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AUSCHWITZ Moral verjährt nicht Auschwitz ist das Symbol des Völkermordes, der sich innerhalb weniger Jahre zum staatlich angeordneten Jahrtausendverbrechen entwickelt hatte. Aus Abneigung wurde Hass, aus Hass Ausgrenzung, aus Ausgrenzung Verfolgung und Terror. Dann Deportation und am Ende industrielle Vernichtung. Immer wieder wird die Diskussion um die Dauer einer Schuld von Neuem entfacht: wie beim Historikerstreit, ausgelöst von dem Historikern Ernst Nolte und Andreas Hillgruber (1986) oder hervorgerufen durch Martin Walsers Friedensrede(1998). Das Dossier beinhaltet SPIEGEL-Artikel über den schwierigen Umgang mit der historischen Schuld. REUTERS Auschwitz Auschwitz Moral verjährt nicht 1. Auschwitz: Moral verjährt nicht vom 24.09.2007 - 490 Zeichen SPIEGEL ONLINE 2. ZEITGESCHICHTE: Schöne Tage in Auschwitz vom 24.09.2007 - 6975 Zeichen DER SPIEGEL Seite 60 3. HOLOCAUST: Der Chronist der Apokalypse vom 09.10.2006 - 14929 Zeichen DER SPIEGEL Seite 52 4. Ort des Unfassbaren vom 30.03.2005 - 25859 Zeichen SPIEGEL special Seite 86 5. SPIEGEL-GESPRÄCH: "Zum Hinschauen verdammt" vom 07.12.1998 - 11721 Zeichen DER SPIEGEL Seite 236 6. Titel: Total normal? vom 30.11.1998 - 25680 Zeichen DER SPIEGEL Seite 40 7. SPIEGEL-GESPRÄCH: "Moral verjährt nicht" vom 30.11.1998 - 14174 Zeichen DER SPIEGEL Seite 50 8. Polen: "Stadt im Schaufenster" vom 29.04.1996 - 9141 Zeichen DER SPIEGEL Seite 164 9. Neonazis: Klinische Distanz vom 06.12.1993 - 6327 Zeichen DER SPIEGEL Seite 61 10. "Ich empfinde Verlegenheit" vom 23.07.1990 - 6398 Zeichen DER SPIEGEL Seite 111 11. RUDOLF AUGSTEIN: Wie man Auschwitz instrumentalisiert vom 09.01.1989 - 5596 Zeichen DER SPIEGEL Seite 90 12. SPIEGEL ESSAY vom 27.07.1987 - 15008 Zeichen DER SPIEGEL Seite 26 13. SPIEGEL Essay: Die neue Auschwitz-Lüge vom 06.10.1986 - 15272 Zeichen DER SPIEGEL Seite 62

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AUSCHWITZ

Moral verjährt nicht

Auschwitz ist das Symbol des Völkermordes, der sich innerhalb weniger Jahre zum staatlich angeordneten Jahrtausendverbrechen entwickelt hatte. Aus Abneigung wurde Hass, aus Hass Ausgrenzung, aus Ausgrenzung Verfolgung und Terror. Dann Deportation und am Ende industrielle Vernichtung.

Immer wieder wird die Diskussion um die Dauer einer Schuld von Neuem entfacht: wie beim Historikerstreit, ausgelöst von dem Historikern Ernst Nolte und Andreas Hillgruber (1986) oder hervorgerufen durch Martin Walsers Friedensrede(1998). Das Dossier beinhaltet SPIEGEL-Artikel über den schwierigen Umgang mit der historischen Schuld.

REUTERS

Auschwitz

AuschwitzMoral verjährt nicht 1. Auschwitz: Moral verjährt nicht vom 24.09.2007 - 490 Zeichen

SPIEGEL ONLINE

2. ZEITGESCHICHTE: Schöne Tage in Auschwitz vom 24.09.2007

- 6975 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 60

3. HOLOCAUST: Der Chronist der Apokalypse vom 09.10.2006 -

14929 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 52

4. Ort des Unfassbaren vom 30.03.2005 - 25859 Zeichen

SPIEGEL special Seite 86

5. SPIEGEL-GESPRÄCH: "Zum Hinschauen verdammt" vom

07.12.1998 - 11721 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 236

6. Titel: Total normal? vom 30.11.1998 - 25680 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 40

7. SPIEGEL-GESPRÄCH: "Moral verjährt nicht" vom 30.11.1998 -

14174 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 50

8. Polen: "Stadt im Schaufenster" vom 29.04.1996 - 9141 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 164

9. Neonazis: Klinische Distanz vom 06.12.1993 - 6327 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 61

10. "Ich empfinde Verlegenheit" vom 23.07.1990 - 6398 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 111

11. RUDOLF AUGSTEIN: Wie man Auschwitzinstrumentalisiert vom 09.01.1989 - 5596 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 90

12. SPIEGEL ESSAY vom 27.07.1987 - 15008 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 26

13. SPIEGEL Essay: Die neue Auschwitz-Lüge vom 06.10.1986 -

15272 Zeichen

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Eine Berghütte in den Beskiden imheute polnisch-tschechischen Grenz-gebiet im Frühsommer und Sommer

1944. Die Fotos zeigen lachende Urlauber,die Blaubeeren naschen, andere singen zurAkkordeonbegleitung oder faulenzen inLiegestühlen. Die meisten tragen Unifor-men, was belegt, dass es sich um Betriebs-ausflügler handelt. Vermutlich wurden denMännern und Frauen die Kurztrips geneh-migt, weil sie seit Wochen besonderen Ein-satz zeigten. Denn die Erholungssuchen-den standen im Dienst der SS im Vernich-tungslager Auschwitz, und dort lief zu derZeit die größte einzelne Mordaktion desHolocaust: die Vernichtung von ungefähr400000 ungarischen Juden.

Die Bilder von den Schergen auf Urlaubstammen von Karl-Friedrich Höcker ausEngershausen in Westfalen. Der damals 32-jährige Adjutant des Lagerkommandantenklebte sie mit anderen Aufnahmen ausAuschwitz in ein privates Album. Diesesfiel nach dem Krieg einem amerikanischenMilitär in die Hände, der es dem Washing-toner Holocaust Museum vermachte. Ver-gangene Woche hat das Museum die 116Fotos veröffentlicht und damit weltweit fürAufsehen gesorgt.

Denn neben Bildern von der Einweihungeines SS-Hospitals oder dem Begräbnis ge-fallener SS-Offiziere finden sich erstmalsAufnahmen aus dem sozialen Leben derTäter von Auschwitz: SS-Leute sitzen aufHolzbänken und zischen ein Bierchen; Fo-tograf Höcker tollt mit einem Schäferhund;SS-Helferinnen poussieren für die Kamera;

Lagerkommandant Richard Baer, sein Vor-gänger Rudolf Höß, der wegen Menschen-experimenten berüchtigte Arzt Josef Men-gele und Josef Kramer – im KZ Bergen-Bel-sen erhielt er den Spitznamen die „Bestievon Belsen“ – plaudern miteinander.

Bislang war nur aus Zeugenaussagenvon Überlebenden und aus Dokumentenbekannt, dass die SS-Führung in Auschwitzfür sich und ihre Untergebenen das Lebenabseits des Mordens möglichst angenehmzu gestalten suchte. Die jetzt veröffent-lichten Bilder geben dieser abstraktenErkenntnis eine verstörende Anschaulich-keit. Und sie richten die Aufmerksamkeitin neuer Weise auf die alte Frage, wie dieTäter Normalität und Massenmord verein-baren konnten.

Nach dem Krieg haben Wissenschaft-ler das Nebeneinander dieser scheinbarparallelen Welten mit kollektiver Bewusst-seinsspaltung erklärt. Heute dominiert einanderer Ansatz. Sybille Steinbacher, Auto-rin eines Standardwerks über Auschwitz,glaubt, beides sei vielmehr „eng miteinan-der verwoben“ gewesen*. Der Spaß in derFreizeit und ein harmonisches Familienle-ben hätten den Tätern erst „die nötige psy-chische Stabilität“ für das Morden gegeben.

Die von Hobbyfotograf Höcker abge-lichtete Hütte im Sola-Tal, rund 30 Kilo-meter von Auschwitz entfernt, war dennauch nur eine von vielen Annehmlichkei-

* Sybille Steinbacher: „Auschwitz. Geschichte und Nach-geschichte“. Verlag C. H. Beck, München; 128 Seiten; 7,90 Euro.

ten für die zeitweise über 4000 Männerund ungefähr 200 Frauen im Dienst der SSin Auschwitz. Die Männer konnten überdie Wochenenden Bräute, Ehefrauen undauch Kinder mit auf die Hütte bringen.

In der SS-Siedlung neben dem Lager-komplex gab es ein Schwimmbad, ein Fuß-

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Z E I T G E S C H I C H T E

Schöne Tage in AuschwitzDas Washingtoner Holocaust-Museum veröffentlicht unbekannte

Fotos vom sozialen Leben der Nazi-Mörder. Aber weshalb hat ein US-Geheimdienstler die Bilder jahrelang zurückgehalten?

SS-Obersturmführer Höcker (M.) mit SS-Helferinnen

Deutschland

Massenmörder Baer, Mengele, Kramer, Höß, SS-Leute und Angehörige vor der Sola-Hütte (1944): Schergen auf Urlaub

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ballstadion, eine Bibliothek. Alle paarWochen traten Schauspieler oder Musikeraus Magdeburg, Dresden, Breslau auf. DasProgramm bot „musikalische Köstlichkei-ten aus Oper und Operette“, „Lustige Va-rietés“ oder „Goethe einst und jetzt“.

Für die Familienangehörigen in der SS-Siedlung wurde ebenfalls bestens gesorgt.Die Lebensmittelrationen waren höher alsim sogenannten Altreich, Häftlinge muss-ten als Dienstboten schuften, Standortärztekümmerten sich um die Lieben ihrer Ka-meraden. Auschwitz war schließlich derartbegehrt, dass der Lagerkommandant denZuzug einschränkte.

Höcker kam im Mai 1944 nach Auschwitz,vermutlich weil er über „Erfahrungen imMassenmord verfügte“ (Steinbacher). Dennfür die Vergasung der ungarischen Judenwurden „Experten“ gebraucht, und derObersturmführer hatte zuvor im Vernich-tungslager Majdanek gedient.

Der Adjutant war vermutlich nicht derEinzige, der in Auschwitz fotografierte,doch bisher gab es nur Aufnahmen einesSS-Fotografen, die vielfach gedruckten Bil-der von der Selektion ungarischer Juden.

Wahrscheinlich ließen andere SS-Leuteihre Abzüge und Negative verschwinden,um eine Strafverfolgung zu erschweren.

Albumbesitzer Höcker profitierte zu-nächst davon, dass den Alliierten kein Por-trät von ihm vorlag. Diese wussten spätes-tens seit September 1945 von seinen Unta-ten. Doch als Briten ihn in der NäheRendsburgs gefangen nahmen, behaupteteer, Wehrmachtsoldat zu sein, und kam da-mit durch. 1946 wurde Höcker als Kriegs-gefangener entlassen.

Im gleichen Jahr gelangte das nun auf-getauchte Album in den Besitz jenes ame-rikanischen Oberstleutnants, der es demHolocaust-Museum vermacht hat. Obwohlder Mann verstorben ist, gibt das Museumseine Identität nicht preis. Nach eigenenAngaben hat er 1946 für den amerikani-schen Militärgeheimdienst CIC gearbeitetund das Album in einer leerstehendenWohnung in Frankfurt am Main gefunden.

Sollte das zutreffen, stellt sich die Frage,warum er die Fotosammlung nicht den fürStrafverfolgung zuständigen Behörden derU. S. Army übergab. Wollte das CIC, wel-ches im aufkommenden Kalten Krieg im-

mer wieder mit SS-Schergen kooperierthat, bestimmte Täter schützen? Oder istder Umgang mit dem Album nur ein wei-teres Beispiel für das zunehmende Des-interesse, mit dem die Alliierten die Ver-folgung von NS-Verbrechern betrieben?

Höcker lebte jedenfalls jahrelang unbe-helligt von alliierter und später deutscherJustiz unter seinem Namen in Engershau-sen. Erst als Ermittler Anfang der sechzigerJahre den Auschwitz-Prozess vorbereiteten,kamen sie ihm auf die Spur. Vor Gerichtbehauptete Höcker, er habe nichts gewusstund geglaubt, „dass Häftlinge in Auschwitzgrundsätzlich nicht getötet worden sind“.

Der SS-Offizier wurde trotzdem zu sie-ben Jahren Zuchthaus verurteilt wegenBeihilfe zu „gemeinschaftlich begangenemMord“ an mindestens 3000 Häftlingen,1989 erhielt er für seine Taten in Majdanekeine Haftstrafe von vier Jahren.

Von der Öffentlichkeit unbemerkt, starbKarl-Friedrich Höcker 2000 im Alter von88 Jahren; die nun aufgetauchten Bilderwerden dafür sorgen, dass sein Anteil amMassenmord nicht vergessen wird.

Klaus Wiegrefe

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bei der Sola-Hütte (1944): Freizeitspaß gab Tätern psychische Stabilität

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September 1942: An der Grenze zwi-schen dem unbesetzten Frankreichund der Schweiz versucht eine Grup-

pe von Juden, illegal in die Freiheit zuflüchten. Doch sie werden von schweize-rischen Grenzern aufgegriffen und denVichy-Behörden übergeben. Kurz daraufdeportiert man sie aus dem Lager Ri-vesaltes in Südfrankreich nach Ausch-witz in den Tod. Zurückgelassen wird derneunjährige Sohn eines tschechisch-jüdi-schen Ehepaars, der unter falscher Iden-tität in einem katholischen Erziehungs-heim Unterschlupf fand. Sein Name: SaulFriedländer.

Über ein halbes Jahrhundert später voll-endete er, inzwischen Geschichtsprofessoran den Universitäten in Tel Aviv und LosAngeles, den ersten Band seiner Geschich-te des Holocaust, der bis zum Ausbruchdes Zweiten Weltkrieges reicht. Nicht alleindie souveräne Interpretation überzeugte,sondern vor allem die Rekonstruktion desGeschehens durch die unmittelbare Wahr-nehmung jüdischer Zeugen. Die Begeiste-rung der Fachkritik war einhellig; der Au-tor habe ein Meisterwerk vorgelegt.

Dieser Tage folgt nun der zweite Teil,der sich einem ungleich komplexeren The-ma widmet, der Ermordung der Juden im

Zweiten Weltkrieg*. Nun galt es, die Ent-wicklungen in nicht weniger als 17 europäi-schen Staaten in einem Band zusammen-zuführen. Friedländer wählte für dieseAufgabe einen konsequent chronologi-schen Ansatz. In Schritten von jeweils etwasechs Monaten bündelt er das ungeheuerdynamische Geschehen von den ersten biszu den letzten Tagen des Krieges. Der Le-ser kann die Entfaltung dieses Mensch-heitsverbrechens Schritt für Schritt mit-verfolgen, auch wenn er dafür des Öfterengeografische Sprünge in Kauf nehmenmuss. Meisterhaft verbindet der Autor dieAnalyse der deutschen Vernichtungspolitikmit ihrer Wahrnehmung, wie sie in den Ta-gebüchern jüdischer Verfolgter festgehaltenist. Die dritte Achse des Buches bilden die„Zuschauer“, also die nichtjüdischen Deut-schen und Europäer, aber auch die Kir-chen und die ausländischen Regierungen.

Hitler steht in dieser Gesamtdarstellungwieder ganz im Zentrum. Die Verbrechensind nicht allein aus ihm heraus zu er-klären; sein Charisma band aber immermehr seiner Anhänger an den Wunsch

* Saul Friedländer: „Die Jahre der Vernichtung. Das Drit-te Reich und die Juden 1939–1945“. Verlag C.H. Beck,München; 864 Seiten; 34,90 Euro.

nach antisemitischer „Erlösung“, also dervermeintlichen Beseitigung aller Problemeder Welt durch die Ermordung der Juden.Explizit setzt sich Friedländer von denThesen der letzten Jahrzehnte ab, dassmittlere Funktionäre den Massenmordquasi von unten angeschoben haben unddass dabei vor allem wirtschaftliche Moti-ve eine Rolle gespielt hätten. Stattdessenzeigt er, wie der „Führer“ nicht nur dieEntscheidungen traf, sondern in mehrerenSchüben wohldosiert die Nazi-Elite unddie Öffentlichkeit auf seine Mordpolitikeinstimmte. Die Hasspropaganda des Re-gimes, die lange Zeit aus dem Blickfeld derHistoriker geraten ist, findet hier wiederangemessene Berücksichtigung. Nicht al-lein Goebbels’ Propagandamaschine über-häufte die Menschen unter deutscher Herr-schaft mit antisemitischem Schmutz, in denmeisten Ländern fanden sich willige ein-heimische Propagandisten, die die Be-gleitmusik zum Völkermord spielten.

Eine endgültige Entscheidung zur „End-lösung der Judenfrage“ datiert Friedlän-der, wie vor ihm der Historiker ChristianGerlach, auf die zweite Dezemberwoche1941. Den Ausschlag habe die Kriegser-klärung an die USA und damit, aus derSicht Hitlers, an die kapitalistische Seite

Deutschland

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H O L O C A U S T

Der Chronist der ApokalypseDer Zeithistoriker Dieter Pohl über Saul Friedländers

Gesamtdarstellung der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg

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Autor Friedländer, Häftlinge in Auschwitz (1945): Meisterhafte Analyse deutscher Vernichtungspolitik

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des Weltjudentums gegeben. In dieser The-se wird dem Autor nur eine Minderheitder Experten folgen, sehen die meistendoch die Phase September/Oktober 1941als den eigentlichen Wendepunkt.

Freilich dauerte es noch bis zum Früh-jahr 1942, bis die Planungen für den Mas-senmord abgeschlossen waren. Nach denRückschlägen der Wehrmacht vor Moskauwurde der Mangel an Arbeitskräften imdeutschen Herrschaftsbereich akut, der dieVernichtungspolitik ein wenig verzögerte.Einen letzten Schub bekam diese dann imMai 1942, als eine jüdische Untergrund-gruppe einen Brandanschlag auf die Pro-pagandaausstellung „Sowjetparadies“ inBerlin verübte und kurz danach der Chefder Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich,in Prag einem Attentat zum Opfer fiel.

Nun setzten Hitler und Himmler eineFrist von einem Jahr, innerhalb der alle Ju-den umgebracht werden sollten. Geradediese schlimmste Phase des Massenmor-des, vom Juli bis November 1942, nimmtim Buch aber nur vergleichsweise wenigRaum ein. Jeden Tag wurden nun weit über 10000 Menschen umgebracht. Friedländerinterpretiert die Massaker vom Sommer1942 an als Routine einer bürokratischenMordmaschine, die keinem Wandel mehrunterworfen war. Eine Darstellung dieserApokalypse erscheint kaum möglich.

Zwar ohne größere Archivrecherchen,dafür aber mit einer stupenden Kenntnisder westlichen und der israelischen For-schungsliteratur, breitet Friedländer dieEntwicklung vor allem in Deutschland,dann in den einzelnen besetzten Ländernund Achsenstaaten aus. Lediglich zwei derbrutalsten von Hitlers Verbündeten, Kroa-tien und Rumänien, werden nur en pas-sant gestreift. Es verwundert nicht, dassFriedländer mit besonderem Interesse dieVerfolgungspolitik in Westeuropa rekon-struiert. Hier betont er die fundamentaleBedeutung der Kollaboration, von der rei-

bungslosen Zusammenarbeit niederländi-scher Behörden bis zur ambivalenten Poli-tik Vichy-Frankreichs.

Das Vichy-Regime verlegte sich auf dieStrategie, vor allem Juden ohne franzö-sischen Pass auszuliefern. Mit besonde-rer Schärfe geißelt Friedländer auch solchefranzösische Rechtsintellektuelle, die denAntisemitismus verinnerlicht hatten. In Bel-gien hingegen, wo die wenigsten Juden dieStaatsbürgerschaft besaßen, gelang es denEinheimischen, die Hälfte der Minderheitvor deutschem Zugriff zu schützen.

Bei der Darstellung des eigentlichenTatortes, des Massenmordes in Polen, imBaltikum und in der Sowjetunion, be-schränkt sich Friedländer weitgehend aufdie großen Ghettos wie Warschau, Lodz,Wilna oder Kaunas. Wenig erfährt man je-doch über die vielen Schtetl, die Gebieteder Ukraine oder Russlands. Bei der Dar-stellung des Geschehens im Osten unter-laufen dem Autor auch kleinere Unsi-cherheiten, wie man sie an anderer Stellekaum findet. Dies gilt auch für seine Ein-schätzung der finnischen Regierung, dieangeblich nur ganz wenige Verfolgte anDeutschland ausgeliefert habe, obwohl es,wie wir inzwischen wissen, in Wahrheit

über 3000 Personen waren, Juden wieNichtjuden.

Im Mittelpunkt des Buches stehen abernicht die deutschen Täter und ihre auslän-dischen Helfer, sondern die Opfer, hier fastausschließlich die jüdischen Opfer des Na-tionalsozialismus. Sie sprechen zu uns inihren Tagebüchern und Notizen; fast kei-ner der Verfasser, zumeist Akademikeroder Pädagogen, hat den Krieg überlebt.Ihr individuelles Schicksal scheint im Buchmehrmals auf, über die Zeit verstreut.

Diese Chronisten legten nicht nur dieDemütigungen und Entbehrungen schrift-lich nieder, die sie täglich erlebten. Viele rä-sonierten ebenso über die Wendungen derdeutschen Politik, registrierten genau jedeHasstirade von Hitler und Goebbels. Ver-zweifelte Hoffnung dominierte die Stim-men, bisweilen klammerten sie sich an diewildesten Gerüchte. Zusehends kreisten dieAufzeichnungen nicht mehr um die schwie-rige Bewältigung des Alltags, sondern alleinder Tod bestimmte das Denken und Han-deln. Dies galt ab Mitte 1941 in Osteuropa,mit einjähriger Zeitverschiebung dannebenso im Westen. Ab Sommer 1942 wardas Leben eines jeden Juden unter deut-schem Zugriff unmittelbar bedroht.

Einen Höhepunkt erreicht die Darstel-lung mit dem Jom-Kippur-Fest im besetz-ten Europa im September 1942. An keinerStelle wird die Gemeinsamkeit im Schick-sal, der Wille zum Ausharren so deutlichwie hier. Für die allermeisten war es dasletzte religiöse Fest ihres Lebens.

Frei von Illusionen dokumentiert Fried-länder aber auch den Zerfall innerjüdischerSolidarität im Angesicht der Katastrophe,sowohl unter den Opfern der Verfolgungals auch in weltweiter Perspektive. Diemeisten jüdischen Organisationen werdenhier mit differenzierter Kritik bedacht.Dies gilt für das Verhalten der organisier-ten amerikanischen Juden, die sich zu sehran die Boykottpolitik Roosevelts klam-merten, aber auch in Palästina, wo dasStreben nach Gründung eines jüdischenStaates alle Hilfsbemühungen an den Randdrängte. Ebenso wenig verschont Fried-länder viele der jüdischen Zwangsorgani-sationen unter deutscher Herrschaft. Be-

sonders solche Organe wieder Joodse Raad in den Nie-derlanden tendierten dazu,das Schicksal jüdischer Im-migranten zu ignorieren undüber vertretbares Maß hin-aus mit der deutschen Besat-zung zu kooperieren. In ei-ner weit schwierigeren Lagebefanden sich die Judenrätein Polen und im Baltikum,die schon beim geringstenAnzeichen von Insubordina-tion mit dem Tode bedrohtwaren. Bei aller Kritik amVorsitzenden des Judenratesin Lodz, Chaim Rumkowski,

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Deportation in Paris (1941): Verzweifelte Hoffnung

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Diktator Hitler, SS-Chef Himmler (l.): Jeden Tag weit über 10000 Menschen umgebracht

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betont Friedländer jedoch, dass dieser inder Not zumindest einigermaßen gleich-mäßige Lebensverhältnisse im Ghettoschaffen konnte. Sein Warschauer KollegeCzerniaków hingegen, der aus heutigerSicht weit höhere Wertschätzung genießt,duldete die Herausbildung extremer so-zialer Gegensätze.

Als man im Sommer 1941 begann, überorganisierten Widerstand nachzudenken,waren die Voraussetzungen dafür nunüberaus schlecht. Nicht nur die miserablenLebensbedingungen und die feindlichenichtjüdische Umwelt zeichneten dafürverantwortlich, sondern auch quälende in-terne Debatten der einzelnen politischenGrüppchen darüber, ob Widerstand sinn-voll oder aber selbstmörderisch sei. Umsohöher ist die Bedeutung der bewaffnetenGegenwehr einzustufen, die dann in Er-wartung der totalen Auslöschung einsetzte.Der Aufstand im Warschauer Ghetto fandschließlich in ganz Europa ein enormeszeitgenössisches Echo; in den meisten an-deren großen Ghettos scheiterte der Wi-derstand bereits im Ansatz.

Das Bild der nichtjüdischen Bevölke-rung im Angesicht des Menschheits-verbrechens malt Friedländer in düsterenFarben. Hier vermisst man ein wenig dieDifferenzierungen. Besonders die Polenwerden fast durchgängig als Antisemitenpräsentiert, obwohl die Zahl der Einwoh-ner, die Juden trotz Todesdrohungen derBesatzer geholfen haben, doch erheblichgewesen ist. Noch weniger hält Friedländervon den meisten politischen Bewegungenin Osteuropa. Zweifellos haben solcherechtsextreme Gruppen, die zeitweise mitden deutschen Besatzern zusammenarbei-teten, eine erhebliche Rolle bei der Po-gromwelle des Sommers 1941 in Ostpolenund dem Baltikum gespielt. Sie als „Kil-lergruppen“ zu apostrophieren wird derKomplexität dieser Strömungen aber eben-so wenig gerecht wie einige pauschale Ur-teile über den polnischen Widerstand. Erstim Laufe des Jahres 1942 begannen die eu-ropäischen Gesellschaften, sich mehrheit-lich von Hitler abzusetzen, ohne freilichPosition zum Mord an den Juden zu be-ziehen. Ob sich der Antisemitismus in Eu-ropa 1944/45 mit der Fortdauer des Kriegesgar noch radikalisierte, wie Friedländermeint, wird wohl Gegenstand näherer Dis-kussion sein müssen.

Wie ein roter Fadenzieht sich das ThemaKirchen durch das Buch.Vor allem die katholi-sche Kirche in vielenLändern, die sich als In-stitution noch eine ge-wisse Autonomie unterder NS-Herrschaft be-wahren konnte, nimmtFriedländer ins Visier.Bei aller Kritik, die deut-sche und ausländische

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Kirchenvertreter am Gewaltregime übten,blieb das Schicksal der Juden immer einzweitrangiger Faktor. Unter Pius XII.schwenkte der Vatikan ohnehin auf eineArt Appeasementpolitik gegenüber Hitlerein und hofierte einige autoritäre Bewe-gungen. Gegen die antijüdischen Maßnah-men unterhalb der Schwelle der Massen-morde wurden kaum Proteste laut; viel-mehr war vielerorts die Zustimmung derHierarchie zu vernehmen. Als dann dieVerbrechen ihren Höhepunkt erreichten,beließ es Pius XII. bekanntermaßen bei ei-nigen verklausulierten Worten.

Für die Zurückhaltung des Papstes imOktober 1943, als die Juden aus dem be-setzten Rom deportiert wurden, machtFriedländer vor allem politische Motiveverantwortlich: Pius XII. habe nicht seineBemühungen gefährden wollen, zwischenden Westmächten und Deutschland eineantibolschewistische Allianz zu schmie-den. Die stillen Hilfsaktionen der katholi-schen Kirche werden in dem Buch zwarnicht übergangen. Allerdings lassen sichdoch mehr wichtige Interventionen derkatholischen Kirche finden, als hier auf-scheinen.

Freilich sieht die Bilanz der alliiertenund neutralen Staaten nicht viel besser aus.Während die britische Öffentlichkeit be-reits Mitte 1942 über die Massenmorde imBilde war, äußerte die Roosevelt-Admini-stration erst Ende des Jahres offizielle Kri-tik. Gleiches galt für das neutrale Schwe-den, während die Schweiz weiterhin dievom Tode Bedrohten meistens abwies. Ver-zweifelte Rettungsaktionen, von jüdischenOrganisationen gestartet, wurden nicht sel-ten von den westlichen Regierungen sabo-tiert, um einen größeren Flüchtlingsstromin ihren Machtbereich zu verhindern. Biszum Sommer 1944, als die Alliierten an al-len Fronten vormarschierten, waren dieJuden unter deutscher Herrschaft von derWelt praktisch verlassen.

All dies kann man in der chronologi-schen Tour de Force plastisch nachvollzie-hen, geschrieben in klaren Worten und zu-meist durch die Stimmen der Opfer doku-mentiert. Dies ist kein Handbuch, welchesman zur schnellen Information nutzenkann. Es ist vielmehr eine Geschichts-erzählung im besten Sinne des Wortes,eine Darstellung, die vor keiner schmerz-lichen Feststellung zurückschreckt undauch keine dezidierten Urteile scheut. SaulFriedländer hat eine exzellente Gesamt-darstellung des Holocaust geschrieben undzugleich den Opfern ein Denkmal gesetzt.Er entwirft ein Panorama, das alle Fakto-ren miteinbezieht, die letztendlich denVölkermord in dieser Dimension möglichgemacht haben. Wer wissen will, wie eseigentlich gewesen ist, der muss diesesBuch lesen.Pohl, 42, forscht am Institut für Zeitge-schichte in München über die NS-Herr-schaft.

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Der Ort der Gewalt, des Grauens,der grenzenlosen Mordorgien istim Gefüge des Globus auf ewigeZeit fixiert – 19 Grad 12 Minuten

östlicher Länge, 50 Grad 03 Minuten nörd-licher Breite.

Hier, auf diesem Schnittpunkt, liegt imSüden Polens O£wiecim. Eine Kleinstadt,über 800 Jahre alt. Zu den seligen Zeitender Habsburger Monarchie war sie einZentrum jüdischer Religion und jüdischer

Intelligenz. „In einer großen Stadt zu le-ben ist recht“, schrieb ein Chronist, „abersterben muss der Jude in O£wiecim.“

Ein Spruch, der schließlich auf schreck-liche Weise erfüllt wurde. O£wiecim istder polnische Name für – Auschwitz.

Auschwitz – das furchtbarste Wort, dasdeutsche Vergangenheit und deutscheGegenwart kennen. Auschwitz – Synonym

* Auf dem Berghof am Obersalzberg 1944.

für „eine Revolution gegen die Mensch-heit schlechthin“, wie der israelische Ge-schichtsforscher Yehuda Bauer jene düs-tere Zeit mitten im 20. Jahrhundert be-schreibt.

Auschwitz – Symbol des Genozids. DesVölkermords, der sich innerhalb wenigerJahre zum staatlich angeordneten Jahr-tausendverbrechen entwickelt hatte – ausAbneigung wurde Hass, aus Hass Aus-grenzung, aus Ausgrenzung Verfolgung

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Judenselektion an der Rampe von Auschwitz (1944), Hitler mit SS-Chef Himmler*: Die meisten wurden sofort vergast, was in der offiziellen

Ort des UnfassbarenAm 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz – Hitlers monströse Todesfabrik. Wie konnte es zum systematischen Mord an fast sechs Millionen Juden, dem größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, kommen?

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und Terror. Dann Deportation. Und dann– industrielle Vernichtung.

Fast sechs Millionen Juden wurden inden Vernichtungslagern systematisch er-mordet, von Todeskommandos erschos-sen, vergast, vergiftet und zu Tode geprü-gelt. Erst Männer, dann Frauen und über1,5 Millionen Kinder.

Außerdem Hunderttausende Sinti undRoma.

Die Tatorte sind verbunden mit Namen,die ins kollektive Gedächtnis gehören: Bel-zec und Chelmno, Bergen-Belsen, Tre-blinka oder Sobibór, Majdanek, Riga, BabiJar, die „Schlucht der alten Frauen“ beiKiew, Kowno, Mauthausen oder Stutthof.

Und Auschwitz, die Dunkelkammer derGeschichte. In der es um ideologisch-verquere „Lebensraumpläne“ ging, um„rassische Überlegenheit“, um die „Aus-merzung Minderwertiger“. Auschwitz, derZentralplatz des Unfassbaren, wo AnfangSeptember 1941 erste „Probevergasun-gen“ an sowjetischen Kriegsgefangenen

mit dem Entlausungsmittel Zyklon B statt-gefunden hatten – und wo ab Juni 1942 fa-brikmäßig Menschen ermordet wurden,an manchen Tagen waren es 8000.

Was damals geschah, trägt seit einigerZeit zu Recht eine Begrifflichkeit, die nichtder deutschen Sprache entstammen konn-te: „Holocaust“, zusammengesetzt aus dengriechischen Wörtern „holos“ („vollstän-dig“) und „kautos“ („verbrannt“). Vor al-lem jüngere Wissenschaftler beschreibenden Globalmord an den Juden auch als„Schoah“. Das hebräische Wort steht fürVernichtung, Verderben.

Kino- und Fernsehfilme hat es gegebenund wird es geben, weil die Erinnerung andie Schoah eine notwendige Zumutungsein muss, auch auf diese Weise. In Berlinist die Diskussion über Sinn, Widersinnund Unsinn eines Holocaust-Denkmalsselbst vor dessen baldiger Eröffnung längstnicht beendet. Die einschlägige Literatur– Bücher, Aufsätze, eindringliche Lebens-berichte, akademische Schriften – umfasstgrob gerechnet mehr als 20000 Titel.

Aber es bleiben Fragen. Die wichtigstekann bis heute nicht wirklich beantwor-tet werden. Warum? Warum nur? Warumkonnte es der Nazi-Führung gelingen, in so kurzer Zeit fast ein ganzes Volk zu radikalisieren – und seiner humanis-tischen Tradition zu entreißen? Wie konntedas Mitgefühl der Deutschen mit den öf-fentlich Geschundenen dermaßen vereisen?

Wieso von heute auf morgen diese„tiefgreifende moralische Verrohung“, wiees der NS-Spezialist Ulrich Herbert for-muliert? War nur die Diktatur eines AdolfHitler mit ihrem scharf ausgeprägten De-fizit an Menschenrechten schuld?

Die Zeitgeschichtler stellen immer nochund immer wieder Fragen, etwa der in

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KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: Veranstaltungen gegen das Vergessen

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DER VÖLKERMORD

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London lehrende Peter Longerich. FällteHitler die Entscheidung zur „Endlösung“,zur Ermordung der europäischen Juden,im Wahn der eigenen Omnipotenz, imSommer 1941, als er im Krieg gegen dieSowjetunion seine bis dahin größten mili-tärischen Erfolge erreichte?

Oder war die Entscheidung als Rache-akt angelegt, als Vergeltung für das sichabzeichnende Scheitern größenwahnsin-niger Lebensraumpläne?

Dass bei der Rekonstruktion der „End-lösung“ so viel „Raum für Imagination“bleibe, meint Longerich,sei „nur auf den erstenBlick erstaunlich“. ImLand der Bürokratie,dem seinerzeit moderns-ten Europas, waren diewichtigsten Beschlüssezur Vernichtung einesVolkes offenbar schriftlichnicht festgehalten – oderin einer auf Anhieb nichtdeutbaren Tarnspracheformuliert worden.

Und was an Aktenexistierte, wurde beiKriegsende weitgehendzerstört – wie auch dieGaskammern selbst. Son-derkommandos grubenverscharrte Leichen wie-der aus und verbranntensie auf Scheiterhaufen.Es sollten möglichst we-nig Spuren bleiben.

Dennoch, eine Annä-herung an Ursachen,Gründe und Motive istdurchaus möglich.

* Sowjetische Filmaufnahmenvom Tag der Befreiung und kurzdanach.

Ein Kollege Longerichs, der MünchnerHistoriker Dieter Pohl, hat retrospektiv„fünf Ebenen“ ausgemacht, die „chro-nologisch und sachlich aufeinander auf-bauen“. Dem Wissenschaftler gelten erstsie „zusammen als so ausreichend, dass sie zu dieser Katastrophe geführt haben“müssen.

Erstens: die langfristigen Vorausset-zungen, die weit über das Dritte Reichhinausweisen – also eine weit zurückrei-chende antisemitische Tradition nicht nurin Deutschland.

Zweitens: die mittelfristigen Verände-rungen seit dem Ersten Weltkrieg, die diedeutsche Entwicklung zunehmend vonder in Westeuropa abkoppelten. DieSchmach der Niederlage, Reparations-zahlungen, Weimarer Republik, das ener-vierende Gekämpfe zwischen Links undRechts.

Drittens: die enorme Bedeutung derPolitik und Struktur des antisemitischenStaates, der in keiner Weise gefestigt, sondern von Beginn an „zersetzt“ (Pohl)war.

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46 656 ITALIEN(1938)

Staatsgrenzen 1937

DEUTSCHESRE ICH

POLEN

SOWJET-UNION

RUMÄNIEN

JUGO -SLAWIEN

ITAL IEN

FRANKRE ICH

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Der Holocaust

GRIECHEN-LAND

NIEDER-LANDE

BELGIEN

TSCHECHO -SLOWAKEI

ÖSTERRE ICH

Chelmno

Auschwitz-Birkenau

Treblinka

SobibórMajdanek

Belzec

SOWJETUNION(1939)3 020 171

725 000 UNGARN*

(1941)

499 682 DEUTSCHES REICH(1933)

356 830 TSCHECHO-SLOWAKEI*(1930)

300 000 FRANKREICH(1940)

POLEN(1931)2 732 573

756 930 RUMÄNIEN*

(1930)

206 000 ÖSTERREICH(1938)

111 917 NIEDERLANDE(1930)

90 000 BELGIEN(1940)

69 591 GRIECHENLAND(1940)

68 405 JUGOSLAWIEN*

(1931)

Deportations-routen in dieVernichtungslager

JüdischeBevölkerung(Jahr der Volkszählung)

davon ermordetSchätzung nach W. Benz

„Dimension desVölkermords“

ca. 6 Mio.Juden wurdenvon den Nazis

insgesamtermordet

*wegen Gebietsabtretungen Doppelzählungen möglich

Auschwitz nach der Befreiung 1945*: Was hier geschah, entzieht sich fast jeder Beschreibung

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Viertens: der besondere Charakter desZweiten Weltkriegs, der gerade in Osteu-ropa als nationalsozialistischer „Rassen-krieg“ geführt wurde und enthemmendauf die Gewaltbereitschaft wirkte.

Und fünftens: die konkrete Situationvon Strategie, Kriegslage und Besat-zungsherrschaft, in der 1941/42 die „End-lösung“ in Gang gesetzt wurde.

Bei der Legitimation der Verbrechenspielte der „Führerkult“, dem fast alle inpseudoreligiöser Weise anhingen, eine ge-wichtige Rolle. Und dass Hitler, Zentral-instanz für die wichtigsten antisemitischenund rassistischen Entscheidungen, die Tä-ter deckte, sei „für deren Bewusstsein vongroßer Bedeutung“ gewesen, bilanziertPohl – war ihnen doch klar, „dass sie ge-gen alles Recht verstießen“.

Hunderttausende waren also willigstbereit, „dem Führer zuzuarbeiten“, wieder britische Hitler-Biograf Ian Kershawschreibt: seine Minister, allen voranHeinrich Himmler und der KronprinzHermann Göring, seine Diplomaten, SS-Männer, Verwaltungsbeamte, Bevölke-rungsexperten, Ingenieure, Techniker,Soldaten oder Polizisten, eben „ganz nor-male Männer“, lautet der Titel einer Stu-die Christopher Brownings über das ma-rodierende Reserve-Polizeibataillon 101.

So konnten schließlich Krieg und Ge-nozid eine Einheit bilden, eines hatte dasandere bedingt, eines war aus dem ande-ren erwachsen. In seinem Tagebuch no-tierte Hitlers Chefpropagandist JosephGoebbels am 27. März 1942, fast wie er-löst: „Gott sei Dank haben wir jetzt ...eine ganze Reihe von Möglichkeiten, dieuns im Frieden verwehrt wären.“

Hitlers Partei, die NSDAP, war von An-fang an radikal antisemitisch, wie so vielevölkische Organisationen jener Zeit. Dashing nicht zuletzt mit dem Wiederer-wachen des Nationalismus zusammen. „Die

meisten Menschen, die für Hitler stimmtenoder in die Partei eintraten“, erklärt Ker-shaw, hätten dies jedenfalls „nicht wegendes aggressiven Antisemitismus“ getan.

Doch „die breite Skala der Motive“(Kershaw) jener, die sich dem „Führer“ zuFüßen warfen, machte auch spielend ei-nen Sondereffekt möglich: nämlich denAntisemitismus vom Rand ins Zentrumder politischen Bühne zu rücken.

Nach der Niederlage im Ersten Welt-krieg hatte Hitler gegen die Juden getobt:„Wir Deutsche wollen revolutionär seingegen die fremde Rasse, die uns bedrücktund aussaugt, und wir werden nicht eherruhen und rasten, als bis diese Sippe ausunserem Vaterlande draußen ist.“

„Einzigartig“ sei, konstatiert Kershaw,dass Hitler und seine „gewalttätig anti-semitische Elite“ ihren Hass auf die Judengeschickt hätten umwandeln können – ins

Fundament einer Ideologie, die schließlichalle Bereiche des öffentlichen Lebensdurchdrang und zum Bestandteil der offi-ziellen Politik des NS-Staates wurde.

Die trieb Diffamierung, Entrechtungund Verfolgung der Juden rapide voran.SA-Trupps jagten schon bald nach dem30. Januar 1933, dem Tag der Machtüber-nahme, Juden in ganz Deutschland ausihren Häusern und Geschäften und ver-prügelten sie auf offener Straße, etlichewurden willkürlich getötet. Beamte „nichtarischer Abstammung“ wurden in denRuhestand versetzt, und die sogenannteArisierung, also die Enteignung jüdischerFirmen, lief allmählich an.

Jetzt gab es, in der Sprache des Regi-mes, „Volljuden“, „Halbjuden“, „Viertel-

juden“, „Mischlinge“, „Gel-tungsjuden“ oder „Rasse-juden“. Jetzt gab es unterdem Oberbegriff „Nürnber-ger Gesetze“ ein „Reichs-bürgergesetz“, das Juden zuBürgern minderer Klasse de-gradierte. Das „Blutschutz-gesetz“ untersagte Ehe-schließungen und Liebesbe-ziehungen zwischen Judenund Staatsangehörigen „deut-schen oder artverwandtenBlutes“.

Über 2000 Verordnungenund Gesetze sorgten dafür,dass deutsche Juden mit for-maljuristischen Begründun-gen nach Gutdünken ge-knechtet werden durften. VonAugust 1938 an mussten allemännlichen Juden „Israel“,alle Frauen „Sara“ als zweiten

Vornamen tragen, sofern sie nicht schoneinen erkennbar jüdischen Vornamen hat-ten. Dann folgte jene „Art Testfall, was derdeutschen Bevölkerung zuzumuten war“,wie es die Wiener Historikerin BrigitteHamann formuliert: der von Agitator Jo-seph Goebbels initiierte Pogrom vom 9.und 10. November 1938, in die Geschichteeingegangen als „Reichskristallnacht“.

Es war ein Kulminationspunkt des Ter-rors, viel schlimmer noch als 1933. Zumersten Mal offenbarte sich die brutale Ge-walt gegen Juden für jedermann sichtbarin allen Städten. Synagogen und Bethäu-ser brannten, Schlägertrupps zogen um-her, Zehntausende Juden wurden in Kon-zentrationslager verschleppt, offiziell 91,tatsächlich weit mehr, getötet.

Dem Pogrom folgte eine deutliche Zä-sur. Die Jahre zwischen 1933 und 1939 hat-ten der Machteroberung, der Machtsiche-

rung und schließlich derDurchsetzung des totalenMachtanspruchs gedient, unddie „Entjudung“, „im weite-ren Sinne die Durchsetzungeiner rassistischen Politik“

(Longerich), war sichtbares Zeichen einessolchen Erfolgs.

Wohl deshalb auch vollzog das Regimedie Abkehr vom „Radau-Antisemitismus“,der auf der Straße ausgetragen wordenwar und sein Ziel, die Einschüchterung,fast gänzlich erreicht hatte.

Nun wurde die sogenannte Judenpolitikzunächst delegiert in die Stille staatlicherInstitutionen; Experten verschiedensterFachgebiete kümmerten sich darum. Die-se „bürokratische Professionalisierung“gilt dem Senior der Holocaust-Forschung,Raul Hilberg, als wichtige Voraussetzungfür das Undenkbare – die Ermordung dereuropäischen Juden.

In einer Rede vor dem Reichstag am30. Januar 1939 drohte Hitler ganz offen

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Gefangene KZ-Wächter in Dachau (April 1945): „Ganz normale Männer“

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Der expandierende Krieg bedeutetegleichzeitig eine Radikalisierung derVernichtungspolitik.

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mit Völkermord. „Wenn es dem interna-tionalen Finanzjudentum in und außer-halb Europas gelingen sollte, die Völkernoch einmal in einen Weltkrieg zu stür-zen“, donnerte er, „dann wird das Ergeb-nis nicht die Bolschewisierung der Erdeund damit der Sieg des Judentums sein,sondern die Vernichtung der jüdischenRasse in Europa.“

Klare Worte, denen Zeitgeschichtlernoch eine andere Bedeutung geben. Wür-den nämlich die Westmächte den Expan-sionsgelüsten Deutschlands entgegentre-ten, würde also ein begrenzter Krieg zumWeltkrieg führen, spekuliert Peter Longe-rich, dann „würde Hitler die europäischenJuden als Geiseln ansehen“.

Tatsächlich plante die NS-Führung nachdem Überfall auf Polen im September1939 ein gigantisches Programm zur De-portation aller im deutschen Herrschafts-bereich lebenden Juden in Reservate –erst sollten sie im östlichen Polen liegen,dann, nach dem Sieg über Frankreich1940, auf der Südostafrika vorgelagertenInsel Madagaskar, später wurde einSumpfgebiet in Weißrussland oder diesibirische Eismeerregion erwogen.

Ob die Reservatsidee wirklich schon alsAnfangsprojekt zur „Endlösung der Juden-frage“ gelten kann, ist historisch umstrit-ten. Die Jahre bis Mitte 1941, dem Beginndes Krieges gegen die Sowjetunion, be-zeichnet Dieter Pohl – obgleich schon Hun-derttausende umgekommen waren – als„Inkubationszeit für die Massenmorde“.Was kommen würde, zeichnete sich ab undwar nicht mehr aufzuhalten. Der expan-dierende Krieg bedeutete gleichzeitig eineRadikalisierung der Vernichtungspolitik.

Und dies wiederum bedeutete: Mordum jeden Preis.

Hitlers Armeen auf dem Marsch nachOsten waren vier „Einsatzgruppen“ ausSicherheitspolizei und SD („Sicherheits-dienst“) der SS gefolgt, zusammen etwa3000 Mann stark und kommandiert vonhochrangigen, ideologisch gefestigten Mit-arbeitern des Reichssicherheitshauptamtsder SS: Ihnen zur Seite gestellt wurdenBataillone der Ordnungspolizei und Sol-daten, die oftmals den Makel der „Front-untauglichkeit“ trugen.

* In Bielefeld am 9. November 1938.

Die Einsatzgruppen waren mobile Tö-tungseinheiten, die hinter der Front ope-rierten – schnell, zweckgerichtet, grau-sam. Ihr Auftrag: sofortige Liquidierungdes „jüdischen Bolschewismus“, der In-telligenz. Dazu gehörten vor allem Juden„in Partei- und Staatsstellungen“, aberauch alle „sonstigen radikalen Elemente“wie „Saboteure, Propagandeure, Hecken-schützen, Attentäter, Hetzer usw.“.

Tag für Tag wurden Hunderte, Tausen-de Menschen erschossen. Funktionsträgerzuerst, jüdische Rotarmisten, Frauen, Kin-der und Alte, zuletzt ganze jüdische Ge-meinden auf einen Schlag. Die Zahl derEinsatzgruppen-Opfer wird auf über500000 geschätzt, allein in Babi Jar warenes rund 34 000 innerhalb von nur zwei Tagen.

Die „ganz normalen Männer“, vielevon ihnen liebende Familienväter, hättendie Möglichkeit gehabt, einfach den Be-fehl zu verweigern – niemand muss-te deshalb mit ernster Strafe rechnen.Kaum jemand machte freilich davon Ge-brauch, auch dies eine Erkenntnis, diebestürzt.

Zwar ist kein schriftlicher Befehl Hitlerszur „Endlösung“ überliefert, und offen-bar gab es einen solchen auch nicht. Dassdie Ausrottung der Juden aber von höchs-ter Stelle angeordnet wurde, darauf deu-tet ein Aktenstück, datiert vom 31. Juli1941.

An jenem Tag nämlich stattete Reichs-marschall Göring, Hitlers Kronprinz undformal verantwortlich für die Koordinie-rung der „Judenpolitik“, einen 37-jähri-gen Mann mit einer Mord-Prokura aus –Reinhard Heydrich, groß, blond, arischund Chef der Sicherheitspolizei. GöringsErmächtigungsgesetz für Heydrich lautete,„alle erforderlichen Vorbereitungen in or-ganisatorischer, sachlicher und materiellerHinsicht zu treffen für eine Gesamtlösungder Judenfrage im deutschen Einflussge-biet in Europa“.

Vielen Deutern dieser Zeit gilt GöringsSchreiben, das der Adressat offensicht-lich selbst vorbereitet hatte, als einSchlüsseldokument. Heydrich, der kühle

Musikersohn, der sich im Mitarbeiterkreis gern als „Judenkommissar vonEuropa“ titulieren ließ,war als skrupelloser Tech-nokrat von einem beson-ders überzeugt – der „to-talen Ohnmacht des Mo-ralischen“ (Joachim Fest).Für das Mordgeschäftschien er wie geboren; esbedurfte solcher Geister,weil das Regime plötzlich,ganz platt und prosaisch,ein Kapazitätsproblemhatte. Die Reservatsplänewaren aus unterschied-lichen Gründen weit-gehend aufgegeben, dieGhettos überfüllt. DerKrieg gegen die Sowjet-union, ursprünglich ver-anschlagt auf wenige Mo-nate, dauerte an; 1941 wa-ren 2,4 Millionen sowje-tische Juden in deutscherHand – und es sollten, daswar unter NS-Imperialis-ten leicht auszurechnen,immer mehr werden.

Spätestens seit der Gö-ring-Verfügung mussteklar sein, dass es für dieJuden im Zugriffsbereichder Nazis und ihrer Sa-trapen kaum eine Chance

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Brennende Synagoge*: Kulminationspunkt des Terrors

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Ghetto-Bewohner, Bewacher (in Lodz um 1942): Gigantisches Programm zur Deportation

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mehr gab. Die Vernichtung schien be-schlossene Sache – ob nach dem Krieg,wenn er denn für den Diktator erfolg-reich verlaufen wäre, oder während-dessen.

Für die „Implementierung des Holo-caust“ sei deshalb die berüchtigtste Kon-ferenz der Weltgeschichte, die Wannsee-konferenz am 20. Januar 1942, nicht das„entscheidende Startsignal“ gewesen, ar-gumentiert der Historiker Hans Momm-sen. Das nur 90-minütige Treffen in einerSS-Villa am Westufer des Berliner Wann-sees hatte, bei Cognac und Schnittchen,ein anderes Thema: die Kooperation allerMinisterien unter Federführung Hey-drichs sicherzustellen.

Schließlich hatte Heydrich – er wurdewenige Monate später von Widerständ-lern in Prag getötet – eine Vision, die alle Logistik übertraf, das menschlicheVorstellungsvermögen sowieso. Für die„kommende Endlösung“ sollten nachdieser Teufelsarithmetik über elf Millio-nen europäische Juden „in Betracht kom-men“, auch jene aus neutralen Ländernwie der Schweiz oder Schweden.

Das Protokoll der Wannseekonferenz,niedergeschrieben von Heydrichs „Ju-denreferenten“ Adolf Eichmann, enthüllteinen gigantischen Mordplan. Dass dieserPlan nicht bis zum bitteren Ende realisiertwerden konnte, lag in erster Linie am er-folgreichen Widerstand der Roten Ar-mee, die Hitlers Truppen nicht erst seitStalingrad zurückwarf – und die Organi-satoren des Holocaust zu schnellstenMaßnahmen zwang, die so nicht vorge-sehen waren.

Um die Spuren der „Endlösung“ zubeseitigen, wurde im März 1943 erst dasLager Belzec geschleift; hier starben etwa600000 Juden, nur 7 Menschen überleb-ten. Dann machten die Nazis auch Sobi-bór (bis zu 250000 Ermordete) und Tre-blinka (900 000 Opfer) dem Erdbodengleich, Majdanek (235000) wurde im Juli1944 befreit. Im größten Lager, in Au-schwitz-Birkenau, funktionierte die To-desmaschinerie noch.

Immer noch wurden Juden herange-schafft, zwischen Mai und Juli 1944 al-lein 438000 aus Ungarn. Und immer nochgalt: Wer nicht arbeiten konnte, war desTodes. An der Rampe standen SS-Ärzteund „selektierten“ weiterhin TausendeNeuankömmlinge, oft in Stundenfrist.Die meisten wurden sofort vergast, was inder offiziellen Sprache „Sonderbehand-lung“ hieß oder „Desinfektion“. Ansons-ten entzieht sich das, was hier geschah,fast jedweder Beschreibung.

Am 17. Januar 1945, dem Tag des letz-ten Appells in Auschwitz, gab einer derLagerärzte die Order, alle Krankenunter-lagen auf große Scheiterhaufen zu wer-fen. „Weißt du, was wir jetzt verbren-nen?“, fragte ein Häftling seinen Neben-

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DER VÖLKERMORD

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Er weiß, wie fanatisch Himmler AdolfHitler ergeben ist und wie sehr er ihn zu-gleich fürchtet. Aber er weiß auch, dassder Herr über die deutschen Konzentra-tionslager keineswegs mit Reich und„Führer“ unterzugehen gedenkt, sondernhektisch nach Wegen sucht, um die eige-ne Haut zu retten. Himmlers absurdeLieblingsidee ist, mit den WestalliiertenFrieden zu schließen, um an deren Seite

dann gegen die Sowjetunion ins Feld zuziehen. Die Freilassung von KZ-Häftlin-gen zur Aufbesserung des eigenen Imagespasst da durchaus in sein Kalkül.

Im Februar 1945 war es dem SchweizerAltbundespräsidenten Jean-Marie Musymit Himmlers Unterstützung gelungen,1200 jüdische KZ-Häftlinge aus There-sienstadt freizubekommen. Als das„Svenska Dagbladet“ über die Rettungberichtete, schäumte Hitler vor Wut undverbot Himmler jede weitere Aktion die-ser Art.

Und nun sollte sich der SS-Chef nachden Vorstellungen seines Masseurs so-gar mit einem Mann vom JüdischenWeltkongress treffen? „Wenn der Führerdas erfährt“, antwortet der SS-Chef er-regt, „lässt er mich auf der Stelle tot-schießen.“

Kersten gelingt es, seinen Patienten zuberuhigen. Er sei schließlich der Polizei-chef, kontert der Therapeut, da sei es

doch kein Problem, den Besuch inDeutschland geheim zu halten. Himmlerlenkt ein, und Kersten kann Masur am19. April gegen 18 Uhr abends durch die Grenzkontrolle schleusen, ohne dassder jüdische Emissär seinen Pass vor-zeigen muss. Himmler hat Befehl gege-ben, den Mann in Begleitung seinesTherapeuten ohne Kontrollen durchzu-lassen.

Ein Fahrzeug der Gestapo holt die bei-den vom Flughafen ab. Sie durchquerendas zerbombte Berlin und erreichen kurzvor Mitternacht Gut Hartzwalde, Kers-tens Wohnsitz, auf dem das Gesprächstattfinden soll.

Fürs Erste allerdings ist der SS-Chefnoch im „Führerbunker“ in Berlin be-schäftigt. Hitlers Paladine begehen amdarauffolgenden Tag den 56. Geburtstagdes Diktators, und Himmler feiert mit.Im Ehrenhof haben sich Hitlers Ministerzur Gratulationscour versammelt. In demzur Trümmerlandschaft verkommenenGarten der Reichskanzlei sind eine Scharerschöpfter Soldaten und einige Hitler-jungen angetreten, um ihren „Führer“ zuehren. Erst spät kann Himmler die ge-spenstische Szenerie verlassen.

Als er in Hartzwalde eintrifft, ist eszwei Uhr morgens. Trotz der späten Stun-de wirkt der SS-Chef frisch und hellwach.Kersten lässt Tee und Kaffee servieren,

„Wenn das der Führer erfährt“Kurz vor Zusammenbruch des Dritten Reiches verhandelte SS-Chef Himmler noch mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses über die Freilassung von KZ-Häftlingen.

Heil Hitler“, brüllt die Polizeiwa-che, die auf dem Flughafen Ber-lin-Tempelhof in strammer Hal-tung angetreten ist. Norbert Ma-

sur scheint der Empfang nicht sonderlichzu irritieren. Ruhig zieht der Vertreter desJüdischen Weltkongresses aus Schwedenseinen Hut und erwidert: „Guten Tag“.

Es ist der 19. April 1945, und einer derbizarrsten Besuche im untergehendenNazi-Deutschland be-ginnt. Auf einem Land-gut nördlich von Berlinwill Masur sich mit SS-Chef Heinrich Himm-ler treffen, um dieFreilassung von jüdi-schen Häftlingen ausdem Konzentrationsla-ger Ravensbrück zuerreichen. Die Zeitdrängt. Das „Tausend-jährige Reich“ steht vordem Aus, und dieNationalsozialisten be-ginnen, die Konzentra-tionslager im Landes-inneren zu liquidieren.

Masur ist nicht alleinnach Berlin gereist. Mit ihm entsteigt FelixKersten der Maschineaus Stockholm – Himmlers Masseur. Derfinnische Medizinalrat baltendeutscherAbstammung ist schon seit längerem mitder schwedischen Regierung über die Ret-tung von Verfolgten des Nazi-Regimes imGespräch. Er hat die brisante Mission ein-gefädelt.

Ob er sich nicht mal mit einem Ver-treter des Jüdischen Weltkongresses tref-fen wolle, hatte Kersten Himmler am 17.März 1945 gefragt. Der SS-Chef wehrteentsetzt ab.

Doch Kersten kennt seinen Patientengut genug, um zu wissen, dass dies nichtdas letzte Wort ist. Seit 1939 behandelt erHimmler, um die schmerzhaften Krämp-fe zu lindern, unter denen der Reichs-innenminister zunehmend leidet und dieihm manchmal fast die Besinnung rau-ben. Über die Jahre ist der fingerfertigeMann zu einem unverzichtbaren Helferund engen Vertrauten des SS-Chefs ge-worden.

Himmler-Besucher Masur, SS-Chef Himmler (r.), Masseur Kersten: Lügen und Rechtfertigungslitaneien

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mann. Ohne die Antwort abzuwarten,sagte er: „Wir verbrennen das DritteReich.“

„Plan A“ trat in Kraft, die Evakuierungbei herannahendem Feind. Um 16 Uhrsetzten sich die ersten Trecks RichtungWesten und Südwesten in Bewegung,„graue Menschenkolonnen in Zebra-anzügen“ (ein Augenzeuge). Für 15 000Häftlinge, die das Lager überstan-den hatten, wurde es der Marsch in den Tod.

Die Befreier von Auschwitz, wo zwi-schen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen er-mordet worden waren, kamen zehn Tagespäter, am 27. Januar. Zuerst „ein Mannmit Gewehr und einem roten Stern aufder Mütze“, erinnerte sich der HäftlingJirl Steiner. Er schrie: „Die Russen, dieRussen!“ Die Überlebenden nahmen denSoldaten auf die Schultern und trugen ihn

* Jüdische Studenten am 19. April 2001 beim jährlichenGedenkmarsch vom Lager Auschwitz zum Lager Ausch-witz-Birkenau.

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und der Verantwortliche fürLeid und Tod von Abermillio-nen Menschen beginnt das Ge-spräch mit einer langen Recht-fertigungslitanei. Die Judenhätten Epidemien einge-schleppt, lügt er. Selbst dieKonzentrationslager glaubt derSS-Chef vor seinem jüdischenBesucher rechtfertigen zu müs-sen. Die, so Himmler, seien ei-gentlich Erziehungslager undhätten Deutschland vor Krimi-nalität bewahrt.

Masur müht sich, die Flutvon Unverschämtheiten eini-germaßen gefasst anzuhören.Hin und wieder unterbricht erden Monolog, widerspricht,stellt richtig.

Schließlich gelingt es Kerstenund Masur, das Gespräch aufdie Rettungsaktion in Ravens-brück überzuleiten und vonHimmler nach einigem Hin undHer die Zusage zu erhalten,dass 1000 jüdische Frauen – zuCamouflagezwecken als Polin-nen deklariert – freikommen.

Um fünf Uhr früh bricht derSS-Chef auf. In Hohenlychen,einem SS-Lazarett 100 Kilome-ter nördlich von Berlin, wartetschon der nächste Besucher.Folke Graf Bernadotte, der Vi-zepräsident des schwedischenRoten Kreuzes.

Bernadotte hat schon zwei-mal mit Himmler über die Frei-gabe von skandinavischen KZ-Internierten verhandelt. Dies-mal spricht er ihn auch auf französischeFrauen im KZ Ravensbrück an.

Der SS-Chef ist inzwischen sichtlich er-schöpft und nervös. Dennoch gelingt esBernadotte, ihm mehr abzuringen, als erbisher zu versprechen bereit war. Vondem schwedischen Grafen erhofft sichHimmler, dass er ihm einen Kontakt zuden Westalliierten herstellt. Deshalb ge-steht er seinem Gast zu, eine unbegrenzthohe Anzahl von Frauen aus dem Kon-zentrationslager Ravensbrück evakuierenzu lassen.

Eilig versuchen das schwedische unddas dänische Rote Kreuz, so viele Fahr-zeuge wie irgend möglich zusammenzu-

* Sigrid Jacobeit, Simone Erpel (Hrsg.): „Ich grüße Euchals freier Mensch“ – Quellenedition zur Befreiung desFrauen-Konzentrationslagers Ravensbrück im April 1945.Edition Hentrich, Berlin 1995; 240 Seiten; 17 Euro. Von Simone Erpel erscheint im Metropol Verlag Berlinauch eine Dissertation über das Ende des KZs Ravens-brück.

bringen. Am 22. April rollen die erstenweiß gestrichenen Wagen mit den großenroten Kreuzen auf das Gelände des Kon-zentrationslagers.

Innerhalb von wenigen Tagen gelingtes, im Rahmen der „Aktion Weiße Busse“mehr als 7000 Frauen – darunter etwa1000 Jüdinnen – für die Fahrt ins rettendeSchweden abzuholen. Tausende, die zu-rückbleiben, werden wenig später von derSS auf den Todesmarsch geschickt.

Aber auch für die Evakuierten ist dasLeiden noch nicht vorbei. „Für unserenTransport war eine große Gefahr entstan-de“, erinnert sich die LuxemburgerinYvonne Useldinger*. „Wir befanden unszwischen den Fronten. Der Krieg warnoch nicht zu Ende.“

Im Tiefflug donnern immer wieder al-liierte Bomber über die Konvois hinwegund nehmen die gerade der Hölle von Ra-vensbrück Entkommenen unter Beschuss.25 Frauen sterben. Karen Andresen

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„Marsch der Lebenden“ im ehemaligen KZ-Auschwitz*: „Was eigentlich ist der Mensch?“

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DER VÖLKERMORD

über die Lagerstraße – wie einen Trium-phator.

In den folgenden Wochen und Monatenverbreiteten sich die Bilder von den Lei-chenbergen in den KZs über die ganzeWelt. Doch was war schon vorher bekanntvon dem systematischen Massenmord anden Juden Europas? Was wussten die Mi-litärs, die Agenten, Diplomatie und Politik?

Den Alliierten lieferte vor allem die pol-nische Exilregierung valide Informatio-nen.

Wie präzise deren Erkenntnisse waren,belegt ein Artikel aus dem Sommer 1942über das Vernichtungslager Treblinka:

Eine Lokomotive schiebt die Waggonsmit den Juden zum Bahnsteig. Die Ukrai-ner holen die Juden aus den Waggons undführen sie zur „Badedusche“. Dieses Ge-bäude ist mit Stacheldraht umzäunt. Siebetreten es in Gruppen von 300 bis 500Personen. Jede Gruppe wird darin soforthermetisch abgeschlossen und vergast.

Zu dieser Zeit etwa wurden für diewestliche Welt die Konturen der Massen-vernichtung allmählich sichtbar, die Presse wie auch der Londoner Rundfunk-sender BBC begannen mit detaillierterBerichterstattung. Anfang August, fünfWochen nach den ersten systematischenJudenselektionen in Auschwitz, sandteder Jurist Gerhart Riegner eine Botschaftan den Präsidenten des AmerikanischenJüdischen Kongresses, Rabbi StephenWise:

* In Auschwitz 1944.

Erhielt alarmierende Nachrichten vonÜberlegungen ... alle der dreieinhalb bis vier Millionen Juden in den vonDeutschland besetzten oder kontrollier-ten Ländern nach Deportation undKonzentration im Osten zur endgültigenLösung der Judenfrage in Europa auf ei-nen Schlag auszurotten.

Aktion für Herbst vorgesehen. Ver-nichtungsverfahren in Planung. Blau-säureeinsatz erwogen. Übermittle Nach-richten mit aller nötigen Zurückhaltung.

Riegner war Repräsentant des JüdischenWeltkongresses in der Schweiz und sein In-formant hochrangig: ein Rüstungsmanagermit Zugang zum Führerhauptquartier.

Als Wise später dem amerikanischenPräsidenten Franklin D. Roosevelt ein 20-

Seiten-Memorandum über den „Plan derAusrottung“ überreichte, machte der demRabbi nur wenig Mut: „Gottes Mühlenmahlen langsam, aber sehr fein. Wir tunalles in unserer Macht Stehende, um diepersönlich Schuldigen festzustellen.“

Spätestens im Mai 1943 waren auch derVatikan und Papst Pius XII., die höchstemoralische Instanz der westlichen Hemi-sphäre, im Bilde. „Juden. FürchterlicheLage“, hielt ein internes Papier fest. Esgebe „gezielte Todeslager“, Transportedorthin würden stattfinden „in Viehwag-gons mit einem Boden aus ungelöschtem

Kalk“. Dann: „Man erzählt, dass sie zuHunderten in Räumen eingesperrt sind,wo sie unter dem Einfluss von Gas en-den“ – Gas, Zyklon B.

Pius verzichtete auf öffentlichen Pro-test – vorgeblich um „größere Übel zuverhindern“. Aber war denn die Un-menschlichkeit der NS-Diktatur noch zuüberbieten?

Und die Deutschen selbst? Was habensie gewusst vom Genozid, vom Völker-mord in ihrem Namen?

Untersuchungen amerikanischer Nach-richtendienstler und Psychologen aus denletzten Kriegsmonaten in jenen deutschenRegionen, die bereits besetzt waren, er-geben ein eindeutiges Bild über „dasGeheimnis, das keines geblieben ist“, wie

es in einer Arbeit des israe-lischen Historikers DavidBankier heißt. „Fast jederDeutsche“, resümiert Ban-kier, habe „irgendwelcheKenntnis von den Greuel-taten“ gehabt, „in weitenKreisen“ sei über die Ver-wendung von Gas als Tö-tungsmittel geredet“ worden.

Und, so berichtet Bankier,„viele Befragte“ seien „froh“gewesen, „zum ersten Mal seitJahren frei“ darüber „sprechenzu können“. Die Vernehmerhätten in ihren Berichten dar-auf hingewiesen, dass „einmerkwürdiges Schuldgefühlbezüglich der Juden im Vor-dergrund gestanden“ habe,„eine unbehagliche Stim-mung und häufig ein offenesEingeständnis“ – von einem„großen Unrecht“.

Im Februar 1946 schriebder Schriftsteller Erich Käst-ner: „Was in den Lagern ge-schah, ist so fürchterlich, dassman darüber nicht schweigendarf und nicht sprechenkann.“ Der 18-jährige AbeKimmelmann sprach, knapp15 Monate nach seiner Be-freiung aus dem KZ Buchen-wald, in das die Amerikaneram 11. April 1945 gekommen

waren. Die Abschrift der Tonbänder seinesInterviews mit einem Psychologen ist 128Schreibmaschinenseiten stark.

Immer wieder stellte Abe seinen Be-fragern selbst eine Frage. Sie hatte ihnverfolgt, weil seine Gedanken nur nochkreisten um Ursachen, Gründe, Motive.Über das, was sich ereignet hatte mittenim 20. Jahrhundert, im modernsten StaatEuropas, in der Nation der Dichter, Den-ker und Erfinder, die abgestürzt war ausder Zivilisation.

„Was eigentlich“, fragte Abe, „was ei-gentlich ist ein Mensch?“ Georg Bönisch

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Juden auf dem Weg in die Gaskammer*: Wer nicht arbeiten konnte, war des Todes

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Spätestens im Mai 1943 waren der Vatikan und Papst Pius XII. über Todeslager für Juden im Bilde.

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SPIEGEL: Geistige Brandstiftung, latenterAntisemitismus,Auschwitz als Moralkeule:Seit Wochen gibt es heftigen Streit um Mar-tin Walsers Friedenspreis-Rede und denUmgang mit der deutschen Geschichte.Verstehen Sie, Hilda, Igor und Mark, dieErbitterung, mit der die Auseinanderset-zung geführt wird?Hilda: Ich finde Walser an mehreren Stellenabsolut daneben, etwa wenn er über die„unaufhörliche Präsentation“ der deutschen„Schande“ spricht und vom „Wegschauenund Wegdenken“. Ich kann ihn nur beglück-wünschen, wenn er wegschauen kann. Ju-den beneiden ihn um diese Fähigkeit, insbe-sondere die älteren Juden, denen die Greu-el völlig unkontrollierbar immer wieder vor dem geistigen Auge erscheinen – die sind einfach zum Hinschauen verdammt.Igor: Jemand, der wegsieht, zeigt sich alsschwacher Mensch. Es gibt sehr vieles aufdieser Welt, was mir nicht gefällt.Aber dasheißt doch nicht, daß ich wegschauen kannnach dem Prinzip: Kopf in den Sand. Des-wegen finde ich Bubis’ Kritik richtig. Abervon geistiger Brandstiftung würde ich viel-leicht nicht sprechen.Hilda: Walser wehrt sich in seiner Rede ge-gen öffentliches Moralisieren. Er verurteiltdiejenigen, die sich in der Öffentlichkeitals gut hinstellen. Wenn er konsequentwäre, hätte er den Friedenspreis ablehnenmüssen, denn was er macht, ist ja auch öf-fentliches Moralisieren.Igor: Das große Problem ist, Walser hat sovieles offengelassen, daß man ihn ganz unterschiedlich interpretieren kann. Unddas machen die Leute auch. Wenn er sichjetzt damit herausredet, daß man ihn falschverstanden habe, kann ich das nicht geltenlassen. Er ist in der Lage, sich eindeutigauszudrücken.SPIEGEL: Sie sind alle Mitte 20.Was bedeu-tet Auschwitz noch für Sie?

Auschwitz als Schlagwort benutzen, be-komme ich eine Wut im Bauch.SPIEGEL: Wen meinen Sie?Hilda: Zum Beispiel Leute, die bei der Dis-kussion über den Paragraphen 218 sagen,Abtreibung ist Auschwitz, ist Holocaust.Mark: Oder Leute, die jede Gewalttat in ei-nen Zusammenhang mit Auschwitz brin-gen. Auschwitz verkommt damit zu einemSynonym für alles, was furchtbar ist auf

dieser Welt. Das relativiertden Holocaust. Und dasmacht mich wütend.SPIEGEL: Könnte Walsernicht genau das gemeint ha-ben, als er von der Instru-mentalisierung von Ausch-witz sprach?Mark: Das könnte sein.Aberich habe ihn anders ver-standen. Und wenn mir das so geht und anderenMenschen, die unmittelbarbetroffen sind, dann ist erverpflichtet, das richtigzu-stellen.Hilda: Diese Uneindeutigkeithat er mit Absicht gewählt.Er hat genug von Auschwitzund der Geschichte. Und erglaubt, er dürfe das sagen,weil er lange ein Linker warund weil klar sei, daß er keinNazi ist. Ihm, der bisherMeister der Eindeutigkeitwar, geschieht es recht, daßer nun Opfer seiner Zwei-deutigkeit geworden ist.SPIEGEL: Walser moniert, dasritualisierte Holocaust-Ge-denken sei zur bloßen Rou-tine geworden. Sind für Siesolche Gedenktage wichtig? Mark: Einfache Gegenfrage:Wenn Walser seine Familie

verliert, durch einen ganz normalen Tod,wird er am Todestag an sie denken? Ist dasfür ihn auch ein Ritual?SPIEGEL: Das sind möglicherweise zwei un-terschiedliche Sachen, privates und öffent-liches Gedenken.Mark: Es geht bei Auschwitz um persönli-ches Gedenken und darum, daß anderenbewußt wird, was damals passiert ist.Natürlich wäre es mir lieber, wenn sich dieLeute mehr damit identifizieren könnten.Aber wenn ich die Wahl habe zwischen ei-nem Ritual des Erinnerns und gar keinemErinnern, dann ist mir das Ritual lieber.Hilda: Kann es überhaupt nichtritualisierteGedenktage geben? Warum regt er sichnicht über den 3. Oktober auf, warum nichtüber andere Gedenktage?Igor: Die Holocaust-Gedenktage sind mehrdazu da, der nichtjüdischen Gesellschaftdie Geschichte nahezubringen. Ich als Judedenke daran jeden Tag.SPIEGEL: Gibt es auch in Ihrem Freundes-und Bekanntenkreis den Wunsch, nicht

Hilda: Riesenschmerz und Einsamkeit. Mei-ne Oma erlebte Familie, als sie in meinemAlter war, ganz anders: mit großen Fami-lienfesten, mit vielen Cousins, Cousinen,Tanten und Onkeln. Heute sitzen wir an ei-nem kleinen Tisch.SPIEGEL: Wie viele Mitglieder Ihrer Familiewurden von den Nazis umgebracht?Hilda: Alle, außer meiner Oma. In Riga wa-ren wir eine über 90köpfige Familie. Mei-ne Oma ist geflohen, alle anderen sind imKZ umgekommen. Väterlicherseits ist esähnlich traurig.Mark: Das erste, was Auschwitz bei mirverursacht, ist ein kalter Schauer. Die hal-be Familie meines Vaters ist ausgelöschtworden. Mein Großvater konnte darübernie reden, aber nicht, weil er sich damitnicht auseinandersetzen wollte. Er war einrecht starker Mann. Aber er konnte mirdas Unfaßbare nicht beschreiben, also hater abgeblockt. Wenn Leute jetzt ständig

* Manfred Ertel (l.), Karen Andresen (r.).

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Kultur

S P I E G E L - G E S P R Ä C H

„Zum Hinschauen verdammt“Die jüdischen Studenten Mark Jaffé, Hilda Joffe und Igor Gulko

aus Berlin über den Streit um die Erinnerung an Auschwitz

Gulko, Joffe und Jaffé, SPIEGEL-Redakteure*„Wut im Bauch“

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KZ Auschwitz: „Riesenschmerz und Einsamkeit“

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mich ein Stück Normalität. Deshalb binich jetzt so entsetzt, wieviel Rückhalt Wal-ser mit dieser kalten Rede bekommt.SPIEGEL: Gehört zur Normalität nicht auch,Kritik üben zu können, wenn etwa amerika-nische Anwälte zur Entschädigung von Ho-locaust-Opfern oder NS-ZwangsarbeiternMilliarden-Summen fordern, die deutscheFirmen in den Bankrott treiben könnten?

Mark: Mich stört das Auf-treten des Anwalts Ed-ward Fagan ebenfalls.Aber warum muß er als Maßstab dafür her-halten, daß Journalistensagen, typisch Jude. Esgibt auch unter JudenLeute, die sehr abstruseMeinungen haben. Wirsind nicht besser undnicht schlechter als alleanderen.SPIEGEL: Zeigt die RedeMartin Walsers latentenAntisemitismus?

Hilda: Es ist ein erstaunliches Phänomen,daß Menschen wie Klaus von Dohnanyiund Martin Walser antisemitische Stereo-type verwenden. Ich möchte sie nicht alsAntisemiten bezeichnen, sondern vielmehrals Pro-Nationalisten. Aber raus kommt:Ein Friedenspreisträger bedient Vorurteilenach dem Muster, Juden sind geld- undmachtgierig. Was für ein Widerspruch.SPIEGEL: Bestätigt Ihr Vorwurf nicht gera-dezu Walsers Behauptung, die deutscheVergangenheit diene als „Moralkeule“?Hilda: Ich wehre mich doch gar nicht gegenKritik. Sie muß nur unzweideutig formu-

liert sein. Und das mußganz besonders für Leutewie Walser gelten, die inder Öffentlichkeit stehenund hohes Ansehen ge-nießen.Mark: Wie kann zum Bei-spiel ein Mann wie Doh-nanyi, dessen Vater vonden Nazis getötet wurde,Bubis fragen, wie sichwohl die Juden verhaltenhätten, wenn sie nicht dieOpfer gewesen wären.Das ist deplaziert und ge-schmacklos.

Hilda: Müssen sich Vietnamesen im bren-nenden Asylantenheim künftig fragen lassen, ob sie nicht als Neonazis ähn-lichen Haß entwickelt hätten? Das ist absurd.SPIEGEL: Ist der Streit für Sie wichtig,oder ist er Ihnen unheimlich? Soll die Auseinandersetzung weiterhin öffentlich ausgetragen, oder soll sie schnell beendetwerden?Igor: Nachdem der Widerspruch zwischenBubis und Walser jetzt aufgebrochen ist, ist die Debatte besonders wichtig geworden.

mehr mit dem Thema Auschwitz konfron-tiert zu werden? Igor: Ich habe auch schon vor Walsers Frie-denspreis-Rede von Bekannten gehört,daß sie sich belästigt fühlen durch die Holocaust-Erinnerung. Es gibt nichtjü-dische Bekannte, die sagen, es falle ih-nen schwer, jeden Tag daran erinnert zuwerden.SPIEGEL: Können Sie Ih-ren Bekannten diese Hal-tung nachsehen? Igor: Ich kann die nach-vollziehen.Aber nicht al-les, was man nachvollzie-hen kann, ist auch rich-tig. Ich verstehe, daß diedamit nichts zu tun ha-ben und sich nicht schul-dig fühlen wollen für ihre Väter und Großvä-ter. Aber damit sind wir wieder bei der Frage des Vergessens und Weg-schauens.SPIEGEL: Diskutieren Sie mit Ihren Bekann-ten darüber?Igor: Ich versuche nicht, ihnen das auszu-reden. Denn ich weiß, diese Diskussionwird zu nichts führen, sie wird ewig an-dauern, und keiner wird von seinem Stand-punkt abweichen.Hilda: Für die junge Generation der nicht-jüdischen Seite ist die Antwort klar. Die sa-gen, wir haben damit nichts zu tun. Und ichbehaupte: Wir alle haben damit zu tun.SPIEGEL: In der öffentlichen Debatte ist vielvon einer neuen Normalität in Deutsch-land die Rede. Was bedeutet das für Sie?Igor: Daß sich die Deut-schen nicht mehr für dieNazi-Verbrechen interes-sieren, ist jedenfalls nichtNormalität, das ist Rea-lität.Hilda: Das denke ich auch.Und für mich gibt es da-für auch einen Grund:Die junge Generation willnicht akzeptieren, daßvielleicht die Großmutteroder der Großvater denJuden, als sie aus derStadt vertrieben wurden,noch Steine hinterherge-schmissen oder nach ihnen getreten ha-ben. Wer will denn auch wissen, daß seineOma oder sein Opa Bilder, Möbel oderPorzellan vom jüdischen Nachbarn ge-stohlen hat, als der abtransportiert wurde? Mark: Für mich hatte die Normalität fastschon begonnen. Ich habe viele Bekannteauch unter Nichtjuden, seit ich im letztenJahr Vorsitzender des Jüdischen Studen-tenverbandes war. Ich habe mit den Leutenoffen reden können, ohne daß sich Frontenauftaten. Ich konnte auch ihre Bedenkenakzeptieren, ohne daß dabei meine Ge-fühle verletzt wurden. Das bedeutet für

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Kultur

„Es gibt auch unter Juden Leute, die abstruse

Meinungen haben“

„Wenn Walser konsequentwäre, hätte er den Friedens-

preis ablehnen müssen“

Hilda Joffe

Mark Jaffé

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Hilda: Mir sind die Versuche von Dohnanyiund auch von Bundespräsident RomanHerzog unheimlich, den Streit schlichtenzu wollen. Mir ist unheimlich, daß denenunheimlich ist, was aus der Diskussion er-wachsen könnte: nämlich die Aufdeckungeiner neuen Judenfeindlichkeit. Ein vor-zeitiges Ende und eine Entschuldigungwären jetzt heuchlerisch und scheinheilig,weil beide genau zu den Worten stehen, diesie gesagt haben. Ich finde den Konfliktkonstruktiv.Mark: Die Diskussion zwischen Walser undBubis hätte viel mehr gebracht, wenn sichnicht andere eingemischt hätten. Ich kannnicht verstehen, warum der Bundespräsi-dent in seiner Rede zum 9. November voneiner „Dosierung“ beim Erinnern an Aus-chwitz gesprochen hat. Das hinterläßt beimir einen Nachgeschmack nach dem Mot-to: Wir haben die Grenze überschrittenund müssen an der Dosis etwas ändern.SPIEGEL: Ist in der Kontroverse um das Ho-locaust-Mahnmal in Berlin die Grenze desErträglichen erreicht? Sollte man nicht aufdas Denkmal lieber verzichten?

Hilda: Nein, ein Holocaust-Mahnmal ver-dient einen zentralen Platz. Denn Berlinhat die Hauptstadtfunktion verloren auf-grund der Geschichte und hat sie wieder-gewonnen trotz der Geschichte.SPIEGEL: Aber das monumentale Denkmalkönnte zum Wallfahrtsort für Rechtsradi-kale und Schmierfinken werden.Hilda: Die Tatsache, daß das Mahnmal be-schmutzt oder als öffentliche Toilette miß-braucht werden könnte, ist kein Argumentgegen das Mahnmal. Für mich ist auch ganzklar, daß dieses Denkmal keine Antisemi-ten produziert, sondern sie allenfalls pro-jiziert.Mark: Vielen geht es gar nicht um Ästhetikoder Monumentalität. Sie benutzen dieDiskussion nur als Mittel, Zeit zu schin-den. Irgendwann hat man dann dem Mahn-mal den zentralen Platz weggenommenund es vor die Tore Berlins gepackt.Hilda: Wer das Mahnmal aus dem Stadt-zentrum ausspart, der will einfach ein Stückaus dem Zentrum der deutschen Ge-schichte aussparen. Wer sich so verhält,der bedient sich an der Geschichte wie aneinem Buffet voller historischer Leckerei-en: Bei dem, was mir schmeckt, bleibe ichstehen, und an dem, was nicht schmeckt,gehe ich vorbei.SPIEGEL: Hilda, Igor und Mark, wir dankenIhnen für dieses Gespräch.

„Daß sich die Deutschen nicht

mehr für Nazi-Ver-brechen interessie-ren, ist Realität“

Igor Gulko

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Das ist sie also, die neue deutscheNormalität: Über 53 Jahre nach derBefreiung der letzten Überleben-

den von Auschwitz debattieren hochge-achtete liberale Persönlichkeiten plötzlichüber die „Instrumentalisierung unsererSchande“, über Erinnerung, Gewissen, denZwang zum Wegschauen und eine „Mo-ralkeule“ namens Holocaust, ganz so, alssei Hitlers Terror-Herrschaft eben erst zuEnde gegangen.

Seit Martin Walsers Rede anläßlich derVerleihung des Friedenspreises des Deut-schen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober tobt ein erbit-terter öffentlicher Streit über den Umgangmit der jüngeren deutschen Geschichte,dessen Heftigkeit und Leidenschaft eheran 1968 als an 1998 denken läßt.

Ob Walser, Bubis oder Dohnanyi: ge-kränkte Seelen, verletzte Gefühle, Mißver-ständnisse allüberall. Und der Ton wird immer gereizter. Zuletzt forderte der hanseatische Sozialdemokrat Klaus vonDohnanyi, Sohn eines hingerichteten NS-Widerstandskämpfers, von Bubis gar „eine

in Bonn übernommen, deren Verhältnis zur deutschen Vergangenheit abgeklärter,selbstverständlicher, souveräner zu seinscheint. Bundeskanzler Schröder, wie seinAußenminister Fischer Repräsentant derRevolte-Generation von ’68, artikuliert ei-nen ganz neuen Ton der deutschen Politik,der freilich nicht überall ohne Skepsis auf-genommen wird.

Da wünscht er sich etwa ein Holocaust-Denkmal, „wo man gerne hingeht“, sprichtvon der Verteidigung deutscher Unterneh-men gegen „unberechtigte“, gleichsam glo-balisierte Ansprüche ehemaliger KZ-Zwangsarbeiter und bleibt dem Gedenkenan den 80. Jahrestag des Endes des ErstenWeltkriegs in Frankreich „aus Termin-gründen“ fern. Auch sein Antrittsbesuchin Moskau ließ jede historische Senti-mentalität, etwa gegenüber der deutsch-russischen Tragödie dieses Jahrhunderts,vermissen. Geld brachte er schon gar nicht mit.

Schröders Umgang mit der Geschichtesei „nicht so verzagt“, bestätigt Regie-rungssprecher Uwe-Karsten Heye. Die eu-

Aussprache vor dem vollständigen Zen-tralrat der Deutschen Juden“ mit einemsymptomatischen Fehler im Eifer des Ge-fechts: Der Name der Institution ist „Zen-tralrat der Juden in Deutschland“. Das Ge-spräch, so entschied das Direktorium desZentralrats, wird vorerst nicht stattfinden.

Schließlich schaltete sich auch noch Alt-bundespräsident Richard von Weizsäckerein: „Der Streit wird gefährlich“, mahnteer, äußerte Verständnis für Bubis’ Erregungund erinnerte daran, daß wir „gegen dasungeheuerliche Gewicht des geschehenenVerbrechens“ nicht mit einem noch so ver-ständlichen „Schutz unserer Verletzbar-keit“ ankämen.

Neben dem Streit um das geplante Ho-locaust-Mahnmal ist diese, für viele Beob-achter überraschend scharfe Auseinander-setzung die erste große Debatte im Vor-schein jener „Berliner Republik“, die eineneue Epoche in der deutschen Nach-kriegsgeschichte einleiten soll. Der erste,paradoxe Befund lautet: Die alten Ge-spenster kehren zurück. Zugleich hat ei-ne neue Generation die Regierungsmacht

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Total normal?Der Streit zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis wühlt die Nation auf. Ist die

Debatte über die „Dauerpräsentation“ der Nazi-Verbrechen Auftakt für eine neue deutsche „Normalität“ der Berliner Republik? Von Reinhard Mohr

M. RUETZ / AGENTUR FOCUS

Protestidol Dutschke (1967): Wenn das Gewissen zur Handlung drängt, dann muß es sich öffentlich artikulieren

Titel

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deutscher Identität an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Und es kann ja sein, daßdie eher zufällige Parallelität der Ereignis-se tatsächlich einer höheren Dialektik derGeschichte gehorcht – Möglichkeit für ei-nen neuen Anfang, der aber ohne die er-innernde Bewahrung der alten Schreckennicht denkbar ist. Ein genaues und immerwieder neues Hinsehen, das jede Art vonFixierung, sei sie negativ oder positiv, über-flüssig macht.

So wäre es denn die Chance einer „Ber-liner Republik“, irgendwann wirklich ein„moralisch souveränes Bewußtsein“ zuentwickeln, das „weder dem Zwang desVergessens noch dem Zwang des Erinnernserliegt“, wie Thomas Assheuer in der„Zeit“ formulierte.

Erst diese Haltung, die tatsächlich einemaufgeklärten nationalen Gedächtnis na-hekäme, würde ein annähernd normales,nicht neurotisches Verhältnis zur jüngerendeutschen Vergangenheit und damit einenfreieren Blick in die Zukunft erlauben.

Doch davon sind wir weit entfernt.Immer noch beherrschen Reiz-Reak-

tionsmechanismen, Abwehrrituale, wohl-feile Bekenntnisse und dumme Selbst-bezichtigungen die öffentliche Diskussion– und das, obwohl die wesentlichen histo-rischen Fakten, jenseits kleiner, unbelehr-barer Minderheiten, völlig unumstrittensind. So schrieb der „Stern“ jüngst in fet-ten Lettern: „Die Deutschen und ihre Ver-gangenheit – das ist eine Geschichte ausVerdrängung, Hochmut und der Unfähig-keit zu trauern“: ein offensichtlich gedan-kenloser Unfug, der mit der Wirklichkeitder vergangenen Jahrzehnte so gut wienichts zu tun hat.

Spätestens seit dem Auschwitz-Prozeß1963 haben sich Millionen Deutsche mitder Nazi-Tyrannei und dem Völkermordan den Juden in oft schmerzhafter Weiseauseinandergesetzt. Auch die Revolte von1968 wäre ohne die scharfe und bittere An-klage gegen die damalige Vätergenerationder Frontsoldaten und Nazi-Mitläufer nicht

denkbar gewesen, und selbst dieGründung der terroristischen„Rote Armee Fraktion“ (RAF)war noch ein – verheerender –ideologisch bedingter Reflex aufdas Trauma des Holocaust unddas moralische Versagen einerganzen Generation.

In seinem Filmepos „Diezweite Heimat“ zeigte RegisseurEdgar Reitz in eindrucksvollenSzenen die ganze, manchmal un-gerechte Wucht der Attacken ge-gen die Eltern, die freilich aucheine Reaktion auf die bleierneVerdrängung war, die viele Müt-ter und Väter zum Selbstschutzaufgebaut hatten.

Niemand kennt die Zahl derfamiliären Wortgefechte beimSonntagsbraten zwischen Flens-

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Vizekanzler Fischer, Kanzler Schröder: „Nicht mehr so verzagt“

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Sropäischen Nachbarn sollten sich daran ge-wöhnen, „daß Deutschland sich nicht mehrmit dem schlechten Gewissen traktierenläßt“. Ist das also schon die neue deutscheUnbefangenheit, der Schröder-Sound ei-ner neuen „Normalität“, die sich nichtmehr von „vergangenheitspolitischenLetztbegründungen“, so der SoziologeHeinz Bude, fesseln lassen will? Kommtnun das Ende der Demut, Beginn einer„zweiten Befreiung“ Deutschlands?

In seiner Regierungserklärung unterdem Motto „Weil wir Deutschlands Kraftvertrauen“ sprach der Kanzler vom„Selbstbewußtsein einer erwachsenen Na-tion, die sich niemandem über-, aber auchniemandem unterlegen fühlenmuß“, ein Wort, das seinem Vor-gänger Kohl, der vor Verdunnoch Hand in Hand mit demfranzösischen Staatspräsidentender Weltkriegstoten gedacht hat-te, von linken Kritikern als böseVerdrängung der Geschichte, alsneue deutsche Großmannssuchtangekreidet worden wäre.

Verkehrte Welt – nun werdenverdächtig konservativ-patrioti-sche Vokabeln wie „Selbst-bewußtsein“, „erwachsen“ und„Nation“ von regierenden Alt-68ern zur Definition der „Berli-ner Republik“ in Anspruch ge-nommen, die sie gestern nochden Nationalkonservativen derCDU vom Schlage eines AlfredDregger um die Ohren gehauen

haben. „Die selbstbewußte Nation“ – solautete der damals noch provozierende Ti-tel eines 1994 erschienenen Sammelban-des der „Neuen Rechten“ mit Autoren wieHeimo Schwilk, Ernst Nolte und RainerZitelmann.

Klingt so jetzt also die Coolness der„Neuen Mitte“ ein knappes Jahrzehntnach der Wiedervereinigung – nationalerInteressenpragmatismus statt KohlschemGeschichtspathos und dem moralischenImperativ des immerwährenden Geden-kens an deutsche Schuld?

Der Streit um die Walser-Rede undSchröders Normalitätsrhetorik – beidesmarkiert jedenfalls das Spannungsfeld

KZ Auschwitz (1944): „Dauerpräsentation unserer Schande“

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burg und Füssen, die notorischen Szenender Vater-Sohn- und Mutter-Tochter-Zer-würfnisse überm aufgeschnittenen Reh-rücken mit Kartoffelklößen – Millionenkleiner Dramen, in deren Verlauf die „Mo-ralkeule“ (Walser) beidseitig und vielhän-dig eingesetzt wurde: „Was habt ihr da-mals gemacht? Was habt ihr gesehen? Washabt ihr gewußt? Warum habt ihr ge-schwiegen?“ fragten die einen. „Ihr habt jakeine Ahnung! Ihr habt leicht reden!“ ant-worteten die anderen.

So heillos diese chaotischen Ausspra-chen meist endeten, so sehr haben sie dochjener mühsamen gegenseitigen Aufklärunggedient, die Deutschland verändert hat.

Der Generationenkonflikt – nicht nur –am Mittagstisch, die Mischung aus Protestund Selbstverteidigung, Lüge und Wahr-heit, Gefühl und Härte war Teil jenes un-

bequemen, aber extrem realitätshaltigenDiskurses, der auf Dauer gegen die Ten-denzen zur Verdrängung arbeitete, auchwenn er sie keineswegs besiegte. Oft hat siesich nur verschoben. Aber er stärkte dieGegenkräfte.

Als 1979 die amerikanische Serie „Ho-locaust“ lief, schwappte eine neue, dies-mal stark medienbeeinflußte Woge von Er-regung und Debatte durchs Land, die seit-dem immer wieder neue Nahrung erhielt:ob durch Steven Spielbergs Film „Schind-lers Liste“ oder den Historikerstreit überdie Vergleichbarkeit von Hitlers Holocaustund Stalins Gulag, durch beeindruckendeFernsehdokumentationen wie „Soldatenfür Hitler“ (ARD) und „Hitlers Helfer“(ZDF), den Streit über die provozierendenThesen des Historikers Daniel Jonah Gold-hagen („Hitlers willige Vollstrecker“) oderdie heftig befehdete Ausstellung über dieVerbrechen der Wehrmacht – ganz zuschweigen von den unzähligen, mehr oderweniger populärwissenschaftlichen Publi-kationen über fast sämtliche Aspekte desGeschehens zwischen 1933 und 1945.

Auschwitz oder jenen deutschen Rassis-mus von links, der den unreflektiertenSelbsthaß in der blinden Liebe alles Frem-den und irgendwie Nichtdeutschen aufge-hen läßt.

Freilich: Man kann recht haben unddoch danebenliegen. Oft ist der Ton ent-scheidend, Stil, Auftritt und Haltung, auchOrt und Zeit. Schon der Ton war merk-würdig.Walsers Friedenspreisrede kam wiedie Offenbarung einer lange gehegten, un-terdrückten Mischung aus Meinung undEmpfindung daher, fein gesponnen, dochauch verquält verquast, eindeutig und am-bivalent zugleich. Keine Spur französischerclarté oder englischer Prägnanz.

Hier sprach ein laokoonhaftes Ich, dasscheinbar mit den Ungeheuern der Ver-gangenheit ringt, Goyas Schreckensbilderim Kopf, höchst gewissenhaft, fast pedan-

tisch ins Innerste schauend, aber auch borniert, selbstbezogen, eitel, dabei trium-phal, ein Gewissensriese in Dauernöten:Seht her, hier stehe ich und kann nicht anders!

Er sprach intim fast, sozusagen „zur Sei-te“, doch zugleich in allergrößter Öffent-lichkeit, authentisch betroffen, literarischund politisch in einem Atemzug – ein „per-formativer Widerspruch“ par excellence:Eine intime Beichte als Kapuzinerpredigtmit Fernseh-Live-Übertragung.

Er wollte nur für sich reden und konntedoch sicher sein, vielen, ja der großenMehrheit nicht nur im Saale geradezu ausder Seele zu sprechen. Der große Beifallgab ihm recht und zeigte: Hier artikuliertsich gewiß keine kleine, tapfere Minder-heit gegen den übermächtigen Mainstreampolitischer Korrektheit, hier bricht sich einGefühl Bahn, das nur noch ausgesprochenwerden mußte.

Dabei brach Walsers Sonntagsrede Ta-bus, die längst keine mehr sind: Das Berli-ner Holocaust-Mahnmal – ein „fußball-feldgroßer Alptraum“. Wie oft haben wir

In all diesen Jahren schien es, als rück-ten die Nazi-Verbrechen mit dem zeitli-chen Abstand der Jahre immer näher, be-drängend nahe – Vergangenheit, die nichtvergeht. Längst und unvermeidlich warAuschwitz zur Chiffre geworden für denhistorisch einzigartigen, nahezu industri-ell vollzogenen Genozid, für das Jahrhun-dertverbrechen, den Zivilisationsbruchschlechthin. Und für eine nie wieder gut-zumachende deutsche Schuld, die unent-rinnbare Erbschaft einer Nation und ih-rer Elite.

Immer neue Jahres- und Gedenktage er-innern daran. Die Worte der Gedenkrednerähneln und wiederholen sich, ja, sie nutzensich ab. Da erscheint vieles floskelhaft, wieder Vollzug eines puren Rituals.All die Er-mahnungen, ja nicht zu vergessen, was ge-schehen ist, mögen die Jüngeren abstump-

fen, bei den Älteren metaphysische Phan-tomschmerzen und im übrigen jene „Be-troffenheit“ auslösen, die wenig kostet,aber viel gute Gesinnung demonstriert.

Auschwitz und der Holocaust, so sagteder Berliner Historiker Heinrich AugustWinkler, wurden für viele Wohlmeinendeund politische Gutmenschen eine Art „ne-gativer Sinnstiftung“, eine profane Erlö-sungsreligion als letzte Utopie ex negativo– andererseits eine billige Münze noch bil-ligerer Vorwürfe gegenüber politischenGegnern oder sonstwie Andersdenkenden.

An diesem Punkt muß man Walser rechtgeben: Ja, Auschwitz und der Holocaustsind vielerorts zu wohlfeilen Metaphernplattgeredet worden, zu argumentativemKleingeld gepreßt. Es stimmt: Manche In-tellektuelle versuchen, sich auf die Seiteder Opfer der deutschen Geschichte zuschleichen, um als die besseren Deutschendazustehen. Und es ist richtig, daß der Mas-senmord an den Juden immer wieder auch„instrumentalisiert“ wird, um allerlei Un-fug moralisch zu rechtfertigen, zum Bei-spiel die deutsche Teilung als Strafe für

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„Auschwitz eignet sich nicht

dafür, Drohroutine zu werden,

jederzeit einsetzbares

Einschüchterungsmittel“

Martin Walser

„Allerdings müßten sich

auch die jüdischen Bürger

fragen, ob sie sich viel

tapferer verhalten hätten“

Klaus von Dohnanyi

„Ihre Unterstellung, daß Sie

nicht wissen, wie die Juden

sich verhalten hätten, ist

aus meiner Sicht bösartig“

Ignatz Bubis

„Die Verbrechen hat Walser

nicht begangen, aber er

nimmt die Schande an, die

sie ihm hinterlassen haben“

Monika Maron

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das gelesen? Der Historiker Michael Wolff-sohn warnt seit langem davor, bei je-der noch so nichtigen Gelegenheit die „Auschwitzkeule“ zu schwingen, und dieschöne Formel von der „Banalität des Gu-ten“, die Walser aus dem Hut zauberte,wurde von dem Hannah-Arendt-Bewun-derer Eike Geisel geprägt.

Wenn Walser fast schon kokett mitteilt,immer wieder „wegschauen“ zu müssen,und dies auch noch quantifiziert – „be-stimmt schon zwanzigmal“ –, wenn er be-kennt: „Auch im Wegdenken bin ichgeübt“ und die „Dauerpräsentation unse-rer Schande“ anprangert, dann fragt sich,wer ihn eigentlich mit alldem belästigt dortunten am schilfumrankten Bodensee, wer

Walsers deutsche Klagezeigt: Man kann auch die In-dividualisierung der Erinne-rung und des Gewissens wieder „Schande“ zum Ritualder Selbstinszenierung einesgroßen, fast poetisch leiden-den Ich überhöhen, das sichscheinbar vor dem Ansturmdes moralischen Trommel-feuers heroisch ducken muß,um sein eigenes Recht, seinRecht auf die Privatheit desGewissens zu behaupten.

Doch seltsam, all die „Ge-wissenswarte der Nation“,die „Meinungssoldaten“, die„mit vorgehaltener Moral-pistole den Schriftsteller inden Meinungsdienst nötigen“– sind das nicht eher Figurenaus den siebziger Jahren, alsWalser selbst der DKP nahe-stand und ziemlich genauwußte, wie man Agitation fürden Weltfrieden betreibt?

Die heftigen ideologischenGroßdebatten jedenfalls sindmit der allmählichen Auflö-sung der politischen Lager

seit 1989 längst auf dem Rückzug, und sonimmt sich auch der historische Augen-blick der Walserschen Intervention eigen-artig anachronistisch aus. Welche Furiendes ritualisierten, zwanghaften Erinnernsan die Nazi-Greuel verfolgen ihn denn in unseren Tagen der selbst-referentiellenMassenmedien, da Verona Feldbusch undHarald Schmidt den fröhlichen Zeitgeistder Nation prägen?

Und wie sieht sie aus, jene „Dauerprä-sentation unserer Schande“ im Alltag vonMartin Walser, in unser aller täglichem Le-ben zwischen Monica Lewinsky, SaddamHussein und der rot-grünen Steuerreform?

Auch die vielfältigen Reaktionen aufWalser, ob zustimmend oder ablehnend,lieferten kein Anschauungsmaterial zu seiner These, keine Beweismittel für et-waigen Psychoterror, Hinschauzwang oderDiskursverbote und so auch keine An-haltspunkte dafür, daß das „Wegschauen“angesichts der „Dauerpräsentation unse-rer Schande“ zur neuen Bürgertugend der „Berliner Republik“ erhoben werdenmüßte.

Selbst entschiedene Walser-Verteidigerwie Klaus von Dohnanyi und Monika Ma-ron wollten nur des Dichters Warnung vor„bequemer Routine“ beim Gedenken, vor„ritualisierten Lippenbekenntnissen“ undAuschwitz als „Drohgebärde“ gehört ha-ben, nicht aber jenen zumindest mißver-ständlichen Tonfall des Überdrusses an denBildern der Vergangenheit selbst, die derempfindsamen deutschen Seele zusetzen.

Ist also diese „notwendige Klage einesgewissenhaften nichtjüdischen Deutschenüber das schwierige Schicksal, heute ein

ihn zwingt und bedrängt – wenn nicht erselbst und sein eigenes Gewissen.

Auch sein Fernsehapparat wird eineFernbedienung besitzen, und wenn im ZDFGuido Knopps Serie „Hitlers Krieger“läuft, ein Film über Anne Frank oder ir-gendeine Dokumentation mit alten „Wo-chenschau“-Bildern aus Bergen-Belsen,dann reicht ein Knopfdruck, um zur sati-rischen Sat-1-„Wochenshow“, „VeronasWelt“ oder Rudi Carrells „7 Tage, 7 Köp-fe“ zu gelangen. Nebenher: Ist hier nichteher jene Abstumpfung das Problem alsschmerzhaft aufwühlende Erinnerung?Und: Wo bleibt bei alldem das intellektu-elle Vermögen der Abstraktion, ohne dasVerstehen sowieso nicht möglich ist?

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„Das Selbstbewußtsein einer Nation,

die sich niemandem

über-, aber auch niemandem

unterlegen fühlen muß“

Gerhard Schröder

„Gegen das Gewicht des

Verbrechens kommen wir

mit einem Schutz unserer

Verletzbarkeit nicht an“

Richard von Weizsäcker

Auschwitz-Prozeß in Frankfurt am Main (1963): „Was habt ihr gemacht, was habt ihr gewußt?“

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solcher Deutscher zu sein“ (Dohnanyi),mehr als ein halbes Jahrhundert danachnicht auch ein bißchen wehleidig, am Endeeher eine unbewußte Selbstanklage, dieden Weg der Freudschen Projektion ein-schlägt und Bedrängung von draußen ver-mutet, wo es eigentlich um Selbstbedrän-gung, um unbewältigte eigene Konfliktegeht?

Auch Dohnanyis Stellungnahme in der„FAZ“ mutet in diesem Zusammenhanghöchst zwiespältig an. Auch er spricht,wenngleich im Ton gelassener, vom „allzuhäufigen Versuch anderer, aus unserem Ge-wissen eigene Vorteile zu schlagen. Es zumißbrauchen, ja zu manipulieren“.

Wen und was meint er damit? Die fran-zösische Diplomatie, Englands kommerzi-elle Fernsehstationen, Hollywood, ameri-kanische Anwälte von Holocaust-Opfern,holländische Fußballer, die Weltmeinung?Und weiter: Vorteile aus unserem Gewis-sen? Warum sagt er nicht, welche Vorteileund welche Nachteile er im Auge hat? Las-sen wir Deutschen uns tatsächlich mani-

gast worden wären. Die „taz“ kommen-tierte zynisch böse: „Wie die Juden beimHolocaust beinahe mitgemacht hätten“.

De gustibus non est disputandum. Aberkeine Frage: Da ist Aggression im Spiel.Und ein Stück Absurdistan im Jahre 1998.Könnte es also sein, daß der israelischePsychoanalytiker Zvi Rex recht hat, wenner zum Verhältnis von Tätern und Opferndie polemisch-paradoxe Erklärung liefert:„Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“

Das trotz aller Bekenntnisse zur histori-schen Verantwortung immer auch leichtVerdruckste und bloß Angedeutete in derDebatte, all die dunklen Hinweise aufMißbrauch und Manipulation des deut-schen Gewissens markieren den wundenPunkt: die anhaltende tiefe Kränkung jenerGenerationen von nichtjüdischen Deut-schen, die das „Dritte Reich“ noch bewußt,als Jugendliche oder junge Erwachsene, er-lebt haben.

Da mischen sich Schuldgefühle und Ver-drängung, Scham angesichts der Verbre-chen und das Gefühl, persönlich völlig un-schuldig zu sein, die Unfaßbarkeit des Ge-schehenen, das Empfinden, immer wiederunter Generalverdacht zu stehen, und derWunsch, irgendwann einmal davon erlöstzu werden – eine Gemengelage aus ob-jektiven und subjektiven Tatsachen, diewahrscheinlich wirklich nicht zu „bewäl-tigen“ ist.

Erst recht nicht für jene Juden, die wieIgnatz Bubis den Holocaust knapp überlebthaben, während die Familie vernichtetwurde. Viele Bücher sind über die Schamder jüdischen Überlebenden geschriebenworden, über die ganz eigene Not, denSchrecken zu verdrängen, das individuelleLeid zu mildern und doch nie davon ab-zulassen, die Erinnerung an die Schoahwachzuhalten. Man darf unterstellen, daßnicht viele Deutsche die literarischen oderhistorischen Berichte dieser lebenslangenVerletzung – von Primo Levi bis Ruth Klü-ger – gelesen haben.

Trotz dieser offensichtlichen und in die-sen Tagen wieder spürbaren Unüber-brückbarkeit der biographischen Standor-te, Gefühle und Gedanken zwischen Op-

fern und Tätern und ihrenNachkommen hat geradeder liberale GeschäftsmannBubis das demokratischeDeutschland in aller Weltverteidigt – ganz besonders

in jenen prekären Zeiten nach der Wie-dervereinigung 1990.

Obwohl sein Haus in Frankfurt am Mainbis auf den heutigen Tag rund um die Uhrbewacht werden muß – übrigens genausowie die Jüdische Schule, das Gemeinde-haus und die Synagoge –, hat er selbst imHerbst 1992, als in Deutschland die Asyl-bewerberheime brannten, die Reife derdeutschen Republik gegen Befürchtungenaus den eigenen Reihen verteidigt, man

pulieren und mißbrauchen? Wozu, mit wel-chen Folgen?

Noch ein weiteres befremdet. Dohnanyischreibt: „Allerdings müßten sich natür-lich auch die jüdischen Bürger in Deutsch-land fragen, ob sie sich so sehr viel tapfe-rer als die meisten anderen Deutschen ver-halten hätten, wenn nach 1933 ,nur‘ die

Behinderten, die Homosexuellen oder dieRoma in die Vernichtungslager geschlepptworden wären.“

Richtig verstanden: Die wenigen jüdi-schen Überlebenden des Holocaust undihre Kinder sollen jetzt auch noch in derdeutschen Öffentlichkeit Rechenschaft dar-über ablegen, „wie tapfer“ sie sich verhal-ten hätten, wenn ihre Eltern, Großelternund Geschwister nicht gerade von denDeutschen erschlagen, erschossen und ver-

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Titel

Standort des Berliner Holocaust-Mahnmals (umrandet): „Ein fußballfeldgroßer Alptraum“

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„Die Deutschen werden den Juden

Auschwitz nie verzeihen“

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müsse vielleicht schon wieder ans Aus-wandern denken.

Bubis, der wie viele prominente JudenTag für Tag antisemitische Drohbriefe er-hält, ist, trotz seines überzogenen Urteilsüber Walsers Rede („geistige Brandstif-tung“), alles andere als ein Eiferer. ImSPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 50) sagter: „Wenn ich nach 1945 nicht verdrängthätte, was geschehen war, hätte ich Selbst-mord begangen. Aber die Geschichte holteinen wieder ein.“

Normal jedenfalls ist an alldem garnichts. Wer damit nicht leben kann, flüch-tet in ewige Wahrheiten wie das Talmud-Zitat, das an jedem 9. November aufs neuestrapaziert wird: „Das Geheimnis der Er-lösung ist die Erinnerung.“

Auch Ignatz Bubis hat am 9. Novemberdiesen Satz gesprochen. Doch nicht alles,was im Talmud steht, ist weise und rea-litätstauglich. Erinnerung führt nicht auto-matisch zur Erlösung. Erinnerung kannauch ein Fluch sein, vor allem, wenn Kol-lektive eine gemeinsame Geschichte ha-

ben, an die sie sich verschieden erinnern,wie es zwischen Deutschen und Juden,aber auch zwischen Israelis und Palästi-nensern der Fall ist. „Denn das Leiden stif-tet ein gemeinsames Gedächtnis“, schriebUlrich Raulff in der „FAZ“, „die Schandeaber zerstört es.“

Während für Bubis allein in der Erinne-rung an das Leiden ein Stückchen Erlö-sung liegt, bedeutet Walsers Erinnerung andie Schande die Fortdauer einer unauflös-baren Spannung. Das Drama kennt keinHappy-End. „Sie sind verletzbar und wol-len Ihren Seelenfrieden haben“, schrieb

* Mit Staatsminister Günter Verheugen.

Gemeinschaft, das Gewissen der Gesell-schaft. Ihr Versagen machte die Katastro-phe des Nationalsozialismus erst möglich.

Die „Berliner Republik“ hat einen –auch ganz unverdienten – Startvorteil: Ihreunmittelbare Vorgeschichte sind 50 JahreBundesrepublik, 50 Jahre teils hart um-kämpfte demokratische Tradition, die sichmit dem antifaschistischen, aber auch demantitotalitären Erbe der DDR verbindet.Der neue, 50 Jahre alte AußenministerJoschka Fischer ist nicht zufällig so etwaswie ihr nahezu idealtypischer inoffiziellerRepräsentant.

Denn seine Lebensgeschichte vollerBrüche und Wendungen ist auch die Ge-schichte einer Generation, die ihre anti-autoritäre Staatsfeindschaft überwundenhat, ohne in autoritäre Staatsgläubigkeitzu verfallen – deren linksradikaler Antifa-schismus im Bewußtsein von der Kostbar-keit einer zivilen Gesellschaft aufging.

So hat sie sich auf Ab- und Umwegen diewestliche Demokratie angeeignet, hier undda mit neuen, partizipatorischen Elemen-ten angereichert.

Nur von dieser Normalität eines demo-kratischen Deutschland kann die Redesein. Doch sie entsteht nicht durch ihreständige Beschwörung – dies wäre ein Zei-chen von Unnormalität –, sondern da-durch, daß das klare Bewußtsein von dem,was war, sich in der Gegenwart ganz selbst-verständlich niederschlägt: in der immerwieder gefährdeten Souveränität, zugleichmoralisch und vernünftig zu handeln.

„Die Deutschen sind jetzt ein normalesVolk, eine gewöhnliche Gesellschaft wiejede andere“, sagte der israelische Histori-ker Saul Friedländer vergangene Woche inseiner Dankesrede zum „Geschwister-Scholl-Preis“.Aber: „Ist eine normale Ge-sellschaft eine Gesellschaft ohne Erinne-rung, eine, die sich der Trauer entzieht,eine, die sich von der eigenen Vergangen-heit abwendet, um nur noch in Gegenwartund Zukunft zu leben?“

Im besten Falle also wäre der Walser/Bubis-Streit das schrille Fanal gewesen,das den Übergang in die Berliner Repu-blik begleitet.

Bubis an Dohnanyi. „Damit kann ich nichtdienen.“

Und dennoch – es gibt so etwas wie einelangsam wachsende Normalität in Deutsch-land, auch im Verhältnis zu seiner Vergan-genheit. Eine neue Generation der 40- bis50jährigen repräsentiert sie bereits. Siestellt die Bundesregierung, sitzt in denChefredaktionen der großen Medien, leitetTheater, Universitäten, Weltkonzerne.

Sie nimmt tatsächlich, ob sie will odernicht, und ganz unverdient Kohls „Gnadeder späten Geburt“ in Anspruch. Und siedankt dem Himmel, daß sie an keiner Ost-front gekämpft hat, in deren Rücken dieGenickschußkommandos der SS-Einsatz-gruppen wüteten. Aber: Sie hat sich mitdieser Geschichte immerhin auseinander-gesetzt.

Es ist deshalb kein Wunder, daß sie sichjetzt freier, ja souveräner fühlen kann alsihre Vorgänger. Das aber ist nicht zuletztFolge der öffentlichen Konfrontation mitanderen Haltungen, Erfahrungen, Biogra-phien – Konsequenz jener politischen Aus-

einandersetzungen, diemit der heute etwas al-tertümlich klingendenlinken These began-nen, daß das Politischeprivat sei und das Pri-

vate politisch. Aber es stimmt ja: Wenn das Gewissen des einzelnen sich zur Hand-lung gedrängt sieht, dann muß es auch aussich herausgehen, sich öffentlich artikulie-ren, streiten und kämpfen. Genau dies po-stulierten Rudi Dutschke & Co. an Weih-nachten 1967, als sie in der Berliner Ge-dächtniskirche den Gottesdienst zur Pro-testveranstaltung gegen den Vietnamkriegund die Napalmbomben der US-Streit-kräfte umfunktionierten.

Trotz der windungsreichen Irrtumsge-schichte der 68er: Da hatten sie recht. Er-innerung und Gewissen sind individuell,aber wenn sie dem Kantischen Imperativfolgen wollen, werden sie Teil der sozialen

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Außenminister Fischer, US-Präsident Clinton*: „Die Deutschen sind ein normales Volk“

Sponti Fischer (1973)Kostbarkeit einer zivilen Gesellschaft

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Fischer ist nicht zufällig der idealtypische

inoffizielle Repräsentant der „Berliner Republik“

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SPIEGEL: Herr Bubis, Sie haben vor kurzemBundespräsident Roman Herzog in die Ho-locaust-Gedenkstätte Jad Waschem in Jeru-salem begleitet. Können Sie sich vorstellen,daß künftig ein deutscher Politiker Israel be-sucht, ohne an die Gedenkstätte zu gehen?Bubis: Bei einem offiziellen Besuch kaum.Ich kann mir allerdings deutsche Politikervorstellen, die da vielleicht nicht hingehenmöchten. Und dann würde ich sagen: Diekönnen sich die Reise nach Israel sparen.SPIEGEL: Es gibt in Israel Politiker wie denehemaligen Minister und Peres-VertrautenJossi Beilin, die den Besuch von Jad Wa-schem als Pflichtveranstaltung für auslän-dische Staatsbesucher abschaffen möchten.Bubis: Ich schätze Beilin sehr. Der will auchnoch anderes abschaffen, etwa die JewishAgency, den Jüdischen Nationalfonds undandere Institutionen. Aber eher wird esihm gelingen, die Regierung abzuschaffenals den Pflichtbesuch von Staatsgästen inJad Waschem.SPIEGEL: Beilin und andere Israelis möchtenden Zustand beenden, daß Juden automa-tisch und zuerst mit dem Holocaust in Zu-sammenhang gebracht werden. Unterstel-len Sie diesen Israelis, daß sie die Verbre-chen der Nazis vergessen wollen?Bubis: Auf keinen Fall. Ebensogut könnteman verlangen, daß die religiösen Juden,die nach Israel kommen, von der Klage-mauer wegbleiben, und da gehen die Judenseit fast 2000 Jahren hin. Orthodoxe Judenfasten noch heute zur Erinnerung an denTag, an dem der erste Tempel im Jahre 586vor unserer Zeitrechnung zerstört wurde,vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren.Nur, daß Juden automatisch und aus-schließlich im Zusammenhang mit dem Ho-locaust gesehen werden, lehne auch ich ab.SPIEGEL: Folgt daraus, daß das Besuchs-ritual von Jad Waschem uns noch zweiein-halbtausend Jahre begleiten wird?Bubis: Für Juden wird es wichtig bleiben.Und wir werden es wohl noch eine ganzeZeit sehen. Außerdem hat Jad Waschemnoch andere Aufgaben. Bis jetzt sind 4,2Millionen Namen von Opfern erfaßt, je-doch erst rund zweieinhalb Millionen Na-men davon verifiziert, und es fehlen nochfast vollständig die Namen aus der ehe-maligen Sowjetunion.

* Oben: bei der Verleihung des Friedenspreises des Deut-schen Buchhandels in Frankfurt am 11. Oktober; unten:am 9. November in der Berliner Synagoge Rykestraße.

SPIEGEL: Die Erinnerung an die Opfer isteine Sache, die Ritualisierung der Politikjedoch eine andere.Bubis: Mit dem gleichen Argument könnteman verlangen, den Volkstrauertag abzu-schaffen; das ist doch auch ein Ritual. Undüberall gehen Staatsbesucher an das Grabdes Unbekannten Soldaten. Welcher Ber-lin-Besucher geht nicht zur Neuen Wache?Menschen brauchen solche Rituale, sonstsind wir wie Tiere.SPIEGEL: Kanzler Gerhard Schröder hat voneinem „Stück Normalität“ gesprochen, dassich jetzt einstelle.Bubis: Wir haben doch längst die deutscheNormalität. Sagen Sie mir, wo Deutsch-land noch anormal ist?SPIEGEL: Vermutlich in der Betonung derNormalität.Bubis: Das ist das einzige. Mich fragenmanchmal Leute, die ich seit 30 Jahrenkenne: Herr Bubis, warum können wirnicht normal miteinander verkehren? Da-bei ist bei mir die Normalität längst einge-kehrt. Ich lebe hier, engagiere mich poli-tisch wie gesellschaftlich. Allerdings be-nehmen sich mir gegenüber die Nichtjudenanormal. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ichmache Wahlkampf für die FDP, ich sprecheüber den Euro, die Steuerreform, die Ren-tenreform, erkläre den Leuten, warum sieFDP wählen sollen. Nach wenigen Fragenzur Sache fragen mich dann die Leute: Wowaren Sie während des Krieges? Offenbarnagt da etwas an den nichtjüdischen Deut-schen. Und sie fragen mich tatsächlich, wieich in Deutschland leben kann!SPIEGEL: Was sagen Sie den Leuten?Bubis: Daß ich mir allmählich diese Frageauch stelle. Wenn ich so oft gefragt werde,muß doch was dran sein.SPIEGEL: Schröder meinte auch, es gehenicht an, nach dem Jahr 2000 eine neueWiedergutmachungsdebatte zu bekommen.Bubis: Er hat auch gesagt, das Holocaust-Mahnmal müsse ein Ort sein, wo man ger-ne hingeht. Da lief mir ein Schauer überden Rücken.Wenn sein Vorgänger Kohl soetwas gesagt hätte, wäre er in der Luft zer-rissen worden. Das scheint auch ein StückNormalität zu sein.Und was die Wiedergutmachungsforde-rungen angeht: Das ist keine Frage von Fri-sten. Es gibt auch eine moralische Seiteder Geschichte. Volkswagen soll die Tour-nee der Rolling Stones mit 35 MillionenMark gesponsert haben, den ehemaligen

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Titel

S P I E G E L - G E S P R Ä C H

„Moral verjährt nicht“Ignatz Bubis über die Auschwitz-Debatte und

seine Auseinandersetzung mit Martin Walser und Klaus von Dohnanyi

Gedenkredner Bubis* „Die Geschichte holt einen wieder ein“

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Friedenspreisredner Walser*„Antisemitismus zwischen den Zeilen“

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Zwangsarbeitern hat VW 20 Millionen an-geboten, und damit hat sich der Konzernsehr schwer getan.SPIEGEL: Also wird die Debatte mit demJahre 2000 nicht beendet sein.Bubis: Nein, und schon gar nicht auf An-ordnung des Kanzlers. Ich kann Ihnen sa-gen, wann Schluß sein wird: um das Jahr2030, wenn auch die jüngsten Überleben-den gestorben sein werden, beziehungs-weise solange es Überlebende geben wird,die aus irgendeinem Grunde nicht ent-schädigt werden. Schröder schätzt die Si-tuation falsch ein. Er kann die Debattenicht einfach abschaffen. Das funktioniertnicht, auch wenn er die Mehrheit der Deut-schen repräsentiert. Deutschland kannnicht einseitig das Ende der Geschichteausrufen.SPIEGEL: Schröder verlangt ja nicht dasEnde der Erinnerung, sondern einen geordneten Abschluß der Wiedergutma-chungsdebatte.Bubis: Es ist sein gutes Recht, das zu sagen.Ich kann ja verstehen, daß Schröder dieForderungen schnell vom Tisch habenmöchte, auch wenn es etwas mehr kostensollte. Forderungen mögen verjähren, Mo-ral jedoch nicht.SPIEGEL: Sie haben gesagt, es gebe inDeutschland so etwas wie intellektuellenNationalismus, der nicht frei sei von anti-semitischen Untertönen.Bubis: Ich spüre bei Martin Walser zwi-schen den Zeilen Antisemitismus. Ich weißnicht, ob er sich dessen bewußt ist, wahr-scheinlich nicht. Klaus von Dohnanyi hates deutlicher als Walser ausgesprochen. Ersprach von dem „Versuch anderer, ausunserem Gewissen eigene Vorteile zuschlagen, es zu mißbrauchen, ja, zu mani-pulieren“.

Bubis: Richtig, aber „es“ denkt in ihnen,wie Fassbinder das genannt hat. Die Vor-stellung, die Juden denken immer zuerstans Geld und machen aus allem Geld,gehört zum klassischen antisemitischenRepertoire.SPIEGEL: Wenn Sie schon Walser undDohnanyi latenten Antisemitismus un-terstellen – mit wem wollen Sie sich inDeutschland überhaupt noch unterhalten?Bubis: Mit sehr vielen, auch mit latentenAntisemiten, schon der Aufklärung wegen,vorausgesetzt, sie sagen mir nicht gleichzur Begrüßung: Schon mein Großvaterhatte jüdische Freunde.SPIEGEL: Haben Sie Walser richtig ver-standen?Bubis: Wenn jemand so stark in der deut-schen Geschichte verwurzelt ist wie Wal-ser, dann kann er nicht sagen: Ich bekennemich zu den guten Teilen meiner Geschich-te und lasse die schlechten weg. Walserscheint mir die schlechten Kapitel aussparenzu wollen.Walser will verdrängen und ver-gessen. Das steht im Kontext seiner ganzenHaltung. Er fühlt sich als Beschuldigter, je-desmal wenn es ums Dritte Reich geht.SPIEGEL: Obwohl er keine persönlicheSchuld trägt.Bubis: Er trägt biographisch sicherlich keineSchuld. Aber er hat ein so schlechtes Ge-wissen, daß er von den Opfern verlangt, siesollen ihm den Seelenfrieden wiedergeben.SPIEGEL: Zeichnet Walser das schlechteGewissen nicht aus?Bubis: Vielleicht. Aber dann soll er nichtsagen, er wolle mit Auschwitz nichts mehrzu tun haben.SPIEGEL: Das hat er so nie gesagt.Bubis: Er unterstellt uns Juden, daß wir ihn wie alle Deutschen bewußt verletzenwollen.SPIEGEL: Was haben Sie dagegen, wenn dieDeutschen zum Ende dieses Jahrhundertseine Identität zu finden versuchen, dienicht vom Rückblick auf das Dritte Reichdominiert wird?Bubis: Gar nichts, solange die Geschichteim Hinterkopf bleibt. Der damalige fran-zösische Staatspräsident Vincent Auriolwurde in den fünfziger Jahren von einerdeutschen Schülergruppe gefragt: Was

SPIEGEL: Was ist daran antisemitisch?Bubis: Im Klartext heißt das: Die Judenmachen aus allem Geld, sogar aus demschlechten Gewissen der Deutschen.SPIEGEL: Gibt es den politischen Mißbrauchdes Holocaust?Bubis: Ja. Es gibt den alltäglichen Miß-brauch der Begriffe, wie zum Beispielmanche den Paragraphen 218 des Straf-gesetzbuches mit dem Holocaust ver-gleichen.SPIEGEL: Ist es schon antisemitisch, wennman kritisiert, wie etwa der amerikanischeAnwalt Edward Fagan an die Entschä-digungsfrage herangeht?Bubis: Fagan stellt völlig überzogene For-derungen wie zum Beispiel die Enteig-nung der Degussa. Fagan will sich aufKosten der Opfer bereichern. Allerdingsdarf das doch nicht zu Antisemitismusführen, wenn sich ein jüdischer Anwalt da-nebenbenimmt.SPIEGEL: Bis jetzt standen weder Walsernoch Dohnanyi im Verdacht, Antisemitenzu sein.

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Titel

Bundespräsident Herzog in der Gedenkstätte Jad Waschem

Russische Zwangsarbeiter bei VW

„Menschen brauchen solche Rituale,

sonst sind wir wie Tiere“

„Volkswagen soll die

Tournee der Rolling

Stones mit 35 Millionen

Mark gesponsert haben,

den ehemaligen

Zwangsarbeitern hat

VW 20 Millionen

angeboten“

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glauben Sie, wie lange die Franzosen brau-chen werden, um das zu vergessen, wasdie Deutschen ihnen angetan haben? Erhat geantwortet: Wenn Sie es nicht ver-gessen, fällt es uns viel leichter, es zuvergessen.SPIEGEL: Diese neueste Auschwitz-Debattewird von den Alten geführt. Walser undSie sind vom selben Jahrgang, Dohnanyi ist ein Jahr jünger.Warum gerät sie so per-sönlich, so hitzig?Bubis: Wahrscheinlich wird diese Debatteerst vernünftig geführt werden können,wenn es uns alle nicht mehr gibt. Undunsere Kinder auch nicht.SPIEGEL: Wovor fürchten Sie sich ei-gentlich?Bubis: Ich fürchte mich überhaupt nicht.Mein Problem ist nur: Was Walser gesagthat, sagen auch Schönhuber, Frey undDeckert. Bloß die nimmt keiner ernst.Walser liefert den Rechtsextremisten dieMunition und wird ernst genommen.SPIEGEL: Die jetzt gut 50jährigen, die mitt-lerweile allenthalben das Sagen haben,können für sich in Anspruch nehmen, mitund nach der Studentenbewegung im post-faschistischen Staat ordentlich aufgeräumtzu haben. Wollen Sie diesen Leuten dieTendenz unterstellen, nun alles vergessenzu machen?Bubis: Allen nicht. Aber bei manchen ist von dem Gehalt der Studentenbewe-gung nicht viel übriggeblieben. Doch dernationale Touch ist bei vielen spürbar, ohnedaß sie alles vergessen machen wollen.SPIEGEL: Wen meinen Sie?Bubis: Nehmen Sie Hans Magnus Enzens-berger, nehmen Sie Botho Strauß. Das sind keine Rechtsextremisten, aber beiihnen ist der nationale Touch zu spüren.Gleiches gilt für viele linke Intellek-tuelle.SPIEGEL: Ist das schon Chauvinismus – oderder Versuch, herauszufinden, was Deutsch-sein heute bedeutet?

* Jürgen Hogrefe, Henryk M. Broder in Jerusalem.

SPIEGEL: In Israel trifft man viele Menschen,die sagen, daß sie nur durch die Verdrän-gung nach 1945 überleben konnten.Bubis: Das geht mir nicht anders.Wenn ichnicht verdrängt hätte, was geschehen war,hätte ich Selbstmord begangen. Aber dieGeschichte holt einen wieder ein. Mankann auf Dauer weder ohne noch nur inder Vergangenheit leben.SPIEGEL: Sehen Sie das Ende der deutschenDemut gekommen, wenn Dohnanyi Sie alsJuden auffordert, behutsamer mit denDeutschen umzugehen?Bubis: Ich erwarte von ihm keine Demut.Ich gehe mit ihm auch nicht böse um. Er istvielleicht nur verbittert, weil er sich von ei-ner jüdischen Anwältin in einer privatenEntschädigungssache schlecht behandeltfühlt.SPIEGEL: Sehen Sie eine Gefahr darin, daßder Nationalsozialismus mit all seinen Ver-brechen auf die Verfolgung der Juden reduziert wird?Bubis: Diese Tendenz habe ich immerkritisiert. Wenn Sie heute einen Schulab-gänger fragen, was Nationalsozialismuswar, sagt er: Judenvernichtung. Von derAuslöschung sogenannten lebensunwer-ten Lebens beispielsweise hat er nichtsgehört.SPIEGEL: Kann es sein, daß die Vernichtungder Juden das Kapitel des Nationalsozia-lismus ist, mit dem sich die Deutschen bis-her am besten arrangiert haben?Bubis: Schon möglich. Der 9. Novemberwird rechtzeitig im Kalender notiert, aberfür das Verhalten gegenüber anderenOpfern spielt das eine weniger wichtigeRolle.SPIEGEL: Sie haben viel Kritik einsteckenmüssen nach Ihrer Rede zum 9. November.Bubis: Ich habe auch viel Lob bekommen,aber das war eher leise und persönlich.Frau Hamm-Brücher hat angerufen, Ri-chard von Weizsäcker geschrieben.SPIEGEL: Sie haben Deutschland im Aus-land oft verteidigt …Bubis: … mach’ ich nach wie vor.SPIEGEL: … und die Bundesrepublik als Ihre Heimat bezeichnet.Bubis: Meine Heimat ist Frankfurt.SPIEGEL: War es vielleicht doch falsch,daß Juden nach dem Krieg wieder

in Deutschland seßhaft wur-den?Bubis: Früher habe ich mir dieFrage nie gestellt. Heute frageich mich: Wie hast du es ge-schafft, in Deutschland zubleiben? Ich war 1945 nachDeutschland mit der festen Ab-sicht gekommen, auszuwandernund nicht Deutscher zu bleiben.SPIEGEL: Und heute?Bubis: Ich finde es richtig, daß eswieder eine jüdische Gemein-schaft in Deutschland gibt.SPIEGEL: Herr Bubis, wir dan-ken Ihnen für dieses Gespräch.

Bubis: Da beginnen sich die Grenzenschnell zu verwischen.SPIEGEL: Kann es zu so etwas wie einem in-formativen Overkill bei der Beschäftigungmit dem Holocaust kommen?Bubis: Den gibt es schon. Ich sage Ihnen,wie das geht. Ein Gläubiger geht auf einenSchuldner zu und übergibt ihm eine Mah-nung. Der Schuldner reagiert nicht. DerGläubiger mahnt ein zweites Mal, derSchuldner reagiert wieder nicht. Nach derdritten Mahnung wird es dem Schuldner zublöd. Er sagt: Solange du mich mahnst,zahle ich nicht. Aber als er nicht gemahntwurde, hat er auch nicht gezahlt.SPIEGEL: Ist das die Metapher für das Ver-hältnis zwischen Juden und Deutschen?Bubis: Gegenwärtig habe ich diesen Ein-druck. Gläubiger gehen einem immer aufdie Nerven. Niemand möchte an seineSchuld erinnert werden.SPIEGEL: Sie haben in Ihrer Rede zum 9. November aus dem Talmud zitiert: „DasGeheimnis der Erlösung ist die Erinne-rung.“ Kennen Sie ein Kollektiv, das durchErinnerung erlöst worden ist?Bubis: Ich meine die Erlösung des Indi-viduums.SPIEGEL: Sie leiden doch auch unter IhrenErinnerungen.Bubis: Ich glaube kaum, daß ich leichterleben würde, wenn ich vergessen könnte.

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Jüdisches Straßenfest in Berlin-Prenzlauer Berg

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„Ich finde es richtig, daß es wieder eine jüdische

Gemeinschaft in Deutschland gibt“

Bubis, SPIEGEL-Redakteure*: „Keine Demut erwartet“

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Auschwitz-Bürgermeister Telka: Heilige Erde und heiliges Eigentum

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Marsch der Lebenden: Im Besitz der Weltgesellschaft

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164 DER SPIEGEL 18/1996

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„Stadt im Schaufenster“Hans-Joachim Noack über die Kontroverse um einen Supermarkt in Auschwitz

he der Hausherr die Sache selbst er-läutert, sieht er sich genötigt, denE Journalisten einen „dringenden

Rat“ zu geben: Wer immer über seineStadt berichte, sagt der BürgermeisterAndrzej Telka, könne ihre Probleme nurdann richtig verstehen, wenn er ihr denzutreffenden Namen nicht verweigere.Korrekt heißt sie für ihn „Oswiecim . . .Auschwitz ist das Konzentrationslager“.

Nein, beharrt der 62jährige parteiloseKommunalpolitiker, eine unsinnige Un-terscheidung sei das keines-wegs; und auf seine Art hater wohl recht damit. So ge-lingt es ihm, sich von jenemOrt, an dem das unerträg-lichste aller Menschheits-verbrechen geschah, zumin-dest semantisch ein wenigabzusetzen.

Wie weit Oswiecim, „einGemeinwesen von 50 000Lebenden“ (Telka), auf dasmit anderthalb MillionenErmordeten größte Nazi-KZ Rücksicht zu nehmenhat, ist seit Monaten Ge-genstand heftiger Kontro-

versen. Es geht dabei um den Bau einesSupermarkts, der in der südpolnischenKleinstadt dem „Muzeum Auschwitz“vis-a-vis liegt.

Läßt sich das nicht vertreten, wo dochder Investor, ein bestens beleumundeterEinheimischer namens Janusz Marsza-lek, nur die hehrsten Ziele zu verfolgenscheint? Aus den zu erwartenden Ge-winnen möchte er ein von ihm geschaf-fenes Kinderdorf erweitern. Aber nachweltweiten Protesten, in die sich vor al-

lem jüdische Organisationen einschalte-ten, sind bislang bloß die Grundmauernerrichtet worden.

Denn das Projekt siedelt in einer 1962gebildeten, 500 Meter breiten Schutzzo-ne – ein seit eh freilich arg durchlöcher-ter Cordon. In der Bannmeile, die dieGedenkstätte vor dem Expansionsdrangvon Handel und Industrie abschirmensoll, behaupten sich unbehelligt herun-tergekommene Hinterhofbetriebe.

Warum also jetzt erst der Aufschreietwa aus Israel, das KZ-nahe Terrainverwandele sich zusehends in ein „Dis-neyland“? Der gute Mensch Marszalek,den sogar der Papst seines sozialen En-gagements wegen als beispielhaft pries,versteht das nicht.

Da werde „ein Vorgang künstlich auf-geblasen“, entrüstet sich nach einerBaustopp-Verfügung der gescholtenePole und nennt die einstweilige Anord-nung politisch motiviert. Gewiß liegt erdamit nicht falsch – doch auch ihm hängtder Verdacht an, über das Projekt hin-aus an tiefer wurzelnde Interessen zurühren.

Wem „gehört“ das nur durch eineStraße vom geplanten Bauwerk getrenn-te ehemalige Massenvernichtungslager?Im Gegensatz zu den Juden betrachteteine Mehrheit der vor allem dem Katho-lizismus verbundenen Polen die Stättedes Holocaust als zentralen Schreckens-ort eigenen Leidens. „Zunächst einmalstarben dort Hunderte meiner Lands-leute“, argumentiert der BürgermeisterAndrzej Telka.

Als absurder Ausdruck eines dauer-haft schwelenden Streits darüber, werAuschwitz mit welchem Recht für sichreklamieren darf, gilt dabei noch immer

die Affäre um die Nonneneines auf dem KZ-Geländeeingerichteten Karmeliter-klosters. Zwar ordnete derPapst nach wütenden Prote-sten den Abzug seiner ge-treuen Dienerinnen höchst-persönlich an – aber als„Untermieter“ logiert dortnun seit längerem der kin-derliebe Marszalek.

Und natürlich kann derauch auf jene Sympathisan-ten bauen, die den ehemali-gen polnisch-katholischenVorposten zumindest sym-bolisch verteidigen. Tägli-

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che Gebetswachen erinnern in Sichtwei-te eines stehengebliebenen mächtigenHolzkreuzes an die Ermordung der er-sten eigenen Häftlinge. „Ihr Opfer“,verkündet der Text einer Gedenktafel,„wird fruchtbare Ernte bringen.“

Doch zur Zeit sieht es eher nachwachsender Verbitterung aus. Den vor-läufigen Gipfelpunkt wechselseitiggeschürten Mißtrauens markiert inAuschwitz ein bislang einmaliges Ereig-nis. Stiernackige Skinheads ziehen da anOstern in schweren Springerstiefeln indas Stammlager ein. Der bleiche Natio-nalistenführer Boleslaw Tejkowskigrüßt mit bebender Stimme „heilige pol-nische Erde“.

Genehmigt hat diese „Manifestation“unter Berufung auf die Versammlungs-freiheit der zuständige Woiwode MarekTrombski aus der BezirkshauptstadtBielsko-Biala – eine international scharfverurteilte Entscheidung. Da sei ihmdann doch „ein Fehler unterlaufen“,rüffelt ihn ziemlich sanft der Warschau-er Regierungschef; aber selbst das hältTrombski für unangemessen.

Soll die Welt über ihn herfallen – erhabe „nichts als die Rechtsstaatlichkeitgeschützt“, versteift sich der in die Poli-tik gewechselte Hochschulprofessor,und im übrigen weiß er mehr über den

Aufmarsch: Nach seinen Recherchenhaben dort keinesfalls bloß ein paar her-beigekarrte Kahlköpfe Flagge gezeigt,sondern „viele aus Auschwitz“.

„Die Stadt ist deprimiert“, entfährt esdem Woiwoden mit einem Unterton,der sein Verständnis dafür erahnen läßt.Zwar hat Trombski in Sachen Super-markt den vorläufigen Baustopp verfügt– wird ihm aber der noch fehlende förm-liche Beschluß des Kommunalparla-

ments überreicht, will er das Projekt„wieder freigeben“.

In Oswiecim nämlich muß nach Auf-fassung des Landrats (und nicht nurnach seiner) „Grundsätzliches“ geklärtwerden: Was darf eine Stadt, derenschweres historisches Erbe in die vonder Unesco geführte Liste der Welt-Kul-turgüter aufgenommen worden ist? Hatsie einen Anspruch darauf, die häufigbeschworene „Normalität“ für sich ein-zufordern?

Manches wäre sicher leichter, ver-knüpfte sich mit solchen Fragen nicht

ein in Jahrzehnten aufgestauter generel-ler Frust. Und in dieses diffus wirksameRessentiment schleichen sich zuneh-mend logische Brüche: Einerseits suchtdas Gros der Bürger Oswiecims das„mumifizierte Grauen“ von sich fernzu-halten; zugleich aber beklagt man zer-knirscht, „aus dem GeltungsbereichAuschwitz ausgeschlossen“ zu werden.

Die 1172 gegründete Stadt bemitlei-det sich. „In einem Bruchteil ihrer lan-gen Geschichte“, bedauert Telka, sei sievom Schicksal geschlagen worden, unddas solle nun auf ewig ihre Identität be-stimmen. Andererseits: Von den jähr-lich 500 000 Menschen, die die verfal-lenden Reste der Krematorien und Gas-kammern besichtigen, betreten dasdurchaus sehenswerte Oswiecim danachnur die wenigsten.

Wer da wen und warum meidet, er-fährt man allenfalls in vagen Halbsät-zen. Als 1939 die „Hitlerowscy“ in der14 000 Einwohner zählenden Stadt zuwüten begannen, beherbergte sie im-merhin 8000 Juden in ihren Mauern –und heute noch einen. Über diese Kata-strophe geht sie seltsam indifferent hin-weg.

Aber darf man Oswiecim wirklich ei-ne unzureichende Vergangenheitsbe-wältigung vorhalten? Ein halbes Jahr-

Einen Tag lang führtder Mossad

im KZ-Lager Regie

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Gastgeber Modrow, DDR-Besucher Mitterrand 1989: Meister der Verzögerung

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DP

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A U S L A N D

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hundert lang am „größten Friedhof allerZeiten“ überdauert zu haben, rechtfer-tigt sich eine in der Schutzzone wohnen-de Rentnerin, fördere selbstverständlichauch den Hang zu verdrängen. Hat manin dieser bedrückenden Bannmeile nichtimmer „leise gelebt“? Ist da „je ein Festgefeiert worden“?

Und nun kommt die Weltpresse, er-regt sich im Kulturhaus der Chemiewer-ke – vormals I.G. Farben – eine Besu-cherin, um die „ganze Stadt ins Schau-fenster“ zu stellen. Statt mit flottenSchlagzeilen Urteile zu fällen, empfiehltsie den Berichterstattern, „die komple-xe Lage“ zu berücksichtigen.

Ziemlich vertrackt und allem voranvon gegenseitiger Überforderung be-frachtet ist die entstandene Situationtatsächlich. Die Polen empfinden sichals bevormundet – doch wer möchte denJuden verdenken, daß sie in Auschwitzunnachgiebig bleiben? Nichts soll dortzugelassen werden, was den ihnen heili-gen Ort einer profanen Geschäftigkeitausliefern könnte.

Nach der schaurigen Skinhead-De-monstration reagieren sogar die israeli-schen und polnischen Staatsspitzen.Warschau erlaubt, daß einem sogenann-ten Marsch der Lebenden – 5000 jungenJuden, die aus aller Herren Länder vonAuschwitz nach Birkenau ziehen – diegrößtmögliche Sicherheit gewährt wird.Einen Tag lang führt, für alle sichtbar,der berühmte Geheimdienst MossadRegie.

Oswiecim im Ausnahmezustand.Schweigend versammeln sich hintermassiven Absperrgittern Einheimische,die es schon immer wußten: Einen weit-läufigen Teil ihrer Stadt habe sich halt„die von den Juden dominierte Weltge-sellschaft angeeignet“.

Doch wo beginnt der? Um das her-auszufinden, inspiziert der aus War-schau angereiste Justizminister LeszekKubicki die umkämpfte Supermarkt-Baustelle. Die sei „ja gar nicht so nahedran“, teilt er danach den örtlichen Be-hörden mit – obwohl der polnischeStaatspräsident anderer Meinung ist.

Geht es nach Aleksander Kwasi-niewski, soll der fromme Janusz Marsza-lek um des lieben Friedens willen seinProjekt zurückziehen; aber der tut dasnicht. Eine Meldung der WarschauerNachrichtenagentur PAP, der Vorganghabe sich erledigt, wird von ihm am ver-gangenen Mittwoch als „die üblicheStimmungsmache“ dementiert.

Statt dessen setzen Marszalek und derihn unterstützende Bürgermeister (derwiederum die Mehrheit Oswiecims hin-ter sich glaubt) auf den neuen polni-schen Rechtsstaat. „In der Demokra-tie“, sagt Andrzej Telka, ein gewende-ter Altkommunist, „ist das zu schützen-de Privateigentum auch eine heilige Sa-che.“

F r a n k r e i c h

Auf demBahnsteigIn seinen postumen Memoiren gibtsich Mitterrand als Verfechter derWiedervereinigung – DDR-Doku-mente bestätigen Zweifel daran.

ie Rechtfertigung kommt aus demJenseits: Francois Mitterrand einD Feind der deutschen Wiederverei-

nigung? Alles falsch, schließlich habe erschon im Juli 1989 festgestellt: „DerWunsch nach Vereinigung erscheint mirlegitim.“

Zerwürfnisse mit dem Bonner Bun-deskanzler über Zeitplan und Modalitä-ten des Zusammenschlusses? Auch ver-kehrt, allenfalls gab es eine „lange,schwierige, aber immer freundschaftli-che Debatte mit Helmut Kohl“.

Dreieinhalb Monate nachdem dergroße Franzose zur letzten Ruhe gebet-tet wurde, haben die von Mitterrandhinterlassenen Memoiren die Auseinan-dersetzung über seine Versäumnisse neuentfacht*. Denn die persönliche Rück-schau auf ein halbes Jahrhundert enthält

* Francois Mitterrand: „Memoires interrompus“,„De l’Allemagne, de la France“. Editions Odile Ja-cob, Paris; jeweils 250 Seiten; 135 Francs.

neben historischer Wahrheit auch poli-tische Dichtung. Die beiden Bändevon je rund 250 Seiten, die der krebs-kranke Sozialist in dem kurzen Pensio-närsdasein zwischen der Amtsübergabean Jacques Chirac im Mai 1995 undseinem Tod Anfang Januar 1996 ver-faßte oder dem Journalisten Georges-Marc Benamou diktierte, sind vor al-lem ein Plädoyer in eigener Sache.

Wortgewaltig wehrt sich Weltpoliti-ker Mitterrand im zweiten Band seinerErinnerungen („Über Deutschland,über Frankreich“) gegen den Vorwurf,er habe bei einem der wichtigsten Ein-schnitte in der Nachkriegszeit – derWiedervereinigung Deutschlands – dasRendezvous mit der Geschichte ver-schlafen.

Wenn er den „Zug der deutschenEinheit verpaßt“ habe, poltert der Me-moirenschreiber, dann seien mit ihmdamals „eine Menge Leute auf demBahnsteig zurückgeblieben“.

Zum Beweis zitiert der gewiefte Tak-tiker, seinerzeit als „Fürst der Langsam-keit“ oder „Meister der Verzögerung“kritisiert, Bemerkungen vom Herbst1989 zur Wiedervereinigung. Sie dürfe„nicht irgendwie“, sondern müsse„friedlich und demokratisch“ vonstattengehen. Doch Mitterrand forderte auch,daß „keiner der deutschen Staaten demanderen seine Ansichten aufzwingendarf“ – eine klare Warnung an die über-mächtige Bundesrepublik und eine ver-steckte Aufforderung an die zusammen-brechende DDR, von ihrer SouveränitätGebrauch zu machen.

In Wahrheit wollte der Herrscher imElysee den Einigungsprozeß nicht selbst

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