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14. Das Ziel: Die sich verwirklichende und voll handlungsfähige Persönlichkeit Wonach streben wir? Warum wünschen wir uns das »Beste« (wie im- mer wir dieses Wort definieren) im Familienleben, in der Schule, in der Universität und in der Gemeinschaft? Ich glaube, weil wir hoffen, den »besten« Menschen zu entwickeln. Aber selten machen wir uns über die genaue Bedeutung dieses Ziels ausführliche Gedanken. Welche Art »Mensch« wünschen wir zu werden? Vor einigen Jahren versuchte ich, als Psychotherapeut meine persön- liche Antwort auf diese Frage niederzuschreiben. 1 Ich möchte mich nicht dafür entschuldigen, daß das folgende Kapitel in den therapeu- tischen Rahmen eingespannt ist. Denn nach meiner Vorstellung würde die »beste« Erziehung einen sehr ähnlichen Menschen hervorbringen wie die »beste« Therapie. In der Tat mag es für Lehrer und Erzieher hilfreich sein, diese Frage von einem außerschulischen Bereich her zu überdenken. Das könnte ihnen erleichtern, mit schärferem Blick dieje- nigen Punkte wahrzunehmen, in denen sie mit dem von mir gezeichne- ten Bild einverstanden bzw. nicht einverstanden sind. Ich vermute, daß jeder von uns gelegentlich über die allgemeinen Cha- rakteristika der »optimalen Person« nachdenkt. Wenn Erziehung bei der Förderung von Wachstum und Entfaltung der Person so vollkom- men wäre, wie wir es wünschen- was für eine Art Mensch würde dar- aus hervorgehen? Oder- um von dem Gebiet zu sprechen, auf dem ich die meiste Erfahrung gewonnen habe-angenommen, es gäbe eine opti- male Psychotherapie- welche Art Mensch würde sich aus ihr entwik- kelt haben? Was ist der hypothetische Schlußpunkt, das Endziel psy- chischer Entwicklung und Entfaltung? Ich möchte diese Frage vom Standpunkt der Therapie aus diskutieren, aber ich glaube, daß die von mir versuchsweise formulierten Antworten gleichermaßen auf die Er- ziehung, die Familie oder jede andere Situation anwendbar wären, die die konstruktive Entwicklung von Menschen zum Ziel hat. Ich werfe ernsthaft die Frage auf, wie dieses Ziel beschaffen sein soll. Was ist der optimale Mensch? 1 Dieses Kapitel ist die überarbeitete Fassung einer Schrift, die zuerst veröffentlicht wurde unter dem Titel »The Concept of the Fully Functioning Person«, in: Psycbotherapy: Themy, Resea.-ch and P.-actice, 1963, No.!, S. 17-26. 287

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14. Das Ziel: Die sich verwirklichende undvoll handlungsfähige Persönlichkeit

Wonach streben wir? Warum wünschen wir uns das »Beste« (wie im­mer wir dieses Wort definieren) im Familienleben, in der Schule, in der Universität und in der Gemeinschaft? Ich glaube, weil wir hoffen, den »besten« Menschen zu entwickeln. Aber selten machen wir uns überdie genaue Bedeutung dieses Ziels ausführliche Gedanken. Welche Art»Mensch« wünschen wir zu werden?

Vor einigen Jahren versuchte ich, als Psychotherapeut meine persön­liche Antwort auf diese Frage niederzuschreiben. 1 Ich möchte michnicht dafür entschuldigen, daß das folgende Kapitel in den therapeu­tischen Rahmen eingespannt ist. Denn nach meiner Vorstellung würdedie »beste« Erziehung einen sehr ähnlichen Menschen hervorbringenwie die »beste« Therapie. In der Tat mag es für Lehrer und Erzieherhilfreich sein, diese Frage von einem außerschulischen Bereich her zuüberdenken. Das könnte ihnen erleichtern, mit schärferem Blick dieje­nigen Punkte wahrzunehmen, in denen sie mit dem von mir gezeichne­ten Bild einverstanden bzw. nicht einverstanden sind.

Ich vermute, daß jeder von uns gelegentlich über die allgemeinen Cha­rakteristika der »optimalen Person« nachdenkt. Wenn Erziehung bei der Förderung von Wachstum und Entfaltung der Person so vollkom­men wäre, wie wir es wünschen - was für eine Art Mensch würde dar­aus hervorgehen? Oder- um von dem Gebiet zu sprechen, auf dem ich die meiste Erfahrung gewonnen habe -angenommen, es gäbe eine opti­male Psychotherapie - welche Art Mensch würde sich aus ihr entwik­kelt haben? Was ist der hypothetische Schlußpunkt, das Endziel psy­chischer Entwicklung und Entfaltung? Ich möchte diese Frage vom Standpunkt der Therapie aus diskutieren, aber ich glaube, daß die von mir versuchsweise formulierten Antworten gleichermaßen auf die Er­ziehung, die Familie oder jede andere Situation anwendbar wären, die die konstruktive Entwicklung von Menschen zum Ziel hat. Ich werfe ernsthaft die Frage auf, wie dieses Ziel beschaffen sein soll. Was ist der optimale Mensch?

1 Dieses Kapitel ist die überarbeitete Fassung einer Schrift, die zuerst veröffentlicht wurde unter dem Titel »The Concept of the Fully Functioning Person«, in: Psycbotherapy: Themy, Resea.-ch and P.-actice, 1963, No.!, S. 17-26.

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Ich habe mir diese Frage oft gestellt, war aber mit den üblichen Ant­worten zunehmend unzufrieden. Sie erweisen sich als zu schwammig und zu allgemein, als daß sie für eine junge Wissenschaft, wie die von der Persönlichkeit, von besonderem Wert wären. Oft enthalten sie auch, wie ich glaube, eine versteckte Voreingenommenheit, die sie un­befriedigend macht. Ich denke dabei an die allgemeine Vorstellung, daß der Mensch, der eine Therapie durchlaufen hat bzw. seine Persönlich­keit voll entwickelt hat, an die Gesellschaft angepaßt sein wird. Aber an welche Gesellschaft? An jede Gesellschaft, gleichgültig welcher Be­schaffenheit sie ist? Das kann ich nicht akzeptieren. Ich denke weiter an die Einstellung, die in vielen psychologiscl;en Schriften zwischen den Zeilen steht: Ziel einer erfolgreichen Therapie ist es, daß eine Person von einer als pathologisch angesehenen in eine als normal betrachtete diagnostische Kategorie hinüberwandert. Aber es gibt zunehmend Be­weismaterial dafür, daß die diagnostischen Kategorien als wissenschaft­liche Konzeption praktisch bedeutungslos sind, weil über sie fast keine Übereinstimmung herrscht. Und selbst wenn eine Person »normal« wird- kann man das als angemessenes Resultat für eine Therapie anse­hen? Weiterhin habe ich mich auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre gefragt, ob nicht der Begriff der Psychopathologie einfach ein bequemer Sammeltopf für all jene Aspekte der Person ist, vor denen die Diagnostiker bei sich selbst Angst haben. Aus diesen und anderen Gründen ist es für mich nicht mehr befriedigend, Ergebnisse einer The­rapie in Begriffen diagnostischer Veränderung zu beschreiben. Nach einer weiteren Auffassung hat derjenige, der sich psychisch optimal entwickelt hat, ein positives psychisches Befinden erreicht. Aber wie lautet die Definition für positives psychisches Befinden? Wahrschein­lich würden die Menninger Clinic und das Center for Studies of the Person diesen Begriff ziemlich unterschiedlich definieren. Ich bin sicher, daß der Sowjetstaat noch eine andere Definition hat.

Von solchen Fragen bedrängt, sehe ich mich über die Charakter­eigenschaften einer Person nachgrübeln, die eine Therapie erfolgreich beendet hat. Einige meiner vorläufigen Erwägungen möchte ich gern mitteilen. Dabei will ich ein theoretisches Konzept entwickeln, wie der optimale Endpunkt einer Therapie - oder Erziehungsarbeit - aussehen könnte. Hoffentlich gelingt es mir, das mit Begriffen zu tun, die von einigen der kritisierten Schwächen frei sind, die möglichst praktikabel und objektiv überprüfbar sind.

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Der Hintergrund, vor dem ich das Problem sehe

Zu Beginn muß ich klarmachen, daß ich vor dem Hintergrund einer klientenzentrierten Therapie spreche. Es ist wohl möglich, daß aus je­der erfolgreichen Psychotherapie eine ähnliche Persönlichkeit hervor­geht, aber ich bin darin nicht mehr so sicher wie früher und möchte darum das Umfeld meiner Betrachtungen einengen. Ich werde also von der Annahme ausgehen, daß die von mir zu beschreibende hypotheti­sche Person eine tiefe und weitreichende Erfahrung in klientenzentrier­ter Therapie hat und daß die Therapie so vollkommen erfolgreich ge­wesen ist, wie man es sich theoretisch vorstellen kann. Dies würde be­deuten, daß der Therapeut fähig war, eine intensive persönliche und intersubjektive Beziehung mit dem betreffenden Klienten einzugehen -also nicht die Beziehung eines Wissenschaftlers zu seinem Studienob­jeln, noch eines Arztes, dem es darauf ankommt, zu diagnostizieren und zu kurieren, sondern eines Menschen, der einem anderen Men­schen gegenübersteht. Es würde bedeuten, daß der Therapeut diesen Patienten - unabhängig von seiner Verfassung, seinem Verhalten oder seinen Gefühlen - als Mensch erlebte, der von unbedingtem Eigenwert ist. Es bedeutet, daß der Therapeut es in sich selbst zulassen konnte, den Patienten zu verstehen; daß keine inneren Schranken ihn davon abhielten, in jedem Moment der Beziehung zu fühlen, wie es ist, der Patient zu sein, und daß er dem Patienten etwas von seinem einfühl­samen Verständnis übermitteln konnte. Es bedeutet, daß der Therapeut diese Beziehung gerne eingegangen ist, ohne daß er kognitiv gewußt hätte, wohin sie führen würde, und daß er zufrieden war, für eine Atmosphäre zu sorgen, die den Patienten freimachen würde, er selbst zu werden.

Für den Patienten bedeutete diese optimale Therapie, zunehmend fremde, unbekannte und bedrohende Gefühle in sich zu erforschen, wobei diese Erforschung nur möglich ist, weil der Patient allmählich erkennt, daß er uneingeschränkt akzeptiert wird. Dadurch kommt er mit Erfahrungsbestandteilen in Berührung, die bis dahin vom Bewußt­sein als zu bedrohlich und zu zerstörerisch für die Struktur seines Selbst negiert wurden. Er merkt, daß er diese Gefühle in der Beziehung voll und ganz nacherleben kann, so daß er für den Augenblick selbst seine Angst, sein Zorn, seine Zärtlichkeit oder seine Stärke ist. Und in dem Maße, in dem er diese vielfältigen Gefühle in all ihren Intensitätsgraden auslebt, entdeckt er, daß er sich selbst erfährt und daß er selbst all diese Gefühle ist. Er sieht, wie sich sein Verhalten in Übereinstimmung mit der neuen Erfahrung seiner selbst in konstruktiver Weise verändert. Er

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kommt der Erkenntnis näher, daß er sich nicht länger vor möglichen Erfahrungsinhalten zu fürchten braucht, sondern daß er sie offen als ein Teil seines sich wandelnden und entwickelnden Selbst akzeptieren kann.

Dies war eine globale Andeutung von dem, was klientenzentrierte Therapie optimal sein könnte. Hier sollte damit lediglich mein Haupt­anliegen eingeleitet werden, nämlich: Welche Persönlichkeitsmerkmale würden sich im Patienten als Resultat einer derartigen Erfahrung her­ausbilden?

Die Charakteristika einer Person, die eine Therapie durchlaufen hat

Was ist nun also das Endziel optimaler Psychotherapie und maximalen psychischen Wachstums? Ich werde diese Frage für mich selbst zu be­antworten suchen, und ich baue dabei auf das Wissen auf, das wir aus klinischer Erfahrung und Forschung gewonnen haben; ich treibe es aber bis an seine Grenzen, um die Art Person besser skizzieren zu kön­nen, die bei einer restlos effektiven Therapie entstehen würde. Als ich meine Arbeit nochmals überdachte, fand ich die Beschreibung ganz einheitlich; zugunsten einer klaren Darstellung werde ich sie jedoch in drei Abschnitte einteilen.

1. Diese Person wäre aufgeschlossen gegenüber ihrer Erfahrung.Dieser Satz hat für mich zunehmend an spezifischer Bedeutung ge­

wonnen. Er bezeichnet den polaren Gegensatz zu einer defensiven Haltung. Wir haben bisher defensives Verhalten beschrieben als die Antwort, mit der der Organismus auf Erfahrungen reagiert, die seiner Wahrnehmung oder seiner Erwartung nach mit der Struktur des Selbst nicht übereinstimmen. Für die Aufrechterhaltung der Struktur des Selbst wird solchen Erfahrungen im Bewußtsein eine verzerrte Sym­bolbedeutung gegeben, die diese Inkongruenz reduziert. Auf diese Weise verteidigt sich der einzelne gegen jede Änderung, die sein Selbst­bild bedrohen könnte.

Bei dem Menschen jedoch, der seiner Erfahrung gegenüber offen ist, würde jeder Reiz - ob er nun seinen Ursprung innerhalb des Organis­mus oder in der Umwelt hat - frei über das Nervensystem übertragen, ohne durch Abwehrmechanismen verzerrt zu werden. Dann wäre es nicht mehr notwendig, den »Alarm«-Mechanismus aufrechtzuerhal­ten, der dem Organismus bei jeder Erfahrung, die das Selbst bedroht, als Vorwarnung dient. Im Gegenteil - ob es sich bei dem Reiz nun um

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die Einwirkung eines Form-, Farb- oder Klanggebildes aus der Umge­bung auf die Sinnesorgane handelt oder um Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit oder um viszerale Erregung der Angst, der Freude oder des Ekels - ein solcher Mensch würde all dies »leben« und sich all des­sen vollkommen bewußt sein.

Vielleicht kann ich dieser Auffassung lebendigere Bedeutung geben, wenn ich sie anhand eines Therapiegesprächs illustriere, das auf Band aufgenommen wurde. Ein berufstätiger junger Mann berichtet in der 48. Sitzung, wie er einigen Körperempfindungen und auch anderenGefühlen gegenüber offener geworden ist.

Klient: »Ich glaube nicht, daß irgend jemand in der Lage wäre, all die Veränderungen zu ermitteln, die ich fühle. Aber ich merke seit kurzem genau, daß ich meinen Körper mehr respektiere und daß ich ihn objek­tiver sehe. Ich meine, ich erwarte nicht mehr zu viel von mir. Ich sehe es ungefähr so: Meinem Gefühl nach habe ich früher immer eine be­stimmte Müdigkeit bekämpft, die ich nach dem Abendessen spürte. Ja - und jetzt bin ich mir ziemlich sicher, daß ich wirklich erschöpft bin,daß ich mir meine Müdigkeit nicht absichtlich mache, daß ich einfachkörperlich geschwächt bin. Allem Anschein nach habe ich einfach stän­dig meine Erschöpfung kritisiert.«

Therapeut: »Also können Sie sich müde sein lassen, anstatt wegen der Müdigkeit irgendwie an sich herumzukritisieren.«

Klient: »Ja, daß ich nicht mehr müde sein sollte oder so. Und das reicht irgendwie ziemlich tief, daß ich diese Möglichkeit einfach nicht mehr bekämpfen kann. Und damit verbunden ist auch echt ein Gefühl, daß ich langsamer treten muß, und deswegen ist es nicht mehr so schiimm, müde zu sein. Ich glaube, ich kann hier auch irgendwie einen roten Faden sehen: wieso ich hier genauso sein sollte wie mein Vater und wie er solche Sachen ansieht. Zum Beispiel angenommen, ich würde krank und ich würde ihm Bescheid sagen, dann würde es nach außen so scheinen, daß er sich irgendwie darum kümmern möchte, aber er würde auch sagen: ,Oh mein Gott, noch mehr Sorgen.< So irgend­was, wissen Sie.«

Therapeut: »Als ob es eigentlich etwas ganz Lästiges wäre, körper­lich krank zu sein.«

Klient: »Genau, ich bin sicher, daß mein Vater seine körperlichen Bedürfnisse genausowenig achtet wie ich früher. Jetzt, im letzten Som­mer, habe ich mir den Rücken verzerrt, verstaucht, ich hörte es knacken und alles. Es hat am Anfang richtig weh getan die ganze Zeit, wirklich heftig. Und ich bin zum Arzt gegangen, und der hat gesagt, es sei nichts Schlimmes und es würde von selber heilen, solange ich mich nicht allzu

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sehr bücken würde. Na ja, das ist Monate her - und neulich habe ich gemerkt, daß - zum Teufel, das ist echter Schmerz und er ist immer noch da-es ist nicht mein Fehler, ich meine ... «

Therapeut: »Es sagt nichts Schlimmes über Sie aus?«

Klient: »Nein-und ich glaube, daß einer der Gründe, weswegen ich müder werde als ich sollte, vielleicht dieser permanente Schmerz ist und so. Ich habe mich schon bei einem der Ärzte im Krankenhaus angemel­det, daß er sich's mal anschaut und eine Röntgenaufnahme macht oder so was ähnliches. Irgendwie kann man sagen, meine ich, daß ich diesen Dingen gegenüber einfach gewissenhafter - oder objektiv empfindsa­mer bin. Ich kann mit Sicherheit sagen, daß es auch Auswirkungen darauf hat, was und wieviel ich esse. Und das ist eine wirklich tiefge­hende Änderung, meine ich. Und natürlich hat sich die Beziehung zu meiner Frau und zu meinen beiden Kindern -na ja, selbst wenn sie in mich hineinsehen könnten, sie würden mich nicht wiedererkennen -wie Sie ja -ich meine ... es scheint wirklich nichts Schöneres zu geben, als wirklich und echt-wirklich Liebe für das eigene Kind zu spüren und sie gleichzeitig zu empfangen. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Wir haben soviel mehr Achtung füreinander-beide von uns-und J udy und ich haben gemerkt - in dem Maße, in dem wir aneinander Anteil nahmen, ist eine so große Veränderung in ihr vorgegangen -es scheint ziemlich tief zu gehen.«

Therapeut: »Ich habe den Eindruck, Sie wollen sagen, daß Sie ge­nauer in sich hineinhören können. Wenn Ihr Körper sagt, daß er müde ist, hören Sie auf ihn und glauben ihm, anstatt ihn zu kritisie­ren; wenn er Schmerzen hat, können Sie das auch hören; wenn es das Gefühl wirklicher Liebe für Ihre Frau und Ihre Kinder ist, so können Sie das spüren; und das scheint sich auch in deren Veränderungen zu zeigen.«

Aus diesem relativ geringfügigen, aber symbolisch wichtigen Ge­sprächsauszug kann man viel von dem sehen, was ich versucht habe, über Aufgeschlossenheit gegenüber Erfahrung zu sagen. Früher konnte der Klient Schmerz oder Krankheit nicht wirklich zulassen, weil Kranksein für ihn bedeutete, nicht akzeptiert zu werden. Ebenso konnte er für seine Kinder keine Zärtlichkeit und Liebe empfinden, weil solche Gefühle für ihn Ausdruck von Schwäche waren und er seine Fassade des starken Mannes aufrechterhalten mußte. Jetzt aber ist er echt aufgeschlossen für das Erleben seines Körpers: Er kann müde sein, wenn er müde ist, Schmerz spüren, wenn sein Körper schmerzt, er kann die Liebe wirklich spüren, die er für seine Tochter empfindet, und

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er kann es auch erleben und ausdrücken, wenn er sich über sie ärgert, was sich aus dem weiteren, hier nicht zitierten Teil des Gesprächs er­gibt. Er ist imstande, sich auf die Erfahrung seines gesamten körper­lichen Seins voll einzulassen, anstatt sie von seinem Bewußtsein fernzu­halten.

Ich habe das Konzept -nämlich daß inneres Erleben dem Bewußt­sein verfügbar ist - benutzt, um deutlich zu machen, was ich unter Aufgeschlossenheit gegenüber Erfahrung meine. Das könnte mißver­standen werden. Ich meine damit nicht, daß der jeweilige Mensch selbstbefangen seine Aufmerksamkeit auf all das richten würde, was in ihm vorgeht, wie etwa der Tausendfüßler, der sich über jeden einzelnen seiner Füße bewußt würde. Im Gegenteil: Dieser Mensch wäre frei, ein Gefühl sowohl von innen her zu erleben, wie sich dieses Gefühls zu­gleich bewußt zu sein. Er könnte Liebe, Schmerz oder Angst erfahren, indem er diese Gefühle voll auslebt. Oder er könnte von seinem Erle­ben abstrahieren und im Bewußtsein feststellen: »Ich habe Schmer­zen«, »Ich habe Angst« oder »Ich liebe«. Der springende Punkt ist dabei, daß es keine Schranken, keine Hindernisse gibt, die volles Erle­ben all dessen, was auch immer im Körper vorgeht, verhindern wür­den; und hierbei ist ein gutes Maß für das Fehlen von Schranken der Grad, in dem Erfahrungen dem Bewußtsein verfügbar sind.

2. Diese Person würde existentiell leben.Es ist wohl klar, daß für denjenigen, der seinem Erleben gegenüber

völlig offen ist und der keinerlei Abwehrmechanismen nötig hat, jeder Augenblick neu wäre. Das komplexe Zusammenspiel innerer und äu­ßerer Reize, das zu einem gegebenen Augenblick existiert, hat es in dieser Gestalt niemals vorher gegeben. Infolgedessen würde unsere hy­pothetische Person feststellen: » Was ich im nächsten Moment sein und was ich tun werde, erwächst aus diesem Moment und kann weder von mir noch von anderen vorhergesehen werden.« Nicht selten bringen Klienten so etwas wie dieses Gefühl zum Ausdruck. So sagte zum Bei­spiel einer ziemlich nachdenklich am Ende der Therapie: »Ich bin mit der Aufgabe noch nicht am Ende, mich selbst ganz zu erleben und zu reorganisieren, aber das ist nur verwirrend, nicht entmutigend, nach­dem ich jetzt erkannt habe, daß das ein kontinuierlicher Prozeß ist. .. Es ist eine spannende, manchmal aufregende, aber höchst ermutigende Sache, sich handelnd zu erleben und augenscheinlich zu wissen, wo man hingeht, auch wenn man nicht immer ganz bewußt weiß, wohin man geht.«

Man kann das Im-Fluß-Sein, das in einem solchen existentiellen Le­ben vorhanden wäre, auch folgendermaßen charakterisieren: Das Selbst

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und die Persönlichkeit würden sich eher aus der Erfahrung herausbil­den, als daß Erfahrung umgebaut oder verdreht würde, um sie an eine vorgefaßte Persönlichkeitsstruktur anzupassen. Das bedeutet, daß man an dem fortlaufenden Prozeß aller Seinserfahrung eher teilnimmt und ihn zugleich beobachtet, als ihn zu kontrollieren. In Kapitel sechs habe ich zu beschreiben versucht, wie ich diese Art zu leben sehe:

Die ganze Kette von Erfahrungen und die Sinnzusammenhänge, die ich bis jetzt in ihr entdeckt habe, scheinen mich in einen Prozeß getrieben zu haben, der faszinierend und beängstigend zugleich ist. Offensicht­lich geht es darum, mich von meinen Erfahrungen tragen zu lassen -dem Anschein nach vorwärts, Zielen entgegen, die ich bei dem Ver­such, wenigstens den aktuellen Sinn dieser Erfahrung zu verstehen, nur undeutlich umreißen kann. Es ist das Gefühl, in einem komplexen Strom von Erfahrung zu treiben, wobei die faszinierende Möglichkeit in dem Versuch besteht, seine sich fortwährend verändernde Komple­xität zu begreifen.

Solches Im-Augenblick-Leben bedeutet demnach, daß es keine Starr­heit, keine enge Organisation und keine zwanghafte Durchstrukturie­rung von Erfahrung mehr gibt. An ihre Stelle treten maximale Anpas­sungsfähigkeit, das Entdecken von Struktur innerhalb der Erfahrung und eine sich ständig wandelnde Strukturierung des Selbst und der Per­sönlichkeit.

Persönlichkeit und Selbst befänden sich dann in fortwährendem Fluß. Die einzigen unveränderlichen Elemente wären die physiologi­schen Fähigkeiten und Grenzen des Organismus, seine ständigen oder wiederkehrenden Bedürfnisse, wie Selbsterhaltung und -entfaltung, Nahrung, Zuwendung, Sexualität usw. Die stabilsten Persönlichkeits­merkmale wären dann Aufgeschlossenheit gegenüber Erfahrung und Flexibilität bei der Befriedigung der jeweils bestehenden Bedürfnisse in der jeweils gegebenen Umwelt.

3. Diese Person würde ihren Organismus als vertrauenswürdigesMittel betrachten, in jeder Lebenssituation das Verhalten zu entwik­keln, das am meisten Befriedigung mit sich bringt.

Sie würde danach handeln, wie ihr unmittelbar »zumute« ist, und darin im allgemeinen einen brauchbaren und vertrauenswürdigen Füh­rer für ihr Verhalten sehen.

Wenn Ihnen dies befremdlich erscheint, lassen Sie mich den dahin­terliegenden Gedankengang erläutern. Da dieser Mensch ja seiner Er­fahrung gegenüber offen wäre, hätte er Zugang zu all den verfügbaren Daten der Situation, auf denen er sein Verhalten aufbauen kann: die

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sozialen Anforderungen, seine eigenen komplexen und möglicherweise widerstreitenden Bedürfnisse; seine Erinnerung an ähnliche Situa­tionen; seine Wahrnehmung, die ihm sagt, inwieweit die Situation ein­zigartig ist usw. Die dynamischen Aspekte jeder Situation wären in der Tat sehr komplex. Aber er könnte es seinem Organismus - sein Be­wußtsein eingeschlossen - erlauben, jeden Reiz, jedes Bedürfnis, jede Anforderung und ihre jeweilige Intensität und Bedeutung in Erwägung zu ziehen; und er könnte durch dieses komplexe Abwägen und Ausba­lancieren denjenigen Handlungsverlauf herausfinden, der für die Be­friedigung all seiner aktuellen Bedürfnisse am geeignetsten wäre. Eine Analogie, mit der man das Gesagte annähernd beschreiben könnte, wäre, einen solchen Menschen mit einem riesigen Elektronengehirn zu vergleichen. Da er seiner Erfahrung gegenüber offen ist, werden alle Daten seiner sinnlichen Wahrnehmung, seines Gedächtnisses, seiner früher gemachten Lernerfahrungen und seines psycho-physischen Zu­stands in den Computer eingegeben. Der Computer speichert all diese vielfältigen Wünsche und Triebe, die als Daten eingefüttert wurden, und rechnet sofort die Verhaltensrichtung aus, die in dieser Lebenssi­tuation am ökonomischsten zur Bedürfnisbefriedigung führt. Dies ist das Verhalten unseres hypothetischen Menschen.

Die Defekte, die bei den meisten von uns dazu führen, daß wir die­sem Vorgang nicht trauen, bestehen darin, daß wir nicht-existierendes Material einbeziehen oder über keine Daten verfügen. Immer dann, wenn Erinnerungen und Erfahrungen von früher so eingefüttert wer­den, als seien sie jetzige Wirklichkeit und nicht Erinnerung und Erfah­rung aus der Vergangenheit, entstehen falsche Verhaltensreaktionen. Irrtümer werden auch dadurch hervorgerufen, daß bestimmte bedroh­liche Erfahrungen vom Bewußtsein verdrängt werden und daher ent­weder gar nicht oder verzerrt einbezogen werden. Unser hypotheti­scher Mensch dagegen würde seinen Organismus absolut vertrauens­würdig finden, weil alle verfügbaren Daten verwendet würden und die Informationen der Wirklichkeit entsprächen, statt sie zu verzerren. So­mit würde sein Verhalten der Befriedigung all seiner Bedürfnisse so nah wie überhaupt nur möglich kommen - der Bedürfnisse, sich zu entfal­ten, mit anderen zusammenzusein und dergleichen mehr.

Bei diesem Abwägen, Ausbalancieren und Berechnen würde sein Organismus keineswegs unfehlbar sein. Er würde immer- den verfüg­baren Daten entsprechend - die bestmögliche Antwort herausfinden; aber manchmal wird es ihm an Informationen fehlen. Wegen seiner Fähigkeit, seiner Erfahrung gegenüber offen zu sein, würde jedoch je­der Irrtum, jede unbefriedigende Auswirkung seines Tuns schnell kor-

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rigiert werden. Die jeweiligen Berechnungen befänden sich permanent in einem Korrekturprozeß, weil sie fortwährend am Verhalten über­prüft würden.

Vielleicht mögen Sie meinen Vergleich mit einer elektronischen Re­chenmaschine nicht. Lassen Sie es mich in menschlicheren Begriffen sagen. Der vorhin bereits zitierte Klient bemerkte an sich selbst, daß er Ärger wie auch Liebe gegenüber seiner Tochter ausdrücken konnte, wenn ihm »danach zumute« war. Er stellte aber fest, daß er es in einer Weise tat, die nicht nur seine innere Spannung verringerte, sondern auch das kleine Mädchen dazu brachte, seinen eigenen Ärger auszu­drücken. Er beschreibt die Unterschiede, die bestehen, wenn er seinen Ärger und seine Wut mitteilt, statt sie auf ihr abzuladen. Er fährt fort: »Weil mir einfach nicht danach zumute ist, meine Gefühle einfach aufihr abzuladen; und ich glaube, ich muß das auch in meinem Gesichtausdrücken. Vielleicht sieht sie es an als ,Hm, Papi ist wütend, aber ichbrauch mich nicht zu ducken,. Denn das tut sie wirklich nie. Ich könnteallein darüber einen Roman schreiben; ich fühle mich so wohl dabei.«

In diesem Fall selektiert er - auf Grund seiner Offenheit gegenüberErfahrung - mit erstaunlich intuitiver Geschicklichkeit eine subtil aus­gewogene Verhaltensweise, die dem Bedürfnis, seinen Ärger zu min­dern, entgegenkommt, aber auch seinen Wunsch befriedigt, ein guterVater zu sein und seine Tochter sich optimal entwickeln zu sehen. Unddoch erreicht er all dies einfach dadurch, daß er das tut, wonach ihmzumute ist.

Mir scheint dies - auf einer anderen Ebene - dieselbe Art komplexer organismischer Wahl darzustellen, die auch das Verhalten eines kreati­ven Menschen bestimmt. Der kreative Mensch sieht sich in eine be­stimmte Richtung gehen, lange bevor er eine vollkommen bewußte und rationale Begründung dafür hat. Während dieser Phase - ob er nun einen neuen künstlerischen Ausdruck sucht oder einen neuen literari­schen Stil, eine neue wissenschaftliche Theorie oder einen neuen Unter­richtsansatz - vertraut er einfach auf die Reaktionen seines gesamten Organismus. Er ist sich gefühlsmäßig sicher, daß er auf seinem Weg ist, selbst wenn er den Endpunkt dieser Reise nicht beschreiben könnte. Dies ist die Art von Verhalten, die meiner Meinung nach auch den Men­schen kennzeichnet, der von seiner Therapie profitiert hat, oder auch jenen, der in seiner Ausbildung dazu befähigt wurde, zu lernen, wie man lernt.

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Die sich verwirklichende und voll handlungsfähige Persönlichkeit

Eigentlich sollte ich diese drei Gedankengänge in einer einheitlicheren Darstellung zusammenfassen. Es scheint, daß der Mensch, der aus einer theoretisch optimalen Erfahrung persönlichen Wachstums her­vorgegangen ist - sei es nun aus einer klientenzentrierten Therapie oder aus irgendeiner anderen Lern- und Wachstumserfahrung -, ein sich verwirklichender und voll handlungsfähiger Mensch geworden ist. Er ist imstande, in und mit allen seinen Gefühlen und Reaktionen zu le­ben. Er gebraucht seinen Organismus als Mittel, die existentielle Situa­tion in sich und seiner Umwelt so genau wie möglich zu erschließen. Er benutzt alle Daten, die ihm sein Nervensystem zur Verfügung stellen kann; er nutzt sie bewußt, berücksichtigt aber, daß sein Gesamtorga­nismus vielleicht klüger sein mag- und oft ist - als sein Bewußtsein. Er läßt seinen gesamten Organismus in all seiner Komplexität funktionie­ren, d. h. aus einer Vielzahl von Möglichkeiten das Verhalten auswäh­len, das im jeweiligen Augenblick die umfassendste und echte Befriedi­gung bringt. Er kann seinem Organismus vertrauen; nicht, weil dieser unfehlbar wäre, sondern weil er den Auswirkungen seiner Aktionen vollkommen offen gegenübersteht und sie berichtigen kann, wenn sie ihn nicht befriedigen.

Dieser Mensch ist in der Lage, alle seine Gefühle zu erleben, statt Angst vor den eigenen Emotionen zu haben. Er bestimmt sich selbst, ist aber für alle Erfahrungen offen; er ist ganz damit beschäftigt, er selbst zu sein und zu werden, und entdeckt dabei, daß er ein psychisch gesunder und wirklich sozialer Mensch ist. Er lebt vollkommen für den Augenblick, aber er lernt, daß das das Vernünftigste für sein Leben ist. Er ist ein sich ganz verwirklichender und handlungsfähiger Organis­mus, und auf Grund seines Selbstbewußtseins, das sein Handeln kenn­zeichnet, ist er auch eine sich verwirklichende und voll handlungsfähige Persönlichkeit.

Folgerungen aus dieser Darstellung

Das war also mein Versuch, das hypothetische Ende einer Therapie zu umreißen, das Schlußbild zu beschreiben, das unsere heutigen Klienten anstreben, aber nie ganz erreichen, das Bild jenes Menschen, der konti­nuierlich lernt zu leben. Ich mag diese Darstellung inzwischen gern, einmal weil sie, wie ich glaube, in meiner klinischen und erzieherischen Erfahrung wurzelt und sich dort als richtig erweist und auch weil sich

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aus ihr meiner Meinung nach bedeutende klinische, wissenschaftliche und philosophische Schlußfolgerungen ergeben. Ich möchte einige dieser Verzweigungen und Konsequenzen, so wie ich sie sehe, schil­dern.

A. Eignung für die klinische Praxis

An erster Stelle scheint mir meine Auffassung eine Begründung für die Phänomene zu enthalten, die sich, klinischer Erfahrung nach, im Ver­lauf einer erfolgreichen Therapie einstellen. Wir haben die Tatsache an­geführt, daß der Klient in sich selbst einen Bezugspunkt für Wertungen entwickelt. Dies entspricht der Auffassung von der Vertrauenswürdig­keit des Organismus. Wir haben die Befriedigung, die sich mit voller Handlungsfähigkeit einstellt. Wir stellen fest, daß Klienten ein viel breiteres Spektrum und eine weitaus größere Vielfalt von Gefühlen zu­lassen - einschließlich der Gefühle, die früher Angst auslösten - und daß diese Gefühle sinnvoll in ihre flexibler strukturierte Persönlichkeit integriert werden. Kurz, die von mir vertretene Auffassung scheint mir genügend weit gefaßt, um die positiven Therapieresultate, wie wir sie kennen, zu berücksichtigen.

B. Das Konzept führt zu brauchbaren Hpyothesen

Obwohl die vorliegende Darstellung zugegebenermaßen spekulativ ist, trägt sie meiner Meinung nach zur Bildung von Hypothesen bei, die in streng wissenschaftliche und operationalisierte Begriffe gefaßt werden könnten. Ich glaube, daß diese Hypothesen eher kulturunspezifisch, also universell sein werden, als sich nach einzelnen Kulturkreisen zu unterscheiden.

Es ist offensichtlich, daß die dargelegten Konzepte nicht so ohne weiteres überprüft und gemessen werden können. Aber mit unseren ständig an Umfang und Differenziertheit zunehmenden Forschungen auf diesem Gebiet erscheint ihre Meßbarkeit nicht als unmäßige Hoff­nung.

C. Das Konzept erklärt ein Paradox persönlicher Entfaltung

In einigen unserer wissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Gebiet der Psychotherapie haben wir festgestellt, daß sich bei der Analyse von Persönlichkeitstests vor und nach der Therapie durch verschiedene un­abhängige Gutachter erstaunliche Differenzen in der Bewertung erga-

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ben. Bei Patienten, deren persönlicher Therapiegewinn durch anderes Material genügend belegt war, stellten wir unter den Gutachtern Wi­dersprüche in der Interpretation der Persönlichkeitstests fest. Um es kurz zusammenzufassen: Psychologen, die streng an Persönlichkeits­diagnosen orientiert sind und den einzelnen an den allgemeinen Nor­men messen, neigen dazu, das zu kritisieren, was sie nach Beendigung der Therapie für einen Mangel an persönlichen Abwehrkräften oder für ein bestimmtes Maß von Unstrukturiertheit halten. Vielleicht fürchten sie, daß der betreffende Mensch »auseinanderfallen« könnte. Die Psychologen, die therapieorientiert sind, betrachten dasselbe Testma­terial als Ausdruck von Flexibilität, Aufgeschlossenheit gegenüber Er­fahrung und als Zeichen einer eher lebendigen als rigiden Persönlich­keitsstruktur.

Ich halte es für möglich, daß das »Gelockerte«, die Offenheit eines Menschen, der eine deutliche persönliche Entwicklung durchläuft - in Begriffen gesellschaftlicher Normen gesprochen-, als von der Norm abweichend, als »nicht normal« angesehen werden kann. Aber diesel­ben Eigenschaften können auch bedeuten, daß jede persönliche Ent­wicklung durch einen gewissen Grad von Destrukturierung gekenn­zeichnet ist, der eine Neustrukturierung folgt. Der Schmerz, neue Seiten in einem neuen Selbstverständnis zu sehen und zu akzeptieren, das Gefühl der Unsicherheit, des Schwankens, ja sogar der Aufruhr in einem selbst sind integraler Bestandteil der Freude und Befriedigung, mehr und mehr man selbst zu sein und handlungsfähiger zu werden. Dies ist für mich eine sinnvolle Erklärung dessen, was sonst als verwir­rendes Paradox erscheint.

D. Kreativität als ein Ereignis

Eines der Elemente meiner theoretischen Formulierung, das mir ge­fällt, ist, daß es um eine kreative Person geht. Der am hypothetischen Endpunkt einer Therapie angekommene Mensch könnte gut einer von Maslows »sich selbst verwirklichenden Menschen« sein. Mit seiner sensiblen Weltoffenheit, mit seinem Vertrauen auf seine Fähigkeit, neue Beziehungen zu seiner Umwelt aufzunehmen, wäre er die Art von Mensch, der kreativ produziert und kreatives Leben initiiert. Er wäre nicht notwendigerweise an seine Kultur »angepaßt«, und er wäre ziem­lich sicher kein Konformist. Aber zu jeder Zeit und in jedem Kultur­kreis würde er konstruktiv und in soviel Übereinstimmung mit dieser Kultur leben, wie es eine ausbalancierte Befriedigung seiner Bedürfnisse erforderte.Unter bestimmten kulturellen Bedingungen wäre er in man-

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eher Hinsicht sicher sehr unglücklich, aber er würde weiter er selbst bleiben und sich so verhalten, daß er im höchstmöglichen Maß für die Befriedigung seiner innersten Bedürfnisse sorgt.

Solch ein Mensch würde, glaube ich, von einem Evolutionstheoreti­ker als Typ betrachtet werden, bei dem die Wahrscheinlichkeit am größten wäre, daß er sich veränderten Umweltbedingungen anpaßt und überlebt. Er wäre fähig, sich vernünftig auf neue wie auf alte Bedingun­gen einzustellen. Er würde zur starken Vorhut menschlicher Evolution gehören.

E. Das Konzept gründet auf der Vertrauenswürdigkeitder menschlichen Natur

Eines wird klar geworden sein: Meine Anschauung impliziert, daß die eigentliche Natur des Menschen, sofern er voll handlungsfähig ist, schöpferisch und zuverlässig zugleich ist. Für mich ist das der zwin­gende Schluß aus über 30 Jahren psychotherapeutischer Erfahrung. Wenn wir den Menschen von seinen Abwehrmechanismen befreien können, so daß er dem breiten Spektrum seiner Bedürfnisse gegenüber ebenso aufgeschlossen ist wie den vielfältigen Anforderungen seiner Umwelt und seiner sozialen Belange, kann man darauf vertrauen, daß seine Handlungsweise positiv, zukunftsorientiert und konstruktiv sein wird. Wir brauchen die Frage nicht zu stellen, wer ihn sozialisieren soll; denn eines seiner tiefsten Bedürfnisse ist der Kontakt und die Kommunikation mit anderen. Wenn er vollkommen er selbst ist, kann er nicht anders als wirklich sozialisiert zu sein. Wir brauchen nicht zu fragen, wer seine aggressiven Impulse kontrollieren wird; denn wenn er allen inneren Impulsen gegenüber aufgeschlossen ist, ist der Wunsch, von den anderen geliebt zu werden und andere zu lieben, genauso stark wie das Bedürfnis, sich nach außen hin abzugrenzen oder für sich zu sorgen. Er wird in solchen Situationen aggressiv sein, in denen Aggres­sion wirklich notwendig ist, aber seine Aggression wird nicht mit ihm durchgehen. In diesen und anderen Lebensbereichen ist sein gesamtes Verhalten - wenn er für all seine Erfahrungen offen ist - ausgewogen und realistisch; es ist ein Verhalten, das der Selbsterhaltung und Selbst­entfaltung eines sozialen Wesens entspricht.

Ich habe wenig Sympathie für die ziemlich weit verbreitete Auffas­sung, daß der Mensch ein von Natur aus unvernünftiges Wesen ist und daher seine Triebregungen, wenn sie nicht kontrolliert würden, zu Selbst- und Fremdzerstörung führten. Das menschliche Verhalten ist ausgesprochen vernünftig und in seiner subtilen und wohl geordneten

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Komplexität auf die Ziele orientiert, nach denen der menschliche Orga­nismus strebt. Für die meisten von uns besteht die Tragödie darin, daß unsere Abwehrhaltungen uns daran hindern, diese Vernunft wahrzu­nehmen, so daß wir vom Intellekt her in die eine Richtung gehen, wäh­rend unser Organismus in eine andere Richtung strebt. Bei unserem hypothetischen Menschen aber würde es solche Brüche nicht geben, er würde der Vernunft seines gesamten Organismus folgen. Die einzige Kontrolle von Impulsen, die es gäbe bzw. die sich als notwendig erwei­sen würde, wäre das natürliche und innere Abwägen eines Bedürfnisses gegen ein anderes und das Auffinden von Verhaltensweisen, die der Befriedigung aller Bedürfnisse am nächsten kommen. Die Erfahrung, daß ein Bedürfnis (nach Aggression, Sexualität usw.) exzessiv auf Ko­sten anderer Bedürfnisse (nach Kameradschaft, nach Zärtlichkeit usw.) befriedigt wird - eine Erfahrung, die bei einem defensiv strukturierten Menschen völlig üblich ist-, würde unser hypothetisches Individuum einfach nicht kennen. Es würde mit den enorm komplexen selbstregu­latorischen Aktivitäten seines Organismus - den psychischen wie den physischen homöostatischen Funktionen - so im Einklang stehen, daß es harmonisch mit sich und anderen leben könnte.

F. Das Verhalten ist zuverlässig, aber nicht voraussagbar

Es fasziniert mich, noch über einige Implikationen, die mit dieser Sicht vom optimalen Menschen verbunden sind und die etwas mit Voraus­sagbarkeit zu tun haben, nachzudenken. Das skizzierte theoretische Bild soll zeigen, daß die jeweilige Zusammensetzung innerer und äuße­rer Reize, die jemand im Augenblick erlebt, in genau dieser Konstella­tion niemals vorher existiert hat und daß sein Verhalten auch eine der Wirklichkeit entsprechende Reaktion auf Grund eines genauen Begrei­fens all dieser internalisierten Daten ist. Deshalb sollte es klar sein, daß dieser Mensch für sich selbst weiß, daß er zuverlässig, aber nicht im einzelnen voraussagbar ist. Wenn er sich z.B. in einer neuen Situation mit einer Autoritätsperson befindet, kann er sein eigenes Verhalten nicht vorhersagen. Es ist abhängig von dem Verhalten dieser Autori­tätsperson und seinen eigenen unmittelbaren inneren Reaktionen, Wünschen usw. Er kann zwar darauf vertrauen, daß er sich adäquat vehalten wird, aber er weiß nicht im voraus, was er tun wird. Dieser Zusammenhang wird häufig von Klienten zum Ausdruck gebracht, und ich glaube, daß er ganz besonders wichtig ist.

Was ich über den Patienten gesagt habe, gilt allerdings ebenso für den Wissenschaftler, der dessen Verhalten studiert. Der Wissenschaftler

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würde das Verhalten dieses Menschen gesetzmäßig finden, und er würde es auch nachträglich erklären können, aber er könnte sein jeweiliges Verhalten weder vorausplanen noch vorhersagen. Die Gründe dafür sind folgende: Wenn das Verhalten unseres hypothetischen Menschen ausschließlich von der fehlerfreien Aufnahme der gesamten komplexen Wirklichkeit bestimmt wird, die in einem gegebenen Augenblick exi­stiert, dann wären die für solche Vorhersage notwendigen Daten klar. Man bräuchte entsprechende Instrumente, die jeden einzelnen der un­zähligen Reize des Inputs messen, und einen riesigen Computer für die Berechnung der ökonomischen Verhaltensrichtung. Noch während diese Rechnung durchgeführt würde, hätte unser hypothetischer Mensch diese komplizierte Aufzählung und Einschätzung mit Hilfe seines eigenen Organismus schon längst abgeschlossen; er hätte bereits gehandelt. Wenn die Wissenschaft eines Tages all diese Daten mit aus­reichender Genauigkeit sammeln könnte, müßte sie theoretisch in der Lage sein, sie zu analysieren; sie müßte zu demselben Ergebnis kom­men und könnte dadurch das betreffende Verhalten nachträglich bestä­tigen. Es ist aber zu bezweifeln, ob es jemals möglich ist, die Daten im gegebenen Augenblick zu sammeln und zu analysieren, was notwendig wäre, wenn Verhalten vor seinem Eintritt vorhergesagt werden soll.

Dies mag deutlicher werden, wenn ich zeige, daß es die schlecht an­gepaßte Person ist, deren Verhalten spezifisch vorausgesagt werden kann. Andererseits sollte es bei einem Menschen jedesmal dann, wenn er seiner Erfahrung gegenüber offener wird und damit existentieller lebt, nachweisbar weniger möglich werden, sein Verhalten vorherzusa­gen. Bei der schlecht angepaßten Person ist Verhalten präzis vorherseh­bar, weil es nach starren Mustern verläuft. Wenn solch ein Mensch starr das Verhaltensmuster gelernt hat, auf eine Autoritätsperson feindselig zu reagieren, und dieses »Autorität ist schlecht« ein Teil seiner Auffas­sung von sich selbst in bezug auf Autorität ist, und wenn er deswegen jede Erfahrung negiert oder entstellt, die ihm einen Gegenbeweis lie­fern könnte - dann ist sein Verhalten spezifisch vorhersagbar. Wenn er in eine neue Situation mit einer Autoritätsperson gerät, kann man mit Sicherheit sagen, daß er ihr feindselig gegenübertreten wird. Aber je mehr eine Therapie oder irgendeine die Entwicklung vorantreibende Beziehung bei diesem Menschen die Aufgeschlossenheit gegenüber sei­ner Erfahrung vermehrt, desto weniger voraussagbar wird sein Verhal­ten sein. Diese Auffassung wird in etwa durch die Michigan Studie (Kel­ley und Fiske, 1951) bestätigt, in der es um die Voraussagbarkeit von Erfolg auf dem Gebiet der klinischen Psychologie ging. Die Voraussagen für die Personen, die sich während des Untersuchungszeitraumes in

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Therapie befanden, waren signifikant ungenauer als für die Gesamt­gruppe der Versuchspersonen.

Was ich hier sage, steht im Zusammenhang mit der üblichen Auffas­sung, daß der langfristige Zweck der Psychologie als Wissenschaft »die Voraussage und Kontrolle menschlichen Verhaltens« ist - ein Satz, der für mich vom Philosophischen her gesehen beunruhigend ist. Ich meine, daß in dem Maße, in dem das Individuum dem beschriebenen Optimum der vollen Handlungsfähigkeit näher kommt, sein Verhal­ten, obwohl immer gesetzmäßig und bedingt, immer schwerer voraus­sagbar wird und, obwohl immer zuverlässig und angemessen, immer schwerer zu kontrollieren ist. Dies würde bedeuten, daß die Psycholo­gie als Wissenschaft auf ihrer höchsten Stufe eher eine verstehende als eine voraussagende Wissenschaft wäre; sie würde eher die Gesetz­mäßigkeit in dem analysieren, was sich ereignet hat, als vorwiegend zu kontrollieren, was sich im nächsten Moment ereignen soll.

Im allgemeinen wird dieser Gedankengang durch unsere Klienten bestätigt, die darauf vertrauen, daß das, was sie in einer Situation tun werden, adäquat, sinnvoll und vernünftig sein wird, die aber nicht im voraus wissen, wie sie sich verhalten werden. Er wird auch durch un­sere Erfahrung als Therapeuten gestützt, indem wir eine Beziehung aufbauen, von der wir sicher annehmen können, daß der Klient sich in ihr entdecken und er selbst werden kann und daß er lernen kann, hand­lungsfähiger zu werden; aber wir können den spezifischen Inhalt seiner nächsten Aussage, der nächsten Therapiephase oder der Lösung, die der Klient in seinem Verhalten für ein gegebenes Problem findet, nicht voraussagen. Die Hauptrichtung ist klar, und wir können sicher sein, daß sie stimmt; aber die spezifische Ausformung in der jeweiligen Si­tuation ist nicht vorher bestimmbar.

G. Das Konzept schafft eine Beziehung zwischen Freiheitund Bedingtheit

Ich möchte gern eine letzte philosophische Folgerung ziehen, die ich wichtig finde. Eine Zeitlang hat mich der lebendige Widerspruch zwi­schen Freiheit und Bedingtheit verblüfft, der in der Psychotherapie exi­stiert. Ich habe darauf im vorangegangenen Kapitel bereits hingewie­sen. Ich möchte zu diesem Thema noch einen weiteren Gedanken hin­zufügen. Eine der eindringlichsten persönlichen Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung ist die, in der der Klient in seinem Inneren die Kraft für eine existentielle Entscheidung fühlt. Er ist frei- entweder er selbst zu werden oder sich hinter einer Fassade zu verbergen; vor-

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wärtszugehen oder zu regredieren; sich in einer selbst- und fremdde­struktiven oder in einer konstruktiven Weise zu verhalten. Er ist im vollsten Sinne des Wortes, sowohl in physiologischer wie in psycholo­gischer Hinsicht, frei zu leben oder zu sterben. Gleichwohl sind wir von da an, wo wir das Gebiet der Psychotherapie mit objektiven For­schungsmethoden angehen, wie jeder andere Wissenschaftler einem völligen Determinismus verpflichtet. Aus dieser Perspektive ist jeder Gedanke, jedes Gefühl und jede Handlung des Klienten von dem be­stimmt, was vorausgegangen ist. Das Dilemma, das ich zu beschreiben versuche, unterscheidet sich nicht von dem in anderen Gebieten - es ist einfach deutlicher sichtbar. Ich habe versucht, das in einer Schrift näher auszuführen, die ich vor einiger Zeit verfaßt habe und in der diese zwei Perspektiven einander gegenübergestellt werden. Auf dem Gebiet der Psychotherapie

»findet man im Höchstmaß all das, was subjektiv, innerlich und per­sönlich ist. Hier wird eine Beziehung gelebt, nicht untersucht; und estaucht eine Person auf, nicht ein Objekt - eine Person, die erlebt, sichentscheidet, für wahr hält und handelt, nicht als ein Automat, sondernais ein Mensch. Und hier findet sich auch die höchste Stufe der Wissen­schaft: die objektive Erforschung der subjektivsten Aspekte des Le­bens; die Verallgemeinerung durch Hypothesen und eventuell durchTheoreme von all dem, was als zutiefst persönlich, als Innerstes, alsvöllig private Welt betrachtet wurde« (Rogers, 1955 ).

Im Zusammenhang mit der Auffassung vom voll handlungsfähigen Menschen kann, wie ich glaube, die Beziehung zwischen Freiheit und Bedingtheit in einer neuen Perspektive gesehen werden. Wir können sagen, daß der betreffende Mensch in einer optimalen Therapie berech­tigterweise die völlige und absoiute Freiheit erfährt. Er ist bereit bzw. entscheidet sich dafür, die Handlungsrichtung zu verfolgen, die in be­zug zu allen inneren und äußeren Reizen die ökonomischste ist, weil sie das Verhalten ist, das die tiefste Befriedigung mit sich bringen wird. Aber dieselbe Handlungsweise kann von einem anderen Blickpunkt aus als von allen Faktoren der jeweiligen Lebenssituation determiniert werden. Lassen Sie mich dies mit dem Bild eines Menschen vergleichen, der defensiv strukturiert ist. Er wählt und entscheidet sich ebenso für eine gegebene Handlungsweise, erkennt aber, daß er sich nicht in der Weise verhalten kann, die er gewählt hat. Er ist ebenso von allen Fakto­ren der jeweiligen Lebenssituation determiniert, aber zu diesen Fakto­ren gehören seine Abwehrmechanismen und die Negierung oder Ent­stellung wesentlicher Informationen. Von daher steht fest, daß sein

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Verhalten nicht voll befriedigend ist. Sein Verhalten ist determiniert,aber er ist nicht frei, eine wirkungsvolle Entscheidung zu treffen. Dervoll handlungsfähige Mensch auf der anderen Seite erlebt nicht nur abso­lute Freiheit, sondern gebraucht sie, wenn er sich spontan und freiwilligfür das entschließt und entscheidet, was vollkommen determiniert ist.

Es ist mir bewußt, daß das für den Philosophen nichts Neues ist, aberes war direkt erfrischend, von einer völlig unerwarteten Seite her zu

dieser Auffassung zu gelangen, nämlich bei der Analyse eines Konzeptsder Persönlichkeitstheorie. Für mich ist sie eine Begründung für diesubjektive Realität absoluter Entscheidungsfreiheit, die von so grund­legender Bedeutung in der Therapie ist; zugleich aber ist sie auch einArgument für die vollkommene Bedingtheit, die den Grundpfeiler derWissenschaft ausmacht. Mit diesem Begriffsrahmen kann ich subjektivin die Erfahrung existentieller Entscheidungsfreiheit eindringen, dieder Klient erlebt; aber als Wissenschaftler kann ich andererseits auchsein Verhalten als absolut determiniert untersuchen.

Schluß

Das also ist mein theoretisches Modell eines Menschen, der aus einerTherapie oder aus der besten Erziehung hervorgeht, eines Menschen,der eine optimale psychische Entwicklung erfahren hat und der in derFülle all seiner organismischen Möglichkeiten frei handlungsfähig ist.Man kann sich bei diesem Menschen darauf verlassen, daß er realistischist, daß er sich selbst verwirklicht, daß er sozial handelt und sich ad­äquat verhält. Er ist schöpferisch, seine spezifischen Verhaltensweisensind nicht leicht voraussagbar; er ändert und entwickelt sich fortwäh­rend und entdeckt sich in jedem Augenblick seines Lebens neu.

Lassen Sie mich dennoch betonen, daß der Mensch, den ich beschrie­ben habe, nicht existiert. Er ist das theoretische Ziel, der hypothetischeEndpunkt persönlicher Entwicklung. Wir beobachten, wie Menschendurch optimale Erfahrungen in Erziehung, Therapie, Familie undGruppe auf dieses Ziel zusteuern. Aber was wir sehen, ist der unvoll­kommene Mensch, der sich auf dieses Ziel zubewegt. Was ich beschrie­ben habe, ist meine Version dieses Ziels in seiner »reinen« Form.

Ich habe dieses Kapitel teilweise verfaßt, um mir über meine Ideenselbst klarer zu werden: Welche Art Menschen geht tendenziell ausmeinen Seminaren, aus meinen Gruppen, aus meiner Therapie hervor?Aber ich habe es - was viel wichtiger ist - um des Versuchs willen ge­schrieben, Erzieher zu veranlassen, gründlicher über ihre eigenen Ziel-

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vorstellungen nachzudenken. Die Auffassung, daß wir alle wüßten, was einen »gebildeten Menschen« ausmacht, war so lange vorherr­schend, daß fast nie der Tatsache ins Auge gesehen wurde, daß diese bequeme Definition inzwischen für die moderne Gesellschaft vollkom­men irrelevant ist. Daher stellt dieses Kapitel eine Herausforderung für die Erzieher aller Stufen dar. Wenn Sie meine Auffassung vom voll handlungsfähigen Menschen als Erziehungsziel abschreckt, dann ge­ben Sie Ihre Beschreibung des Menschen, der aus zeitgemäßer Erzie­hung hervorgehen soll, und veröffentlichen Sie sie, damit sie jeder ein­sehen kann. Wir brauchen viele solcher Zielvorstellungen, damit eine

wirklich sinnvolle und aktuelle Auseinandersetzung über das stattfin­den kann, was unseren optimalen, idealen Mitbürger heutzutage aus­macht. Ich hoffe, daß dieses Kapitel einen bescheidenen Beitrag für diese Diskussion zu leisten vermag.

Literaturhinweise

Kelley, E. L. & Fiske, Donald W., The prediction of performance in clinical psychology. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1951.

Rogers, C. T., Persons or science: A philosophical qucstion. American Psycho-logist, 1955, 10, 267-278.

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