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1 Einführung Dirk Haller, Tilman Grune, Gerald Rimbach 1 D. Haller et al.(Hrsg.), Biofunktionalität der Lebensmittelinhaltsstoffe, DOI 10.1007/978-3-642-29374-0_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

[Springer-Lehrbuch] Biofunktionalität der Lebensmittelinhaltsstoffe || Einführung

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Page 1: [Springer-Lehrbuch] Biofunktionalität der Lebensmittelinhaltsstoffe || Einführung

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Einführung Dirk Haller, Tilman Grune, Gerald Rimbach

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D. Haller et al.(Hrsg.), Biofunktionalität der Lebensmittelinhaltsstoffe, DOI 10.1007/978-3-642-29374-0_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Die Biofunktionalität von Lebensmitteln als universitäres Fachgebiet untersucht Prinzipien der biomedizinischen Wirksamkeit von Lebensmittelinhaltsstoff en im Kontext der Gesund-erhaltung und Prävention von Krankheiten. Die Wirksamkeit bioaktiver Lebensmittelinhalts-stoff e bezieht sich auf physiologische, biochemische und molekulare Prozesse im Menschen und zielt auf die Stabilisierung oder Verbesserung von Organ- und Körperfunktionen. Jährlich werden Tausende Publikationen in wissenschaft lichen Journalen veröff entlicht, die sich mit der Wirkung von Lebensmittelinhaltsstoff en beschäft igen. Dies verdeutlicht die Aktualität des For-schungsgebietes, zeigt jedoch auch den noch immer vorhandenen immensen Forschungsbedarf.

Die Häufi gkeit chronischer Krankheiten wie Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, neurodegenerative Krankheiten, Allergien und Autoimmunerkrankungen und Darmentzün-dungen nimmt in industrialisierten Ländern dramatisch zu. Die Interaktion von Umweltfak-toren mit einem genetisch vorbelasteten Organismus ist wichtiger Bestandteil der Ätiologie dieser chronischen Krankheiten. Veränderungen im Stoff wechselgeschehen und Immunsys-tem sind wichtige Risikofaktoren in der Pathogenese dieser Erkrankungen. Ernährung stellt als Teil eines Lebensstils einen wesentlichen Umweltfaktor dar, der den Organismus in allen Lebensphasen beeinfl usst und an der Gesunderhaltung bzw. Krankheitsprävention maßgeb-lich beteiligt ist. Die Biofunktionalität von bestimmten Lebensmittelinhaltsstoff en ist daher immer im Kontext einer komplexen Lebensmittelmatrix und einer individuellen Ernährung zu betrachten ( .   Abb.  1.1 ).

Funktionelle Lebensmittel ( functional food ) sind Lebensmittel, die einen nachweisbar positiven Eff ekt auf die menschliche Gesundheit haben, der über die normalen Eff ekte der Lebensmittel hinausgeht. Dabei verbessern diese Lebensmittel spezifi sche Körperfunktionen oder wirken in der Krankheitsprävention. Der Nachweis der Wirksamkeit und die Prüfung der wissenschaft lichen Evidenz ist ein wesentlicher Teil dieser neuen Regelung und wird durch die European Food Safety Authority (EFSA) vorgenommen.

Bereits in den 1980er-Jahren versuchte die japanische Regierung der zunehmenden Über-alterung der Bevölkerung und den damit einhergehenden steigenden Gesundheitskosten durch die Entwicklung und den Vertrieb von Lebensmitteln mit Gesundheitsnutzen entgegen-zuwirken. Japan gilt daher als das Ursprungsland funktioneller Lebensmittel.

Seit 1991 sind in Japan angereicherte Lebensmittel unter der Bezeichnung FOSHU (Food for Specifi c Health Use) auf dem Markt. Für diese Produkte darf, nach Genehmigung durch das zuständige Ministerium, mit Aussagen zur Gesundheitsförderung oder Prävention von Krankheiten geworben werden. Um das offi zielle FOSHU-Label tragen zu dürfen, muss das Lebensmittel gesundheitsfördernde Bestandteile enthalten, deren Wirkung wissenschaft lich belegt ist. Außerdem muss es sich um ein Lebensmittel handeln und als solches Teil der nor-malen Ernährung sein. Der funktionelle Bestandteil muss zudem natürlichen Ursprungs sein.

Eine Kennzeichnung funktioneller Lebensmittel, vergleichbar mit dem FOSHU-Label in Japan, gibt es in den USA und in Europa nicht. Jedoch existieren in diesen Ländern ver-gleichbare Zulassungsverfahren für die Verwendung von gesundheitsbezogenen Angaben, so-genannte Health Claims. In den USA werden Health Claims durch die FDA (Food and Drug Administration) zugelassen und durch das Gesetz zur Nahrungsmittelkennzeichnung (Nutri-tion Labelling and Health Education Act, NLEA), welches 1993 in Kraft getreten ist, geregelt.

Während der letzten beiden Jahrzehnte ist man auch in Europa bestrebt, sich zunehmend vom klassischen Ernährungskonzept – der Vermeidung von Defi ziten durch ausgewogene, bedarfsgerechte Ernährung – zu verabschieden und dieses durch eine individuelle, auf den Ge-sundheitsstatus des Einzelnen abgestimmte, Ernährung zu ersetzen. Lebensmittel sollen nicht

Kapitel 1 • Einführung

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nur zur Deckung des Energiebedarfs und des Bedarfs an Mikro- und Makronährstoff en die-nen, sondern Gesundheit und Wohlbefi nden steigern und das Krankheitsrisiko vermindern.

Um die Anforderungen an einen Health Claim in der Europäischen Union zu harmonisie-ren, wurde 1995 ein Programm mit dem Namen Functional Food Science in Europe (FUFOSE) ins Leben gerufen. Es wurde vom International Life Sciences Institute (ILSI) koordiniert und hatte zum Ziel, ein solides wissenschaft liches Konzept für die Entwicklung und Etablierung funktioneller Lebensmittel zu entwerfen. Nach FUFOSE kann ein Lebensmittel als funktionell angesehen werden, wenn es über ernährungsphysiologische Eff ekte hinaus eine oder mehrere nachweisbare positive Wirkungen hat, sodass ein verbesserter Gesundheitsstatus oder gestei-gertes Wohlbefi nden und/oder eine Reduktion von Krankheitsrisiken erreicht wird. Zudem muss es sich um ein übliches Lebensmittel handeln, Bestandteil der normalen Ernährung sein und seine Wirkung beim Verzehr üblicher Mengen entfalten. In Bezug auf den Einfl uss von Nahrungsmitteln auf Gesundheit, Wohlbefi nden und Krankheitsrisiko unterscheidet FUFO-SE zwischen Typ-A-Claims (»Verbesserte Körperfunktion«) und Typ-B-Claims (»Reduktion des Krankheitsrisikos«). Für den wissenschaft lichen Nachweis der funktionellen Wirkung müssen aussagekräft ige Marker gefunden werden. Beispielsweise ist nachzuweisen, dass der funktionelle Bestandteil aufgenommen wird bzw. den Wirkort erreicht (Marker zur Validie-rung der Exposition), dass die gewünschte Funktion bzw. Wirkung signifi kant verbessert ist (Marker zur Validierung der Zielfunktion) und im Falle von Aussagen, die sich mit der Sen-kung eines Krankheitsrisikos befassen, muss ein Zusammenhang der Wirkung mit der Risiko-reduktion dargestellt werden (Marker für den intermediaten Endpunkt). Die Erkenntnisse aus dem FUFOSE-Projekt dienten als Grundlage für ein weiteres gemeinschaft liches Programm der Europäischen Union namens Process for Assessment of Scientifi c Support for Claims on Foods (PASSCLAIM), das 2001 startete und im Jahr 2005 mit der Veröff entlichung allgemeiner Kriterien für den wissenschaft lichen Nachweis gesundheitsbezogener Angaben endete. Die Absicherung der Angaben soll sich primär auf Humanstudien mit hohem Evidenzgrad wie randomisierte, kontrollierte Interventionsstudien stützen.

. Abb. 1.1 Biofunktionalität von Lebensmittelinhaltsstoff en.

Ernährung Umwelt Lebensstil

priming Risikofaktoren protektive Faktoren

Erhaltung von Gesundheit und Prävention von Krankheit

genetische PrädispositionGeburt Tod

Biofunktionalität vonLebensmittelinhaltsstoffen

Einführung 1

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Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass die Wirkung von Lebens-mittelinhaltsstoff en im Verbund mit der komplexen Nahrung erfolgt. Daher sind Fragen zum Nachweis der Wirkung oft sehr komplex und nicht einfach zu beantworten. Zusätzlich ist es denkbar, dass sich die Wirkungen von Lebensmittelinhaltsstoff en in komplexen Gemischen gegenseitig verstärken oder abschwächen. Diese Wechselwirkungen machen die Suche nach einer eff ektiven, wirksamen Dosis oft sehr schwierig. Hier unterscheidet sich die Ernährungs-wissenschaft wesentlich von den bekannten Anwendungen von Pharmaka in der Medizin. Während man dort eine oft streng und engmaschig kontrollierte Gruppe von Patienten mit einer sehr genau defi nierten Dosis von Wirkstoff en behandeln kann, ist das bei der Verwen-dung von Nahrungsmitteln oft nicht der Fall. Hinzu kommen Komponenten wie Lebensfüh-rung, Geschmackspräferenzen, Essgewohnheiten und einiges mehr. Damit muss sich die Bio-funktionalität der Lebensmittel als junges akademisches Fach zusätzlichen Problemen stellen und in der Zukunft ergänzende methodische Werkzeuge entwickeln. Zusätzlich kompliziert wird das Aufgabenspektrum durch die Tatsache, dass es für viele der verwendeten essenziellen Lebensmittelinhaltsstoff e Zufuhrgrenzen geben muss, da es andernfalls zu einer Unter- bzw. Überversorgung kommen kann. Es sei darauf hingewiesen, dass funktionelle Lebensmittel nur dann einen sinnvollen Platz in der Ernährung breiter Bevölkerungsgruppen einnehmen können, wenn sich sowohl das Ernährungsverhalten als auch der Lebensstil mit all seinen Komponenten an den Vorgaben einer gesunden Ernährung orientieren.

Literatur

Aggett PJ et al. (2005) PASSCLAIM: consensus criteria. Eur J Nutr 44:5–30

. Abb. 1.2 Schematische Darstellung zur Validierung gesundheitsbezogener Aussagen (Health Claims). (Modifi ziert nach Aggett et al. 2005.)

VerzehrfunktionellerLebensmittel-inhaltsstoffe

Marker zurValidierung derExposition

Marker zurValidierung derZielfunktion

Marker fürintermediatenEndpunkt

reduziertesKrankheitsrisiko

verbesserteZielfunktion

Claim für die Reduktiondes Krankheitsrisikos

Claim für verbesserte(Körper)Funktion

Kapitel 1 • Einführung

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