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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ognian N. Hishow Rulands Wirtschaft: Langer Marsch zum Wohlstand Integration in die EU- und die Weltwirtschaft steigert Investitionen und Wirtschaftsleistung S 31 September 2002 Berlin

Rußlands Wirtschaft: Langer Marsch zum WohlstandDas Kernland der früheren Sowjetunion hat den Ehr-geiz, auch künftig eine herausragende internationale Rolle zu spielen. Doch mit

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SWP-StudieStiftung Wissenschaft und PolitikDeutsches Institut für InternationalePolitik und Sicherheit

Ognian N. Hishow

Rußlands Wirtschaft:Langer Marsch zumWohlstandIntegration in die EU- und die Weltwirtschaftsteigert Investitionen und Wirtschaftsleistung

S 31September 2002Berlin

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Nachweis in öffentlichzugänglichen Datenbankennicht gestattet.Abdruck oder vergleichbareVerwendung von Arbeitender Stiftung Wissenschaftund Politik ist auch in Aus-zügen nur mit vorherigerschriftlicher Genehmigunggestattet.

© Stiftung Wissenschaft undPolitik, 2002

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Inhalt

Problemstellung und Schlußfolgerungen 5

In der Marktwirtschaft angekommen 7

Ersparnis, Investitionen und Kapitalstock 10

Wirtschaftspartner Rußland? 14Geringe Bedeutung für Handel und Investitionen 14Kostspieliges Abschotten 16Sorgen um die Außenschuld 19

Macht die Welthandelsorganisation (WTO)es besser? 24

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Problemstellung und Schlußfolgerungen

Rußlands Wirtschaft: Langer Marschzum WohlstandIntegration in die EU- und die Weltwirtschaftsteigert Investitionen und Wirtschaftsleistung

Das Kernland der früheren Sowjetunion hat den Ehr-geiz, auch künftig eine herausragende internationaleRolle zu spielen. Doch mit einem Inlandsprodukt vonje nach zugrundezulegendem Wechselkurs zwischen3% und 13% der Wirtschaftsleistung Amerikas bleibenLebensstandard der Bevölkerung und außenpolitischebzw. militärische Handlungsfähigkeit relativ begrenzt.Mit der von Präsident Putin vorgegebenen Wachstums-rate von 8% im Jahr könnte die Russische Föderationim Pro-Kopf-Vergleich rechnerisch nach nur zehnJahren den Anschluß an die Südmitglieder der EUfinden und dank ihrer großen Einwohnerzahl vonrund 145 Millionen zu den fünf führenden Wirtschafts-mächten der Welt aufstoßen.

Ökonomische Ausgangslage und wirtschaftspoliti-sche Ziele lassen folgende Schlüsse zu:! Der Wunsch nach baldigem Anschluß an den

Westen setzt als makroökonomische Bedingungvoraus, daß die Investitionsquote demnächst ver-doppelt wird. Dafür muß die inländische Investi-tionsrate von derzeit einem Sechstel auf ein Vierteldes Inlandsprodukts erhöht und auch ausländischeDirektinvestitionen müssen auf breiter Front heran-gezogen werden. Es handelt sich nicht nur um eineerfolgreiche Implementierung von Putins Reform-werk, sondern auch um einen gesellschaftlichenWandel, bei dem Unternehmer nicht mehr als Aus-beuter aufgefaßt werden und die Behörden zu einerArt russischem MITI (japanisches Wirtschaftsmini-sterium, das den Wiederaufbau und die internatio-nale Expansion der japanischen Industrie direktlenkte) mutieren. Außerdem müßte die kriminelleEnergie der Geldwäschemafia konstruktiv gebun-den werden. Dem erhofften Wachstumsboommüßte folglich eine mentale Trendwende voraus-gehen � ein Wandel, der wegen seiner Komplexitätlängere Zeiträume erfordert. Kurz- bis mittelfristigmuß wohl von einem geringeren als dem von Putinvorgegebenen Wachstum ausgegangen werden. Miteiner Investitionsquote, die sich nur langsam dergewünschten nähert, kann zwar eine zügige,jedoch keine fulminante Zunahme der Wirtschafts-leistung erwartet werden. Ein anhaltend hohes

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Problemstellung und Schlußfolgerungen

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Wachstum erfordert eine um mehrere Prozentpunktegrößere Investitionsquote.

! Rußland zieht selbst verglichen mit anderen ost-europäischen »Reformnachzüglern« wenig auslän-dische Direktinvestitionen pro Kopf der Bevölkerungan. Ursache ist der immer noch stark unterbewerte-te Rubel, aus dem Handelsüberschüsse resultieren,die Rußland zu einem Kapitalexporteur machen undneben der vielzitierten Korruption einen Zustromausländischen Investitionskapitals auf breiter Frontverhindern. Um diese Tendenz umzukehren, mußdie inländische Ersparnis vollständig für inländi-sche Investitionen verwendet werden, damit derKapitalexport (die Kapitalflucht) beendet und derWeg frei gemacht wird für ausländische Direktin-vestitionen. Wirtschaftspolitisch setzt dies voraus,daß die Politik der Stabilität fortgesetzt und dasVertrauen zunächst einmal der russischen Investo-ren gestärkt wird.

! Während eine engere ökonomische Verflechtungmit EU und Weltwirtschaft auf dem Wege steigen-der Handelsumsätze oder anschwellender Investi-tionsströme sehr langsam erfolgen wird, dürftenfinanzielle Altlasten das Wirtschaftsverhältnis weiter-hin prägen. Nach wie vor ist die Russische Födera-tion einer der weltgrößten Schuldner. Jede Eintrü-bung der Wirtschaftslage ließe das Schuldenpro-blem akut werden und würde in Forderungen desKremls nach immer weiterem Entgegenkommender Gläubiger eskalieren. Da das vorhandene endo-gene Potential � die Leistungsbilanzsalden sindrelativ hoch � einen geregelten Schuldendiensterlaubt, sollte der Westen nur im Falle eines Kon-junktureinbruchs flankierend helfen, wobei frühe-re Fehler vermieden werden müssen: Die ungebun-dene westliche und deutsche Finanzhilfe für Ruß-land in den 90er Jahren � Kredite, Umschuldungenund teilweise Schuldenstreichung � hat beidenSeiten volkswirtschaftliche Verluste gebracht undnur wenigen Privaten genutzt. Der auch im Westenlaut werdende Ruf nach Schuldenstreichung istdaher die falsche Lösung.

! Eine umfassende Einbettung Rußlands in interna-tionale Vertragswerke ist wachstumspolitisch nütz-lich, da sie dem weitverbreiteten Mißtrauen derRussen bzw. der russischen Unternehmer gegen-über ihrem eigenen Staat entgegenwirken. Vordiesem Hintergrund ist die bevorstehende Auf-nahme Moskaus in die WTO zu begrüßen. Diepsychologischen Vorteile einer Mitgliedschaft mitgeregelten Umgangsformen zwischen den Parteien

können in ökonomischen Nutzen umgemünztwerden. Er liegt vor, wenn die Marktöffnung einneues Spezialisierungsmuster unter Ausnutzungkomparativer Vorteile der russischen Anbieter mitentsprechenden Produktivitäts- und Rentabilitäts-gewinnen erzwingt. Diese sogenannte strukturelleWachstumskomponente kann von Dauer sein.Allerdings stellen sich die WTO-Vorteile erst lang-fristig ein.

! Dagegen wird sich nach der Aufnahme kurzfristigwenig ändern. Mehr ausländische Güter wirdRußland »per WTO-Dekret« im großen und ganzennicht abnehmen können, wenn auch unter ande-rem einige Bereiche der deutschen Exportwirtschaftvon der Öffnung profitieren werden. Gleiches giltfür die ausländischen Direktinvestitionen: Solangedie hausgemachten Unsicherheiten über den erfolgrei-chen Ausgang des gegenwärtigen Reformkurses nichtausgeräumt sind, wird ein anhaltend hoher Netto-kapitalexport westlichen Investitionsprojekten inRußland im Wege stehen. Ein schneller positiverEffekt des WTO-Beitritts wird darin bestehen, daßrussische Unternehmen einen verbesserten Zugangzu westlichen Märkten erhalten und willkürlichenAntidumpingmaßnahmen mit dem WTO-Vertragswerk begegnen können. Dies wird dasVertrauen in die Westbindung der russischenWirtschaft erhöhen.

! Die subjektive Wahrnehmung der Bedeutung derRussischen Föderation für die deutsche Wirtschaft über-zeichnet die tatsächlichen Relationen. Rußlandabsorbiert trotz seines potentiell großen Binnen-marktes lediglich einen Bruchteil der deutschenGesamtausfuhr. Obwohl wichtiger Energielieferant,ist es auch importseitig für die Bundesrepublikrelativ unbedeutend. Mittelfristig spielen für dendeutschen Außenhandel die fortgeschrittenenpostkommunistischen Länder eine größere Rolle alsRußland. Für die Bundesrepublik Deutschland istwichtig, daß die Zahlungsfähigkeit Rußlands aufDauer gesichert ist. Ohne die Einsicht, daß derSchuldendienst vertragsgemäß zu leisten ist, kannRußland wegen seiner hohen Verbindlichkeiten beider Bundesrepublik zu einem finanziellen Dauer-problem für Berlin werden.

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In der Marktwirtschaft angekommen

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In der Marktwirtschaft angekommen

Nach fast einem Jahrzehnt kontinuierlichen Nieder-gangs ist die russische Wirtschaft nun dabei, sich indie Gruppe der erfolgreichen postkommunistischenTransformationsökonomien einzureihen. Zwar sinddie Outputverluste der 90er Jahre noch nicht wett-gemacht. Doch seit vier Jahren in Folge wächst dieWirtschaft zum Teil sehr schnell, und sie dürfte auchweiterhin auf Wachstumskurs bleiben. Den Grund fürdiese Annahme liefern die anhaltend hohen Ölpreise,von denen die Exportnachfrage stark abhängt. Beieinem nominalen BIP-Anteil der Exporte von etwa 30%bleibt die Nachfrage des Auslands in absehbarerZukunft von entscheidender Bedeutung für dieGesamtnachfrage und damit für das Wirtschafts-wachstum. Da der Exportsektor zugleich relativhomogen ist � die Ausfuhrpalette der russischenFöderation ist schmal �, birgt eine solche Abhängig-keit Gefahren für das Wachstum in sich. Seit 1998haben sich die Nettoexporte als Anteil am BIP preis-bedingt vervielfacht, ohne daß der physische Outputentsprechend gestiegen ist. Eine Umkehr der Terms ofTrade könnte die Volkswirtschaft demnach schnell ineine neue Rezession oder sogar Krise stürzen.

Nach der Normalisierung der Wachstumsrichtungkann ein erster Wirtschaftszyklus seit der Auflösungder UdSSR ausgemacht werden, definiert als die Ent-wicklungsphase zwischen zwei Wachstumsamplitu-den. Er hielt etwa 30 Monate zwischen 1997 und 2000an. In jenem Jahr wurde eine Spitzenwachstumsratevon real bis zu 9% erreicht. Danach scheint die Wirt-schaft in eine neue zyklische Phase mit stetig fallen-den, aber immer noch positiven Zuwächsen dergesamtwirtschaftlichen Produktion eingetreten zusein (Graphik 1).

Während 1998 die Produktion von einer schweren,jedoch durch einmalige Faktoren verursachten Krisezurückgeworfen wurde, war das hohe Wachstum imJahr 2000 womöglich das Resultat einer ebenso einma-ligen Konstellation günstiger Rahmenbedingungen.Um einen längerfristigen Trend des Wirtschaftswachs-tums ausmachen zu können, müssen die Ergebnissebeider Extremjahre ignoriert werden. So gesehen istdie Wirtschaft nach 1997 im Durchschnitt mit 3 bis 4%pro Jahr gewachsen. Legt man diesen Wert als dennormalen Zuwachs der Wirtschaftsleistung aus, so sind

Graphik 1

Reales Wirtschaftswachstum, Prozent im Jahr

Quellen: Goskomstat, zit. nach Russian Economic Trends,Monthly issues, http://www.recep.org/pdf's/; 2002 Regierungs-prognose.

die faktischen Werte des Jahres 2001 und die progno-stizierten Wachstumsraten für 2002 (jeweils 4,9 und4,0%) Ausdruck einer abnehmenden Outputschwan-kung um den Trend und einer Annäherung zwischendem effektiven und dem Potentialwachstum. Fernersind sie wohl ein Hinweis darauf daß die Phase derTransformationsanpassung beendet und die Ökono-mie in einen dauerhaften marktwirtschaftlichenZustand eingetreten ist.

Er zeichnet sich dadurch aus, daß, abgesehen vonKrisensituationen, die Fluktuation des Outputs umden Trend weniger heftig ausfällt. Daß die russischeWirtschaft mittlerweile eine Marktwirtschaft gewor-den ist, wird durch die Tatsache belegt, daß sie mitden Folgen der Krise von August1998 relativ problem-los fertig geworden war. Sie hat ziemlich exakt»marktwirtschaftlich« auf die Krise reagiert: DieRubelabwertung trug zum massiven Ausbau derLeistungsbilanzüberschüsse bei. Darüber hinausbewirkte die zusätzliche Liquidität, die als Folge dergestiegenen Exportpreise in die Wirtschaft gepumptwurde, eine steigende Monetisierung, das heißt einebessere reale Versorgung mit Geld. Dies hat sich aufdie Einnahmen der öffentlichen Haushalte und dieallgemeine Zahlungsfähigkeit des Unternehmenssek-tors positiv ausgewirkt und sorgte für Nachfrageim-pulse. Zunächst nahm (neben der exogen bestimmtenExportnachfrage) der Staatsverbrauch real zu; dannzogen fast simultan auch der private Verbrauch sowie

-6,0

-3,0

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9,0

1997 1998 1999 2000 2001 2002

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die Investitionen an. Das Resultat war ein kräftigesWachstum in vielen Sektoren.

Dagegen haben gelegentliche reale Rubelabwertun-gen in der Vergangenheit keinerlei vergleichbareEffekte für die Leistungsbilanz und die Performanceder Wirtschaft gehabt. Ebensowenig die vor allem inden frühen 90er Jahren fast selbstverständliche Geld-mengenausweitung seitens der Zentralbank: Sieführte lediglich zu mehr Inflation und nicht zuNachfrageimpulsen und Wachstum. Auch der realeMonetisierungsgrad nahm ständig ab, statt zuzuneh-men, weil der Output ungeachtet einer nominalwachsenden Geldmenge immer weiter schrumpfte.Noch befand sich die Wirtschaft mitten im Anpas-sungsprozeß und reagierte auf wirtschaftspolitischeSignale verhalten oder überhaupt nicht. Erst gegenEnde der 90er Jahre scheint die Umstellung soweitabgeschlossen gewesen zu sein, daß das veränderteinnere und äußere ökonomische Umfeld nach derAbwertung und dem Anstieg der Exporterlöse eineOutputausweitung nach sich ziehen konnte. In diesemSinne war die Krise im August 1998 ein wesentlicherSchlußstrich hinter der sowjetischen Phase der Wirt-schaftsentwicklung und ein Beweisstück für dieDurchsetzung der Marktwirtschaft auch in Rußland.1

Einmal in der Marktwirtschaft angekommen, sehensich Wirtschaft und Wirtschaftspolitik mit diesbezüg-lich neuen Problemen konfrontiert. Das schwierigstebesteht auch in Rußland darin � wie überall in derWelt, wo dezentralisierte Wirtschaftslenkung erfolgt �,ein sich selbst tragendes, dauerhaftes und hohesWachstum zu generieren. Bekanntlich ist es ein erklär-tes Ziel Präsident Putins, die frühere Größe des Landeswiederherzustellen. Die Aufholjagd wird lange dauern,weil allein gegenüber dem früher russisch dominier-ten Ostblock und dem Baltikum die Russen wirtschaft-lich viel eingebüßt haben, wenn sie auch im Vergleichzum GUS-Raum besser abschneiden (Graphik 2).

Rußland zu einer ökonomischen Großmacht wer-den zu lassen ist � zumindest quantitativ � machbar:Es weist fast die doppelte Bevölkerungszahl der Bun-desrepublik Deutschland, auf, die als eine ökonomi-sche Großmacht gilt. Auf das internationale Wirt-schaftsgewicht übertragen, bedeutet Putins Ziel, daßMoskau schon mit einem halb so großen Pro-Kopf-

1 Andere Autoren datieren den Einzug der Marktwirtschaftfrüher; vgl. Anders Åslund, How Russia Became a MarketEconomy, Washington, D.C.: Brookings Institution, 1995.Derselbe Autor wunderte sich später aber über die August-krise: ders., Programmierter Kollaps. Rußlands Finanzkriseführt ins Chaos, in: Internationale Politik, (1998) 10, S. 3�11.

Graphik 2

Realer Outputindex in Rußland und anderen

Transformationsökonomien, 1990 = 1,0

Quellen: Goskomstat, IWF, Weltbank; 2002 Prognose.

Einkommen wie Deutschland in die oberen Ränge derWirtschaftsmächte rücken würde, ohne unbedingt»hochentwickelt« sein zu müssen. Das pragmatischeentwicklungspolitische Ziel bestünde also erst einmaldarin, eine nominale Wirtschaftsleistung von etwa12 000 Dollar je Einwohner und Jahr zu erzielen bzw.den gegenwärtigen Entwicklungsstand in etwa zuverdreifachen.2 Dieses Ziel hält auch Putin für reali-stisch und fordert die zuständigen Regierungsstellenauf, das Wachstum so zu gestalten, daß binnen 15 bis20 Jahren das gegenwärtige Niveau der südlichen EU-Mitglieder erreicht wird.3 Rechnerisch bedeutet das,daß die Wirtschaft in diesem Zeitraum jährlicheZuwächse von durchschnittlich 7% aufrechterhaltenmuß.

Allerdings gibt es in der Wirtschaftsgeschichte sehrwenige Beispiele für dermaßen hohe Wachstumsraten

2 Eine schwierige methodische Frage stellt sich stets nachder realistischen Ermittlung von Einkommensniveaus. Zwargilt als unstrittig, daß die Umrechnung der Wirtschaftslei-stung in US-Dollar nach laufenden Wechselkursen Transfor-mationsökonomien kleiner erscheinen läßt als in Wirklich-keit, doch scheiden sich die Geister bei der Berechnung nachder »richtigen« Kaufkraftparität (KKP). Ursache ist die unter-schiedliche Einbeziehung von Sektoren, die nichthandelbareGüter erstellen, so daß je nach Vorgehen die jeweilige Volks-wirtschaft einen unterschiedlichen Öffnungsgrad und damitmehr oder weniger große Abweichung zwischen den laufen-den Wechselkursen und jenen zu KKP aufweist. Die hier ge-machten Angaben orientieren sich nach Roland Götz, Struk-tur, Größe und Entwicklung des russischen Bruttoinlands-produkts 1995�1999 unter Berücksichtigung von Kaufkraft-paritäten, Köln, August 2000 (Berichte des BIOst, Nr. 21/2000).3 Wieviel Wachstum braucht Rußland?, in: Neue ZürcherZeitung, 18.4.2002, S. 10.

0,25

0,50

0,75

1,00

1,25

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002

MoldowaUkraine

Polen

Rußland

Estland

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über längere Zeiträume. Die meisten heute hochent-wickelten Volkswirtschaften sind über die Jahrzehnteeigentlich relativ langsam gewachsen � in der Regelmit einer Zunahme der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistungvon 2 bis 2,5% und Jahr. Eine Ausnahme bildete nachdem Zweiten Weltkrieg Westdeutschland, dessen Wirt-schaftsleistung zwischen 1948 und 1972 um durch-schnittlich 5,7% zunahm und der deutschen Wirt-schaft einen vorderen Platz in der Welt sicherte. Nochbeeindruckender agierte Japan mit historisch einma-ligen Wachstumsraten von 8,2% in einem Zeitraumvon 25 Jahren und immer noch hohem Wachstum bisEnde der 80er Jahre. Dennoch sind solche Rekordeeher eine Ausnahme, die sich auf den raschen Wieder-aufbau zweier bereits industrialisierter Ökonomienbezieht. Weltweit gab es bislang nur zwei weitereBeispiele hohen und langanhaltenden Wachstums, diezum Anschluß früher rückständiger Volkswirtschaf-ten an die Gruppe der entwickelten Länder führten:Südkorea und Taiwan. Beide Länder wuchsen zwischen1960 und 1990 mit durchschnittlich 6,9 und 6,5%jährlich. Sie zählen zu den sogenannten Tigerstaatenin Asien, zu denen auch Hongkong und Singapurgehören. Letztere weisen ebenfalls beachtliche Wirt-schaftsdynamik auf und haben in 30 Jahren ein hohesEinkommensniveau erreicht. Allerdings handelt essich bei den beiden um relativ kleine Wirtschaftenund nicht um Flächenstaaten. Mit einer Bevölkerungvon rund 40 Millionen können Südkorea und Taiwandagegen als Beispiel für andere Entwicklungsländerfungieren.

Ein weiteres Land mit einer (sehr) großen Bevölke-rung und anhaltend hohem Wirtschaftswachstum istdie Volksrepublik China. Mit Wachstumsraten von 7%und mehr und einem verhaltenen Bevölkerungszu-wachs konnte Peking in den mehr als 20 Jahren seitEinleitung der Wirtschaftsreformen den Wohlstandseiner Einwohner mehr als verdreifachen (allerdingsvon einem sehr niedrigen Niveau ausgehend). Unge-achtet der mittlerweile an der detaillierten chinesi-schen Statistik geäußerten Zweifel4 bleibt unstrittig,daß das Land schnell gewachsen ist und sichtbareFortschritte bei der Verbesserung der Versorgungslageund der Lebensverhältnisse erzielt hat. Dies ist um soklarer, als sein ebenfalls bevölkerungsreicher undnoch vor zwei Jahrzehnten auf gleicher Entwicklungs-stufe stehender Nachbar Indien es bislang versäumt

4 Thomas Rawski, Is China�s Economic Growth Just aCharade?, in: The Straits Times, 27.3.2002; Melinda Liu, WhyChina Cooks the Books, in: Newsweek, 1.4.2002, S. 42�45.

hat, auf einen dynamischen Wachstumspfad einzu-schwenken und das Pro-Kopf-Einkommen spürbar zuerhöhen.

Damit sind die wenigen Nationen mit spektakulä-ren und dauerhaften Wachstumserfolgen aufgezählt.Andere Länder, die bereits früher oder in der Gegen-wart für eine mutige wachstumsorientierte Wirt-schaftspolitik bekannt geworden sind, liegen mitihren Leistungen darunter � viele lateinamerikanischeVolkswirtschaften, einschließlich Chiles, dessen Wachs-tum im Vergleich zu den asiatischen Spitzenreiternnur halb so hoch ist. Gleiches gilt für die osteuropäi-schen Reformmusterschüler Polen und Slowenien, diein den frühen 90er Jahren einen Wachstumsschub mitrealen Raten von 6% und mehr erlebten, aber mittler-weile eine nachlassende Dynamik aufweisen.

Wenn Moskau den wirtschaftlichen Anschluß andie weniger industrialisierten Mitglieder der Europäi-schen Union in historisch kurzen Zeiträumen errei-chen will, muß es Voraussetzungen für anhaltendeWachstumsraten in der Größenordnung jener derTigerstaaten schaffen.5 Vor dem Hintergrund derhistorischen Erfahrung erscheint dieses Ziel außeror-dentlich ehrgeizig. In Rußland müßten von nun anähnliche makroökonomische Indikatoren auf Dauervorliegen, wie sie in Korea und Taiwan in den letzten30 Jahren vorhanden waren. Sparquoten von einemDrittel des Inlandsprodukts und darüber waren hier-bei von fundamentaler Bedeutung, aber auch dieQualität des Humankapitals auf breiter Basis, sowiediverse Sekundärtugenden wie zuverlässige Verwal-tungsstrukturen, individuelle und kollektive Diszi-plin, Pünktlichkeit und Verantwortungsmentalität.Intensive Arbeitsanstrengungen haben in diesenLändern zu einem umfassenden Ausbau des Kapital-stocks und zur Verachtfachung der Wirtschaftslei-stung in nur 33 Jahren geführt. Von entscheidenderBedeutung für die wirtschaftlichen Erfolge waren diedort erzielten anhaltend hohen Investitionsraten.

5 Ausgegangen wird von der statistischen Faustregel, daßsich die Wirtschaftsleistung bei jährlichen Zuwächsen von 7%in zehn Jahren verdoppelt (Zinseszinseffekt). Nach 15 Jahrenist somit das gegenwärtige Pro-Kopf-EinkommensniveauPortugals erreicht, nach 20 jenes Spaniens.

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Ersparnis, Investitionen und Kapitalstock

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Ersparnis, Investitionen und Kapitalstock

Moderne Volkswirtschaften produzieren durch Einsatzgewaltiger Kapitalmengen. Das war nicht immer so:Noch vor 200 Jahren wirtschaftete man in Westeuropaausschließlich in Manufakturen unter Anwendungvon Handarbeit und einigen wenigen Gerätschaften.Aber selbst in der Gegenwart existieren in weitenTeilen der Welt, etwa in Afrika südlich der Saharaoder in Südasien, Subsistenzwirtschaften die aus-schließlich durch Einsatz von Arbeitskraft mit gerin-ger Produktivität funktionieren.

Hohe Produktivität ist ein Merkmal entwickelterWirtschaftssysteme. Sie wird erreicht durch Steige-rung der Effizienz der Arbeit mit Hilfe von Mechani-sierung mit Maschinen und zeitsparender Technolo-gie. Ein umfangreicher Kapitalstock je Arbeiter stehtfür hohe Produktivität und umgekehrt � ist derKapitalstock gering, kann die betreffende Volkswirt-schaft nur eine geringe Produktion und ein geringesEinkommen aufweisen. Um effizient produzieren zukönnen, brauchen die wohlhabenden Nationen relativviel Kapital: Gegenwärtig wird jeder BIP-Euro oder-Dollar in der OECD mit Hilfe von 2,5 bis 3 Euro (bzw.Dollar) an Kapital erwirtschaftet.

Ein weiteres Merkmal der dezentralen (marktwirt-schaftlichen) Produktionsweise ist die Volatilität derWirtschaftsleistung in der Zeit. Phasen hohen Wachs-tums folgen in unregelmäßiger Reihenfolge Phasendes Null- oder sogar negativen Wachstums, selbstwenn der langfristige Trend der Wirtschaftsentwick-lung positiv ist. In Rezessions- und Krisenphasen liegtdas vorhandene Kapital brach oder wird teilweise ver-nichtet. Wegen des Zusammenhangs zwischen Kapital-stock und Wirtschaftsleistung geht in solchen Phasender Output zurück oder er stagniert. Es ist eine dergrößten Herausforderungen für die Wirtschaftspoli-tik, die Amplituden solcher Ausschläge des Outputsgering zu halten.

In Rußland geriet die Volkswirtschaft nach 1991 ineine schwere Transformationskrise, die hier längeranhielt als in den meisten Reformökonomien Ostmit-teleuropas. Als verhängnisvoll erwies sich die halb-kriminelle und intransparente Umwandlung derEigentumsverhältnisse und die damit verbundeneUnsicherheit für Investoren. Da der Kapitalstock überviele Jahre vernachlässigt wurde, verfiel er rasch und

sorgte für einen massiven Produktionseinbruch. Zwarwurden über 60% der ehemals staatseigenen Wirt-schaft rasch in private Hände übereignet. Aber dieneuen Privateigentümer der Produktionskapazitätenwaren mehrheitlich keine klassischen Unternehmer,die durch finanziellen Einsatz, Risikobereitschaft undharte Arbeit die jeweilige Firma zum Erfolg führen.Obwohl die private Marktwirtschaft seit den späten80er Jahren in Rußland Einzug gehalten hat, agiertedie Unternehmerklasse noch lange schwach undverzichtete auf Investitionsrentabilität und Gewinner-zielung aus Produktionstätigkeit. UnternehmerischeAktivitäten beschränkten sich auf redistributiveTransaktionen auf Kosten des aus der Sowjetzeitvorgefundenen Kapitalbestandes. Der Anreiz, insPrivatgeschäft einzusteigen, war mit anderen Wortenin einer verbreiteten »Rent-Seeking-Mentalität« veran-kert. Statt die Gewinne zu reinvestieren, wurden sie inFremdwährung umgetauscht und außer Landesgeschafft. Es ergab sich die paradoxe Situation, daßparallel zur fortschreitenden Privatisierung die Pro-duktion zurückging, obwohl von der Einführung derMarktwirtschaft das Gegenteil erwartet wurde.6

Viele der neuen Unternehmer, vor allem aus derNomenklatura-Klasse, die unter Ausnutzung frühererBeziehungen und Kontakte schnell an Kapital heran-gekommen waren, dachten nicht daran, zu investie-ren und zu produzieren. Sie wollten mit geringemEinsatz Geld verdienen, weil so der Grenznutzen desunternehmerischen Risikos7 am größten ist. Betriebewurden oft nur wegen Asset-Strippings (Dekapitalisie-rung) erworben. Das der Dekapitalisierung zugrunde-liegende Schema war denkbar einfach: Meistensregistrierten rote Direktoren von Staatsbetrieben einePrivatfirma auf den Namen eines Verwandten, oft dereigenen Frau, und schlossen Lieferanten- und Absatz-verträge mit ihr ab. Auf der Inputseite belieferte dieseFirma das staatliche Unternehmen dann zu überhöh-

6 Zu den Grundproblemen der russischen Wirtschafts- undGesellschaftsentwicklung in den 90er Jahren siehe ausführ-lich Roland Götz, Die Kluft zwischen Rußland und demWesten, Köln 1999 (Berichte des BIOst, Nr. 15/1999), S. 33ff.7 Grenznutzen des Risikos: der zusätzliche Geld- oder Ver-mögensnutzen des Unternehmers in bezug auf eine zusätz-liche »Risikoeinheit«.

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Ersparnis, Investitionen und Kapitalstock

ten Preisen, während sie auf der Outputseite dieErzeugnisse verbilligt, oft zu nicht kostendeckendenPreisen, abnahm. Dem Staatsunternehmen entstandsomit zweierlei Belastung: zum einen Mehrkostenbeim Bezug von Vorprodukten und zum anderenMindereinnahmen beim Absatz seiner Erzeugnisse.Hatte der rote Direktor gute Beziehungen zu denBanken, konnte sein Unternehmen noch eine ZeitlangKredite bekommen, um den Asset-Stripping-Vorganglänger aufrechtzuerhalten. Im Endeffekt wirtschafteteer sowohl die Unternehmensaktiva als auch die Bank-kredite in die eigene Tasche.

Die Konsequenz einer solchen Politik bestand aufder Mikroebene darin, daß weite Teile der Wirtschaft,insbesondere der Industrie, schnell ökonomisch totwaren � die Betriebe investierten kaum und reduzier-ten ihr Angebot oder schlossen ganz. Makroökono-misch spiegelten diese Vorgänge einen simultanenRückgang des Kapitalstocks und des Inlandsproduktswider (Graphik 3). Erst ab Ende der 90er Jahre, alsRußland schon in der Marktwirtschaft »angekommen«war, trat eine Trendwende ein. Vor allem die Investi-tionen zogen an und die Wirtschaft begann zu wach-sen. Im allgemeinen Boomjahr 2000 expandierten dieBruttoanlageinvestitionen wie viele andere Basisindi-katoren der Wirtschaft um beachtliche 17,7%, gingenaber ein Jahr später auf die Hälfte dieses Zuwachseszurück (8,7% 2001). Dieser Rückgang dürfte ein indi-rekter Hinweis auf das schwache Bankensystem imLand sein: Weil die Unternehmen ihre Investitionenausschließlich aus Eigenmitteln finanzieren (einbe-haltene Gewinne und Abschreibungen), hängen dieInvestitionen stark von der Gewinnentwicklung ab.8

Nach rückläufigen Gewinnen 2001 und später sindInvestitionsprojekte wohl hinausgeschoben oderumgestaltet worden, mit der Folge einer langsamerenWachstumsrate der Investitionsquote. Diese ist iminternationalen Vergleich gering, nimmt aber raschzu � von 12,7% Ende 1999 auf 14,4% ein Jahr später �und soll 15 bis 16% Ende 2002 erreichen.

Eine hohe Investitionsquote (Anteil der Brutto-anlageinvestitionen am Inlandsprodukt) ist eine ent-scheidende Voraussetzung für schnelles Wachstum.Investitionspolitisch steht Rußland am Beginn einerlangen Aufholjagd: Verwendete selbst die dahin-

8 Der Anteil der Eigenfinanzierung ist entgegen der inMarktwirtschaften üblichen Quoten von bis zu einem Drittelder Investitionssumme nach 2000 gestiegen und erreichteEnde 2001 50,3%; vgl. Interfax Statistical Report, InterfaxInternational Ltd., Moskau, 15.3.2002, Tabelle 8, S. 17.

Graphik 3

Indizes des Kapitalstocks und der realen

Wirtschaftsleistung, 1990 =100

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Quellen: Russian Academy of Sciences, Institut für makroökonomi-sche Prognostizierung: Die Wirtschaft Rußlands im herankom-menden Jahrzehnt, Moskau, 1999, S. 10, 20; Goskomstat.; 2002Prognose.

siechende Sowjetunion der späten 80er Jahre immernoch ein Viertel des BIP für Anlageinvestitionen (ohnedadurch die Wirtschaft vor einem unaufhaltsamenSchrumpfungsprozeß zu bewahren). Doch zehn Jahredanach gab Rußland in realen Rubeln nur 20% desBetrags zu Zeiten Gorbatschows für Investitionen aus.Da sich inzwischen auch die Wirtschaftsleistung realhalbiert hatte, bedeutet dies, daß die Investitionsquoteauf etwa 10% des BIP, oder bei einem Kapitalstock-zu-BIP-Verhältnis von rund 2,5 : 1 auf magere 4% desKapitalstocks geschrumpft war. Da die Lebensdauerder meisten Maschinen und Anlagen heute bestenfallszehn Jahre beträgt, sind etwa 10% erforderlich, umden Kapitalstock und damit die Wirtschaft wenigstenskonstant zu halten. So viel konnte die Wirtschaft nichtaufbringen, und der Output kollabierte zwischen 1990und 1998.

Um die Pro-Kopf-Produktion in den nächsten 15 bis20 Jahren zu verdreifachen, würde eine Investitions-quote von derzeit 15 bis 16% des BIP nicht ausreichen.Großzügig gerechnet hieße dies nämlich, daß derKapitalstock um lediglich 1% wachsen würde, undeine Verdoppelung wäre erst nach 70 Jahren erreicht.9

Um die ehrgeizigen wachstumspolitischen ZielePräsident Putins zu erreichen, müßte der Kapitalstockwesentlich schneller expandieren � rund 7% im Jahr �,

9 Bei einem Kapitalstock-zu-BIP-Verhältnis von 1 : 2,5 betru-gen die Investitionen 6% des Kapitalstocks (15 : 2,5), wovonca. 5 Prozentpunkte für Ersatzinvestitionen reserviert werdenmüssen. Bleibt ein Rest von einem Prozent für Erweiterungs-investitionen und Wachstum.

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60

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100

1990

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1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

Kapitalstock

BIP

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und die Investitionsquote müßte deutlich erhöhtwerden, auf knapp 30% des BIP.10

Angesichts der wesentlich geringeren Werte derletzten zehn Jahre erscheinen solche Beträge utopisch.Doch Haushalts- und Unternehmenssektor erbringenrelativ hohe Sparleistungen, die � würde man sievollständig für die Finanzierung von Investitionenverwenden � das Wachstum beschleunigen würden. InRußland wird die Sparquote auf etwa ein Viertel desOutputs geschätzt.11 Die nach der Einleitung vonWirtschaftsreformen bislang erzielte höchste Investi-tionsquote, etwa 16% im Jahre 2002, läßt auf eineLücke zwischen Sparen und Investieren von rund 9%des BIP schließen. Würde man, mit anderen Worten,diese 9 Prozentpunkte ebenfalls als Investitionsbetragmobilisieren, stiegen Kapitalstock und Output vielschneller. Die fehlenden 5 Prozentpunkte zur wün-schenswerten Investitionsquote von 30% des BIPkönnten ausländische Direktinvestitionen (ADI) besor-gen. Das wäre kein Problem, denn es handelt sich umkeine ungewöhnlich hohen Beträge: Bei einem nomi-nalen Inlandsprodukt von etwa 350 Milliarden Dollarin den kommenden Jahren errechnet sich die erfor-derliche ADI-Summe auf etwa 17 Milliarden Dollar imJahr (5% von 350 Mrd.). Dieser Betrag ist deutlichgeringer als die 40 Milliarden Dollar, die in die Volks-republik China fließen, und pro Kopf immer noch vielgeringer als die ADI-Beträge, die ostmitteleuropäischeReformvorreiter aufweisen.

Allerdings ist die Lenkung der nationalen und dasHeranziehen ausländischer Ersparnis eine Funktionder wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, dieein größeres oder kleineres Investitionsvolumen undsomit eine hohe bzw. geringe Investitionsquote herbei-führen. Die Rahmenbedingungen haben in den 90erJahren Investoren auf allen Ebenen abgeschreckt, sodaß die bereits genannte Lücke zwischen Sparen undInvestieren in Kapitalflucht mündete und Rußland zueinem international großen Kapitalexporteur avan-cierte. Einen Höhepunkt erreichte der russische Kapi-talexport im Jahr 2000, als Handels- und Leistungsbi-lanz mit einem Plus von jeweils 61 und 46 Milliarden

10 Bzw. 12% des Kapitalstocks, wovon 6 bis 7 Prozentpunktefür Erweiterungsinvestitionen aufgewandt würden.11 Ökonometrische Schätzungen des IWF-Forschungsteamsergeben eine langfristige private Sparquote von etwa 20% derWirtschaftsleistung. Gegenwärtig beträgt die Ersparnis desStaates 4 bis 5% des BIP, woraus eine nationale Sparquote voneinem Viertel des BIP ermittelt wird; vgl. Russian Federation:Selected Issues and Statistical Appendix, in: IMF CountryReport Russia, April 2002, S. 85ff, www.imf.org.

Dollar abschlossen.12 Der Überschuß wurde teilweisedurch den Anstieg der Devisenreserven um 15,4 Milli-arden Dollar und die offiziellen russischen Direktinve-stitionen im Ausland von rund 3 Milliarden Dollarabsorbiert. Unter Berücksichtigung statistischer Diffe-renzen und zeitlich verzögerter Buchungen verbleibtein Rest von rund 21 Milliarden Dollar oder 9% des BIP� eine für ein Land mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommenbeträchtliche Quote. Eine Tendenz zur Verringerungder hohen Außenhandelsüberschüsse trat nach 2000zwar ein, aber es bleibt abzuwarten, ob der Importzu-wachs nicht weitgehend auf Konsumgüter entfällt.Dies wäre ein Zeichen weiterhin unzulänglicherRahmenbedingungen für Investitionen.

Die Überwindung der Kapitalflucht durch Absorp-tion der inländischen Ersparnis für Investitionszweckeist somit das wichtigste Gebot der aktuellen MoskauerWirtschaftspolitik. Dagegen ist ein investorunfreund-liches Klima die denkbar schlechteste volkswirtschaft-liche Situation, weil die im Ausland angelegten Mitteldie inländische Investitionssumme verringern und fürentgangenes Wachstum stehen. Die Modernisierungs-ambitionen der Regierung Putin rücken dabei in weiteFerne. Lediglich die unmittelbaren Eigentümer desFluchtkapitals profitieren davon, während die Volks-wirtschaft keinen Nutzen zieht, da die neuen Reichenihren ausländischen Kapitalgewinn nicht einmalversteuern. Allerdings verhalten sich solche »robberbarons« rational: Mangels ertragreicher Investition-soptionen zu Hause tragen sie das Kapital dorthin, woes größere Erlöse abwirft und auch vor den Behördensicher ist.

Inzwischen ist die »wilde« Phase der russischenTransformation allmählich abgeschlossen. Mit derÜberwindung der Feindseligkeit gegenüber den nochbis vor kurzem als Kapitalisten angefeindeten Privat-unternehmern stabilisiert sich auch deren Position inder Gesellschaft. Dies sorgt für mehr Sicherheit underweitert den Planungshorizont der Unternehmen,was den Reiz des »schnellen Profits« mindert und ausden notorischen russischen »Biznesmen« in derTendenz seriöse Geschäftsleute nach internationalemStandard macht. Diese Prozesse sind jedoch sehrlangsam, und selbst energische Reformanstrengungenfruchten erst mit einer Verzögerung von mehrerenJahren.

Aus dem Gesagten kann gefolgert werden, daß dieErholung der russischen Wirtschaft unter sonst

12 Quelle: Bank of Finland. Institute of Economies in Transition,Russian Economy, (2001) 3, S. 1.

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gleichen Bedingungen weitergehen wird. Wegen desgroßen Nachholbedarfs beim Kapitalstock ist einerasche Hebung des Einkommensniveaus je EinwohnerRußlands nicht so schnell zu erreichen, wie es dieFührung im Kreml fordert.13 Zwar verfügt das Landüber genügend kurzfristig mobilisierbares Potential:Die Sparquote ist, wie erläutert, erfreulich hoch.Schwerpunktmäßiges Betätigungsfeld für die Wirt-schaftspolitik ist aus makroökonomischer Sicht dieSchaffung von Rahmenbedingungen, die die Grün-dung von Unternehmen fördern, damit die inländi-sche Ersparnis in den Ausbau des Produktionsapparatseinschließlich der Infrastruktur fließt, und nicht insAusland. Die internationale Erfahrung lehrt aber, daßdies eine der schwierigsten Herausforderungenüberhaupt ist, weil ein wirtschaftsfreundliches Klimanur im gesellschaftlichen Konsens geschaffen werdenkann. Auch das gegenwärtig hohe Wachstum in Ruß-land ist nicht überwiegend auf erfolgreich implemen-tierte Reformen zurückzuführen, sondern eine Folgepositiver Faktoren temporärer Natur.14 Allerdingshaben sich eine Reihe von Nutznießern an die derzeitgünstige Situation gewöhnt und werden Widerstandgegen Veränderungen leisten, insbesondere auf dermittleren und unteren Verwaltungsebene, im öffent-lichen Dienst und in den noch breit vertretenenideologischen Refugien der kommunistischen Beton-köpfe. Dagegen muß Putin resistent bleiben.

Schon Michail Gorbatschow, ein »aufgeklärterKommunist«, hatte gewußt, daß das Land ohne dieImplementierung von Elementen westlicher Wirt-schaftsführung aus der todbringenden Stagnation derBreshnew-Ära nicht herausfinden würde. Nach demScheitern der Perestroika leitete Boris Jelzin denmühseligen Umbau der verkrusteten Sowjetwirtschaftin eine Marktwirtschaft ein. Es war aber erst seinemNachfolger Wladimir Putin beschieden, die vorläufi-gen Früchte der Wende zu ernten und das Reform-werk weiter voranzutreiben. Das reale Einkommen derBevölkerung wächst endlich, und die Erwartungs-haltung der Unternehmerklasse ist positiv. Dank derrelativ guten Stimmung sitzt Putin politisch fest im

13 Putin zitiert Expertenmeinungen, wonach das Land einereale jährliche Wachstumsrate von 8% benötige; vgl. WievielWachstum braucht Rußland?, in: Neue Zürcher Zeitung,18.4.2002, S. 10.14 Das sieht auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-schung Berlin so: vgl. Wolfram Schrettl/Katherina Dittmann/Hella Engerer/Maria Lodahl/Mechthild Schrooten, RußlandsWirtschaft auf riskantem Kurs, in: DIW Wochenbericht,Nr. 6/2002, S. 1, www.diw.de.

Sattel und verfügt über einen Vertrauensvorschuß fürsein Reformprojekt einer � wie so oft in der russischenGeschichte � umfassenden Modernisierung der Wirt-schaft. Allerdings drängt die Zeit, da wichtige Teile derpolitischen Klasse von der vermeintlichen Verwest-lichung wenig überzeugt sind. Nur handfeste öko-nomische Erfolge können für die Beibehaltung deseingeschlagenen Kurses als Argumente dienen.

Eine investorfreundliche Wirtschaftspolitik fördertdie inländischen Investitionen, und Investitionsbetragund Sparsumme gleichen sich an, was als nächstenSchritt den Weg für genügend ADI frei machen wird.Sie können die Investitionsquote weiter heben, um dasWachstum des Kapitalstocks und der Produktion zubeschleunigen. Für diesen Schritt ist es im Augenblickallerdings zu früh, da der unterbewertete Rubel eineUmkehr der Salden der Leistungsbilanz von positiv innegativ noch ausschließt. Aber auch eine nominaleRubelaufwertung löst nicht definitiv das Problem derniedrigen Investitionsquote, da ein billiger Dollar denImport von Konsum- statt von Kapitalgütern erhöhenund einen Antiinvestitionseffekt haben könnte.Wichtig ist aber, daß die Regierung positive Budget-salden aufweist und die Devisenreserven nicht überdie Maße aufgestockt werden.15 Ferner ist zu berück-sichtigen, daß sich der Kapitalexport nicht ganz ver-meiden läßt, da russische Unternehmen ihrerseitszunehmend ausländische Beteiligungen erwerben. DieBedeutung der ausländischen Direktinvestitionen inRußland wird dann um so wichtiger, als sie diesenAbfluß wettmachen müssen und ferner als Transmis-sion für dringend benötigte fortschrittliche Technolo-gie und Know-how auf breiter Grundlage dienen.

15 Budgetdefizite mindern die volkswirtschaftliche Erspar-nis, während ein unkontrolliertes Aufstocken der Devisen-reserven in der Tendenz inflationswirksam wird.

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Wirtschaftspartner Rußland?

Geringe Bedeutung für Handel undInvestitionen

Wenn die russische Volkswirtschaft im internationa-len Vergleich gegenwärtig klein und ein schnellerAnschluß an die EU nicht zu erwarten ist, worinäußert sich dann die Rolle Moskaus als Wirtschafts-partner Berlins oder Brüssels? Auch nach zehn Jahrenmarktwirtschaftlicher Neuordnung sind die meistenSektoren noch nicht ausreichend in die westeuropäi-sche Wirtschaft integriert. Die Folge für Deutschlandist, daß west- und ostmitteleuropäische Volkswirt-schaften jetzt wichtigere Wirtschaftspartner sind alsMoskau. Auf der Ausfuhrseite rangiert es als Abneh-mer deutscher Güter weit hinter kleinen Nationen wieÖsterreich, den Niederlanden, Belgien oder derSchweiz. Aber auch Polen, die Tschechische Republikund Ungarn beziehen mehr deutsche Exporte als die145 Millionen Russen (vgl. Graphik 4). Zwar sind inden letzten Jahren die deutschen Exporte nach Ruß-land gestiegen, jedoch hat sich die Gesamtrelationdadurch nicht entscheidend verschoben.

Bei den Importen ergibt sich ein ähnliches Bild:Nur 2,67% der deutschen Einfuhren kamen 2001 ausRußland, immerhin einem sehr wichtigen Energie-lieferanten für die deutsche Wirtschaft. Seit Jahrenschickt die Volksrepublik China deutlich mehr Warenin die Bundesrepublik, aber auch die großen Indu-strieländer der G7-Gruppe sind als Exporteure fürDeutschland viel wichtiger (Graphik 5).

Kommt es mittelfristig zu einem stetigen Wirt-schaftswachstum von etwa 4 bis 5% p.a., dürften Ex-und Importe in den nächsten Jahren mit einer ähn-lichen Wachstumsrate anziehen, das heißt, derrussische Außenhandelsumsatz könnte von derzeit150 auf 180 Milliarden Dollar 2006 anwachsen. Beieinem konstanten Anteil Deutschlands von etwa 15%und einem zu erwartenden Wachstum hier von 2%jährlich wird sich sowohl import- als auch exportseitigan der relativ geringen Bedeutung Moskaus für dendeutschen Außenhandel mittelfristig wenig ändern.

Über den einfachen Warenaustausch hinaus läuftdie internationale Wirtschaftsintegration in weitausgrößerem Umfang über die Kapitalströme, die alsAnlageinvestitionen dem Mitteltransfer und als

Graphik 4

Länderstruktur deutscher Exporte im Jahr 2001,

alle Länder = 100 Prozent

restliche 219 Länder

Frankreich 11,1%

USA 10,6%

Italien 7,5%

Niederlande 6,2%

Österreich 5,1%

Belgien 4,9%Polen 2,4%

Ruß land 1,6%

Tschechien 2,3%Ungarn 1,7%

Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutschlands wichtigste Handels-partner, http://www.destatis.de/download/aussh/aussh_d/rang2001.pdf.

Graphik 5

Länderstruktur deutscher Importe im Jahr 2001,

alle Länder = 100 Prozent

Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutschlands wichtigste Handels-partner, http://www.destatis.de/download/aussh/aussh_d/rang2001.pdf.

Direktinvestitionen darüber hinaus dem Technologie-transfer dienen. Schon immer hat das Land am öst-lichen Rande Europas die Phantasie von Investoren

Rußland 2,6% Irland 3,2% China 3,6%Schweiz 3,6%Österreich 3,8%

Belgien 5,17%

Großbritannien 6,9%

Niederlande 8,3%

USA 8,4%

Frankreich 9,4%

Rest

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und Geopolitikern beflügelt. Der große Binnenmarkt,die qualifizierte Arbeitskraft und die reichen Natur-ressourcen lieferten und liefern weiterhin gute Argu-mente, warum ein enges wirtschaftliches Zusammen-gehen mit Rußland für alle Beteiligten von Vorteilsein muß. Als die Industrialisierung des Zarenreichesim späten 19. Jahrhundert begann, war ausländischesKapital die Bedingung »sine qua non« für die hohenWachstumsraten der Wirtschaft und für die Moderni-sierungserfolge des Landes � ob beim Aufbau derSankt Petersburger Elektroindustrie oder bei derFinanzierung der Transsibirischen Eisenbahn. Dochfür eine umfassende gegenseitige Verflechtung wardie Zeit nicht reif: Erster Weltkrieg und bolschewisti-sche Revolution warfen das Land ökonomisch zurück,während Lenin die westlichen Kreditforderungen alsgegen einen nicht mehr existenten Staat ignorierthat.16 Das wenige Kapital, das danach in die Sowjet-union floß (teilweise aus privaten amerikanischenInvestitionen in den 20er Jahren, und später aus Nazi-deutschland) war angesichts des allgemeinen Kapital-bedarfs der planwirtschaftlichen Industrialisierungvernachlässigbar. Erst viel später, unter KP-General-sekretär Breshnew, begann die UdSSR westlicheKredite in großem Stil aufzunehmen. Nach 1991wurde die Kreditstruktur diversifiziert: Neben staat-lichen und staatlich garantierten Privatanleihen fürInvestitions- und Haushaltszwecke wurden zuneh-mend Handelskredite sowie Kredite an Geldinstituteund Wirtschaftsunternehmen vergeben. Diese Kapital-flüsse hatten fast ausschließlich Portfoliocharakter,während die Direktinvestitionen lediglich einenBruchteil ausmachten. Das Ergebnis war, daß derrussische Staat zu Beginn des neuen Jahrtausendsexterne Verbindlichkeiten von etwa 140 MilliardenDollar in seinen Büchern führte, während die auslän-dischen Direktinvestitionen � sie sind eine Vermögens-position der (privaten) Wirtschaft � Ende 2001 kumu-lativ weniger als 18 Milliarden betrugen.17 ZumVergleich: Die Volksrepublik China zog allein 2001zweieinhalb Mal mehr ADI an (47 Milliarden Dollar).18

16 Sowjetrußlands Weigerung, die Schulden des Zarenreichszu bezahlen, führte zur Intervention Großbritanniens, Frank-reichs und der USA 1918 und sorgte seither für Spannungenmit dem Westen. Erst 1999 wurden vorrevolutionäre Obliga-tionen in französischem Besitz im Wert von 500 Mio. Dollarals »good-will«-Geste von Moskau überraschend eingelöst.17 Interfax Statistical Report, Interfax International Ltd.,Moskau, 15.3.2002, Tabelle 10, S. 19.18 Quelle: Worldbank, Country brief China, S. 7, http://lnweb18.worldbank.org/eap/eap.nsf/.

Bereits in den frühen 90er Jahren, gleich nachEinleitung des marktwirtschaftlichen Umbaus imLand, zeigten ausländische Investoren Interesse nichtnur am industriellen Sektor, sondern am bis datounterentwickelten Dienstleistungssektor. Das Finanz-und das Fernmeldewesen versprachen gute Anlage-möglichkeiten, da sie nur mit hohem Investitionsauf-wand rasch an westlichen Standard heranzuführenwaren. Daraus wurde nichts: Schon Mitte der 90erJahre pendelte sich die ausländische Beteiligung anden Aktiva der Wirtschaft auf nur etwa 2% ein und istauch unter Putin ungeachtet seiner bisherigen Reform-anstrengungen kaum gestiegen. Ein wesentlicherGrund dafür ist, daß bereits in der Frühphase derTransformation die Politik in Moskau einer antizipier-ten Übernahme der russischen Wirtschaft auf breiterGrundlage durch westliches Kapital einen Riegelvorschob: Per Gesetz wurden Obergrenzen für dieausländische Beteiligung an verschiedenen Branchenfestgelegt, so 12% Aktivaanteil im Bankensektor, derPrivatbesitz von Grund und Boden wurde erst garnicht in Erwägung gezogen,19 und bestimmte Sekto-ren von vitaler Bedeutung für die nationale Sicherheitwurden immun gemacht gegen ausländische Privati-sierung. Die Gasindustrie, das Flaggschiff der russi-schen Wirtschaft, wurde nicht nur unter dem Dacheines einzigen riesigen Unternehmens � Gasprom �zusammengefaßt. Es bestand Konsens darüber, daßeine geduldete ausländische Beteiligung den ver-meintlich nationalen, und nicht etwa den Interessender betreffenden (russischen und) nichtrussischenShareholders dienen muß. Gasprom schuf sich durcheine geschickte Mischung aus Versprechungen undknallharten Behinderungen ein ausländisches »Troja-nisches Pferd« in der EU-Gaspolitik, indem es derEssener Ruhrgas AG eine fünfprozentige Beteiligungeinräumte, ohne sie als Großaktionär an der strategi-schen Unternehmensführung von Gasprom zu beteili-gen. Vielmehr erwartet die russische Seite nun eineFürsprache hinsichtlich ihrer Interessen in Deutsch-land und Westeuropa � dem wichtigsten Absatz- undZukunftsmarkt des Gasmonopolisten. Andere west-liche Anleger haben auf dem russischen Markt fürUnternehmensbeteiligungen Verluste hinnehmenmüssen. 1997 investierte BP über eine halbe MilliardeDollar in die in Sibirien aktive Ölgesellschaft Sidanko.

19 Mit der Verabschiedung der neuen Verfassung unterJelzin 1993 änderte sich das auf dem Papier; es dauertejedoch weitere acht Jahre, bis das Eigentum von Ausländernan nichtlandwirtschaftlichem Grund und Boden vomParlament geregelt wurde.

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Obwohl Großaktionär, wurde BP vom Entscheidungs-prozeß ferngehalten und ihre Anteile durch Aktiene-missionen verwässert. So sahen sich die Britengezwungen, ein knappes Jahr später die Hälfte derInvestitionssumme abzuschreiben und sich zurückzu-ziehen.20 Bei der Verteidigung von Partikularinteres-sen formiert sich ähnlich wie früher in Deutschlandund Japan eine Art »Rußland-AG«, in der Bürokratenund Wirtschaftsbosse an einem Strang ziehen undFremde ausnehmen oder erst gar nicht hereinlassen.Der zur BASF-Gruppe gehörende Kasseler Öl- undGasförderer Wintershall bekam dies zu spüren, als derrussische Partner Gasprom ein Gemeinschaftsprojektzur Erschließung von Ölvorkommen verschleppenließ und russische Amtsträger plötzlich verkündeten,daß Wintershall durch einheimische Gesellschaftenersetzt werden kann. Interesse bekundeten Lukoil, dergrößte Ölkonzern des Landes, sowie Rosneft, ebenfallsein heimischer Ölriese.21

Während internationale Konzerne, die eine Präsenzauf dem russischen Markt halten wollen, mit ihrenausreichenden Kapitalreserven selbst große Verlustefinanziell verkraften können, hatten Mittelständlerund kleinere Partner bisher weniger Erfolg. FürSchlagzeilen sorgte in den 90er Jahren der Fall desIphofener Baustoffherstellers Knauf, der in Krasnodareine veraltete Fabrik übernommen hatte, dessendeutsches Management aber von aufgehetzten Funk-tionären und Arbeitern an den Werkstoren festgehal-ten und als Ausbeuter beschimpft wurde.

Über die Probleme auf dem russischen Markt ist vieldiskutiert worden � von der noch bis vor kurzem un-zulänglichen Besteuerung mit wenig Möglichkeiten,Werbungskosten abzusetzen, über den fehlendenEinlagenschutz (Finanzbehörden dürfen unter demVorwand ausstehender Steuerschuld Bankkonten vonAusländern belasten) bis hin zu den in sich nicht kon-sistenten Regelwerken der Verwaltung. Bürokratenmachen sich dies zunutze und erpressen regelmäßigBestechungs-»Prämien«. Die Firmen wissen, daß ge-schmiert werden muß, um den Reibungswiderstandzu überwinden: Der russische Geschäftsmann hat essich zur Gewohnheit gemacht, die Schmiergeldkostenmit einzukalkulieren, wenn er seine Umsatz- oderKapitalrendite kalkuliert.22 Dies läuft einer marktge-rechten Ressourcenallokation zuwider und erhöht die

20 The Sweet Smell of Russian Oil, in: The Financial Times,1.2.2002, S. 13.21 Rußland aktuell, in: Interfax infomation services, Ausgabe38 (397), S. 12.22 Putin�s Choice, in: The Economist, 21.7.2001, S. 6.

Investitionskosten, arbeitet demnach auf lange Sichtgegen ein hohes Wachstum. Die Mentalität unweiger-lichen Betrugs als Kavaliersdelikt setzt sich in derUnternehmenskultur der großen privaten Gesellschaf-ten fort, wo Vorstand und Aufsichtsrat meistensgemeinsam gegen die Interessen der ausländischenAnteilseigner agieren. Eine zähe spezifische Mischungaus Sowjettradition und Mißachtung marktwirtschaft-licher Prinzipien als »überflüssig« arbeitet gegen dieEntstehung einer modernen Geschäftskultur der Ver-tragstreue und Partnerachtung.23

Unter diesen Umständen kann die deutsche Wirt-schaft auf dem Wege eines umfassenden Engagementsmit Beteiligungen und Investitionen vor Ort dasrussische Potential nicht spürbar in bare Münzeumsetzen. Die bereits vorhandenen Widerstände sindzäh und lassen sich, da in der Unternehmerkulturverankert, nicht rasch abbauen. Es gibt zu denken,daß trotz jahrhundertelangen Strebens der russischenEliten nach Modernisierung westlichen Musters dieseimmer wieder an inneren kulturellen Widerständengescheitert ist.

Übrigens verhalten sich russische Wettbewerbervöllig rational, wenn sie die ausländische Konkurrenzfernzuhalten versuchen. Es ist jedoch Aufgabe desStaates, Partikularinteressen, insbesondere in denBranchen und Regionen, im Sinne volkswirtschaftlichoptimaler Lösungen zu überwinden. Nun versuchtPutin die Wirtschaft zu entbürokratisieren, um dieallgemeine Korruptionsgrundlage � Abhängigkeit vonAmtsträgern � zu schmälern. Allerdings sind solcheProzesse langwierig, wie die Erfahrung der Schwellen-länder weltweit belegt (Argentinien, das eine langemarktwirtschaftliche Tradition hat, ist jüngstesBeispiel dafür, wie korrupte Verhältnisse, gegen dieein schwaches Zentrum wenig ausrichten kann, dieWirtschaft zum Kollaps bringen), und Rußland istnoch am Anfang eines langen Weges.

Kostspieliges Abschotten

Die Erfahrung der osteuropäischen Transformations-länder belegt, daß investorfreundliche Volkswirtschaf-ten gleich nach der politischen Wende schnellergewachsen sind als die russische Wirtschaft, die ins-besondere in der Frühphase der Transformation vonden »Musterschülern« abgehängt wurde (s. Graphik 6).Das erhärtet die Annahme, daß Integration in die

23 Ebd., S. 5.

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Kostspieliges Abschotten

Graphik 6

BIP-Index* 1997/89 (linke Ordinate) und Trend der relativen ADI (rechte Ordinate)

0,00

0,40

0,80

1,20

e a nd en n us d n en d n rn en n en ei n

BIP

-Inde

x

0

200

400

600

800

1.000

1.200

1.400

AD

I, U

S-$/

Einw

ohne

r

Indexwerte

ADI-Trend

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* Verhältnis der BIP-Werte nach Jahren zum Basisjahr 1989.

Quellen: Nationale Statistikämter, Deutsche Bank Research, Weltbank, EBRD; United Nations, World Economic and Social Survey 1996,S. 123, ECE, Economic Survey of Europe 1995-96, Genf 1996, S. 149; PlanEcon Report, verschiedene Ausgaben

Tabelle 1

Devisenbedarf und Schuldendienstreduzierung, Milliarden US-Dollar

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001*

Schuldendienst fällig 20,6 20,2 20,2 18,1 13,6 13,1 17,5 19,0 19,5

Schuldendienst geleistet 3,5 4,6 7,1 7,1 7,3 7,8 11,5 13,5 14,5

Devisenbedarf 17,1 15,6 13,1 11,0 6,3 5,3 6,0 5,5 5,0

* Schätzung.

Quelle: Goskomstat, zit. nach Russian Economic Trends, verschiedene Ausgaben, in: Russia-European Centre for Economic Policy,www.recep.org.

Weltwirtschaft, Transformationsfortschritte undWachstum miteinander korrelieren. Wichtig sindweniger die Gesamtbeträge als die ausländischenDirektinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung bzw. ihrAnteil am BIP und damit an der Investitionsquote desjeweiligen Landes. Die Investitionsquoten sind inpraktisch allen Ländern unter das für ein angemes-senes Wachstum erforderliche Normalniveau von

etwa 24% des BIP gefallen.24 Ein höherer Anteil derausländischen Direktinvestitionen bedeutet makro-ökonomisch, daß unzureichende innere durch äußereErsparnis zugunsten des inneren Verbrauchs und/oderder Zahlungsbilanz ergänzt wird. Estland und Lettland

24 Weltdurchschnittswert in den 80er und 90er Jahren.Quelle: United Nations, World Economic and Social Survey,New York 1996, S. 133.

Ukrain

Moldow

Rußla

Serbi

Litaue

Belar

Lettlan

Kroatie

Bulgari

Estlan

Rumän

ieUng

a

Albani

Tschech

ie

Slowen

i

Slowak Pole

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federten so den ökonomischen Übergang besser ab,während Ungarn seinen Schuldendienstverpflichtun-gen gegenüber seinen internationalen Gläubigernproblemlos nachkommen konnte. Wiederum andereLänder, wie die Tschechische Republik oder Albanienmit seiner bescheidenen nationalen Sparquote,beschleunigten ihr Wirtschaftswachstum. Sofernletzteres ein Indikator für den Erfolg der Reforminten-sität in den Ländern ist, kann von einer Abhängigkeitdes Wachstums vom Kapitalimport � hier: ADI � aus-gegangen werden (Graphik 6). Der Verlauf der Trend-linie deutet darauf hin, daß die Reformvorreiter imPrinzip mehr ausländische Direktinvestitionenanziehen als die Nachzügler und umgekehrt.25

Die nur widerwillige Bereitschaft Moskaus, auslän-dischen Partnern die Beteiligung am heimischenEigentum zu ermöglichen, verursachte hohe volks-wirtschaftliche Kosten, die noch länger von derWirtschaft und der Bevölkerung getragen werdenmüssen. Besonders in den ersten Jahren nach demÜbergang zu marktwirtschaftlichen Strukturen litt dieWirtschaft unter erheblichen Leistungsbilanzdefizi-ten. Die Fehlbeträge lagen bei durchschnittlich14 Milliarden Dollar im Jahr in der ersten Hälfte der90er Jahre, und bei etwa 6 Milliarden in der Zeitdanach. Da sie nicht aus den Devisenreserven oderüber Kapitalimport auszugleichen waren, mußten dieBehörden immer wieder eine Umschuldung derinternationalen Verbindlichkeiten des Staates mit denwestlichen Gläubigern aushandeln. So leistete Ruß-land 1993 von den insgesamt fälligen 20,6 MilliardenDollar lediglich 3,5 Milliarden an Schuldendienst.2001 hatte sich seine Zahlungsfähigkeit erheblichverbessert; dennoch wurden rund 5 Milliarden Dollarweniger als erforderlich an die Kreditgeber überwie-sen. Schätzungsweise wurden auf diesem Wege rund85 Milliarden Dollar eingespart (s. Tabelle 1).

Über diese Art der Ersparnis kommt wenig Freudeauf, da das Geld der Wirtschaft fehlte: Es hätte inForm ausländischer Direktinvestitionen ins Landkommen können. Sein Fernbleiben beschleunigte denVerfall des Kapitalstocks und den Rückgang derProduktion, und hatte weitere Folgen. Beispielsweise

25 Zwar ist eine enge Korrelation im mathematisch-statistischen Sinne nicht gegeben: Aufgrund der Wirkungzahlreicher Nebenfaktoren, aber auch wegen der kurzenDatenreihe � geringer Zeitraum und nur wenige beobachteteLänder � errechnet sich ein loser Zusammenhang. DasBestimmtheitsmaß R2 bzw. die Enge des Zusammenhangsbeider Größen beträgt je nach Art der Regressionskurveca. 0,3.

gingen mit dem rückläufigen Output auch die Steuer-einnahmen des Staates zurück und Moskau kämpftemit dem Problem schwerwiegender Haushaltsdefizite.Um deren Finanzierung zu ermöglichen, erlaubten dieBehörden ab 1995 ausländischen Portfolioanlegernden Zugang zum russischen Rentenmarkt für Schuld-scheine der Zentralregierung. Sie schufen ein günsti-ges Investitionsklima für die kurzfristige Schuld,indem sie eine Wechselkursgarantie abgaben und sehrhohe Realverzinsung anboten. Somit fuhr die russischeWirtschaftspolitik einen gefährlichen Kurs: Währendsie die ADI fürchtete, zog sie intensiv Portfolioinvesti-tionen an. Bereits nach kurzer Zeit war der Anteil derAusländer, die Forderungen gegen die Zentralregie-rung hielten, deutlich gewachsen. Mitte 1998 über-stiegen die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Staatesdie internationalen Nettoreserven der Zentralbank ummehr als das Doppelte. Die Zentralbank war nicht inder Lage, den Wechselkurs zu verteidigen, und derRubel brach zusammen. Die Anleger, die zuvor Rubelfür Dollar gekauft hatten, verloren fast ihr ganzesGeld � etwa 18 Milliarden Dollar.

Addiert man diesen Verlust zu den bereits genann-ten entgangenen ADI in Höhe von ca. 85 MilliardenDollar, ergeben sich als unmittelbarer Preis der gleich-zeitigen Abweisung ausländischer Direktinvestitioneneinerseits und der Anlockung von hochmobilem »hotmoney« andererseits rund 103 Milliarden Dollar.26

Dieser Verlust schlug sich in Rußland als entgangenerAusbau des Kapitalstocks nieder, während dem WestenWertpapierinvestitionen verlorengingen und abge-schrieben werden mußten.

Anhand der ausgefallenen Überweisungen derrussischen Regierung an die Bundesregierung lassensich die volkswirtschaftlichen Verluste für die Bundes-republik Deutschland schätzen. Bekanntlich istDeutschland sowohl im Pariser als auch im LondonerKlub der internationalen Gläubiger27 der größteKreditgeber des Kremls � in beiden Gremien hält esetwa die Hälfte der Forderungen. Allein wegen der umdie Umschuldungsbeträge verringerten zusätzlichenNachfrage des Staates dürfte das Wachstum hierzu-lande um 0,3 bis 0,4 Prozentpunkte pro Jahr geringer

26 Über die wirtschaftlichen und sozialen Folgeeffekte wieWachstums- und Einkommensverluste kann nur spekuliertwerden.27 Mitglied des Pariser Klubs der offiziellen Kreditgeber sind19 Regierungen, darunter auch die russische. Mitglied desLondoner Klubs der kommerziellen Gläubiger sind weltweitüber 600 Geschäftsbanken.

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Sorgen um die Außenschuld

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ausgefallen sein.28 Weitere volkswirtschaftliche Ver-luste sind entstanden durch verminderte Zinseinnah-men der Banken, durch weniger Bestellungen vontiefer in die Krise geratenen Wirtschaftspartnern inRußland bei der deutschen Wirtschaft etc., ohne daßman sie präzise quantifizieren könnte. Die Überlegun-gen sind auch in anderer Hinsicht aufschlußreich:Rechnet man diese Verluste zu den vereinigungs-bedingten Kosten hinzu, die Deutschland in den 90erJahren übernommen hat, wird zumindest teilweiseklar, warum das Wachstum geringer ausgefallen istals bei den meisten anderen EU-Partnern.

Dagegen dürften die geschätzten volkswirtschaft-lichen Verluste in Rußland deutlich höher ausgefallensein. Bei einem Inlandsprodukt von etwa 650 Milliar-den Dollar29 im Durchschnitt der 90er Jahre undeinem Verhältnis von Kapitalstock zu BIP von 2,5 : 1wäre der Kapitalstock im günstigen Falle um ca. 90Milliarden Dollar und der damit erstellte Output umbis zu 225 Milliarden Dollar (90x2,5) größer. In derFolge wären der reale BIP-Rückgang und die damitverbundenen sozialen Härten für die Bevölkerunggeringer.

Diese Beispiele machen deutlich, daß die relativträge vonstattengehenden Reformen in Rußland hohenationale und internationale Kosten verursachthaben. Zwar hatte man sich bereits 1992 im Prinzipfür die Marktwirtschaft entschieden, aber wichtigeSchritte unterlassen, die eine tatsächliche Integrationmit der Weltwirtschaft ermöglicht hätten. Daher istdie Bedeutung des Landes für die deutsche Wirtschaftnach wie vor relativ gering geblieben. Die geringeKaufkraft bzw. der unterbewertete Rubel30 erschwerendie deutschen Exporte dorthin, während die Expan-sion deutschen und internationalen Kapitals genOsten keine unmittelbar umzusetzende Option ist.

28 Berechnet unter Zugrundelegen der Durchschnittswertein Tabelle 1 sowie folgender Annahmen: Deutsches BIP imDurchschnitt der 90er Jahre 3500 Mrd. DM; durchschnitt-licher Wechselkurs DM/US-$ 1,9; marginale Konsumneigungc = 0,9; Steuerquote t = 0,25. Der Zusammenhang zwischenWirtschaftswachstum und Ausgaben des Staates gestaltet sichnach der Gleichung ∆Y = α∆G, wobei α = 1/(1-c(1-t)) der Ein-kommensmultiplikator, Y der Output und G die Staatsnach-frage ist.29 Götz, Struktur, Größe und Entwicklung des russischenBruttoinlandsprodukts 1995--1999 [Fn. 2].30 Im Vergleich zum Vorkrisenniveau 1998 verlor der Rubeldanach gegenüber dem US-Dollar fast 80% an Wert. Diehohen Außenhandelsüberschüsse der letzten Jahre weisendarauf hin, daß immer noch eine reale Unterbewertungvorliegt.

Vor diesem Hintergrund beschränkt sich die aktuel-le »Bedeutung« des Landes weniger darauf, Schauplatzflorierender gemeinsamer Geschäfte zu sein als einKostenfaktor � wegen der Unsicherheiten bezüglichder umfassenden externen Verschuldung des russi-schen Staates.

Sorgen um die Außenschuld

Staat und Privatsektor Rußlands zählen zusammen-genommen nach wie vor zu den weltweit größtenSchuldnern. Mit Auslandsverbindlichkeiten von rund147 Milliarden Dollar rangiert Moskau zusammen mitIndonesien an 5. oder 6. Stelle auf der Weltrangliste(Tabelle 2). Zwei Besonderheiten unterscheiden Ruß-land gegenwärtig von anderen »emerging markets«:! Erstens, die ausstehende Schuld gegenüber dem

Ausland hat sich absolut verringert. Das ist einEffekt der regulär laufenden Tilgung seitens derFöderalregierung, die die Hauptschuld in denletzten Jahren um rund 15 Milliarden Dollar redu-ziert hat. Ferner wurde im Frühjahr 2000 mehr alsein Drittel der vom Londoner Klub gefordertenkommerziellen Schuld in einem »good-will deal«abgeschrieben, wodurch die Gesamtschuld umweitere 10,6 Milliarden Dollar zurückging.

! Zweitens, die Schuldenquote ist sehr schnell zurück-gegangen. Das ist damit zu erklären, daß die Wirt-schaftsleistung wegen der relativ hohen Inflations-raten einerseits und eines fast konstanten Wechsel-kurses andererseits auf Dollarbasis rasch gestiegenist. Sie wird auch in den kommenden Jahren weitersehr schnell steigen. In Kombination mit der bereitserwähnten Verringerung der absoluten (Dollar-)Verbindlichkeiten ergibt sich ein sinkender Anteilder Außenschuld am Inlandsprodukt. Andersdagegen die Entwicklung in vielen anderen Schwel-len- und Transformationsländern: In den 90erJahren ist dieser Anteil vielerorts gestiegen, beson-ders in der Tschechischen Republik, die zur Wende-zeit fast schuldenfrei war. Zehn Jahre später nähertsich ihre Schuldenquote dem Wert Rußlands, dasnoch vor kurzem als hoffnungslos verschuldet galt.Auch die Situation Indonesiens und der Türkei hatsich verschlechtert, während Ungarn nach wie voran einer erheblichen Schuldenlast zu tragen hat.

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Tabelle 2

Öffentliche und private Auslandsschuld 2000,

Milliarden US-Dollar a

Land Außen-schuld

NominalesBIP

Schuld/BIP,%

1. Brasilien 240 610 39,3

2. China 170 1062 16,0

3. Mexiko 152 497 30,6

4. Argentinien 148 276 53,6

5. Rußland b 147 330 44,5

6. Indonesien 142 120 118,3

7. Südkorea 135 422 32,0

8. Türkei 107 202 53,0

9. Indien 102 454 22,5

10. Polen 55 162 34,0

11. Ungarn 29 47 61,7

12. Tschechische

Republik

54 40,7

a gerundete Werte, teilweise Schätzung; b 2001.

Quelle: Weltbank, Daten zur Außenschuld aus: www.worldbank.org/data/wdi2001; Exportdaten aus: www.worldbank.org/data/wdi2001.

Ende der 90er Jahre stammten zwei Drittel derSchuld aus der Zeit der früheren Sowjetunion, diewiederum ab etwa 1975 15 Jahre lang westlicheKredite in Höhe von ca. 75 Milliarden Dollar aufge-nommen hatte. Im Jahre 1993 übernahm dann dieRussische Föderation im Rahmen einer sogenannten»zero option« die Auslandsverbindlichkeiten deranderen Sowjetrepubliken und sicherte sich im Gegen-zug alle Forderungen der UdSSR gegenüber Drittensowie alle Auslandsaktiva und Immobilien des frühe-ren Unionsstaates. Aber bereits 1992 hatte die nunselbständige Russische Föderation damit begonnen,neue Kredite im Ausland aufzunehmen � zunächstunbedacht und auf der Idee aufbauend, sie würden diesoziale Not des Übergangs lindern helfen, währendeine schnell transformierte Marktwirtschaft genugDevisen erwirtschaften würde, um die zusätzlicheSchuldendienstlast zu tragen. Bald stellte sich jedochheraus, daß die fälligen Beträge � in den ersten Jahrendes Übergangs zur Marktwirtschaft summierten siesich auf ca. 75 Milliarden Dollar (vgl. auch Tabelle 1) �für Tilgung und Zinsüberweisung nicht aufzubringenwaren. Als Konsequenz einigten sich Schuldner undGläubiger mehrfach auf Umschuldung und Streckung

der Verbindlichkeiten, während der Londoner Klub �wie bereits erwähnt � überraschend just im Boomjahr2000 eine Teilabschreibung gewährte.

Man kann nur darüber spekulieren, wie es derrussischen Seite gelang, die Banken zu diesem Schrittzu bewegen, zumal die offiziellen Gläubiger im PariserKlub noch keine vergleichbare Einigung mit Moskauerzielt hatten. Ausschlaggebend waren möglicherwei-se die noch nachwirkenden Eindrücke des Wirtschafts-zusammenbruchs 1998 und die allgemeine Unsicher-heit, ob es sich eineinhalb Jahre danach um einenanhaltenden Aufschwung oder lediglich um einetemporäre Scheinerholung wie 1997 handelt.31 Nundrängte Moskau, auf den guten Erfahrungen der 90erJahre fußend und in der Überzeugung, daß es »too bigto fail« ist, auf eine großzügige Entschuldung derKredite des Pariser Klubs, der immerhin 42,7 Milliar-den Dollar fordert. Ein erfolgreicher Ausgang schienin Reichweite zu sein, da 1999 eine Umschuldung vonFälligkeiten in den darauf folgenden zwei Jahren inHöhe von 8,2 Milliarden Dollar vereinbart werdenkonnte. Technisch schien eine »große Lösung« inso-fern wenig kompliziert zu sein, als es sich in diesemKreise um einige wenige Partner handelt (der PariserKlub der Gläubigernationen hat einschließlich Ruß-lands 19 Mitglieder) und ein Land � die Bundesrepu-blik Deutschland � allein knapp die Hälfte (48%) derKredite vergeben hat. Argumentativ verwies man aufverschiedene Präzedenzfälle der Vergangenheit wieÄgypten und Polen, die aus politischen Gründen einumfassendes »write-off« genossen haben. In Erwartungeiner Entschuldung wurden dem Haushaltsplan 2001bereits geminderte Werte für den anfallenden Schul-dendienst zugrunde gelegt und PremierministerKassjanow verkündete öffentlich, daß sein Land nurzu einem eingeschränkten Schuldendienst bereit sei.

Lediglich weil das staatliche StatistikkomiteeGoskomstat die Wirtschaftsdaten über die rasantemakroökonomische Erholung im Jahr 2000 bereitssehr schnell vorgelegt hatte, erhielten die westlichenPartner, allen voran die Bundesregierung, handfestefinanzpolitische Argumente gegen eine Abschreibungder offiziellen Schuld. Rußland drohte die Isolierungnicht nur im Pariser Klub, sondern auch in der G 8.Moskau legt bekanntlich aus Prestigegründen großen

31 In diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache interes-sant, daß selbst die offizielle Statistik den Boom noch nichterkannt hatte. Die gesamtwirtschaftlichen und sektoralenWachstumsraten wurden im Laufe des Jahres 2000 unddanach � nach dem Deal mit dem Londoner Klub also �zweimal kräftig nach oben revidiert.

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Wert auf die Zugehörigkeit zu diesem Gremium derführenden Wirtschaftsmächte, und erst jetzt ent-schied Präsident Putin, daß der Imageschaden durchden Geldvorteil aus der Schuldabschreibung nichtaufgewogen werden kann. Somit ebbte die Debatte ander Oberfläche ab, ohne jedoch in akademischen undpolitischen Kreisen aufgehört zu haben, wobei west-liche Überlegungen, vor allem aus den USA, stets neuangestellt wurden, ob ein Entgegenkommen Moskaugegenüber nicht politisch opportun wäre.32 Nach dem11. September 2001 bekam die Sicherheitskomponen-te dieser Überlegungen sogar eine neue Dimension.33

Inzwischen werden die Zahlungen planmäßiggeleistet. Es sei jedoch daran erinnert, daß es sich umeine reduzierte Belastung handelt, die erst ab 2004 invollem Umfang zum Tragen kommt, da eine 1996getroffene Gratisvereinbarung bis dann noch gültigist. Aber schon 2003 erreicht der Schuldendienst einenvorläufigen Höhepunkt, wenn alte Eurobondanleihenauslaufen, die aus technischen Gründen nicht umge-schuldet werden können. Die erneut gewachseneFinanzlast gepaart mit einem möglichen Rückgangder Wachstumsraten dürfte die Debatte über einenSchuldenerlaß der Pariser-Klub-Kredite an die frühereSowjetunion wieder anheizen. Dabei stehen dieChancen nicht schlecht, daß die westliche Seite ausintegrationspolitischen Gründen im Sinne einerengeren Anbindung Moskaus seinem Druck nachgibt.Auch die Bundesregierung als der gewichtigstePartner bei einem solchen Deal könnte � wohl egal, obsozialdemokratisch oder konservativ geführt � Recht-fertigungsargumente finden. Ein diesbezüglichesBeispiel liefert die jüngste Einigung zwischen Berlinund Moskau über die jahrelange Diskussion zurTransferrubelschuld der Sowjetunion gegenüber derehemaligen DDR. Sie wurde als ausstehende Zahlun-gen für Lieferungen der DDR-Wirtschaft an sowjeti-sche Partner mit 6,4 Milliarden Transferrubel in denBüchern geführt und nach der Wiedervereinigung zuden Forderungen der Bundesregierung an Moskauüberschrieben, ohne jedoch in DM (Euro) bzw. US-Dollar umgerechnet zu werden. Die deutsche Seiterechnete in Anlehnung der früheren Praxis der UdSSR,wonach ein Transferrubel einen US-Dollar Wert sei,

32 John P. Hardt, Russia�s Paris Club Debt: US Interests.Congressional Research Sevice Report, Washington: TheLibrary of Congress, 18.7.2000.33 Mark Medish, Closing the Cold War Account. The WestShould Reward Russia for Its stance on Terrorism by Forgiv-ing Its Soviet-Era Debt, in: The Financial Times, 11.4.2002,S. 13.

den Betrag auf 6,4 Milliarden Dollar um, stieß aber beiden Russen auf Ablehnung. Sie setzten den realenWert der an die DDR gelieferten Rohstoffe höher an,als der Nominalwert dies wiedergeben würde. Nachmehr als acht Jahren Tauziehen um die Schuld lenkteBerlin schließlich ein und gab sich mit einem Diskontvon über 90% zufrieden.34 Der Vorfall ist symptoma-tisch für die harte Verhandlungsführung der Russen,die, obwohl bei ihnen mehr auf dem Spiel steht (siebrauchen die deutsche Unterstützung für ihrenanstehenden WTO-Beitritt), nicht einmal bereit waren,sich auf halber Strecke (bei der Hälfte der Summe von6,4 Mrd. Dollar) mit ihren deutschen Partnern zutreffen. Zugleich setzt Moskau strenge Maßstäbe an,wenn es auf Schuldentilgung der früheren Ostblock-verbündeten besteht, und beharrt auf einem Wechsel-kurs Transferrubel-Dollar von 1 : 1.35 Er ist auch symp-tomatisch für das überkommene Denken in derdeutschen Politik, wonach die Bundesrepublik wegenihres Wohlstandes zur Generosität geradezu verpflich-tet sei, obwohl sich die Lage inzwischen (von vielenkaum wahrgenommen) geändert hat: Heute steckendie öffentlichen Kassen in Deutschland in einer schwie-rigen Lage, während der russische Haushalt mit kom-fortablen Überschüssen abschließt.

Aus makroökonomischer Sicht geht es bei derForderung nach Schuldenstreichung faktisch um eineverdeckte Subventionierung des russischen Exportsek-tors durch die ausländischen Gläubiger. Mit einemderzeit unterbewerteten Rubel erfreut sich die Export-wirtschaft eines gutgehenden Ausfuhrgeschäfts,kräftig gefördert durch wechselkursbedingte Kosten-vorteile. Dagegen ist der Schuldendienst bedingtdurch den hohen Rubelgegenwert der (dollardenomi-nierten) Auslandsschuld relativ kostspielig für denHaushalt. Rechnerisch würde eine nominale Rubel-aufwertung folglich Abhilfe schaffen, da sich derAnteil des Postens »Schuldendienst« am föderalenHaushalt verringern würde.

Sollten die Gläubiger des Pariser Klubs demnacheine nominale Rubelaufwertung bei der Zentralbankanregen? Ärgerlich wie die jetzige Lage ist, ist sie nochdie beste. Eine direkte Intervention bei den Geldbehör-den würde wenig fruchten, da sie mit dem Geschäfts-interesse der Kernbranchen der russischen Wirtschaft

34 Andrzej Rybak, Berlin gibt im Schulden-Streit mitMoskau nach, in: Financial Times Deutschland, 10.4.2002,www.ft.de/pw/eu.35 Ungleiche Ellen an Rußlands Schuldenfront, in: NeueZürcher Zeitung, 17.4.2001, S. 11.

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Tabelle 3

Schuldendienstindikatoren bei verschiedenen Ölpreisen

1 2 3 4 5 6 7 8

Jahr Schuldendienst

Mrd. $

Exporte zu 22$

je Faß, Mrd. $

Exporte zu 15$

je Faß, Mrd. $

Schuldendienst :

Export bei 22$ je

Faß

%

Schuldendienst :

Export bei 15$ je

Faß

%

Schuldendienst :

Budgetausgaben

(bei 22$ je Faß)

%

Schuldendienst :

Budgetausgaben

(bei 15$ je Faß)

%**

2000 10,7 105,6 � 10,1 � 23,5 �

2001 11,8 103 � 11,5 � 22,2 �

2002* 11,9 103 56,6 11,6 21,0 17,4 22,8

2003* 19,0 102 56,1 18,6 33,9 24,7 31,7

2004* 19,5 103 56,6 18,9 34,4 22,7 28,9

2005* 19,5 105 57,7 18,6 33,8 21,0 26,5

*Schätzung. ** Geringere Anteile der Budgetausgaben am BIP unterstellt.

Quellen: Goskomstat, Handelsblatt, Neue Zürcher Zeitung.

� dem Öl-, Gas- und Metallsektor � unmittelbar kolli-diert, die erfolgreich eine Lobby dagegen aufbauenkönnen. Aus der Sicht der Zahlungsbilanz würde eineRubelaufwertung kontraproduktiv wirken, weil sie dieKapitalflucht indirekt ermuntern dürfte. Ein starkerDollar liefert Anreize für die Exporteure, ihre Erlöseweitgehend nach Rußland zu transferieren, da dererhaltene Rubelgegenwert vergleichsweise hoch ist.Nach einer Rubelaufwertung bzw. Dollarabwertungwürde sich der Rubelgegenwert verringern mit demEffekt, daß ein noch größerer Teil der Exporterlöse imAusland verbliebe. Unsicherheiten auf dem Devisen-markt sind aber nicht im Sinne einer reibungslosenBedienung der Auslandsschuld und somit nicht imInteresse der westlichen Gläubiger. Ferner ergäbensich daraus Folgeeffekte, die weit über die direkteZahlungsfähigkeit Moskaus hinausreichen und dieimmer noch fragile Erholung gefährden würden �von einer Haushaltsschwäche, über die Gefährdungder privaten Nachfrage bis hin zu weniger Investitio-nen und Wachstum.

Mittelfristig erlauben Budgeteinnahmen undDevisenbestand der Zentralbank jedoch einen Schul-dendienst nach Plan. Sollte es nichtsdestoweniger zueiner umfassenden Streichung der alten SowjetschuldMoskaus seitens des Pariser Klubs kommen, stehen derdeutschen Seite � es sei denn, alle anderen westlichenPartner stimmen einer Gleichverteilung des abzu-schreibenden Betrags im Sinne eines »burden sharing«zu � makroökonomische Verluste ins Haus. Ein »writeoff« der Sowjetschuld hat geringere Einnahmen für

den deutschen Finanzminister zur Folge; der Staats-verbrauch schwächt sich mit entsprechend negativenFolgen für das Wachstum in Deutschland, wie dies inden 90er Jahren der Fall war (vgl. oben). Es handeltsich hierbei um Beträge, die dem Bund auf Jahrzehntehinaus, rund 25 Jahre, verlorengehen, und die Wachs-tumsverluste können zumindest in den ersten Jahrenspürbar ausfallen. (Im Falle einer Totalabschreibungohne »burden sharing« betrüge der rechnerischeWachstumsverlust in Deutschland zunächst einmalbis zu 0,35% des BIP, und würde erst nach rund zehnJahren unbedeutend).36

Dagegen kann angenommen werden, daß Rußlandin absehbarer Zukunft hinreichend finanzstark bleibt,um einem geregelten Schuldendienst nachzukommen.Bekanntlich hängen Gesamtnachfrage und Wachstumimmer noch stark von den Terms of Trade37 ab, so daßbei einem Preisverfall auf den internationalen Rohöl-märkten der Föderalhaushalt defizitär werden kannund die Überschüsse der Leistungsbilanz bei anhal-tender Kapitalflucht wegschmelzen. Unter Zugrunde-legung konservativer Annahmen könnte der Haushalt

36 Ausgegangen wird von einem deutschen Anteil in Höhevon ca. 20 Mrd. Dollar, woraus dem Bund ca. 1 Mrd. anTilgung und 1 Mrd. an Zinsen entgingen (Summe 2 Mrd. bzw.ca. 1% des BIP). Bei einem Einkommensmultiplikator vonca. 3,5 (s. Fußnote 28) errechnet sich daraus ein Wachstums-verlust von zunächst ca. 7 Mrd. Dollar oder etwa 0,35% desBIP.37 Terms of Trade: Das Verhältnis zwischen Ex- und Import-preisindex.

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erst unterhalb eines Ölpreisniveaus von 15 Dollar jeFaß vorübergehend (vorwiegend 2003) in Schwierig-keiten kommen (Tabelle 3). Dagegen liefern die gegen-wärtigen komfortablen 25 Dollar je Barrel guteVoraussetzungen dafür, den Notlagefonds der Zentral-regierung zum störungsfreien Auffangen etwaigerkünftiger Preisniveau- und damit Erlösschwankungenaus dem Öl- und Gasexport aufzufüllen.

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Macht die Welthandelsorganisation (WTO) es besser?

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Macht die Welthandelsorganisation (WTO) es besser?

Vor dem Hintergrund der gegenwärtig relativ gerin-gen Bedeutung Rußlands als Handelspartner undInvestitionsstandort ist die Frage aktuell, ob die bevor-stehende WTO-Mitgliedschaft der deutsch-russischenVerflechtung und darüber hinaus der VerflechtungEU�Rußland neue Impulse verleihen wird. Dies wärezu erwarten, wenn unterstellt wird, daß der russischeEx- und Import wegen künstlicher Handelshemmnissegegenwärtig suboptimal (gering) ist. Dagegen zögederen Abschaffung im Einklang mit der WTO-Praxiseine Handelsbelebung nach sich.

Davon kann nur bedingt ausgegangen werden.Rohstoffreiche Volkswirtschaften müssen nicht per seeinen hohen Öffnungsgrad aufweisen, und Rußlandist mit einem Öffnungsgrad von etwa 15% keineAusnahme.38 Immerhin liegt es damit über dem ent-sprechenden Wert der USA (10%), aber auch Japans,einer ausgesprochen rohstoffarmen, aber exportstar-ken Ökonomie. Der Öffnungsgrad und somit die Fähig-keit einer Volkswirtschaft, ausländische Güter zuabsorbieren, hängt entscheidend von ihrem Speziali-sierungsgrad ab, der bei kleinen Nationen naturge-mäß größer ist. Mit etwa 145 Millionen Verbrauchernbleibt Rußland auch in absehbarer Zukunft eines derbevölkerungsreichsten Länder der Welt, dessenBinnenmarkt gute Voraussetzungen für eine diversifi-zierte und damit weniger spezialisierte Volkswirt-schaft bietet. Dies läßt erwarten, daß die Export- undImportströme relativ zum Output auch künftig geringbleiben.

Es kann daher geschätzt werden, daß der Handelmit Rußland, speziell der russische Import, nach demWTO-Beitritt nicht plötzlich boomen wird, sonderneher im Einklang mit der Wirtschaftsleistung wachsendürfte, das heißt im Trend mit einer Jahresrate vondurchschnittlich 4%. Die Gewinne und Verluste imHandel werden auf russischer Seite weniger gesamt-wirtschaftlich, sondern sektoral zu suchen sein.Während der Handel zwischen Industrieländern oftein güterspezialisiertes Muster aufweist (Maschinenund Fahrzeuge sind die wichtigsten sowohl Export- alsauch Importgüter), ist der Austausch zwischen Roh-

38 Gemessen als Anteil der Exporte am BIP zu Kaufkraft-paritäten (gegenwärtig ca. 100 : 650 Mrd. Dollar).

stoffe anbietenden Nationen einerseits und Industrie-ländern andererseits sektoral geprägt. Er führt fernerals Tendenz zu einer relativen Schwächung des ver-arbeitenden Sektors des Rohstoffexporteurs. Dieprimäre Konsequenz der WTO-Mitgliedschaft fürRußland wäre eine Gefährdung zahlreicher (ohnehinkrisengeschwächter) Industriezweige und ein handels-politischer Ruf nach Übergangsregelungen zumAnpassungsschutz, die einen freien Marktzugang fürdie ausländischen bzw. deutschen Anbieter erstzeitverzögert zustande kommen lassen. Auch diesspricht ceteris paribus für eine verhaltene Zunahmeder deutschen Exporte trotz WTO-MitgliedschaftMoskaus.

Interessanter als der schlichte Handel mit Waren istfür die deutsche Wirtschaft jedoch die Möglichkeit,den Investitionsstandort Rußland zu erschließen.Präsenz vor Ort sichert eine stärkere Marktpostitionund erlaubt es, Kostenvorteile zu erzielen, beispiels-weise aufgrund der niedrigen Arbeitskosten imVergleich zu West- und Ostmitteleuropa. Allerdingsbleibt Rußland in absehbarer Zeit weiterhin einbedeutender Kapitalexporteur, da die Investitions-quote nur langsam zunehmen und eine beträchtlicheLücke zwischen der Spar- und Investitionssummebestehen bleiben wird. Unter diesen Umständen sindausländische Direktinvestitionen, die Kapitalimportdarstellen, sehr begrenzt möglich. Sie würden unterdem derzeitigen Regime der Wechselkursbindungeine weitere starke reale Rubelaufwertung nach sichziehen und die Kostenkalkulation der Investorenzunichtemachen. Dies, und nicht primär die viel-zitierte Korruption und unklare Verwaltungsvor-schriften, ist die eigentliche makroökonomischeUrsache für die geringen Zuflußbeträge (angesichtsdes potentiellen Interesses der Anleger), nicht nurwährend der tiefen Krise 1998, sondern auch seit dieWirtschaft wieder wächst. Selbst russisches Flucht-kapital auf Zypern und in anderen sicheren Häfen fürGeldwäsche, das mit den Widrigkeiten postsowjeti-scher Bürokratie und Korruption viel besser fertigwerden kann als rein westliches Industriekapital,bleibt nach wie vor außer Landes. Bezeichnend ist hierder Vergleich mit anderen Transformationsökono-mien der »zweiten Liga«, deren rechtlichen Rahmen-

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Tabelle 4:

Kumulierte ausländische Direktinvestitionen (ADI) und Gesamtsaldo der Leistungsbilanz in weniger

fortgeschrittenen Transformationsökonomien, Milliarden US-Dollar

Jahr Bulgarien Kasachstan Kroatien Rumänien Rußland

ADI Leistungs-

bilanz

ADI Leistungs-

bilanz

ADI Leistungs-

bilanz

ADI Leistungs-

bilanz

ADI Leistungs-

bilanz

1992 42 �361 100 �1900 16 329 77 �1564 1454 1142

1993 40 �1098 228 �641 120 623 94 �1174 1211 12792

1994 105 �32 635 �905 117 854 341 �428 690 8434

1995 90 �198 964 �213 114 �1442 419 �1774 2066 7484

1996 109 164 1137 �751 511 �1091 263 �2571 2579 11753

1997 505 1046 1321 �800 533 �2325 1215 �2137 4865 2060

1998 537 �61 1151 �1236 932 �1531 2031 �2968 2762 687

1999 819 �652 1468 �236 1479 �1390 1041 �1469 3309 24731

2000 1002 �702 1246 743 926 �399 1025 �1359 2714 46317

Summe 3249 �1894 8250 �5939 4748 �6372 6506 �15444 21650 115400

Quelle: Economic Commission of Europe, Economic Survey of Europe, Nr. 2/2001, Tabellen B.16 und B.17.

bedingungen nicht deutlich besser einzustufen wärenals die russischen. Weil diese Länder über die 90erJahre mit einem negativen Gesamtsaldo ihrerLeistungsbilanz abschlossen, zogen sie trotz Trans-formationswirren deutlich mehr ausländische Direkt-investitionen je Einwohner an als Rußland mit seinengroßen Handelsüberschüssen während dieser Zeit(Tabelle 4).

In Rußland setzt sich der Trend zu anhaltendhohen, wenn auch abnehmenden Überschüssen derLeistungsbilanz fort: Nach 46 Milliarden Dollar imRekordjahr 2000 erreichte der Saldo 2001 34 Milliar-den, und für 2002 werden 26 Milliarden Dollarerwartet.39 Wenn die Inflationsbekämfung von denBehörden ernst genommen werden soll � ein Rück-gang um 6 bis 7 Prozentpunkte 2002 ist angekündigt �,muß das Land ein Nettokapitalexporteur bleiben, essei denn, die Zentralbank entscheidet sich für eineabrupte wechselkurspolitische Wende und wertet denRubel nominal auf. Solche Signale sind aber bislangausgeblieben.

Folglich kann mit realistischer Gewißheit erwartetwerden, daß die WTO-Aufnahme Rußlands kaumeinem ADI-Boom auslösen wird. Erst langfristigkönnte sich die Situation ändern: Die Öffnung wirddie Importe ankurbeln, die Handels- und Leistungs-

39 Rußland � guter Ausblick für 2002, in: Deutsche BankResearch, Emerging markets aktuell � Rußland,www.dbresearch.de/servlet/reweb.ReWEB, 30.5.2002.

bilanzüberschüsse verringern und auf diesem Wege»Platz schaffen« für ADI. Aus der Sicht der deutschenWirtschaft bedeutet das, daß Großkonzerne ungeach-tet relativer Rentabilitätsverluste sich strategischpositionieren wollen werden und wohl in der bisheri-gen Größenordnung von 250 bis 350 Millionen Dollarim Jahr weiterhin in die russische Wirtschaft investie-ren. Mittelständische Unternehmen dürften einemRußlandgeschäft auf breiter Grundlage nach wie vorfernbleiben, wenn es auch hier sektorale Unterschiedegeben wird. Anbieter, die nicht mit einheimischenHerstellern im Wettbewerb stehen und eine starkeMarkposition erringen, können die reale Rubelaufwer-tung verkraften und weiter im Geschäft bleiben. Eswird sich bei solchen Unternehmen jedoch vorerst umdie Ausnahme von der Regel handeln.