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446 Rezensionen Rezension zu: Jutta Ecarius (Hrsg.): Handbuch Familie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaf- ten 2007. 701 S. ISBN 978-3-8100-3984-2. Preis 59,90 €. Das Thema Familie hat angesichts des demografi- schen Wandels Konjunktur. Die Gründung einer eigenen Familie ist für junge Menschen nach wie vor ein erstrebenswertes Ziel, allerdings setzt nur ein Teil von ihnen diesen Wunsch auch in die Realität um. Vor diesem Hintergrund hat der Dis- kurs über Familie an Aktualität und Brisanz ge- wonnen; Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Schrecken treiben, wie Burkhard FUHS im Hand- buch Familie treffend formuliert, die Diskussion um die Familie voran (S. 22). Auch wissenschaftliche Handbücher haben der- zeit Konjunktur und so mancher wird sich fragen: Brauchen wir nach dem Handbuch der Kindheits- und Jugendforschung (2002), dem Handbuch der Schulforschung (2004), dem Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung (2004) und dem Hand- buch der Berufsbildung (2006), die hier nur exem- plarisch für die zahlreichen in letzter Zeit erschiene- nen Handbücher genannt seien, nun auch noch ein 700 Seiten umfassendes Handbuch Familie? Der Anspruch, mit dem das neu erschienene Handbuch Familie antritt, ist hoch: „Das Handbuch Familie repräsentiert den theoretischen und empiri- schen Stand der Familienforschung“ (VS Verlag). Über 40 prominente Autorinnen und Autoren waren aufgefordert, das eigene Forschungsgebiet mit Fo- kus auf Familie aufzuarbeiten. Was das ambitio- nierte Projekt so spannend macht ist, dass hier erst- mals versucht wird, das Feld der Familienforschung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht darzustellen und an Debatten innerhalb der Erziehungswissen- schaft anzuknüpfen. Während sich diese lange Zeit auf professionelle Handlungsfelder und die Erfor- schung von Bildung und Erziehung in außerfami- lialen Kontexten konzentriert hat, rückt das Thema Familie derzeit stärker in den Mittelpunkt. „Hierbei stellt die Erziehungswissenschaft im Unterschied zur Soziologie andere Fragen an die private Lebens- führung und entdeckt andere Themen. Der Fokus richtet sich auf das Verhältnis von familialer Erzie- hung sowie Sozialisation und professioneller Erzie- hung und Bildung.“ (S. 10) Das Handbuch umfasst die fünf großen The- menbereiche Familienstrukturen, Familienformen, Familie und Bildungsinstitutionen, Differentielle Felder sowie Familie und sozialpädagogische Ar- beitsfelder. Im ersten Kapitel Zur Geschichte der Familie geht es um historische Konstruktionen von Familie. Dabei wird deutlich, dass aus pädagogischer Sicht die Geschichte der Familie nicht nur als Wandel der Familienstrukturen, sondern auch als Wandel der Familienbilder zu sehen ist. Daran schließen sich die Beiträge Zur aktuellen Lage der Familie, Familien – intereuropäische Perspektive sowie Familie und So- zialstruktur an. In Letzterem wird anschaulich be- schrieben, welchen Beitrag die Familie zur Verfes- tigung und Fortschreibung sozialer Ungleichheit leis- tet. Der Beitrag Geschlechteraspekte im Kontext von Familie zeigt, wie Geschlechterverhältnisse in Fa- milien (oft unbewusst) tradiert werden. Abgerundet wird der erste Themenkomplex durch den Beitrag Familie und Migration. Der zweite Komplex zu Familienformen um- fasst die Beiträge Familienerziehung, Eltern- Kind- und Geschwisterbeziehung, Familie: Mütter und Väter sowie Großeltern in Familien. Bezüge der Kindheits-, Jugend- und Altersforschung zur Familie werden in den drei folgenden Kapiteln Kindheit und Familie, Jugend und Familie und Alter und Familie herausgearbeitet. Der dritte Ab- schnitt Familie und Bildungsinstitutionen fokus- siert das Verhältnis zwischen Familie und außer- familiärer Bildung und Erziehung. Die ersten drei Beiträge widmen sich hier den Bereichen der Elementarerziehung (Familie und Elementarerzie- hung), der Grundschule (Familie und Grundschu- le) und der Schule (Familie und Schule). Ergänzt werden diese durch zwei Beiträge zu Familie und Weiterbildung und zur Familienbildung. Im vierten Themenkomplex werden differenti- elle Felder der Familienforschung beleuchtet (Kul- turelle Transferbeziehungen, Familiengedächtnis- se und Familienstrategien, Rituale, Literatur, Me- dien, Gesundheit, Religion). Der fünfte und letzte Teil beschließt das Buch, indem er eine Brücke zu konkreten sozialpädagogischen Arbeitsfeldern und dort auftauchenden Fragestellungen schlägt. Spe- zielle Themenbereiche, denen je ein Beitrag ge-

Rezension zu: Jutta Ecarius (Hrsg.): Handbuch Familie

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446 Rezensionen

Rezension zu:

Jutta Ecarius (Hrsg.): Handbuch Familie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaf-ten 2007. 701 S. ISBN 978-3-8100-3984-2. Preis 59,90 €.

Das Thema Familie hat angesichts des demografi-schen Wandels Konjunktur. Die Gründung einereigenen Familie ist für junge Menschen nach wievor ein erstrebenswertes Ziel, allerdings setzt nurein Teil von ihnen diesen Wunsch auch in dieRealität um. Vor diesem Hintergrund hat der Dis-kurs über Familie an Aktualität und Brisanz ge-wonnen; Wünsche, Hoffnungen, Ängste undSchrecken treiben, wie Burkhard FUHS im Hand-buch Familie treffend formuliert, die Diskussionum die Familie voran (S. 22).

Auch wissenschaftliche Handbücher haben der-zeit Konjunktur und so mancher wird sich fragen:Brauchen wir nach dem Handbuch der Kindheits-und Jugendforschung (2002), dem Handbuch derSchulforschung (2004), dem Handbuch der Frauen-und Geschlechterforschung (2004) und dem Hand-buch der Berufsbildung (2006), die hier nur exem-plarisch für die zahlreichen in letzter Zeit erschiene-nen Handbücher genannt seien, nun auch noch ein700 Seiten umfassendes Handbuch Familie?

Der Anspruch, mit dem das neu erschieneneHandbuch Familie antritt, ist hoch: „Das HandbuchFamilie repräsentiert den theoretischen und empiri-schen Stand der Familienforschung“ (VS Verlag).Über 40 prominente Autorinnen und Autoren warenaufgefordert, das eigene Forschungsgebiet mit Fo-kus auf Familie aufzuarbeiten. Was das ambitio-nierte Projekt so spannend macht ist, dass hier erst-mals versucht wird, das Feld der Familienforschungaus erziehungswissenschaftlicher Sicht darzustellenund an Debatten innerhalb der Erziehungswissen-schaft anzuknüpfen. Während sich diese lange Zeitauf professionelle Handlungsfelder und die Erfor-schung von Bildung und Erziehung in außerfami-lialen Kontexten konzentriert hat, rückt das ThemaFamilie derzeit stärker in den Mittelpunkt. „Hierbeistellt die Erziehungswissenschaft im Unterschiedzur Soziologie andere Fragen an die private Lebens-führung und entdeckt andere Themen. Der Fokusrichtet sich auf das Verhältnis von familialer Erzie-hung sowie Sozialisation und professioneller Erzie-hung und Bildung.“ (S. 10)

Das Handbuch umfasst die fünf großen The-menbereiche Familienstrukturen, Familienformen,

Familie und Bildungsinstitutionen, DifferentielleFelder sowie Familie und sozialpädagogische Ar-beitsfelder.

Im ersten Kapitel Zur Geschichte der Familiegeht es um historische Konstruktionen von Familie.Dabei wird deutlich, dass aus pädagogischer Sichtdie Geschichte der Familie nicht nur als Wandel derFamilienstrukturen, sondern auch als Wandel derFamilienbilder zu sehen ist. Daran schließen sich dieBeiträge Zur aktuellen Lage der Familie, Familien –intereuropäische Perspektive sowie Familie und So-zialstruktur an. In Letzterem wird anschaulich be-schrieben, welchen Beitrag die Familie zur Verfes-tigung und Fortschreibung sozialer Ungleichheit leis-tet. Der Beitrag Geschlechteraspekte im Kontext vonFamilie zeigt, wie Geschlechterverhältnisse in Fa-milien (oft unbewusst) tradiert werden. Abgerundetwird der erste Themenkomplex durch den BeitragFamilie und Migration.

Der zweite Komplex zu Familienformen um-fasst die Beiträge Familienerziehung, Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehung, Familie: Mütterund Väter sowie Großeltern in Familien. Bezügeder Kindheits-, Jugend- und Altersforschung zurFamilie werden in den drei folgenden KapitelnKindheit und Familie, Jugend und Familie undAlter und Familie herausgearbeitet. Der dritte Ab-schnitt Familie und Bildungsinstitutionen fokus-siert das Verhältnis zwischen Familie und außer-familiärer Bildung und Erziehung. Die ersten dreiBeiträge widmen sich hier den Bereichen derElementarerziehung (Familie und Elementarerzie-hung), der Grundschule (Familie und Grundschu-le) und der Schule (Familie und Schule). Ergänztwerden diese durch zwei Beiträge zu Familie undWeiterbildung und zur Familienbildung.

Im vierten Themenkomplex werden differenti-elle Felder der Familienforschung beleuchtet (Kul-turelle Transferbeziehungen, Familiengedächtnis-se und Familienstrategien, Rituale, Literatur, Me-dien, Gesundheit, Religion). Der fünfte und letzteTeil beschließt das Buch, indem er eine Brücke zukonkreten sozialpädagogischen Arbeitsfeldern unddort auftauchenden Fragestellungen schlägt. Spe-zielle Themenbereiche, denen je ein Beitrag ge-

Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 10. Jahrgang, Heft 3/2007, S. 446-447 447

widmet ist, sind Familienrecht, Kinder- und Ju-gendhilfe und Hilfen zur Erziehung. Es schließensich Beiträge zur Sozialpädagogischen Familien-hilfe, zum Elternrecht und Kindeswohl und zurGewalt in der Familie an. Die letzten beiden Ka-pitel befassen sich mit Familie, Familientherapieund Beratung und mit Erziehungsratgebern.

Alle erwähnten Beiträge an dieser Stelle einerkritischen Würdigung zu unterziehen, würde denRahmen dieser Rezension sprengen. Die Beiträgesind relativ umfassend und werden dem Anspruch,Grundlegendes zu analysieren und Forschungsan-sätze differenziert darzustellen, ausnahmslos ge-recht. Allerdings ist die Binnengliederung der Ka-pitel sehr heterogen. Während manche Beiträge ei-nen umfassenden Überblick über das Themenfeldbieten, historische Bezüge und aktuelle Entwicklun-gen aufgreifen sowie zentrale theoretische Ansätzeund empirische Forschungsergebnisse vorstellen(z.B. Familie und Grundschule), beschränken sichandere auf einzelne Fragestellungen (z.B. Literatur)oder exemplarisch auf bestimmte Forschungsan-sätze (z.B. Jugend und Familie). Eine einheitlichereGliederung hätte hier zu einer ausgewogeneren Dar-stellung der einzelnen Themenbereiche und zu mehrÜbersichtlichkeit geführt.

Die Nennung der einzelnen Beiträge zeigt dieVielfältigkeit der Fragestellungen und vertretenenAnsätze und verdeutlicht zugleich, wie schwieriges ist, das Forschungsgebiet einzugrenzen. Diehäufig bemängelte fehlende Systematik in der Fa-milienforschung spiegelt sich hier wider. Währenddie Gliederung der ersten drei Themenblöcke gutnachzuvollziehen ist, wirkt die Zusammenstellungdes dritten und vierten Kapitels eher unsystema-tisch. Im dritten Themenbereich (Familie: Diffe-rentielle Felder) werden Themen aufgegriffen, diesich „um Familien ranken und das Feld der Fami-lie inhaltlich ausdifferenzieren“ (S. 12). Diese Zu-sammenstellung spezieller Felder ließe sich pro-blemlos erweitern (z.B. durch das Thema Werte)und folgt keiner nachvollziehbaren Systematik.Dasselbe gilt für den fünften Themenkomplex, derprofessionelle Handlungsfelder umfasst und denBogen vom Familienrecht über Gewalt in der Fa-milie bis hin zu Erziehungsratgebern spannt.

Insgesamt gesehen tut das der Qualität desHandbuchs jedoch keinen Abbruch. Das breiteSpektrum der Familienforschung wird durch dieEinzelbeiträge aus unterschiedlichen Disziplinengut und umfassend dargestellt. Wünschenswert

wäre es noch gewesen, die europäische Perspek-tive, die in der Familienforschung einen immergrößeren Raum einnimmt, stärker einzubeziehen.Abgesehen von dem Beitrag Familien – intereu-ropäische Perspektive geschieht dies nur spora-disch und auch weitergehende kulturvergleichendeAnalysen werden nur selten aufgegriffen. LöblicheAusnahmen hiervon sind die Unterkapitel „Ver-wandtschaft im Kulturvergleich“ (Verwandtschaft,S. 234) und „Das Verhältnis von Familie undSchule in interkultureller Perspektive“ (Familieund Schule, S. 335).

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: DasHandbuch bietet einen guten Überblick über denStand der Forschung und Forschungsdesiderate inden einzelnen Themenbereichen. Insbesondere derAnspruch, das Feld der Familienforschung vonden Erziehungswissenschaften her aufzurollen,führt dazu, dass die verschiedenen Themenberei-che eine interessante Akzentuierung erfahren undsich auch Perspektiven jenseits des gewohntenBlicks auftun. Durch die Beiträge des Handbuchsgelingt es, Bezugspunkte zwischen erziehungs-wissenschaftlichen Teildisziplinen, Nachbardis-ziplinen und dem Themenfeld „Familie“ herauszu-arbeiten, die grundlegend für die Konstituierungeines eigenen Verständnisses von Familie vonSeiten der Erziehungswissenschaften sind. Inso-fern kann man die in der Einleitung aufgeworfeneFrage „Brauchen wir noch ein Handbuch?“ imHinblick auf das Handbuch Familie mit „Ja“ be-antworten. Wir brauchen dieses Handbuch, weil eseinen entscheidenden Beitrag dazu leistet, Themenund Debatten der Erziehungswissenschaften imBereich der Familienforschung zu positionieren.Burkhard FUHS führt den ersten Beitrag des Werksmit dem Satz ein „(…) Familie ist (…) für die Er-ziehungswissenschaften ein schwieriges, ja ‚un-bewältigtes Forschungsfeld‘“ (S. 17). Der großeVerdienst des Handbuchs ist es, durch die Bünde-lung theoretischer Ansätze und empirischer Er-kenntnisse aus verschiedenen erziehungswissen-schaftlichen Teildisziplinen einen Beitrag zur Be-wältigung des weiten Forschungsfelds Familie zuleisten.

Anschrift der Rezensentin: Dr. Stephanie Saleth,FaFo Familien-Forschung Baden-Württemberg,Böblinger Straße 68, 70199 Stuttgart, E-Mail: [email protected]