EUV, die eineFinanzierung der Europäischen Union durch �Eigenmit-tel�7  vorsehen, wobei hierunter prinzipiell auch suprana-

7 Die Vorstellungen der Europäischen Kommission zu den Eigen-mitteln stellt Henke (1981, S. 58) dar. Die Eigenmittel sinddemnach fiskalischer Art; sie sind unmittelbar von Einzelperso-

Page 130: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

130

tionale Steuern fallen könnten. Das Bundesverfassungs-gericht gelangt in seinem Maastricht-Urteil zum Ergeb-nis, daß Art. F III EUV der Europäischen Union keineKompetenz-Kompetenz zubilligt. Die Einführung supra-nationaler Steuern ist aber durch einstimmigen Ratsent-scheid entsprechend Art. 201 II und III EGV möglich,wenn gleichzeitig die nationalen Parlamente zustimmen.Art. F III EUV weist in die gleiche Richtung. Die Finan-zierung der Europäischen Union erfolgt seit der grundle-genden Haushaltsreform des Jahres 1988 (Delors-I-Pa-ket) durch �Eigenmittel�.8  Bei den �Eigenmitteln� han-delt es sich um Einnahmen der Europäischen Union auseigenem Recht, die aus vier Quellen stammen. Grundlageder aktuellen Einnahmen der Europäischen Union ist einBeschluß des Europäischen Rates im Dezember 1992 inEdinburgh (Delors-II-Paket); dessen Konkretisierung imOktober 19949 legt einen zeitlich unbefristeten Eigenmit-telbeschluß in Verbindung mit der Festlegung der Beiträ-ge der Mitgliedsstaaten vor, der wiederum eine Ober-grenze für die Gesamteinnahmen determiniert. Danachdisponiert die Europäische Union über den Zeitraum1993 bis 1999 über einen maximalen Eigenmittelpla-fonds, der sich 1993 auf 1,2 % des Bruttosozialproduktsder Europäischen Union belief und bis zum Jahr 1999auf 1,27 % ansteigt; die hiermit verbundenen Zahlungs-ermächtigungen begrenzen vertraglich die Ausgaben, be-dingen aber auch eine im Vergleich zum Wirtschaftswachs-tum stärkere Zunahme des EU-Haushalts. Die Europäi-sche Kommission (1997) hält an der im Jahr 1999 er-reichten Eigenmittelobergrenze für ihre im Rahmen der�Agenda 2000� angestellte mittelfristige Finanz- wie Aus-

gabenplanungfest.

Die Eigen-mittel umfassenaktuell Agrar-abschöpfungen(einschließlichZuckerabgaben)und Zölle, einen

Mehrwertsteueranteil sowie einen Beitrag in Abhängig-keit vom Bruttosozialprodukt. Agrarabschöpfungen (in-klusive der Zuckerabgaben) und Zölle werden als tradi-tionelle oder originäre Eigenmittel bezeichnet, da sie dieersten eigenen Mittel darstellen, die seit dem Eigenmittel-beschluß des Jahres 1970 der Europäischen Union zurVerfügung stehen. Es handelt sich bei diesen Eigenmit-teln um an der Außengrenze der Europäischen Unionerhobene Steuern. Die Ertrags- und Gesetzgebungskom-petenz liegt bei der Europäischen Union. Ihr Anteil anden Gesamteinnahmen ist mittlerweile rückläufig undbeläuft sich auf ca. 18 % (siehe Tabelle 2).

Zusätzlich stehen der Europäischen Union ergänzen-de Eigenmittel in Gestalt des Mehrwertsteueranteils sowiedes BSP-orientierten Beitrags zur Verfügung. Bei diesenEigenmitteln handelt es sich aber keineswegs um echte

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

2 Die Eigenmittel der Europäischen UnionAnteil der jeweiligen Kategorie an den Gesamteinnahmen

Eigenmittelart 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997

Traditionelle Eigenmittel 29.1 28.7 29.4 26.4 23.6 20.3 20.6 21.3 19.1 18.8

Mehrwertsteuer-Anteil 60.0 60.7 69.9 59.5 61.9 54.0 51.9 57.8 51.3 45.5

BSP-Eigenmittel 10.9 10.6 0.7 14.1 14.5 25.7 27.5 20.9 29.6 35.7

Quelle: Europäische Kommission (1998, S. 2).

nen oder Unternehmen in der Gemeinschaft aufzubringen; siesind weder im Haushaltsplan der Mitgliedsstaaten ausgewiesennoch unterliegen sie den Beschlüssen der Mitgliedsstaaten odersind Teil der Einnahmen der Mitgliedsstaaten; darüber hinausbrauchen die Mittel auch nicht durch mitgliedsstaatliche Parla-mente genehmigt zu werden.

8 Caesar (1996, S. 147) weist auf den Umstand hin, daß der Ge-samthaushaltsplan der Europäischen Union längst nicht alle fis-kalischen Aktivitäten beinhaltet. So sind beispielsweise das An-leihe- und Darlehensgeschäft der Gemeinschaft sowie die Trans-aktionen der Europäischen Investitionsbank (EIB) nicht enthal-ten. Aus Gründen der Transparenz sind aber auch diese �Off-Budget�-Aktivitäten künftig in den EU-Haushalt einzustellen.

9 Stark (1997), die Europäische Kommission (1998, Anhang 1)sowie insbesondere Peffekoven (1994) gehen auf die Entwick-lung der Eigenmittelbeschlüsse näher ein.

Page 131: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

131

Steuereinnahmen der Gemeinschaft, sondern lediglich umFinanzbeiträge der Mitgliedsstaaten. Der Mehrwertsteu-eranteil berechnet sich auf der Grundlage eines einheitli-chen v.H.-Satzes auf eine einheitliche Mehrwertsteuer-Be-messungsgrundlage. Der v.H.-Satz war bis 1994 auf ma-ximal 1,4% der harmonisierten nationalen Umsatzsteuer-bemessungsgrundlage und ab 1995 auf 1% derselbenfestgeschrieben.10 

Weiterhin existieren die BSP-orientierten Eigenmittel,die mit dem grundlegenden Eigenmittelbeschluß des Jah-res 1988 ins Leben gerufen worden sind. Die BSP-Ei-genmittel sind auf maximal 0,3247% des nationalen Brut-tosozialprodukts fixiert. Sie nehmen die Funktion einerRestfinanzierung des Haushalts der Europäischen Ge-meinschaft ein. Bis auf die originären Eigenmittel verfügtdie Europäische Union über keine Kompetenzen im Hin-blick auf die Einnahmen (siehe hierzu die Übersicht 3).11

Allerdings kann sie bei Beachtung der vertraglich fixier-ten Obergrenzen die Deckung des EU-Haushalts durch

Ermittlung der Höhe der Beiträge der EU-Mitgliedsstaa-ten sicherstellen. Damit ist die Regelung der Einnahmender Europäischen Union primär das Ergebnis einerdurchaus konfliktträchtigen Prozedur, die durch Verhand-

10 Mit dem Mehrwertsteueranteil sind weitere Besonderheiten ver-bunden (vgl. Peffekoven, 1994, S. 65f. und Caesar, 1996, S.147f.). So wird die unterschiedliche Behandlung von steuer-pflichtigen Umsätzen in den EU-Mitgliedsstaaten korrigiert; da-neben existiert eine Kappung der Bemessungsgrundlage für dieMehrwertsteueranteile auf 50% des nationalen Bruttoinlands-produkts (siehe auch Heinemann, 1995, S. 138f.). Folglich wer-den die Mehrwertsteueranteile für jedes Mitgliedsland einzelnberechnet.

11 Bei allen Eigenmittelarten liegt die Durchführungshoheit beiden Mitgliedsstaaten. Während bei der BSP-Umlage und demMehrwertsteueranteil Ertrags- und Objekthoheit von der Euro-päischen Union und den Mitgliedsstaaten wahrgenommen wer-den, disponiert bei den Agrarabschöpfungen, der Zuckerabgabeund den Zöllen die Europäische Union allein über Ertrags- undObjekthoheit.

Übersicht 3: Die Zuordnung von Einnahmenzuständigkeiten auf die Europäische Union (EU) und dieMitgliedsländer (ML) im vertikalen Einnahmenausgleich

Einnahmen- Finanzausgleichssystemezuständigkeiten

(1) (2) (3) (4)

Zuweisungs- Verbund- Zuschlags- Trennsystemsystem system system (gebunden) (ungebunden)

EU ML EU ML EU ML EU ML EU ML EU ML

Objekthoheit über- Bemessungsgrundlage � � � � � � �- Anteil an Bemessungs- � � � � � � �

grundlage

Ertragshoheit � � � � � � � � �

Durchführungs- � � � � � � � �hoheit

Einnahmen der EU MwSt.-Anteil Agrarabschöpfungen, Zucker-BSP-Eigen- abgabe, Zöllemittel

Grad der Einnahmen- gering hochautonomie

Page 132: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

132

lungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten determiniert ist.Weiteres Kennzeichen der finanziellen Situation der Eu-ropäischen Union ist das Verbot einer Kreditfinanzierungihrer Ausgaben. Die aktuellen Regelungen haben ihreGültigkeit bis zum Ende des Jahres 1999. Danach mußder politische Konsens erneuert werden � andernfallswerden die bisherigen Regelungen hinsichtlich der Eigen-mittelobergrenze fortgeschrieben, und die Ausgabenmüssen jährlich neu festgelegt werden.

Das Eigenmittelsystem der Europäischen Union wirdvielfach kritisiert (Caesar, 1996, S. 149f.; Genser, 1997,S. 109f.; sowie vertiefend Biehl, 1991, 1994). Beklagt wirdu.a. die mangelnde Einnahmenautonomie der Europäi-schen Union, da trotz des im grundlegenden Eigenmit-telbeschluß von 1970 beabsichtigten Übergangs der Fi-nanzierung auf eine echte eigene Steuer die EU immernoch von Finanzzuweisungen der Mitgliedsstaaten ab-hängt. Probleme bereitet diese Finanzierungsform ausverschiedenen Gründen. Zum einen bemängeln die An-hänger einer Kompetenzausweitung der EuropäischenUnion den beschränkenden Aspekt dieser Finanzierungs-form, die eine Ausweitung des Finanzrahmens behindert.Zum anderen existiert die These, daß eine rationale Wil-lensbildung entsprechend dem Prinzip der fiskalischenÄquivalenz für die politischen Akteure auf der EU-Ebe-ne infolge der unzureichenden Einnahmenautonomienicht gewährleistet ist. Beide Kritikpunkte richten sich al-leine am Handlungsspielraum der politischen Akteure aus;dementsprechend wird die zentrale Rolle der Bürger beidieser Sichtweise vernachlässigt, da letztlich die öffentli-chen Maßnahmen ihnen zugute kommen sollten und nichtden politischen Akteuren. Angesichts der aktuell existen-ten diskretionären Entscheidungsspielräume ist somit diefiskalische Beschränkung der politischen Entscheidungs-träger der supranationalen Ebene der Europäischen Uni-on gerechtfertigt.

Daneben wird die regressive Belastungswirkung derEigenmittelfinanzierung als Folge der originären Eigen-mittel sowie der Mehrwertsteueranteile bemängelt, dieinfolge der Erhöhung der BSP-orientierten Eigenmittel

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

nur geringfügig verringert wird (kritisch dazu Folkers,1994). Die Finanzautonomie der Europäischen Union istauch mangels eines offiziellen Verschuldungsrechts einge-schränkt, obgleich in der Vergangenheit nicht selten durchSchattenhaushalte versteckte Kreditaufnahmen durchge-führt wurden, die ihrerseits die Kontrolle der öffentli-chen Finanzen erschweren.

Verschiedene Vorschläge zielen daher regelmäßig aufeine Reform der Einnahmen der Europäischen Union,wobei vor allem die Schaffung einer echten Gemein-schaftssteuer im Mittelpunkt steht, mit deren Hilfe erst-malig die Abgabenverantwortung der Europäischen Uni-on begründet werden soll. Die Europäische Kommissi-on (1998) publizierte kürzlich einen Report, der u.a. Aus-führungen zu einem neuen Beitragssystem enthält, wobeisowohl eine Vereinfachung des bisherigen Systems durcheine Verringerung der Finanzierungsquellen als auch dieEinführung zusätzlicher Einnahmequellen zur Ergänzungund/oder teilweisen Ersetzung bisheriger Eigenmittelangestrebt werden.12  Die Überlegungen der Europäi-schen Kommission zielen u.a. auf eine Verbesserung derFinanzautonomie. Die traditionellen Eigenmittel liefernnur geringe Erträge bei hohem Verwaltungsaufwand;daher wird generell der Ausbau der BSP-Eigenmittel prä-feriert, da diese aus der Sicht der Europäischen Kom-mission Beitragsgerechtigkeit � im Sinne des Leistungsfä-higkeitsprinzips � gewährleisten. Allerdings ist die Anwen-dung des � auf individuelle Nutzenfunktionen abstellen-den � Leistungsfähigkeitsprinzips auf den Finanzierungs-beitrag von Staaten nicht unproblematisch. Letztlich soll-te daher die Finanzierung regelmäßig durch Verhandlun-gen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten bestimmt werden.

12 Der Kommissionsreport enthält eine ausführliche Beschreibungund Analyse von verschiedenen Vorschlägen von neuen Eigen-mitteln für die EU; hierbei handelt es sich u.a. um eine Quel-lensteuer, Akzisen, Seigniorage, Körperschaftsteuer und Ein-kommensteuer, Verkehrs- und Umweltsteuern. Von der Kom-mission wird eine modulierte Mehrwertsteuer-Regelung in Be-tracht gezogen.

Page 133: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

133

Die zeitliche Begrenzung der aktuellen Einnahmenre-gelung der Europäischen Union hatte eine Gelegenheit zurgrundlegenden Veränderung der Finanzverfassung der Eu-ropäischen Union geschaffen. Die Beschlüsse des Euro-päischen Rats auf dem Berliner Gipfel sehen in bezugauf das Eigenmittelsystem kaum Veränderungen vor; sosollen unter anderem der maximale Eigenmittelplafondsbei 1,27 % des Bruttosozialprodukts der EuropäischenUnion sowie die traditionellen Eigenmittel erhalten wer-den. Reduziert wird der maximale Abrufsatz für dieMehrwertsteuer-Eigenmittel 2002 auf 0,75 % und 2004auf 0,5 %. Eine allgemeine Prüfung des Eigenmittelsy-stems � sie soll auch die Frage nach neuen Eigenmittelnbeantworten � wird bis zum Jahre 2006 angestrebt. DieErgebnisse des Berliner Gipfels sind somit durch Konti-nuität gekennzeichnet. Zusammen mit der bereits bemän-gelten weitgehenden Fortschreibung der Struktur und desUmfangs der Ausgabenseite läßt dies erwarten, daß eineumfassende Reform der Finanzverfassung der Europäi-schen Union in weite Ferne gerückt ist.

Bei künftigen Veränderungen der Finanzverfassung istauch weiterhin an eine umfassende Reform der aus-gabenwirksamen Aufgaben � vor allem in bezug auf denAgrarbereich und die Strukturpolitik � der EuropäischenUnion zu denken. Grundlegende Erwägungen hierzu, dieauch nach dem Berliner Gipfel des Europäischen Ratsgültig bleiben, haben unter anderen Donges et al. (1998)sowie � insbesondere zur Agrarpolitik � der Wissenschaft-liche Beirat beim Bundesministerium für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten (1998) vorgelegt.

3 Kompetenzen zur Steuerharmonisierung

Die Europäische Union verfügt auch über die Rege-lungskompetenz zur Harmonisierung von Gütersteuern.Die wohlfahrtsökonomische Begründung für eine Steu-erharmonisierung rekurriert auf die Wettbewerbsverzer-rung unterschiedlicher Steuersätze;13  daneben tritt dasProblem der Auswahl eines Besteuerungsprinzips �Wohnsitzlandprinzip versus Bestimmungslandprinzip �

bei mitgliedsstaatlichen Güter- und Einkommensströmen(Fuest, 1996, S. 172). Die Harmonisierung der indirektenBesteuerung ist durch Art. 99 EGV geregelt. Diese Rege-lung besteht in einer Ermächtigung zur Schaffung einergemeinschaftlichen Grundlage für die Steuerpolitik; Vor-aussetzung hierfür ist aber die Notwendigkeit einer der-artigen Steuerpolitik für die Errichtung und das Funktio-nieren des Binnenmarktes.

Die Europäische Kommission hat von dieser Kom-petenz durch verschiedene Harmonisierungsmaßnahmen� so die Abschaffung der erhöhten Sätze, die Festlegungeines Mindestsatzes in der Umsatzbesteuerung, die Vor-gabe von Bandbreiten und Mindestsätzen für die fünfgroßen Verbrauchssteuern � Gebrauch gemacht (Gen-ser, 1997, S. 115ff.). Allerdings ist das in der Europäi-schen Union praktizierte Mischsystem bei der indirektenBesteuerung mit Ineffizienzen verbunden. Der Güter-handel wird auf der Produzentenebene nach demBestimmungslandprinzip, aber auf der Konsumentenebe-ne faktisch nach dem Ursprungslandprinzip besteuert,wenn bei letzteren auf die Direktimporte aus Niedrig-steuerländern rekurriert wird. Die Folge ist ein Anreiz fürSteuerarbitrage, die wiederum zu einem unproduktivenRessourceneinsatz infolge der Preisverzerrungen sowie zuSteueraufkommensverschiebungen führen kann. Daherempfiehlt sich der Übergang zu einem weitgehend

13 Zur Harmonisierung der Gütersteuern sei folgendes angemerkt.Eine Harmonisierung von indirekten Steuern steht für den Falleiner allgemeinen Umsatzsteuer mit einem national einheitli-chen Steuersatz und Vorsteuerabzug sowie unterschiedlichenSteuersätzen in den jeweiligen Nationen nicht auf der Agenda,da in diesem Fall das individuelle Entscheidungskalkül nichtverzerrt wird (siehe Fuest, 1996, S. 174). Es bietet sich als ein-fache Lösung der Übergang zum Ursprungslandprinzip an. Pro-blematisch sind demgegenüber spezielle Verbrauchsteuern wiebeispielsweise die Mineralölsteuer und die Tabaksteuer. EineNivellierung der Steuersätze ist in diesen Fällen angebracht, daansonsten eine Verzerrung der Güterströme eintritt (vgl. insbe-sondere die Darlegungen von Genser, 1997, sowie Genser undHaufler, 1996).

Page 134: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

134

unproblematischen ursprungsland-basierten Mehrwert-steuersystem.14  Durch diesen Übergang werden die An-reize zur Gütersteuerarbitrage durch die Umlenkung vonHandelsströmen vermieden; darüber hinaus können dieEU-Mitgliedsstaaten ihre Steuersatzautonomie behaltenund hierüber den Finanzierungsanteil der Mehrwertsteu-er am nationalen Steueraufkommen determinieren.

Harmonisierungs-Kompetenzen bei direkten Steuern� d.h. bei der Faktorbesteuerung � sind in den europäi-schen Verträgen nicht explizit aufgeführt. Die potentielleDoppelbesteuerung in der Europäischen Union wirddurch bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen vermie-den; durch diese wird letztlich das Steuerzugriffsrecht desQuellenstaates anerkannt. Im Hinblick auf Kapitalgesell-schaften gilt faktisch das Quellenlandprinzip, währendPortfolioerträge der Wohnsitzlandbesteuerung unterwor-fen sind. Vor allem Erträge aus dem Ausland sind vonden Finanzbehörden nur schwer zu kontrollieren, so daßSteuerarbitrage als Regelfall gelten kann. Daher wird ge-rade bei diesen Steuern noch erheblicher Harmonisie-rungsbedarf gesehen, da bei diesen Steuern auf der Basisder aktuell geltenden Vereinbarungen die Steuerauswei-chung aus wohlfahrtsökonomischer Sicht als nicht för-derlich angesehen wird.

Aus der Sicht von Genser (1997, S. 114) ist die Schaf-fung einer Finanzverfassung, �die eine Aushöhlung dernationalen Steuerautonomie durch Steuerarbitrage undstrategischen Steuerwettbewerb verhindert�, zwingenderforderlich. Damit verbunden sind folglich Forderun-gen nach supranationalen Regelungen zum Zwecke derSteuerkoordination beziehungsweise Harmonisierung.Dieser Aspekt ist allerdings nicht unumstritten, da mit ei-nem Steuerwettbewerb nicht alleine Nachteile verbunden

sind, sondern auch Vorteile. Vor allem kann der Steuer-wettbewerb als ein Instrument des Wettbewerbs vonStaaten um mobile Faktoren angesehen werden und da-her ein effizienzsteigerndes Instrument darstellen, welchesnicht durch Koordination behindert werden darf.

2 Auf dem Wege zu einer künftigen Finanz-verfassung der Europäischen Union

1 Grundlagen für eine Finanzverfassung: Kompetenzenund Aufgaben

Gegenstand dieses Abschnittes ist die Frage, welcheAufgaben die supranationale Ebene der EuropäischenUnion wahrnehmen soll. Analog zur Rolle und Bedeutungvon Regierungen in Nationalstaaten hat eine supranatio-nale Institution für die Mitglieder einer Gemeinschaft dieAufgabe, (1) die Quantität und die Qualität öffentlicherGüter wie anderer kollektiver Maßnahmen zu bestimmenund (2) die Art und Weise der Finanzierung zu klären. Dienotwendigen Informationen in bezug auf die Präferenzender Individuen werden in der Regel durch Wahlen und/oder durch Referenden enthüllt; im Hinblick auf die Eu-ropäische Union sind die Stimmbürger allerdings nur indi-rekt beteiligt, da die eigentliche Abstimmung durch die na-tionalen Regierungsvertreter erfolgt, die wiederum durchdie von den Stimmbürgern gewählten Repräsentanten be-stimmt werden. Darüber hinaus sollten die genannten Auf-gaben regelmäßig derjenigen Institution zugeordnet wer-den, die sie zu den geringsten Kosten bewältigen kann. DieBildung einer �europäischen Institution� mit Kompeten-zen hängt von der positiven Beantwortung der Frage ab,ob pan-europäische öffentliche Güter beziehungsweise an-dere kollektive Politikmaßnahmen existieren, die allen eu-ropäischen Bürgern zugute kommen, bei Abwesenheit ei-ner europäischen Institution jedoch � beispielsweise auf-grund zu hoher Kosten � nicht bereitgestellt werden (vgl.Mueller, 1997, S. 258). Ist dies nicht zu bejahen, dann soll-ten die Kompetenzen bei den europäischen Nationalstaa-ten verbleiben. Theoretisch lassen sich somit die Aufgaben

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

14 Genser (1997, S. 119-121) weist auf potentielle Probleme desUrsprungslandprinzips hin, die im Gegensatz zu denjenigen deraktuellen Regelung als akzeptabel anzusehen sind. Hierbei han-delt es sich neben administrativen Bedenken insbesondere umden Anreiz zur strategischen Mehrwertsteuerarbitrage sowie umProbleme aufgrund mobiler Produktionsfaktoren.

Page 135: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

135

den verschiedenen Ebenen der Staaten sowie der suprana-tionalen Ebene der Europäischen Union zuordnen.

Bei reinen öffentlichen Gütern mit den globalen Ei-genschaften des Nicht-Ausschlußprinzips und der Nicht-Rivalität im Konsum ist eine regionale Differenzierungausgeschlossen. Anders liegt der Fall bei öffentlichen Gü-tern, die lediglich einer räumlich begrenzten Teilmengeder Gesamtbevölkerung zugute kommen, also nur lokalnicht-rival sind. Bei diesen regionalen öffentlichen Gü-tern bietet sich dementsprechend eine räumliche Diffe-renzierung der Bereitstellung an. Hier setzt die ökonomi-sche Föderalismustheorie mit dem Beitrag von Oates(1972) � vor allem in Gestalt des Korrespondenzprinzipsund des Dezentralisierungstheorems � sowie dem Prin-zip der fiskalischen Äquivalenz von Olson (1969) an. Erstdie Einhaltung dieser Prinzipien gewährleistet die Orien-tierung an den individuellen Präferenzen, eine effizienteBereitstellung reiner sowie lokaler öffentlicher Güter undeinen effizienten föderalen Staat. Ein Wettbewerb der Ge-bietskörperschaften � infolge mobiler Wähler im Sinnedes Ansatzes von Tiebout (1956) � ist unter diesen Be-dingungen möglich.

Für die dezentrale Bereitstellung öffentlicher Güter istu.a. die Inhomogenität der individuellen Präferenzen vonBedeutung, ebenso die den öffentlichen Gütern zugrun-deliegende Produktionstechnologie. Die Inhomogenitätbegünstigt die Dezentralisierung. Hingegen korrespon-diert die Existenz von economies of scale entsprechend denÜberlegungen von Sinn (1995, 1997) mit der Gefahr derruinösen Konkurrenz und erfordert somit eine zentrali-sierte Bereitstellung öffentlicher Güter. Dieser Fall ist füreine kapitalintensive Produktionstechnologie von Rele-vanz. Demgegenüber zeichnen sich personalintensive Pro-duktionstechnologien durch einen konstanten Kostenver-lauf aus, der wiederum eine Dezentralisierung nahelegt.Jedoch dürften in beiden Fällen infolge von Bürokratie-und Informationskosten diseconomies of scale vorhandensein, die wiederum eine Dezentralisierung begünstigen.Prinzipiell begründen interregionale externe Effekte perse auch keine Zentralisierung öffentlicher Güter, da sich

vor allem eine Verhandlungslösung zur Internalisierunganbietet.

Damit besteht angesichts der empirisch evidenten glo-balen Rivalität der meisten �öffentlichen Güter� nur gerin-ger Spielraum für eine zentrale und somit supranationaleBereitstellung durch die Europäische Union. Lediglich inden Bereichen der Verteidigungs-, der Außen- und derWettbewerbspolitik sowie zur Durchsetzung der Freihei-ten im europäischen Binnenmarkt und schließlich in eini-gen Bereichen der Umweltpolitik sind der supranationalenEbene der Europäischen Union Kompetenzen zuzuord-nen (vgl. Apolte, 1996; Mueller, 1997; Henke, 1997; Schnei-der, 1998, sowie Kirchgässner, 1994).

Diese statisch ausgerichtete Kompetenzzuordnungmuß allerdings zwingend durch eine dynamische prozeß-orientierte Sicht ergänzt werden, da in der Regel Verän-derungen der zugrundeliegenden technischen Parameter� beispielsweise die räumliche Abgrenzung öffentlicherGüter, die durch Innovationen bedingte Veränderung derKostenfunktionen oder die Veränderung der Nachfrage� nicht per se ausgeschlossen werden können. Gefordertist somit auch eine dynamisch effiziente Zuordnung vonKompetenzen, d.h. der Prozeß der Kompetenzneuver-teilung muß hinreichend flexibel sein (Heinemann, 1995,S. 26ff.). In diesem Zusammenhang sind die Eigenschaf-ten der Unverzerrtheit sowie der Reversibilität gefordert.Die Eigenschaft der Unverzerrtheit stellt die effiziente Zu-ordnung von Hoheitsrechten sicher, sofern der Kompe-tenzverteilungsprozeß nicht durch die Interessen der po-litischen Akteure einer bestimmten staatlichen Ebene maß-geblich beeinflußt wird. Die Eigenschaft der Reversibili-tät bezieht sich auf die Möglichkeit der Anpassung derKompetenzzuteilung als Reaktion auf veränderte Rah-menbedingungen.

Die der Europäischen Union zugeordneten Zustän-digkeiten sind durch Quasi-Irreversibilität und Verzerrt-heit bestimmt, da eine Rückverlagerung von Zuständig-keiten eine einstimmige Vertragsänderung erfordert undmit dem Grundsatz des Acquis Communautaire eine Besitz-standsklausel für europäische Zuständigkeiten existiert, die

Page 136: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

136

eine Zentralisierung begünstigt (Heinemann, 1995). Auchdie durch die Generalermächtigung der EuropäischenUnion zugebilligten Kompetenzen entsprechen nicht demErfordernis einer dynamisch effizienten Kompetenzzu-ordnung.

Im Mittelpunkt von Reformen der Kompetenzen derEuropäischen Union muß daher eine Veränderung desKompetenzverteilungsprozesses stehen (Heinemann,1995, S. 185-195). Der prozedurale Ansatz vermeidet eine�Anmaßung von Wissen� im Sinne von Hayek, da Re-formvorschläge, die Kompetenzen für alle Ewigkeit fest-schreiben wollen, in der Regel problematisch sind. AlsReformmöglichkeit bietet sich die Zubilligung von �Sun-set�-Kompetenzen an; diese zeitlich beschränkte Zuwei-sung von Kompetenzen für die supranationale Ebeneersetzt den aktuell fehlenden Wettbewerbsdruck durcheinen regelmäßig wiederkehrenden Bewährungsdruck fürdie europäische Zentrale. Im Hinblick auf implizite Kom-petenzen besteht das Erfordernis nach einer umfassen-den Reform, da die aktuelle Regelung ein Einfallstor fürZentralisierungstendenzen ist. Reformvorschläge beziehensich u.a. auf die Konkretisierung unbestimmter Rechts-begriffe oder die Schaffung einer Instanz zur Klärung vonföderalen Kompetenzstreitigkeiten, da der EuropäischeGerichtshof integrationsfreudig agiert und hierüber eineeuropäische Zentralisierung durch Kompetenzzuweisungbegünstigt wird (Heinemann, 1995, S. 189f.; EuropeanConstitutional Group, 1993).

2 Einnahmen zur Aufgabenfinanzierung derEuropäischen Union: Besteuerungskompetenz versusZuweisungen

Welche Überlegungen sprechen für eine originäre Be-steuerungskompetenz der Europäischen Union? Auswohlfahrtsökonomischer Sicht ist gemäß dem Äquiva-lenzprinzip eine eigene Besteuerungskompetenz der Eu-ropäischen Union dann gerechtfertigt, wenn die Euro-päische Union einzig und allein die Funktion eines �schüt-zenden Staates� � zum Beispiel im Sinne der Sicherung

der vier Grundfreiheiten � einnimmt. Ansatzpunkt wäredann eine Steuer, deren Bemessungsgrundlage in direkterBeziehung zum Binnenmarkt steht. Caesar (1996, S. 165)nennt in diesem Zusammenhang eine eigene Einkommen-steuer der Europäischen Union, die allerdings mit stren-gen fiskalischen Beschränkungen zu versehen wäre, da einederartige Steuer � wie nachfolgend noch dargelegt wird� nicht unproblematisch ist. Aus Public-Choice-Sichtmüßte die EU-Steuer für die Bürger eine merkliche Steu-er sein und dem Steuerzahler als EU-Steuer kenntlich so-wie eng begrenzt sein. Eine Besteuerungskompetenz für

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Übersicht 4: Anforderungen an ein rationalesEinnahmensystem der Europäischen Union

Ökonomische - Berücksichtigung der nationalenKriterien Leistungsfähigkeit (Proportionalität)

- Verwendbarkeit für die interregionaleUmverteilung (Progressivität)

- Verwendbarkeit für stabilitätspolitischeZiele

- Vermeidung von Wettbewerbs-verzerrungen (grenzüberschreitendeexterne Effekte)

Juristische Kriterien - Eigenmittelsystem nach Art. 201 EG-Vertrag

- �Bündisches Prinzip des Einstehensfüreinander� � auch in der EU?

Integrationspolitische - Stärkung der (Einnahmen-)AutonomieKriterien der EU

- Stärkung der innergemeinschaftlichenSolidarität

- Konsensfähigkeit

Technische Kriterien - ausreichende und dauerhafte Ertrags-kraft (Umfang der entsprechendenEinnahmen)

- Erhebungsbilligkeit (einfacheErhebung)

- Entrichtungsbilligkeit- niedriger Harmonisierungsbedarf- geringe Beeinträchtigung der Ertrags-

kraft und Umverteilungskraft durchunterschiedliche nationale Steuermoral

- geringe Beeinträchtigung der nationa-len Steuerflexibilität

- geringe Beeinflussung des innerstaat-lichen vertikalen Finanzausgleichs

- Merklichkeit/Fühlbarkeit- Transparenz und Einfachheit

(politische Offensichtlichkeit)

Page 137: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

137

die Europäische Union setzt darüber hinaus klar definier-te Aufgaben für die supranationale Ebene der Europäi-schen Union voraus. Diese eindeutige Kompetenzzuwei-sung existiert � als Folge der sehr allgemein gehaltenenZiele � in der Europäischen Union aber nicht. Auch be-günstigt eine originäre Besteuerungskompetenz eine wei-tergehende Zentralisierung der Europäischen Union, wieauch der Vergleich der Erfahrungen Deutschlands undder Schweiz mit der Zuweisung der Besteuerungskom-petenz auf die unterschiedlichen staatlichen Ebenen na-helegt (Blankart, 1998b). Der präföderale Charakter derEuropäischen Union liefert auch keinen Anhaltspunkt füreine derartige Zubilligung staatlicher Souveränität, da diedirekte Kontrolle der Stimmbürger über eine europäi-sche Steuer unter den gegenwärtig existenten politischenStrukturen nicht gegeben wäre.

Für eine dezentrale Besteuerungskompetenz in derEuropäischen Union, d.h. für eine Ansiedlung der Kom-petenzen für die Steuergesetzgebung und für den primä-ren Steuerertrag auf der Ebene der Mitgliedsstaaten gibtes eine Reihe weiterer Argumente. Zu nennen sind zu-nächst unterschiedliche steuerliche Präferenzen der Indi-viduen in den Mitgliedsstaaten und damit verbunden dieExistenz von Informationsvorteilen seitens der Mitglieds-staaten. Darüber hinaus ist nach Caesar (1996, S. 165) dieBeitragsfinanzierung sowohl mit dem Äquivalenzprinzipvereinbar als auch aus Gründen der ökonomischen Effi-zienz zu präferieren. Daneben sprechen auch aus polit-ökonomischer Sicht Gründe für eine Beitragsfinanzierungder Europäischen Union. Im Sinne der Überlegungen vonBrennan und Buchanan (1980) schafft ein System von Fi-nanzzuweisungen ein labiles und somit nicht-institutiona-lisiertes Steuerkartell, da regelmäßig Verhandlungen zwi-schen den Mitgliedsstaaten über die Höhe der jeweiligenFinanzbeiträge erforderlich sind. Hierdurch läßt sich eineffektives Steuerkartell vermeiden und das Entstehen ei-nes europäischen Leviathans verhindern. Allerdings las-sen sich im Rahmen einer weitergehenden Analyse die inÜbersicht 4 genannten Kriterien zur Beurteilung eines ra-tionalen Einnahmensystems nicht ausschließen; diese Kri-

terien unterliegen jedoch einer politischen Gewichtungdurch die politischen Akteure der Mitgliedsländer.

Welcher Art sollen die Finanzbeiträge der Mitglieds-staaten sein? Kirchgässner (1994, S. 333f.) legt aus polit-ökonomischer Sicht dar, daß proportionale Steuern ge-eignet sind, den Besteuerungsstaat zu beschränken, da beidiesen Steuern im Gegensatz zu progressiven Steuern re-gelmäßig die Notwendigkeit eines parlamentarischenProzesses zur Anpassung der Steuersätze besteht. Pro-gressive Steuern stellen dagegen eine sprudelnde Steuer-quelle dar, die aufgrund kalter und warmer Progressionnicht nach oben angepaßt werden muß. Somit stellen pro-gressive Steuern ein höchst effektives Einfallstor für ei-nen einnahmenoptimierenden staatlichen Sektor dar. DieKontrolle des staatlichen Sektors ist somit bei proportio-nalen Steuern eher möglich. Damit sollten proportionale(indirekte) Steuern in einem föderalen Staat der höherenEbene zugewiesen werden, da diese Ebene eher schwe-rer durch Wahlen von den Bürgern kontrolliert werdenkann. Progressive Steuern werden demgegenüber derniedrigeren staatlichen Ebene zugewiesen, da dort derEinfluß der Stimmbürger größer ist.

Für die Europäische Union lassen sich auf der Grund-lage dieser Überlegungen folgende Erkenntnisse ziehen:Die Besteuerungskompetenz sollte bei den EU-Mitglieds-staaten verbleiben, die Aufgaben der Europäischen Uni-on sollten weiterhin durch Finanzzuweisungen finanziertwerden. Die Finanzzuweisungen können durch eine all-gemeine Verbrauchsteuer beziehungsweise allgemeineMehrwertsteuer mit unionsweit identischer Bemessungs-grundlage alimentiert oder proportional zum Bruttosozi-alprodukt der Mitgliedsländer ausgerichtet sein. Finanz-mittel für Umverteilungsmaßnahmen könnten durch dieErhebung einer europaweiten Mineralölsteuer oder einerCO2-Steuer finanziert werden (Kirchgässner, 1994,S. 334). Die eigentlichen Umverteilungsmaßnahmen soll-ten aber dezentral auf der Ebene der Mitgliedsstaatenangesiedelt sein.

Für den Haushalt der Europäischen Union gilt dasVerbot der Kreditaufnahme zur Deckung eigenen Be-

Page 138: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

138

darfs � d.h. es dürfen keine fiskalischen Kredite aufge-nommen werden. Die EU ist aber nicht unerheblich inGestalt von �Strukturkrediten� verschuldet; Quellen die-ser Schulden sind direkt eigene Anleihe- sowie Darlehens-operationen sowie indirekt Operationen der Europäi-schen Investitionsbank. Eine Lockerung der kurzfristigenBudgetrestriktion der Europäischen Union durch dieZubilligung einer Verschuldungskompetenz ist aus polit-ökonomischer Sicht nicht zu begrüßen und auch im Hin-blick auf die wohlfahrtsökonomisch relevanten Aufga-ben � wirtschaftliche Integrationsförderung und Abbauvon Mobilitätshemmnissen � nicht zu begründen (Blan-kart, 1996; Heinemann, 1995). Auch die bisher verdecktgenutzten Möglichkeiten der Kreditaufnahme sind zubeseitigen.

3 Interregionale Transfers im Dienste der Allokation?

Die Notwendigkeit interregionaler Transfers und da-mit eines Finanzausgleichs in der Europäischen Unionwird kontrovers diskutiert. Die unterschiedlichen Ansich-ten zu dieser Thematik beruhen teilweise auf unterschied-lichen Interpretationen bzw. Vorstellungen hinsichtlich desanzustrebenden Integrationsgrads der Europäischen Uni-on. So dürfte ein Finanzausgleich bei Existenz einer poli-tischen Union � beispielsweise im Sinne eines föderal aus-gestalteten (Bundes-)Staates � durchaus angebracht er-scheinen; eine nivellierende Ausgestaltung des Finanzaus-gleichs � beispielsweise in Form des bundesrepublikani-schen Systems � begründet jedoch keine Anreize für ei-nen Wettbewerb der Länder und ist somit nicht zu emp-fehlen (exemplarisch Homburg, 1994, 1997; Huber undLichtblau, 1997). Allerdings bleibt fraglich, ob die Euro-päische Union überhaupt mehr sein kann als eine Mini-malgemeinschaft mit Blick auf die Durchsetzung undSicherung des Binnenmarktes. So weist Thomas (1997,S. 5) � im Zusammenhang mit Überlegungen zum Fi-nanzausgleich � auf den Umstand hin, daß sich die Eu-ropäische Union aktuell in einem präföderalen Zustandbefindet, so daß die zwingend erforderlichen Vorausset-

zungen für ein föderatives Fiskalsystem in keiner Weisegegeben sind; zudem existieren keine Staatsbürger der Eu-ropäischen Union mit entsprechend homogenen Wert-vorstellungen (vertiefend Pechstein und König, 1998).

Es ist zu klären, inwieweit ein Finanzausgleich für dieEuropäische Union wohlfahrtsökonomisch gerechtfertigtist und welcher Ebene entsprechende Kompetenzen zuzu-weisen wären. Homburg (1997) analysiert die allokativenGründe für einen zwischenstaatlichen Finanzausgleich, derdurch eine ineffiziente Marktlösung bei der räumlichenVerteilung von Produktionsfaktoren � insbesondere in be-zug auf öffentliche Infrastruktur � motiviert sein könnte.Da die öffentlichen Güter aber überwiegend global rivalsind, ist ihre räumliche Verteilung im langfristigen Gleich-gewicht effizient. Allenfalls kurzfristig ist eine Abweichungvom Optimum aufgrund eines exogenen Schocks � soetwa in Gestalt einer vierzigjährigen sozialistischen Regie-rung � möglich. Homburg (1997, S. 81) gelangt daher zudem Ergebnis, daß keine stichhaltigen wohlfahrtsökono-mischen Gründe einen Finanzausgleich zur Erreichung dergesamtwirtschaftlichen Effizienz des Ressourceneinsatzesbegründen. Vielmehr führt ein derartiger Finanzausgleichzur Strukturkonservierung und ist mit negativen Anreizenverbunden. Ein distributionspolitisches Motiv kann ein be-stimmtes Ausmaß an reinen finanziellen Transfers in Ge-stalt eines transnationalen Finanzausgleichs begründen. Dashiermit korrespondierende Motiv stellt auf den unterstell-ten Umstand ab, �daß Fortschritte bei der wirtschaftlichenIntegration zu wachsenden Disparitäten führen, währendder politische und soziale Zusammenhalt der Union erfor-dere, daß solche Disparitäten nicht zu groß werden� (Doh-se und Krieger-Boden, 1998, S. 109). Neben die Kohäsiontreten räumliche externe Effekte als Begründung für einenzwischenstaatlichen Finanzausgleich (vgl. umfassend Tho-mas, 1997). Damit sollte ein Finanzausgleich in der Euro-päischen Union vorrangig die Erfüllung von Korrektiv-aufgaben zum Ziel haben, die sich aus nationalen oder ge-meinschaftlichen Zielen ableiten lassen.

Im Rahmen seiner umfangreichen Analyse gelangtThomas zur Erkenntnis, daß zwischenstaatliche Transfers

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Page 139: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

139

in der Europäischen Union durchaus begründbar sind;zu nennen wären beispielsweise die Bereitstellung öffent-licher Güter mit transnationalem Interesse, die Vermei-dung von ineffizienten Agglomerationen sowie die Ver-meidung räumlicher Disparitäten. In bezug auf die Fi-nanzausgleichsleistungen wird eine dezentrale Regelunggegenüber einer eigenständigen Finanzausgleichskompe-tenz der supranationalen Ebene präferiert, da diese demSubsidiaritätsprinzip entspricht.

Die aktuell in der Europäischen Union auf suprana-tionaler Ebene praktizierte Infrastruktur-, Forschungs-,Technologie- und Regionalpolitik ist aus dieser Sicht her-aus nicht gerechtfertigt. Durch diese Politik werden pri-mär Umverteilungsziele verfolgt und nicht unbedingt dieBereitstellung pan-europäischer Güter. Allokations- undDistributionsziele werden vermischt und hierdurch dieTransparenz behindert. Die mit den europäischen Trans-ferzahlungen verbundene politisch motivierte Umvertei-lung ist anscheinend der Preis der europäischen Integrati-on, den die wohlhabenden Staaten zu zahlen haben.

Auf der Grundlage dieser Betrachtung läßt sich einFinanzausgleich mit einer europäischen Finanzierungs-kompetenz nicht rechtfertigen. Notwendige zwischen-staatliche Transfers sind in Gestalt eines dezentralen Fi-nanzausgleichs auf der Ebene der Mitgliedsstaaten zuorganisieren; den Gemeinschaftsorganen obliegt dann le-diglich die Kontrolle und Koordination der Transferssowie die Durchführung und Verwaltung der Fonds. DieZweckbindung der Finanztransfers an allokative Sachpro-gramme bietet sich an. Mit einer Reform sollte zum einender Verzicht einer alle Länder umfassenden Regionalpoli-tik, zum anderen die Konzentration der Strukturfonds-ausgaben auf die ärmeren EU-Länder verbunden sein.

4 Steuerwettbewerb oder Koordination der nationalenFinanzpolitiken?

Die Verwirklichung des Binnenmarktes und der Über-gang in die Europäische Währungsunion verändernzwangsläufig die Spielräume der nationalen Steuerpolitik.

Sie muß mehr als bisher berücksichtigen, daß internatio-nal mobile Güter und Produktionsfaktoren sich bei rela-tiven Variationen der nationalen Steuern durch Wande-rungen anpassen. Der Standortwettbewerb, der nichtsanderes ist als die Konkurrenz der Staaten um internatio-nal mobile Produktionsfaktoren, wird damit insbeson-dere zum Wettbewerb der Steuersysteme. Ob ein derar-tiger Steuerwettbewerb aus allokativer Sicht wünschens-wert ist, wird kontrovers diskutiert. Regelmäßig wird aufdrohende fiskalische Externalitäten und ineffiziente Allo-kationsergebnisse abgehoben. Eine zentrale These beruhtauf der Unterstellung, daß bei Mobilität insbesondere desProduktionsfaktors Kapital eine Volkswirtschaft nur sub-optimal mit öffentlichen Gütern versorgt werden kann,wenn die nationalen Finanzpolitiken nicht koordiniert sind(Caesar, 1996; Fuest, 1996). Generell kann der mobileFaktor Kapital in der Situation des Steuerwettbewerbsder Besteuerung durch Wanderung entgehen.15  Da dieVolkswirtschaften jedoch Kapital benötigen, wird letzt-endlich ein Nash-Gleichgewicht realisiert, bei dem derFaktor Kapital zu gering besteuert wird und somit einesuboptimale Ressourcenallokation induziert. Generellführt der Steuerwettbewerb aber auch zu einer Umver-teilung von den immobilen zu den mobilen Faktorenund/oder zu einer Unterversorgung an öffentlichen Gü-tern (Sinn, 1994, 1995, 1997).

Der naheliegende Ausweg aus dieser Problematik desAusweichens mobiler Faktoren vor der Besteuerung liegtin der Steuerharmonisierung. Aufgrund der inhärentenFree-Rider-Problematik wäre allerdings ein Kartell zur

15 Sowohl die Besteuerung von Investitionen als auch die der Er-sparnisse kann an den Ausweichreaktionen nicht viel ändern(Huber, 1997, S. 244-247). Auch der Übergang zum Wohnsitz-landprinzip ist nicht hilfreich, da ausländische Kapitalerträgedieser Besteuerung leicht entzogen werden können. Die Dege-neration des Wohnsitzlandprinzips zur Besteuerung inländischerKapitalerträge ist nicht effizient. Somit dürfte, aus dieser theo-retischen Sicht heraus, der Steuersenkungswettlauf zu einerErosion der Kapitalsteuern führen.

Page 140: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

140

Harmonisierung der Kapitalbesteuerung instabil, so daßnur eine supranationale Koordination � d.h. eine Zentra-lisierung der Besteuerung � einen ruinösen Steuerwettbe-werb unterbinden könnte. Die Besteuerungskompetenzmüßte entsprechend der Mobilität der Faktoren zuge-wiesen werden � je höher die Mobilität eines Faktors,desto eher sollte er einer Gemeinschaftssteuer unterwor-fen werden. Daneben bietet sich als zusätzliche Koordi-nationsmaßnahme ein revenue sharing bezüglich der Steu-erquellen an, das alle Regierungen hinreichend mit Ein-nahmen versorgt.

Allerdings sollten vor der Entscheidung für Gemein-schaftssteuern empirische Befunde sowie weitere theore-tische Überlegungen Berücksichtigung finden. Empirischliegen zwar Indizen für einen Steuerwettbewerb vor, aberdieser ist weniger prägnant ausgeprägt, als es die voran-gegangenen theoretischen Ausführungen nahelegen. Soscheint die Mobilität der Produktionsfaktoren keine ex-treme Ausprägung zu haben (Feld und Kirchgässner, 1995;Kirchgässner und Pommerehne, 1996). Zwar ist Finanz-kapital extrem mobil, aber das für Investitionen relevante(Real-)Kapital weit weniger. Daneben tritt das empirischevidente Phänomen des Steuerexports. Es existieren An-reize zur Erhöhung der Kapitalbesteuerung, um so aus-ländische Direktinvestitionen zu belasten und hierdurchSteuerlasten zu exportieren. Voraussetzung für den fiska-lischen Erfolg dieser Politikmaßnahmen ist jedoch, daßdie ausländischen Direktinvestitionen im Inland intramar-ginale Renten erzielen, was bei Investitionen von multi-nationalen Unternehmen plausibel ist. Auch Doppelbe-steuerungsabkommen mindern anscheinend die Gefah-ren des Steuerwettbewerbs. Vor diesem Hintergrund kanndie These, daß die zunehmende ökonomische Integrati-on den Steuerwettbewerb verschärft, zwar nicht als wi-derlegt gelten; doch darf bezweifelt werden, daß dieserSteuerwettbewerb zu ineffizient niedrigen Steuersätzenauf Kapital führt (Huber, 1997, S. 250f.). Auf politöko-nomische Überlegungen zur Beschränkung eigennützigerpolitischer Entscheidungsträger (vgl. Frey und Eichenber-ger, 1996) sei an dieser Stelle lediglich hingewiesen, eben-

so auf die wachstumstheoretischen wie -politischen Im-plikationen einer veränderten Grenzbelastung durch dieVeränderung der Kapitalsteuersätze.

Gegen die Theorie vom übermäßig verschärften Steu-erwettbewerb sprechen im übrigen auch nutzentheoreti-sche Argumente. Die Attraktivität eines Standortes hängtkeineswegs alleine vom Steuerpreis ab, sondern auch vonder Gegenleistung in Gestalt der öffentlich bereitgestell-ten Infrastruktur. Darüber hinaus ist selbst die Harmoni-sierung der Unternehmenssteuern nicht frei von Verzer-rungen; da bei einer Harmonisierung der Unternehmens-steuern die Regierungen an Souveränität und damit fiska-lischen Gestaltungsspielraum verlieren, wird der Stand-ortwettbewerb unter Einsatz anderer nicht effizienter Po-litikbereiche fortgesetzt (Fuest, 1996, S. 174f.). Somit be-seitigt letztendlich die Steuerharmonisierung nicht die ver-meintlichen Wettbewerbsverzerrungen, sondern es wer-den neue Verzerrungen geschaffen, die allerdings wenigeroffensichtlich sind. Unternehmen sollten generell dortSteuern entrichten, wo sie produzieren und somit die öf-fentliche Infrastruktur in Anspruch nehmen. Darüber hin-aus sollte ein Übergang zum Äquivalenzprinzip stattfin-den und Gebühren für die Inanspruchnahme der öffent-lich bereitgestellten Infrastrukturleistungen erhoben wer-den.

Bestärkt wird diese Sicht noch durch die geringenErfolgsaussichten einer Koordination der nationalen Steu-erpolitik (Huber, 1997). Eine internationale Steuerkoor-dination ist aufgrund unterschiedlicher Ziele der Natio-nen kaum durchsetzbar. Demgegenüber erscheint eineSteuerkoordination beziehungsweise -harmonisierung inder Europäischen Union aus der juristischen Perspektiveweitaus einfacher, da deren Erzwingung auf der Basisdes geltenden europäischen Rechts sowie angesichts dergemeinschaftsorientierten Entscheidungen des Europäi-schen Gerichtshofs möglich ist, sofern durch den Steuer-wettbewerb das Funktionieren des Binnenmarktes gefähr-det ist. Es existieren bereits Überlegungen zur Besteue-rung der Zinseinkünfte privater Haushalte; eine Koordi-nation würde entweder den Austausch von Informatio-

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Page 141: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

141

nen zwischen den nationalen Steuerbehörden oder aberdie Einführung einer Quellensteuer mit Mindeststeuer-satz erfordern. Die Gefahr der Kapitalabwanderung ausder Europäischen Union wäre dann jedoch evident. Da-neben ist fraglich, ob Koordinationsregelungen überhauptdurchsetzbar sind, da die nationalen Steuerbehörden dieAuskunftspflicht durchaus unterlaufen könnten. Auchdurch eine Veränderung der Abschreibungsbedingungenläßt sich die Zinsbesteuerung aushebeln. Eine effektiveUmsetzung würde daher die Harmonisierung der gesam-ten Unternehmensbesteuerung erfordern. Das ist nicht zuerwarten. Unabhängig davon könnte eine umfassende Re-form mit einem Übergang zu einer Cash-flow-Besteue-rung entsprechend den Überlegungen von Sinn (1985)aus wachstumstheoretischen Überlegungen heraus förder-lich sein.

4 Eine abschließende Bemerkung

Die Europäische Union hat den Integrationsgrad ei-nes Staatenbundes überschritten, aber denjenigen einesBundesstaates noch längst nicht erreicht. Sie ist im Laufeder Zeit durch die EU-Mitgliedsstaaten mit nicht uner-heblichen Kompetenzen ausgestattet worden. Der hier-durch den politischen Akteuren auf EU-Ebene zugebil-ligte Ordnungsrahmen ist äußerst großzügig dimensio-niert und eröffnet entsprechende diskretionäre Handlungs-spielräume. Daneben leidet der politische Entscheidungs-prozeß an mangelnder Effizienz, da die Rückkopplungmit den Präferenzen der Individuen recht vage bleibt (Le-schke, 1996; Pies, 1996). Das vielfach beklagte Demo-kratiedefizit ist durch die Konstruktion der politischen In-stitutionen der Europäischen Union bedingt und spiegeltim wesentlichen die unzureichenden Kontrollmöglichkei-ten wider. Diese lassen sich auch nicht durch eine Stär-kung des Europäischen Parlamentes beseitigen, da dieses� angesichts des Fehlens eines europäischen Staatsvolkes� selbst nur unzureichend legitimiert ist. Daher ist zur Ver-meidung weiterer ineffizienter kollektiver Entscheidun-

gen auf der supranationalen Ebene eine Reform der po-litischen Institutionen erforderlich, die auf eine abgeleite-te Legitimation herauslaufen. In diesem Kontext sind vorallem die aktuellen politischen Kompetenzzuweisungspro-zesse zu überdenken und gravierend zu reformieren; dennsie ermöglichen es der supranationalen Ebene, Kompe-tenzen an sich zu ziehen, die im Sinne des Subsidiaritäts-prinzips sowie im Licht der ökonomischen Theorie desFöderalismus in den Verantwortungsbereich der Natio-nalstaaten beziehungsweise ihrer Gebietskörperschaftengehören. Vor allem die deutschen Bundesländer sind vondiesem dynamischen Prozeß der Kompetenzzuweisungauf die europäische Ebene negativ betroffen, da dieserunter anderem den bundesrepublikanischen Föderalismusbeeinträchtigt und somit vor allem den Handlungsspiel-raum der deutschen Bundesländer einengt (Scharpf, 1992;Klatt, 1998; Laufer und Münch, 1998).

Von besonderer Relevanz sind die europäischen sozi-alpolitischen Maßnahmen, die weitgehend in den Kom-petenzbereich der Mitgliedsstaaten gehören, sowie die Fi-nanzverfassung, da diese u.a. die Besteuerungskompeten-zen festlegt. Generell sollte die Europäische Union wei-terhin durch Finanzzuweisungen der Mitgliedsstaaten fi-nanziert werden, da als Folge der hiermit verbundenenregelmäßigen Verhandlungen der Mitgliedsstaaten eineKontrolle der Ausgaben gewährleistet ist und die Indivi-duen vor übermäßiger Besteuerung sicher sind.

Die Sicherung eines quasi-föderalistischen Staatsauf-baus muß Priorität genießen, da dieser den Individuensowohl eine Abstimmung mit den Füßen als auch dieArtikulation ihrer Präferenzen bei Wahlen garantiert. Dereuropäische Integrationsprozeß bestreitet eine Gratwan-derung zwischen der wohlfahrtssteigernden Bereitstellungeines öffentlichen Gutes durch die Schaffung europaver-bindlicher Regelungen für die Mitgliedsstaaten der Euro-päischen Union und der Gefahr einer Überregulierungund somit der Einschränkung der individuellen Freiheit,die wiederum die Wohlfahrt der Individuen mindert.

Die individuelle Freiheit ist der Grundstein für eineprosperierende Gesellschaft. Diese Freiheit gilt es zu er-

Page 142: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

142

halten und zu stärken. Eine ordnungspolitisch ausgerich-tete Sozial- und Finanzverfassung � die wiederum einenkompetitiven Föderalismus gewährleistet � ist ein unver-zichtbarer Schritt zur Sicherung der individuellen Freiheit.

Literatur

Apolte, Thomas (1996): Vertikale Kompetenzverteilung in der Uni-on. In: Manfred E. Streit und Stefan Voigt (Hg.): Europa reformie-ren: Ökonomen und Juristen zur zukünftigen Verfaßtheit Euro-pas, Band 4 von Contributiones Jenenses, S. 13-29. Baden-Ba-den: Nomos.

Biehl, Dieter (1991): Die EG-Finanzverfassung: Struktur, Mängelund Reformmöglichkeiten. In: Rudolf Wildenmann (Hg.): Staats-werdung Europas? Optionen für eine Europäische Union,S. 355-391. Baden-Baden: Nomos.

Biehl, Dieter (1994): Zur ökonomischen Theorie des Föderalismus:Grundelemente und ihre Anwendung auf die EU-Finanzunion.In: Heinrich Schneider und Wolfgang Wessels (Hg.): Föderale Uni-on � Europas Zukunft?, S. 99-122. München: Beck.

Blankart, Charles B. (1996): The European Union�s Debt Question:A Conceptional Viewpoint. Constitutional Political Economy 7,S. 257-265.

Blankart, Charles B. (1998a): Öffentliche Finanzen in der Demokra-tie. München: Vahlen, 3. Auflage.

Blankart, Charles B. (1998b): Zur Politischen Ökonomie der Zentra-lisierung der Staatstätigkeit. Discussion Paper 108, Wirtschafts-wissenschaftliche Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin,Berlin.

Brennan, Geoffrey und Buchanan, James M. (1980): The Power to Tax.Analytical Foundations of a Fiscal Constitution. Cambridge,New York & Melbourne: Cambridge University Press.

Brennan, Geoffrey und Buchanan, James M. (1985): The Reason of Ru-les. Constitutional Political Economy. Cambridge, New York &Melbourne: Cambridge University Press.

Breyer, Friedrich und Kolmar, Martin (1996): Social Policy in a Com-mon Market: Labour Market, Social Arbitrage, and Public Fi-nance. In: Robert Holzmann (Hg.): Maastricht: Monetary Consti-tution without a Fiscal Constitution?, S. 129-152. Baden-Baden:Nomos.

Busch, Berthold (1998): Zur künftigen Finanzierung der Europäi-schen Union, Band 242 von Beiträge zur Wirtschafts- und So-zialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft. Köln: Deut-scher Instituts-Verlag.

Caesar, Rolf (1996): Zur Reform des Einnahmensystems der Euro-päischen Union. In: Werner Zohlnhöfer (Hg.): Europa auf dem

Wege zur Politischen Union? Probleme und Perspektiven dereuropäischen Integration vor �Maastricht II�, Band 247 vonSchriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., S. 145-173. Berlin:Duncker & Humblot.

Cornes, Richard und Sandler, Todd (1996): The Theory of Externali-ties, Public Goods and Club Goods. Cambridge, New York &Melbourne: Cambridge University Press, 2. Auflage.

Dohse, Dirk und Krieger-Boden, Christiane (1998): Währungsunion undArbeitsmarkt. Auftakt zu unabdingbaren Reformen. Tübingen:Mohr-Siebeck.

Donges, Juergen B., Eekhoff, Johann, Hamm, Walter, Möschel, Wernhard,Neumann, Manfred J.M. und Sievert, Olaf (1996): Sozialunion fürEuropa?, Band 31 von Schriftenreihe des Frankfurter Instituts.Bad Homburg: Frankfurter Institut � Stiftung Marktwirtschaftund Politik.

Donges, Juergen B., Eekhoff, Johann, Möschel, Wernhard, Neumann, Man-fred J.M. und Sievert, Olaf (1998): Osterweiterung der Europäi-schen Union. Als Chance zur Reform begreifen, Band 33 vonSchriftenreihe des Frankfurter Instituts. Bad Homburg: Frank-furter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und Politik.

Eichenhofer, Eberhard (Hg.) (1993). Reform des Europäischen koor-dinierten Sozialrechts. Köln, Berlin & Bonn: Heymann.

Europäische Kommission (1997): Agenda 2000. For a Stronger andWider Union. Communication of the Commission 15 July1997, Europäische Kommission, Strasbourg.

Europäische Kommission (1998): Die Finanzierung der Europäi-schen Union. Bericht der Kommission über das Funktionierendes Eigenmittelsystemes. Kommissionsbericht vom 7. Oktober1998, Europäische Kommission, Brüssel.

European Constitutional Group (1993): A Proposal for a EuropeanConstitution. Report by the European Constitutional Group,European Policy Forum, London.

Feld, Lars P. und Kirchgässner, Gebhard (1995): Fiskalischer Wettbe-werb in der Europäischen Union: Wird der Wohlfahrtsstaat zu-sammenbrechen? Wirtschaftsdienst 75: 563-567.

Folkers, Cay (1994): Die Kompensationsfunktion des EuropäischenHaushalts. Diskussionsbeiträge 4, Institut für Europäische Wirt-schaft, Bochum.

Frey, Bruno S. und Eichenberger, Rainer (1996): To Harmonize or toCompete? That�s not the Question. Journal of Public Econo-mics 60: 335-349.

Frey, Bruno S. und Kirchgässner, Gebhard (1994): DemokratischeWirtschaftspolitik. München: Vahlen, 2. Auflage.

Fuest, Clemens (1996): Zur Reform der EU-Fiskalverfassung. In:Manfred E. Streit und Stefan Voigt (Hg.): Europa reformieren:Ökonomen und Juristen zur zukünftigen Verfaßtheit Europas,Band 4 von Contributiones Jenenses, S. 166-178. Baden-Baden:Nomos.

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Page 143: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

143

Genser, Bernd (1997): Auf der Suche nach einer föderalen Finanz-verfassung für Europa. In: Hans-Jürgen Vosgerau (Hg.): Zentrumund Peripherie � Zur Entwicklung der Arbeitsteilung in Euro-pa, Band 250 von Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F.,S. 101-127. Berlin: Duncker & Humblot.

Genser, Bernd und Haufler, Andreas (1996): Tax Competition, TaxCoordination and Tax Harmonisation: The Effects of EMU. In:Robert Holzmann (Hg.): Maastricht: Monetary Constitution with-out a Fiscal Constitution?, S. 83-114. Baden-Baden: Nomos.

von Hagen, Jürgen (1998): Budgeting Institutions for Aggregate Fis-cal Discipline. ZEI Policy Papers B98-01, Zentrum für Euro-päische Integrationsforschung, Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Bonn.

Heinemann, Friedrich (1995): Die Finanzverfassung und Kompetenz-ausstattung der Europäischen Union nach Maastricht. Eine fi-nanzwissenschaftliche Soll-Ist-Analyse, Band 5 von Schriftenrei-he des ZEW. Baden-Baden: Nomos.

Henke, Klaus-Dirk (1981): Die Finanzierung der Europäischen Ge-meinschaften � Zur integrationsfördernden Fortentwicklungder europäischen Einnahmesysteme. In: Dieter Pohmer (Hg.):Probleme des Finanzausgleichs III. Finanzausgleich im Rahmender Europäischen Gemeinschaften, Band 96/III von Schriftendes Vereins für Socialpolitik, N.F., S. 11-83. Berlin: Duncker &Humblot.

Henke, Klaus-Dirk (1997): Die Finanzierung der EU. Wirtschafts-dienst 77: 45-49.

Henke, Klaus-Dirk und Schaub, Vanessa Elisabeth (1998). Daseinsvor-sorge für die Zeiten von Krankheit und Alter. SteuerlicheAspekte, Portabilität von Ansprüchen und Konsumentenschutzals europäische Herausforderung. In: Konrad Morath (Hg.): Ver-läßliche soziale Sicherung, S. 177-198. Bad Homburg: Frankfur-ter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und Politik.

Hirschman, Albert O. (1970): Exit, Voice and Loyalty. Responses toDecline in Firms, Organizations, and States. Cambridge, MAund London: Harvard University Press.

Homburg, Stefan (1994): Anreizwirkungen des deutschen Finanzaus-gleichs. Finanzarchiv, N.F. 51: 312-330.

Homburg, Stefan (1997): Ursachen und Wirkungen eines zwischen-staatlichen Finanzausgleichs. In: Alois Oberhauser (Hg.): Fiskal-föderalismus in Europa, Band 253 von Schriften des Vereins fürSocialpolitik, N.F., S. 61-95. Berlin: Duncker & Humblot.

Huber, Bernd (1997): Der Steuerwettbewerb: Gefahr oder Chance?List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 23: 242-256.

Huber, Bernd und Lichtblau, Karl (1997): Systemschwächen des Fi-nanzausgleichs � Eine Reformskizze. IW-Trends (Heft 4): 1-21.

Kirchgässner, Gebhard (1994): Constitutional Economics and Its Re-levance for the Evolution of Rules. Kyklos 47: 321-339.

Kirchgässner, Gebhard und Pommerehne, Werner W. (1996): Tax Har-monization and Tax Competition in the European Community:Lessons from Switzerland. Journal of Public Economics 60:351-371.

Klatt, Hartmut (1998): Europapolitik im föderalstaatlichen Systemder Bundesrepublik. Staatswissenschaften und Staatspraxis 9:45-84.

Kolmar, Martin (1997): Zur Effizienz nationaler Versicherungssyste-me in der Europäischen Union. Discussion Paper 341, Univer-sität Konstanz � Sonderforschungsbereich 178: Internationali-sierung der Wirtschaft, Konstanz.

Laufer, Heinz und Münch, Ursula (1998): Das föderative System derBundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich.

Lejour, Arjan M. und Verbon, Harrie A.A. (1994): Labour Mobilityand Decision Making on Social Insurance in an Integrated Mar-ket. Public Choice 79: 161-185.

Leschke, Martin (1996): Zur institutionellen Ausgestaltung der Eu-ropäischen Union. In: Manfred E. Streit und Stefan Voigt (Hg.):Europa reformieren: Ökonomen und Juristen zur zukünftigenVerfaßtheit Europas, S. 100-112. Baden-Baden: Nomos.

Maunz, Theodor und Zippelius, Reinhold (1998): Deutsches Staatsrecht.München: Beck, 30. Auflage.

Mueller, Dennis C. (1997): Federalism and the European Union: AConstitutional Perspective. Public Choice 90: 255-280.

Musgrave, Richard A. (1959): The Theory of Public Finance. NewYork: McGraw-Hill.

Nowotny, Ewald (1997): Zur regionalen Dimension der Finanzverfas-sung der EU - gegenwärtiger Stand und Perspektiven. In: AloisOberhauser (Hg.): Fiskalföderalismus in Europa, Band 253 vonSchriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., S. 97-145. Berlin:Duncker & Humblot.

Oates, Wallace (1972): Fiscal Federalism. New York: Harcourt Bra-ce Jovanovich.

Olson, Mancur (1969): The Principle of �Fiscal Equivalence�. TheDivision of Responsibilities Among Different Levels of Go-vernment. American Economic Review � Papers and Procee-dings 59: 479-487.

Pechstein, Matthias und Koenig , Christian (1998): Die EuropäischeUnion. Die Verträge von Maastricht und Amsterdam. Tübingen:Mohr-Siebeck, 2. Auflage.

Peffekoven, Rolf (1994): Die Finanzen der Europäischen Union.Mannheim: B.I.Bverlag.

Persson, Torsten und Tabellini, Guido (1998): The Size and Scope ofGovernment: Comparative Politics with Rational Politicians.Working Papers 137, IGIER, Universita Bocconi, Mailand.

Piepenschneider, Melanie (1997): Einleitung: Begriffe, Zeitplan undRahmenbedingungen der Diskussion um die Finanzierung derEU. In: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Das Finanzsystem der

Page 144: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

144

EU: Neue Ansätze und Perspektiven, Band 142 von InterneStudien, S. 15-22. Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Pies, Ingo (1996): Vertrag oder Verfassung? � Institutionenökonomi-sche Perspektiven für die Europäische Union. In: Manfred E.Streit und Stefan Voigt (Hg.), Europa reformieren: Ökonomenund Juristen zur zukünftigen Verfaßtheit Europas, Band 4 vonContributiones Jenenses, S. 32-47. Baden-Baden: Nomos.

Scharpf, Fritz W. (1992): Europäisches Demokratiedefizit und deut-scher Föderalismus. Staatswissenschaften und Staatspraxis 3:293-305.

Schmähl, Winfried (1990): Soziale Sicherung in Deutschland und derEG-Binnenmarkt � Anmerkungen aus ökonomischer Sicht. In:Winfried Schmähl (Hg.): Soziale Sicherung im EG-Binnenmarkt:Aufgaben und Probleme aus deutscher Sicht, S. 11-38. Baden-Baden: Nomos.

Schneider, Friedrich (1998): Einige grundlegende Elemente einer eu-ropäisch-föderalen Verfassung unter Zuhilfenahme der konstitu-tionellen ökonomischen Theorie. Arbeitspapier 9807, Institutfür Volkswirtschaftslehre an der Johannes Kepler UniversitätLinz, Linz.

Siebert, Horst (Hg.) (1996): Sozialpolitik auf dem Prüfstand. Leitli-nien für Reformen. Tübingen: Mohr-Siebeck.

Sinn, Hans-Werner (1985): Kapitaleinkommensbesteuerung. EineAnalyse der intertemporalen, internationalen und intersektora-len Allokationswirkungen. Tübingen: Mohr-Siebeck.

Sinn, Hans-Werner (1994): Wieviel Brüssel braucht Europa? Subsidia-rität, Zentralisierung und Fiskalwettbewerb im Lichte der öko-nomischen Theorie. Staatswissenschaften und Staatspraxis 5:155-186.

Sinn, Hans-Werner (1995): Implikationen der vier Grundfreiheitenfür eine nationale Fiskalpolitik. Wirtschaftsdienst 75: 240-249.

Sinn, Hans-Werner (1997): Das Selektionsprinzip und der System-wettbewerb. In: Alois Oberhauser (Hg.): Fiskalföderalismus inEuropa, Band 253 von Schriften des Vereins für Socialpolitik,N.F., S. 9-60. Berlin: Duncker & Humblot.

Stark, Jürgen (1997): Finanzierung der Europäischen Union: Rück-blick, Zwischenbilanz und Ausblick. In: Konrad-Adenauer-Stif-tung (Hg.): Das Finanzsystem der EU: Neue Ansätze und Per-spektiven, Band 142 von Interne Studien, S. 23-34. Sankt Au-gustin: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Thomas, Ingo P. (1997): Ein Finanzausgleich für die EuropäischeUnion? Eine allokationstheoretische und fiskalföderalistischeAnalyse. Tübingen: Mohr-Siebeck.

Tiebout, Charles M. (1956): A Pure Theory of Local Expenditures.Journal of Political Economy 64: 416-424.

Vaubel, Roland (1995): Social Regulation and Market Integration: ACritique and Public Choice Analysis of the Social Chapter. Au-ßenwirtschaft 50: 111-132.

Welter, Patrick (1996): Die Europäische Sozialunion: NotwendigerBestandteil des Binnenmarktes oder Verletzung des Subsidiari-tätsgebots? In: Manfred E. Streit und Stefan Voigt (Hg.): Europareformieren: Ökonomen und Juristen zur zukünftigen Verfaßt-heit Europas, Band 4 von Contributiones Jenenses, S. 202-216.Baden-Baden: Nomos.

Wicksell, Knut (1896): Finanztheoretische Untersuchungen nebstDarstellung und Kritik des Steuerwesens Schwedens. Jena: G.Fischer.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten (1998): Kompetenzverteilung fürdie Agrarpolitik in der EU, Band 468 von Schriftenreihe desBundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und For-sten. Reihe A: Angewandte Wissenschaft. Bonn: Köllen Druck+ Verlag GmbH.

Zimmermann, Horst und Henke, Klaus-Dirk (1994): Finanzwissen-schaft. Eine Einführung in die Lehre von der öffentlichen Fi-nanzwirtschaft. München: Vahlen, 7. Auflage.

Klaus-Dirk Henke und Oliver D. PerschauFöderalismus im zusammenwachsenden EuropaAspekte einer europäischen Sozial- und Finanzverfassung

Page 145: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

145

Zehn Thesen zur Zentralisierungder Staatstätigkeit

Charles B. Blankart

Das Wunschbild vieler Menschen ist das eines dezen-tralen Staates, in dem die Entscheidungskompetenzendem Subsidiaritätsprinzip folgend zunächst auf der klein-sten politischen Ebene angesiedelt sind. Nur wenn zwin-gende Gründe vorhanden sind, darf die nächsthöhereEbene in Anspruch genommen werden, und nur wennauch diese Ebene versagt, darf in Ausnahmefällen diehöchste Ebene, der Bund, bzw. eine supranationale Ebe-ne wie die Europäische Union mit einer Aufgabe betrautwerden. Darüber besteht im Grundsatz Konsens. Eswäre daher zu erwarten, daß die Politiker alles daran set-zen, die Autonomie der dezentralen Gebietskörperschaf-ten zu wahren und zu fördern.

Die Realität sieht anders aus. In Deutschland habenBundesgesetze die Landesgesetze und kommunalen Re-gelungen sowohl auf der Aufgaben- und Ausgabenseitewie auf der Einnahmenseite des Staatshaushalts weitge-hend ersetzt. Unter dem Deckmantel des �kooperativenFöderalismus� hat sich faktisch ein Zentralismus durch-gesetzt, mit dem viele Menschen nicht mehr einverstan-den sind. Eine Reform des Föderalismus im Bundesstaatwird daher weitherum befürwortet. Doch bevor Maß-nahmen vorgeschlagen und möglicherweise auch durch-geführt werden, sollte erklärt werden, weshalb es zu demheutigen Zentralismus gekommen ist. Erst dann kann einesinnvolle Therapie entwickelt werden. Im folgendenmöchte ich in zehn Thesen den Weg von der Analyse zurReform darstellen.

1 Zentralisierung der Staatstätigkeit: EineFrage der Kompetenzen

Die schleichende Zentralisierung der Staatstätigkeitwurde lange Zeit nicht erkannt, weil die Machtverteilungan den von Bund, Ländern und Gemeinden getätigten

Ausgaben und den ihnen zugeteilten Steuererträgen ge-messen wurde. Nach diesen Kennziffern hat sich die rela-tive Bedeutung der drei Ebenen in Deutschland in denvergangenen 50 Jahren nicht wesentlich verändert. Dochdie Einnahmen und Ausgaben einer Ebene gehen viel-fach auf Beschlüsse einer übergeordneten Ebene zurück.Daher sollte Zentralisierung nicht an den Budgets, son-dern an der Verteilung der Kompetenzen, über Einnah-men und Ausgaben zu beschließen, gemessen werden.Bei Betrachtung der Kompetenzen läßt sich in den ver-gangenen 50 Jahren eine beträchtliche Zentralisierung fest-stellen. Dies zeigt ein Vergleich des Grundgesetzes von1949 mit dem von 1999.

Das 1949er Grundgesetz baute auf dem Grundsatzder Länderautonomie auf. Dem Bund oblag subsidiärdie Aufgabe, die übergeordneten Belange wahrzuneh-men, d.h. nationale öffentliche Güter bereitzustellen, z.B.die Außenpolitik zu betreiben, und im übrigen insbeson-dere die Freizügigkeit zwischen den Ländern zu sichern.So werden in Art. 73 GG a. F. der freie Verkehr vonPersonen, Kapital, Gütern und Dienstleistungen genannt.Hinzu kommen die einheitliche Währung sowie Maß undGewicht und das bundesweite Verkehrsnetz zu Lande,zu Wasser und in der Luft. Eine Reihe weiterer Aufgabenwurden dem Bund unter Bedürfnisvorbehalt nach Art.72 Abs. 2 GG zugewiesen.

Auch die Einnahmenseite der öffentlichen Haushaltewar im 1949er Grundgesetz im wesentlichen dezentral or-ganisiert. Nach dem Trennsystem erhielten Bund und Län-der zur Bestreitung ihrer Aufgaben separate Steuerquellenzugeteilt. Dem Bund kamen nebst den Zöllen die Umsatz-und Verbrauchsteuererträge, den Ländern die Einkom-men-, Körperschaft-, Vermögen- und Erbschaftsteuerer-träge zu (Art. 106 Abs. 1 und 2 GG a. F.). Die Gesetzge-bungshoheit folgte grundsätzlich der Ertragshoheit, wobeiallerdings dem Bund nach Art. 105 Abs. 2 GG a. F. die

Page 146: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

146

konkurrierende Gesetzgebungshoheit insbesondere überdie Einkommen- und Körperschaftsteuer zustand.1

Das 1999er Grundgesetz zeigt demgegenüber einganz anderes Bild. Bei den Staatsaufgaben wurde nichtnur die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz durchden Bund vollumfänglich ausgeschöpft. Auch eine Reiheneuer Bundesaufgaben, z.B. die umstrittenen Gemein-schaftsaufgaben, wurden geschaffen. Auf der Einnah-menseite wurde aus dem Trennsystem ein umfassendesVerbundsystem von Bund und Ländern, das neben derUmsatzsteuer auch die Einkommen- und Körperschaft-steuer umfaßt. Vermögen-, Erbschaft- und Kfz-Steuerverblieben den Ländern, wurden aber bundesgesetzlichgeregelt. Nur die Hebesätze der Gewerbe- und Grund-steuern verblieben in der Gemeindeautonomie. Schließ-lich wurden alle Länder in das Prokrustesbett des Finanz-ausgleichs gelegt, das ihre Abweichung von der bundes-durchschnittlichen Finanzausstattung auf 0,5% limitierte.

2 Zentralisierung � ein Machtkampf?

Vielfach wird gesagt, zur Zentralisierung sei es gekom-men, weil der Bund die Länder aus ihren Zuständigkeitenverdrängt habe. Ein solches Szenario paßt in einen abso-lutistischen Staat, in dem der Herrscher seine Macht aus-dehnt, indem er sich die lokalen und regionalen politi-schen Kräfte (Adel, Geistlichkeit, Bürgertum) unterwirft.Doch in einem demokratischen Bundesstaat gibt es keineabsolutistische Zentralmacht. Ein solcher Staat ist vonunten nach oben aufgebaut. Die Politiker des Bundes, d.h.von Bundestag und Bundesrat, werden dezentral in Wahl-kreisen gewählt bzw. von den dortigen Regierungen be-stimmt. Sie entscheiden aufgrund ihrer lokalen und re-gionalen Interessen über die Zentralisierung. Der Bundselbst ist kein individualisiertes Organ, das in Verfolgungeigener Ziele einen Machtkampf gegen die Interessen derLänder führt. Wer Zentralisierung verstehen will, muß dieVerhaltensweisen der dezentral gewählten Politiker undihrer gemeinsamen Aktionen zu erklären versuchen.

Die folgenden Ausführungen gehen daher mehr voneiner �push-Theorie� der Zentralisierung aus, deren Anstoßvon den unteren Gebietskörperschaften herkommt, alsvon einer �pull-Theorie�, deren Initiative zur Zentralisie-rung vom Zentralstaat ausgeht.2

1 Demgegenüber wird die Meinung vertreten, daß die Gesetzge-bungshoheit des Bundes über diese beiden Steuern von den Län-dern gar nicht in Frage gestellt werden konnte, sondern durchArt. 125 GG schon von Anfang an dem Bund zugewiesen wur-de. Nach Art. 125 GG werde früheres Reichsrecht automatischzu Bundesrecht, wenn es Gegenstände der konkurrierenden Ge-setzgebung betrifft und nach dem 8. Mai 1945 angewandt oderabgeändert worden ist. Dies treffe u.a. für die Einkommen- undKörperschaftsteuer zu. So urteilt auch der Bonner Kommentarzu Art. 125. Dies scheint jedoch nicht unumstritten. Maunz/Dürig argumentieren in ihrem Grundgesetzkommentar differen-zierter. Sie schließen insbesondere nicht aus, �daß Art. 125 nureingreift, wenn der Bund zuständig ist, und daß er nur zustän-dig ist, wenn Art. 72 II erfüllt ist...� (Art. 125 Rz. 3). Ob letz-teres der Fall ist, ist vom Bundesgesetzgeber und gegebenenfallsvom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen (Art. 72, Rz. 16und 17). Daß die herrschende Lehre es gelten läßt � so fahrenMaunz/Dürig fort -, daß aus �praktischen Überlegungen� aufeine Prüfung nach Art. 72 Abs. 2 verzichtet wird, sei vertret-bar. Bei dieser letzteren Interpretation stellt sich allerdings dieFrage, ob ein derart zentrales Problem wie das einer föderalisti-schen oder unitarischen Besteuerung (auch aus der Sicht vonArt. 20 Abs. 2 GG) einfach nach empfundener Praktikabilitätgeregelt werden kann, oder ob nicht die Frage, wie ein födera-listisches im Vergleich zu einem zentralistischen Steuersystemfunktioniert, welche Vor- und Nachteile es aufweist, einer nä-heren Überlegung wert wäre. Die Finanzwissenschaft kommtda zu differenzierteren Ergebnissen.Im Rahmen der vorliegenden Analyse spielen allerdings nicht sosehr die Details dieser Exegese eine Rolle, sondern es ist die Fra-ge von Bedeutung, warum sich die These eines aprioristischenRegelungsbedarfs durch den Bund durchgesetzt hat, zumal esanscheinend verschiedene Interpretationen von Art. 125 gibt.Die Bundesländer haben sich der Zentralisierung nicht entge-gengestellt und auch keine Prüfung verlangt. Auf ihre Steuer-autonomie nach Art. 105 Abs. 2 haben sie offenbar keinen grö-ßeren Wert gelegt. Dies ist mit der (noch näher darzulegenden)Kartellhypothese durchaus vereinbar.

2 Eine pull-Theorie dürfte in einer modernen bundesstaatlichenDemokratie eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Sie wäre

Charles B. BlankartZehn Thesen zur Zentralisierung der Staatstätigkeit

Page 147: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

147

3 Zentralisierung der Steuern: Ein Kartell

Eine alternative Erklärung für die zunehmende Zen-tralisierung stellt die Kartellhypothese dar. Angewandt aufdie Einnahmenseite der öffentlichen Haushalte besagt sie,daß Länderpolitiker bestrebt sind, ihre Steuern durch kar-tellistische Absprachen mit Politikern anderer Länder ab-zusichern. Da aber Kartelle inhärent instabil sind, bedür-fen sie einer Absicherung von außen. Dies leistet die Bun-desgesetzgebung. Sie ersetzt die Länderautonomie undmacht damit die Kartellbesteuerung für alle Länder zurPflicht.

4 Steuerkartelle erfordern Ertragsaufteilungs-regeln

Steuerkartelle sind, wie andere Kartelle, Ergebnis ei-ner gemeinsamen Aktion der Kartellmitglieder. JedesKartellmitglied muß sich den gemeinsamen Regeln un-terwerfen; es trägt so zum gemeinsamen Ertrag bei. Dochwie bedeutend sein Beitrag ist und wie stark es daher amErtrag teilhaben sollte, läßt sich ex post nicht mehr fest-stellen. Die Zurechnung des Ertrags auf die einzelnenMitglieder ergibt sich nicht aus dem Kartell. Hierfür be-darf es kollektiver Ertragsaufteilungsregeln wie z.B. dasPrinzip des örtlichen Aufkommens, die Zuteilung im Ver-bundsystem und den Finanzausgleich. Sie stellen, wie inThese 1 erörtert, typische Eigenschaften der deutschenFinanzverfassung dar.

5 Landespolitiker sind bestrebt, Aufgabenund damit Ausgaben an den Bund abzu-schieben

Nicht nur Steuerkompetenzen, auch Aufgaben- undAusgabenzuständigkeiten werden von den Landespoliti-kern an den Bund abgeschoben. Warum? Die Abgeord-neten auf Bundesebene stützen sich, wie in These 1 erör-tert, auf lokale und regionale Wählerschaften. Im Stim-menwettbewerb können sie zuhause Stimmen gewinnen,wenn sie erreichen, daß sich der Bund für ihre lokalenund regionalen Probleme engagiert. Sie erhalten damiteinen Zugang zum Bundesbudget. Gerne geben sie dafürKompetenzen und damit Verantwortlichkeiten an dieBundesebene ab. Dies wiederum fördert die bundeswei-te Vereinheitlichung der öffentlichen Leistungen und trägtdamit zur Kartellierung auf der Ausgabenseite bei.

6 Die Zentralisierung der Staatstätigkeit istnicht Ausdruck eines Naturgesetzes

Kritiker werden die Kartellhypothese mit dem Hin-weis verwerfen, daß die Zentralisierung der Staatstätig-keit ein allgemeines Phänomen darstelle, das nur zufälligauch als Kartell gedeutet werden könne. In diesem Sinneist wohl auch der Finanzwissenschaftler J. Popitz zu inter-pretieren, der in den zwanziger Jahren das Gesetz derAnziehungskraft des größten Etats formuliert hat. Erschreibt: �Realpolitisch gesehen ist diese Anziehungskraftdes Zentralstaats unvermeidbar. Es gibt kein wirksamesAllheilmittel dagegen.� (Popitz, 1927, S. 349). Aus seinerSicht stellt die Zentralisierung offenbar eine Art Naturge-setz dar. Es müßte unabhängig von Zeit und Raum gel-ten. Einen solchen Allgemeinheitsanspruch kann sein Ge-setz allerdings nicht einlösen. Es gibt Staaten, in denen dieZentralisierung ganz anders verlaufen ist. Beispielsweisekann von 1950 bis 1995, als in Deutschland die Zentrali-sierung des Steuersystems zunahm, in der Schweiz eineDezentralisierung der Besteuerung festgestellt werden.

zu erwarten, wenn die Bundesbürokratie als von Wahlen unab-hängige Institution faktisch die Macht im Staat übernehmen undder demokratische Prozeß leerlaufen würde. G. Brennan und J.M. Buchanan (1980/1988) gehen von einem solchen bürokratie-dominierten Leviathanstaat aus. Sicherlich hat die Bundesbüro-kratie ein Interesse daran, die staatlichen Kompetenzen soweitwie möglich bei sich zu zentralisieren. Ob ihr das bei der fakti-schen Machtverteilung gelingt, ist aber doch zweifelhaft.

Page 148: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

148

Der Anteil der nach Bundesgesetzgebung erhobenen Steu-ern, gewichtet mit ihrem Ertrag, stieg in Deutschland von19503 bis 1995 von 61,2 % auf 93,0 %, in der Schweizging er von 60,1 % auf 47,4 % zurück (vgl. Ch. B. Blank-art, 1998). Der Naturgesetzhypothese, die über eine solange Zeit gegenüber anderen Faktoren durchschlagensollte, kommt also nicht die erwartete Allgemeingültig-keit zu.

7 Die Steuergesetzgebungskompetenz desBundes ist maßgebend für die Zentralisie-rung

Aus dem Ergebnis von These 6 stellt sich unmittelbardie Frage, warum die Entwicklung in der Schweiz andersverlaufen ist. Aus der Kartellhypothese (These 3) würdefolgen: Ein Steuerkartell der Gliedstaaten kommt dortnicht zustande, wo der Bund keine umfassende Steuerge-setzgebungskompetenz besitzt und daher eine Kartellver-einbarung der Länder nicht als verbindlich erklären kann.Trifft dieser institutionelle Unterschied zwischen Deutsch-land und der Schweiz zu und ist er hier für die Besteue-rung von Bedeutung? Bei einem Vergleich ist zu beach-ten, daß beide Staaten in mancher Hinsicht unterschied-lich sind. Es ist daher den institutionellen Unterschiedensoweit als möglich Rechnung zu tragen, um die Relevanzder Kartellhypothese herauszufiltern. Faktoren wie

� die vergleichsweise geringe Größe der Schweiz,� die dezentral gewählten Bundespolitiker, die in der

Schweiz anders als in Deutschland nicht durch einebundesweit gewählte Regierung in Schranken gehal-ten werden,

� die in der Schweiz bestehende Volksinitiative, durchdie zusätzlich zur parlamentarischen GesetzgebungBundeskompetenzen geschaffen werden können,

würden alle eine größere Zentralisierung in der Schweizals in Deutschland erwarten lassen.4 Demgegenüber

hemmt das in der Schweiz vorhandene Referendum, ins-besondere jenes für Steuerfragen, die Zentralisierung.Dieses letztere Argument bedarf einer kurzen Erklärung.Die Schweiz kannte, wie auch das Deutsche Kaiserreich,vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg keine Bun-dessteuerkompetenz. In Deutschland wurde diese in derWeimarer Reichsverfassung geschaffen. In der Schweizmußten die Bundespolitiker in Referenden um die Bun-dessteuerkompetenz ringen. Seit 1917 stimmten dieSchweizer Bürger nicht weniger als 23 mal über die vomParlament geforderte Bundessteuerkompetenz ab. 40%der Vorlagen wurden im ersten Durchgang abgelehnt undmußten durch abgemilderte Ordnungen ersetzt werden.Nach wie vor gibt es in der Schweizerischen Bundesver-fassung nur eine befristete Kompetenz, die wichtigstenBundessteuern wie Bundeseinkommen-, Bundeskörper-schaft- und Mehrwertsteuer zu erheben. Wenn sich alsotrotz der im Vergleich zu Deutschland stärker zentralisti-schen Kräfte in der Schweiz (s.o.) im Gesamtbild nichtnur eine geringere Zentralisierung, sondern sogar eineTendenz zur Dezentralisierung der Besteuerung abzeich-net, so dürfte der Besteuerungskompetenz des Bundesum so mehr Bedeutung zukommen. Die nur befristeteGewährung der Steuerkompetenz hat es den Kantons-politikern nicht ermöglicht, ihre eigenen Steuern bundes-einheitlich festschreiben zu lassen. Es fehlte die Garantie,ohne die ein Kartell nicht auskommt.

8 Steuerautonomie wirkt steuersenkend

Unter Steuerautonomie kann jeder Gliedstaat seineSteuern erheben und festsetzen, wie es ihm für richtig er-scheint. Der dadurch implizierte Wettbewerb führt zumäßigen Steuersätzen. Ein Steuerkartell führt demgegen-

3 Daten für 1949, dem ersten Geltungsjahr des Grundgesetzes,sind nicht erhältlich.

4 Näheres dazu vgl. Ch. B. Blankart (1998).

Charles B. BlankartZehn Thesen zur Zentralisierung der Staatstätigkeit

Page 149: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

149

über zu einer höheren durchschnittlichen Steuerbelastung.So läßt sich beispielsweise feststellen, daß die durch-schnittliche Steuerbelastung von 1950 bis 1995 inDeutschland im Zuge der Kartellierung stärker angestie-gen ist als in der Schweiz, wo die Kantone ihre Steuer-autonomie aufrechterhielten, nämlich von 16,4 % auf23,6 % in Deutschland und von 17,8 % auf 19,8 % inder Schweiz (vgl. Ch. B. Blankart, 1998)5 . Die als Steuer-aufschub zu verstehende größere Neuverschuldung desStaates in Deutschland und in der Schweiz ist darin nichtinbegriffen. Der hier betrachtete Vergleich ist auch inso-fern tragfähig, als die von den Ländern und Kantonenangebotenen Güter meist bevölkerungsabhängig sind, einverzerrender (ruinöser) Wettbewerb unter den Gebiets-körperschaften also weitgehend ausgeschlossen werdenkann.

9 Ein Trennsystem ist wünschbar, aberschwer durchsetzbar

In Deutschland wird vielfach eine Rückkehr zumTrennsystem gefordert. Beispielsweise soll die Einkom-men- und Körperschaftsteuer exklusiv den Ländern, dieUmsatzsteuer exklusiv dem Bund zugeordnet werden.6

Dieses Ziel ist durchaus zu begrüßen. Es ließe sich mehrinstitutionelle Kongruenz erreichen. Die Kreise der Nutz-nießer, Entscheidungsträger und Steuerzahler für öffent-liche Leistungen würden sich wieder besser decken. DerBudgetaufblähung auf Kosten anderer könnte Einhaltgeboten werden. Aber weshalb sollten die Landespoliti-ker ihren Kartellschutz aufgeben, bzw. weshalb sollten sienicht wieder zum Steuerkartell zurückkehren, nachdem

das Trennsystem in einer Reform eingeführt wordenwäre? Solange die Bundesbesteuerungskompetenz nichtbeschnitten wird, wird es schwerlich gelingen, das Trenn-system einzuführen bzw. zu verhindern, daß es nach einerWiedereinführung erneut ausgehöhlt wird. Eine Reformder Finanzverfassung Deutschlands sollte daher bei derBundessteuerkompetenz ansetzen.

10 Keine Steuergesetzgebungskompetenz fürdie EU

Derzeit bestehen Bestrebungen, die Besteuerung derMitgliedstaaten in der EU zu harmonisieren und in ferne-rer Zukunft eine EU-Steuerkompetenz zu schaffen. Bei-des ist aus den Ergebnissen der vorangegangenen Analy-se abzulehnen. Eine solche Kompetenz dürfte aller Er-fahrung nach für die Kartellierung der nationalen Steuernmißbraucht werden. Deswegen ist es besser, die EUweiterhin durch Matrikularbeiträge der Mitgliedstaatenaufgrund fester Bemessungsgrundlagen zu finanzieren(vgl. auch Ch. B. Blankart und M. J. M. Neumann, 1999).

Literatur

Blankart, Ch. B. und Neumann, M. J. M. (1999): Financing the Eu-ropean Union: A Constitutional Approach, Humboldt-Univer-sität zu Berlin, Discussion Paper.

Blankart, Ch. B. (1998): Zur politischen Ökonomie der Zentralisie-rung der Staatstätigkeit, Humboldt-Universität zu Berlin, Dis-cussion Paper No. 108.

Brennan, G. und Buchanan, J. M. (1980): The Power to Tax: Analy-tical Foundations of a Fiscal Constitution, Cambridge (Cam-bridge University Press), deutsch: Besteuerung und Staatsgewalt,Hamburg (S & W Steuer- und Wirtschaftsverlag), 1988.

Popitz, J. (1927): Der Finanzausgleich, Handbuch der Finanzwissen-schaft, Tübingen (Mohr), 1. Auflage, Bd. 2, S. 338-375.5 Die Sozialversicherung ist in beiden Ländern zentralstaatlich or-

ganisiert. Sie ist vom Vergleich ausgeschlossen, weil es sich umeine reine Umverteilungszielsetzung handelt.

6 vgl. z.B. Bundesministerium der Finanzen: �Symmetrische Finanz-politik 2010�, Bonn 1998.

Page 150: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

150

Page 151: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

151

Wenn man als Außenstehender, zumal als Schweizer,zur Frage des deutschen Föderalismus Stellung nehmensoll, befindet man sich in einer relativ komfortablen Si-tuation. Man kann sich aufs Beobachten und Fragestellenbeschränken. Man muß für keine der vorgefundenenMerkwürdigkeiten und Fehlentwicklungen geradestehen.Und man kann sich auf die ausgezeichneten Erfahrungenseines Heimatlandes beziehen: Die Schweiz beweist ja seitvielen Jahrzehnten, daß ein föderal verfaßtes Gemeinwe-sen durchaus gut funktionieren kann. Die auffallend häu-figen positiven Verweise auf die Schweiz, die ich im Ver-lauf dieser Tagung gehört habe � als Botschafter diesesLandes füge ich hinzu: gerne gehört habe �, bestätigenmich in der Ausgangsvermutung, daß wettbewerblicherFöderalismus ein gutes Konzept ist.

Damit bin ich beim eigentlichen Thema. Zuerst einehrlich gemeintes Kompliment: Soviel ich gesehen habe,herrscht in diesem Saale weit überwiegend die Meinung,in Deutschland müsse die Idee des Föderalismus gestärktwerden. Das trifft meine persönliche Einschätzung rechtgenau. Als Kenner und Liebhaber Deutschlands stelle ichfreilich fest, daß man schon vor 15 Jahren zu diesemSchluß gekommen ist. Da drängt sich doch die Frageauf, warum in der Vergangenheit so wenig im Sinn einerReform des Föderalismus geschehen ist?

Im Raum steht die Vermutung, der Königsweg führeüber das Bewußtsein der Bevölkerung: Nur wenn derBürger sie verstehe und auch wolle, könnten die Reform-ansätze den nötigen Drive entwickeln. Auch das klingtgerade für einen Schweizer sehr einleuchtend. Wiederumaber stellt sich die Frage: Warum kommt der Anstoß vomVolk her nur so schwach? Irgendwie scheint dem Volkwohl in seiner Haut zu sein. Vielleicht gilt für das deut-sche Volk das, was Peter Bichsel von den Schweizern ge-sagt hat: Ihr seid wunschlos unglücklich. Das könnte tat-sächlich ins Schwarze treffen.

Föderalismus � eineschweizerische Sicht

Dieter Chenaux-Repond

Wie läßt sich erklären, daß der fiskalische Föderalis-mus, daß das steuerliche Trennsystem in der Schweizfunktioniert und dort den Bund immer wieder in dieSchranken weist, während unbestreitbar ist, daß inDeutschland trotz des vielfach geäußerten Unmuts derLänder über die Zuweisung von Mitteln der unitarischeStaat von Monat zu Monat kleine Fortschritte macht?

Ein von mir hoch geschätzter Deutscher, ein erfahre-ner Politiker von hoher Geistigkeit und Zuhörbereitschaftund zudem ein Kenner der Materie, hat mir vor einemknappen Jahr in Bern auf diese Frage geantwortet: �Dasist ganz einfach: Die deutschen Länderministerpräsiden-ten sind glücklich, wenn sie Geld verteilen können; aberwenn sie das Geld selber einfordern müssen von ihrenBürgern, dann sind sie nicht mehr da. Sie schätzen es, dieFinanzmittel von oben zu bekommen, sie aber selbst ver-teilen zu können.�

In dieser Hinsicht besteht nun tatsächlich ein gewalti-ger Unterschied zur Schweiz. Die kantonalen Finanzdi-rektoren treten ganz selbstverständlich vor ihre Bevölke-rung, um zu erklären, daß der Kanton zur Erfüllung derihm verfassungsmäßig zugeordneten Gestaltungsaufga-ben im Bundesstaat diese und jene direkten Steuernbraucht, und die Mitbürgerinnen und Mitbürger mögendas doch einsehen.

Dieser doch sehr wesentliche Unterschied zwischenunseren beiden Staaten läßt sich vielleicht einfacher erklä-ren, als das die Ökonomen gemeinhin versuchen. Manmag sich darüber streiten, aber einen zentralen Grundsehe ich darin, daß Deutschland seinen Föderalismus nachdem Zweiten Weltkrieg zugewiesen bekommen hat �nach sehr schlimmen Erfahrungen mit einem mehr oderweniger brutalen Zentralismus, der in seiner Endzeit auchnoch ideologisch und kollektivistisch motiviert war. Vorsehr langer Zeit war Deutschland natürlich extrem de-zentral � nicht einmal föderalistisch, denn der Föderalis-

Page 152: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

152

mus setzt eine obere Behörde voraus. Nein, Deutschlandwar staatenbündlerisch organisiert, wie die Schweiz bis1848.

Mit dem Grundgesetz wurde der Föderalismus 1949den Bundesländern und der deutschen Bevölkerung wie-der zu Füßen gelegt. Und wurde weniger als Glücksfalldenn als Oktroi aufgefaßt. Die Länder haben jedenfalls40 Jahre lang von den im Föderalismus liegenden Chan-cen kaum Gebrauch gemacht. Sie haben vieles glücklichnach Bonn abgeschoben, und Bonn hat sich breitgemacht.Erst seit gut zehn Jahren entdecken die Länder, daß dasGrundgesetz eigentlich etwas ganz anderes meint, unddrängen jetzt Bonn mit der Absicht, ihre in der Verfas-sung niedergelegten Kompetenzen vermehrt wahrzuneh-men. Hierfür gibt es noch sehr viel Spielraum. Ob es ge-lingt, ihn so zu nutzen, daß das im nationalen Interesseliegt und zur Behauptung der Position Deutschlands inder Europäischen Union beiträgt, ist wieder eine andereFrage.

Im Gegensatz zu Deutschland ist der schweizerischeBundesstaat ein beinahe zufälliges Endprodukt eines 500Jahre alten Staatenbundes. Im Grunde gab es bis 1848überhaupt keine Bundeskompetenzen. Die Kantone wa-ren auf ihre Souveränität stolz. Exemplarisch dafür istein Aufruf der Berner Regierung kurz vor dem EinfallNapoleons: Sie war der Meinung, daß die europäischenWirren den Kanton nichts angingen, denn � so stellte manin Bern fest � das Berner Volk sei von Natur aus glück-lich mit seiner Regierung, die Regierung sei gottgewolltund damit ewig. Drei Wochen später kam Napoleon, undweitere 14 Tage später gab es diese Schweiz nicht mehr.Der napoleonische Einfall mit seinem Gleichheitsidealund einer enormen Stärkung zentraler Macht, die es da-vor gar nicht gab, hat die Schweiz von 1848 nach sichgezogen, den Bundesstaat � ein zeitgeschichtlich glückli-cher Umstand, eher untypisch für die Schweizer Geschich-te. Was hatte er zur Folge?

Zum einen, daß die 1848 siegreichen protestantischenund städtischen Kantone den unterlegenen katholischenmehrheitlichen Landkantonen die neue Verfassung, ge-

gen die die Landkantone gestimmt hatten, in einem revo-lutionären Akt über den Kopf zogen, sie aber gleichzei-tig beruhigen wollten. Deshalb hat sich das Wort Konfö-deration in der neuen Verfassung wieder eingeschlichen,obwohl der neue Staat eine typische Föderation war. Manwollte die Unterlegenen schonen und fair behandeln.

Eine zweite Folge war, daß es in der Schweiz nie ei-nen echten Kampf zwischen Bund und Kantonen gege-ben hat. Der Bund hätte ihn gar nicht gewinnen können,weil die Kantone die alteingesessenen, ehemals souverä-nen Gebietskörperschaften waren, die noch heute auf ihreAutonomie achten. Dem Bund bleibt gar nichts anderesübrig, als sich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips dazuanzubieten, das von den autonomen geringeren Gebiets-körperschaften nicht Realisierbare an deren Stelle wahr-zunehmen. Dabei geht es um mehr als nur um Schulenund Eisenbahnen. Natürlich braucht es dazu auch denBundesstaat. Aber es ist genau so wichtig, daß das WortBund im Bundesstaat übergreift auf die Autonomie derKantone bzw. der Bundesländer. Ein Teil ihres Steuerauf-kommens muß im Sinne der Genossenschaftlichkeit überden Bund den schwächeren Gliedern zugute kommen,sonst kann man nicht vom Bundesstaat reden.

Deshalb sollte man sich den amerikanischen Födera-lismus nicht zum Vorbild nehmen. Amerika ist ganz an-ders, weil es in Amerika nie ein Bewußtsein gegeben hat,alle Bevölkerungsschichten in diesem riesigen Land soll-ten in etwa gleichgestellt sein. Der Staat hat in den 60er,70er Jahren einen solchen Versuch unternommen � er istzurückgepfiffen worden. Die Angleichung der Lebens-verhältnisse hat man den Kirchen überlassen und demPrivatsektor. Und tatsächlich gibt es in Amerika eine Kul-tur der Privatinitiative, die auch uns Europäern gut täte.Dennoch: Bei aller Bewunderung zum Beispiel des Rück-gangs der Arbeitslosigkeit in Amerika, dort ist ein, gelin-de gesagt, riesiges residuales Problem vorhanden, das wirin Europa besser gar nicht erst aufkommen lassen. Dasist mein Plädoyer zugunsten der Öffentlichen Hand:Übertreibt mir die Privatisierung nicht. Wir haben denStaat überzogen, und wir brauchen mehr Raum für pri-

Dieter Chenaux-RepondFöderalismus � eine schweizerische Sicht

Page 153: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

153

vates Handeln. Aber man kann den Staat nicht ad infini-tum zurücknehmen.

Ein Land wie die Schweiz sieht sich immer wiederdem Vorwurf ausgesetzt, durch Trennsystem und Steu-erwettbewerb versuche sie, Steuersubjekte anzulocken,das heißt den Staaten wegzustehlen, die eigentlich An-spruch auf diese Steuersubjekte hätten. Das ist grund-falsch. Standortfremde Gesichtspunkte können sich un-ter Wettbewerbsbedingungen nicht durchsetzen. In dergesamten europäischen Welt sehe ich nur standortbezo-gene Politik. Auch Deutschland verfolgt im ganzen � lei-der nicht auf dem Gebiet der Steuern � eine Politik, dieseiner Lage in Europa, seinem Klima, seinem guten Aus-bildungsstand, seinen teuren Arbeitslöhnen und Lohnne-benkosten entspricht. Und wenn die neue, rot-grüne Bun-desregierung jetzt in eigentümlicher Konsequenz sagt: Jetztkommt mit dem Euro die einheitliche Währung, alsobrauchen wir auch einheitliche Steuersysteme, Ferienord-nungen, Krankenkassen und was sich sonst noch so har-monisieren läßt, dann kann ich nur sagen: Diesen Kampfwird Europa sowieso gegen Nevada verlieren. Dannkönnen wir gleich auswandern.

Der Charme, der Fortschritt, die Nobelpreise, dieTüchtigkeit, die Vielfalt, der Ideenreichtum Europaskommt von nichts anderem her als von der Konkurrenz,von dem Versuchen, sich seine Nische nach bestem Wis-sen und Gewissen zu schaffen.

Natürlich muß man dabei nicht alles hinnehmen. Esgibt Steuerflüchtlinge, denen die Flucht oder der Betrugso offen im Gesicht steht, daß man sie wegbitten muß.Und im Gegensatz zu gewissen Vorwürfen an die Schwei-zer bin ich davon überzeugt, daß unsere schweizerischenGroßbanken solche Kapitalien nicht wollen, weil sie ge-nau wissen, daß wir mit der Beherbergung schmutzigenGeldes unsere Nachbarländer eigentlich ausbeuten wür-den. Trotzdem bleibe ich dabei: Es gibt keine gute undschlechte Steuerkonkurrenz, es gibt nur eine erstickte Steu-erkonkurrenz und eine überbordende Steuerkonkurrenz.Die Konkurrenz als solche, auch auf dem Gebiet derFiskalität, bleibt freilich etwas Gutes. Ohne sie wären wir

einer Staatsidee ausgeliefert, die unerhörte Kosten verur-sacht, weil die öffentlich Handelnden keinem Konkur-renzdruck ausgesetzt sind. Unsere Kantone versuchen,ihre Steuern so zu gestalten, daß sie für den Zuziehenden,wer immer es sei, attraktiver sind als das Steuersystemder Nachbarkantone. Das kann zu Exzessen führen. Selbstunsere bürgerlichen Kreise in Zürich haben das bemerkt,allerdings erst, seitdem schwerreiche Leute wie Tina Tur-ner und Christoph Blocher andere Kantone bevorzugen.Das war doch zu viel für die Züricher.

Neuerdings kommt vor diesem Hintergrund eine Be-wegung in den Bund, der Steuerkonkurrenz ganz einfachWegmarken zu setzen, damit man steuerlich nicht mehrbeliebig verfahren kann. Aber daß man innerhalb dieserWegmarken das tut, was einem einfällt, ist schon gut.

Übrigens ist Steuerwettbewerb auch deshalb gut, weiler die öffentlichen Hände zu der Bürgernähe zwingt, vonder in Deutschland unablässig geredet wird, zu deren Ver-wirklichung aber wenig geschieht. Im Gegenteil: Der Staatentwickelt sich nach oben in den Unitarismus. Alle Regie-rungen sagen, sie wollten dem Bürger näherkommen �aber was heißt das bei den Steuern? Man muß dem Bür-ger, der Steuern bezahlt, klar machen, wofür er sie be-zahlt. Und das kann ein System wie das schweizerischeganz einfach am besten, denn wer seine Gemeindesteu-ern zahlt, um die Gemeindeautonomie damit zu befrie-digen, will sehen können, was die Gemeinde mit den er-hobenen Steuern macht. Dasselbe gilt beim Kanton, das-selbe beim Bund. Insofern kann man � gerade als Freund� diesem Land die Kritik nicht ersparen, im Grunde keinföderalistischer Staat zu sein. Denn es fehlt die entschei-dende Ingredienz: die Steuerautonomie der Länder undder Gemeinden.

Ein schlagendes Beispiel ist die aktuelle Diskussion der630-DM-Jobs � ein wichtiges Thema, aber nicht die Welt.Besteuern oder zu Sozialabgaben heranziehen? Kaumsteht die Frage im Raum, protestieren die Länder undwollen die Ausfälle ersetzt bekommen. Das kann manverstehen. Aber solches Gezeter rührt nur daher, daß derBund durch sein Allokationssystem in der Verteilung der

Page 154: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

154

Lasten allmächtig ist. Und wenn � im Rahmen des Asyl-rechts, des sozialen Ausgleichs oder was auch immer �die Länder und die Gemeinden von Bonn Aufgaben zu-gewiesen bekommen, mit der Finanzierung aber alleinge-lassen werden, dann ist das kein lebensfähiger Föderalis-mus.

Worum es mir mit diesem Beispiel einzig geht ist, Mutzu einer bürgernahen Steuerpolitik zu machen. Die Be-völkerung weiß es, aber vor allem die Gesetzgeber aufLandesebene müssen wohl erst noch begreifen, daß dasErheben von Steuern kein Fastnachtsscherz ist. Steuernmuß man vor den Bürgern begründen. Und je besserman sie begründet, desto bürgernäher arbeitet eine Re-gierung, desto weniger Reibungsverluste gibt es, und de-sto gesunder ist der Staat.

Dieter Chenaux-RepondFöderalismus � eine schweizerische Sicht

Page 155: Reform des Föderalismus - Stiftung Marktwirtschaft...Reform des Föderalismus zu fordern, gehört derzeit ja fast schon zum guten Ton. Und wenn der Präsident des Bundesrates eine

155

Die Autoren

Prof. Dr. Hans-Wolfgang Arndt Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Steuerrecht, Universität Mannheim

Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunalrecht und Haus-haltsrecht, und Verfassungslehre, Deutsche Hochschule für Verwaltungswis-senschaften, Speyer

Prof. Dr. Charles B. Blankart Institut für öffentliche Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, Humboldt-Univer-sität zu Berlin

Dr. Dieter Chenaux-Repond Schweizerischer Botschafter, Bonn

Dr. Gert Dahlmanns Vorstand des Frankfurter Instituts � Stiftung Marktwirtschaft und Politik, BadHomburg

Dr. Ingolf Deubel Staatssekretär, Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz, Mainz

Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke Professor für Finanzwissenschaft und Gesundheitsökonomie am FachbereichWirtschaft und Management der Technischen Universität BerlinDirektor am Europäischen Zentrum für Staatswissenschaft und Staatspraxis,Berlin

Dr. Rainer Hildmann Rechtsanwalt in München, Vorstand der informedia-Stiftung GemeinnützigeStiftung für Gesellschaftswissenschaften und Publizistik, KölnStiftungsrat des Frankfurter Instituts � Stiftung Marktwirtschaft und Politik,Bad Homburg

Dr. Konrad Morath Frankfurter Institut � Stiftung Marktwirtschaft und Politik, Bad Homburg

Prof. Dr. Bernd Huber Staatswissenschaftliches Institut der Ludwigs-Maximilians-Universität Mün-chen

Dr. Otto Graf Lambsdorff Bundesminister a.D., Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung, Königswinter

Dr. Karl Lichtblau Referatsleiter Wettbewerbs- und Strukturpolitik, Institut der deutschen Wirt-schaft Köln

Prof. Dr. Fritz W. Scharpf Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Köln

Prof. Dr. Ulrich van Suntum Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen, Westfälische Wilhelms-Universi-tät Münster