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Susanne Lierman ''Vermehrung des Schweigens'' (Leseprobe)

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"Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen." Was bedeutet es in Zeiten stärkster Zensur zu schreiben und das zu verschweigen, was gesagt werden muss? Und was bedeutet das für die Rezeption einer solchen Literatur? Was erkennt der Leser bzw. will er erkennen im Schweigen des Autors? Literatur ist immer auch Spiegel der Gesellschaft und im Falle der DDR-Literatur ein Spiegel, der nicht alles zeigen kann und gerade dadurch schonungslose Wahrheit offenbart. Die hier behandelten Autoren gehören verschiedenen Generationen an, ihre Situierung in der DDR und ihre Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten waren höchst unterschiedlich. Neben Stephan Hermlin, Franz Fühmann, Christa Wolf sind mit Gert Neumann, Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring, Jan Faktor und Hans Joachim Schädlich Autoren ausgewählt, denen das literarische Feld weitgehend verschlossen blieb. In einem Land, in dem Kritiker mundtot gemacht werden, ist Schweigen die lauteste Kritik.

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leipzig london

Die Vermehrung des SchweigensSelbstbilder später DDR-Literatur

Susanne Liermann

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der deutschen Ausgabe © 2012 Plöttner Verlag GmbH & Co. KG, Leipzig London

1. AuflageISBN 978-3-86211-057-5Umschlaggestaltung: Hagen SchiedLektorat: Hagen SchiedLayout und Satz: Monique BeauvaisDruck: Winterwork, Borsdorf

www.ploettner-verlag.de

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Inhalt

Die späte DDR-Literatur: Fragen und Voraussetzungen 9»Die Vermehrung des Schweigens« 9

Die Texte 17

Der historische Kontext 27

Stephan Hermlins Abendlicht 42

Dichtung und Leben 43 »Pfuhl der Verdammnis«: Dichtung im Sozialismus 52

Die Schweigsamkeit der Literatur 56 Artistische Rückzugsgefechte – Zum politischen 62

Sinn der Literatur

Franz Fühmanns Vor Feuerschlünden. Erfahrung 66

mit Georg Trakls GedichtEine schonungslose Autobiographik 69

Wider das Verdrängen – eine Aufgabe der Literatur 72

Eine negative Anthropologie 76

Autobiographische Schuld und literarische Sühne 81

Die Implosion der Kritik in einem kulturpolitischen Essay 84

Essayistik: Ȇber der Spanne zwischen dem Gewollten 88

und dem Hervorgebrachten in Stücke gehn«Selbstverwerfungen 92

Christa Wolfs Kassandra 96

Literatur als »Richtspruch«: Auch eine Literaturontologie 99

»Mit meiner Stimme sprechen«: Monologische 103

Überwindung tragischer Muster in der ErzählungDie Erzählung als »Modell für eine Art Utopie« 106

Kapitulationen 109

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»Eine Poetik kann ich ihnen nicht bieten« - 116

Die poetologische Diskussion Klandestinität 122

Gert Neumanns Elf Uhr 129

Poetik einer Verweigerung 132

»Ich war eines Tages dem Sprachbewußtsein begegnet« 135

Verständliche Texte und ihre »Entwürdigung des Lesers« 139

»Literatur-Calamitäten« 141

Bert Papenfuß-Goreks, Stefan Dörings und Jan Faktors 148

Zoro in SkorneEin Manifest der inoffiziellen Szene 151

»[J]edes Gedicht ist unfähig«: Sinnsuspension und 155

GrenzverletzungsrhetorikPseudologie als Selbstbehauptung 160

Die Kommunikation von Widersinn oder 164

Die Kalamitäten einer zirkulären Öffentlichkeit

Hans Joachim Schädlichs Satzsuchung 175

Zensur als »Stilschule« 178

Satzsuchung als kleine Phänomenologie der 183

DDR-LiteraturKritik? 194

Resümee 202

Bibliographie 212

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Dank

Das Buch ist die gekürzte und überarbeitete Fassung der 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Disserta-tion. Für die Betreuung danke ich meinem Doktorvater Prof. Rüdiger Steinlein, für die zweite Begutachtung Prof. Roland Berbig, für Kritik, Gespräche, Anregungen und Lektüren Gre-gor Ohlerich, Henning Wrage, Heiko Vosgerau, Stefanie Posch, Malte Kelm, Thomas Möbius, meinen Mitdoktorandinnen bei Prof. Steinlein für die stets ermunternden Treffen, der Fried-rich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für das Gewähren eines Promotionsstipendiums, meiner Familie und meinen Freunden für die vielfältige seelisch-moralische Unterstützung, ohnehin vielmals meinen Eltern, die mein Studium stets gefördert und unterstützt haben. Ohne all dies hätte die Arbeit nicht entste-hen können.

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Die späte DDR-Literatur: Fragen und Voraussetzungen

»Die Vermehrung des Schweigens«

»Die Vermehrung des Schweigens« (ZS, 16)1 – das ist Bestands-aufnahme und Selbstbeschreibung der späten DDR-Literatur. Das titelgebende Zitat ist dem Text Zoro in Skorne entnommen, einer Art Manifest von drei jungen Autoren, Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring und Jan Faktor, die sich in den achtziger Jahren, dem Jahrzehnt des Untergangs der DDR, im inoffiziel-len Rahmen Publikationsmöglichkeiten selbst schufen.

Die Metapher des Schweigens begegnet jedoch nicht nur hier. In der späten DDR-Literatur wird verschiedentlich ein Schweigen benannt: In Gert Neumanns Elf Uhr gilt es als Form seiner »poetische[n] Existenz« (EU, 139); in Wolfs Kassandra ist es eins, »in das meine Stimme paßte« (K, 368). Das Schweigen wird explizit und implizit Klammer eines Selbstverständnisses später DDR-Literatur.

1 Nachweise der ausgewählten Prosa sind im laufenden Text abgekürzt: A = Hermlin, Stephan: Abendlicht. Leipzig 1979. VF = Fühmann, Franz: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. In: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Unter den Paranyas. Traum-Erzählungen- und Notate. Werke Bd. 7. Rostock 1993. S. 7–205. K = Wolf, Christa: Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung. Werke Bd. 7. München 2000. EU = Neumann, Gert: Elf Uhr. Rostock 1990. ZS = Papenfuß-Gorek, Bert/Faktor, Jan/Döring, Stefan: Zoro in Skorne. In: Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979–1989. Hrsg. v. Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt. Berlin 1991. S. 14–25. S = Schädlich, Hans Joachim: Satzsuchung. In: Versuchte Nähe. Ham-burg 1977. S. 203–215.

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Die Literatur fragt nun vielmals, was sie leisten kann und will. Sie fragt nach ihrem Ort, ihrer Relevanz. Es geht vielmals um ihren Gegenwartsbezug und um Poetologien: um Gestal-tungsmöglichkeiten, um Ausdruck und Form. Dabei muss die Selbstbeschäftigung nicht auch thematisches Zentrum sein; Vorstellungen von Literatur grundieren auch die Texte, denen es vordergründig um anderes geht, in denen die entworfenen Bilder von Literatur eine bestimmte Funktion im Textzusam-menhang haben.

Die Selbstbefragungen, so unterschiedlich sie auch aussehen, tönen sich dabei allesamt äußerst skeptisch. Das Schweigen ist dafür nur ein Bild unter anderen: Wolfs Kassandra ist vor al-lem noch immer die unerhörte Seherin. Die Skepsis äußert sich nicht nur verschiedentlich, sondern betrifft auch alle Dimen- sionen von Literatur: Das Unerhörte etwa verlagert die Schwie-rigkeiten literarischer Kommunikation auf die Rezeption, ihr werden in zunehmend hermetischen Texten – Neumanns Elf Uhr ist einer davon – auch immense Hürden gebaut. Der lite-rarische Ausdruck also kann ebenso zu einem verschwiegenen werden, wie das Verwehrende und Restriktive des diktatori-schen Kontexts angesprochen sein konnte.

Das Schweigen und auch das Unerhörte der Rede nehmen dabei in den Texten nicht vornehmlich Bezug auf die einge-schränkten Publikationsmöglichkeiten. Bei den hier versam-melten Texten unternimmt das nur Franz Fühmann mit Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Der Essay entsteht im Zusammenhang mit Fühmanns editorischer Arbeit an einer ersten Auswahl von Trakl-Werken in der DDR, die dann argumentativ flankiert wurde.

Nur die Hälfte der ausgewählten Texte konnte dabei über-haupt in DDR-Verlagen erscheinen. Hans Joachim Schädlichs

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Satzsuchung und Neumanns Elf Uhr erscheinen ausschließlich in der BRD, Zoro in Skorne in der nur inoffiziellen Zeitschrift SCHADEN. Sie kann man als eine Art Manifestation dessen se-hen, was Wolf mit ihrer Gestaltung der Kassandra, der Seherin, der niemand glaubt, beschreibt: dass sie unerhört bleiben (soll-ten). Die Texte selbst kommunizieren dabei zwar auch, aber kaum vordergründig ihre institutionellen Grenzen, etwa all die Mechanismen der Zensur, die nur bei Schädlich thematisiert werden.

Diesen Autoren dürfte sich jedoch ganz besonders die Frage gestellt haben, was Literatur in einem diktatorischen Umfeld leisten kann und soll: Ihrer Literatur wurde keine Öffentlich-keit geboten; die Literatur gerade der inoffiziellen Szene ist eine in Nischen verdrängte, dort strengstens observierte und partiell verfolgte. Die Abkanzelung jedoch wird nicht Ziel der Kritik, nicht einmal Thema und dennoch Grundlage eines literarischen Selbstverständnisses, das dann einen begrifflichen Bezugspunkt im Schweigen hat.

Im zunehmenden Kreisen der Literatur um sich selbst ist zu-nächst eine Abwendung von der Realität impliziert. Auch wer-den Literatur und Welt explizit nun vielmals gegeneinander ausgespielt; kein Zweifel besteht daran, dass Literatur überlegen erscheint. Sie wird dann zumeist mit existentiellem Ernst be-trieben und noch immer mit hehren Aufgaben betraut. Gerade deswegen wendet sie sich von ihrem Kontext ab.

In der ästhetischen Praxis jedoch begegnet dann immer wie-der ein Kommunikationsparadox. Literatur wird zwar vielmals noch mit hohem Potential vorgestellt; sie wird ausformuliert als Träger verwehrter Möglichkeiten. Aber diese Ansprüche werden als fragile vorgeführt, gerade wo sie kaum mehr als kommunikabel gelten. Form- und Sprachfindungsstörungen

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begegnen; sie leiten sich höchst unterschiedlich her, aber prä-gen alle hier behandelten Texte. Sie dürfen als symptomatische gelten: Jeder Text für sich gerät auf seine Weise nun zu einem latent verschwiegenen.

Der negative Zeitbezug begründet zumeist das höchst Di-lemmatische des Selbstverständnisses. Wo die Literatur mit der Realität nichts mehr zu tun haben will, verweigert sie sich auch praktisch und entzieht sich der schlichten Konsumption – ob nun mit generösen Selbstverwerfungen, einer ausformulierten Anti-Ästhetik oder einer praktisch hermetischen Literatur.

Das Schweigen ist dann abstrakte Metapher für diese Diskre-panz zwischen einem Soll und dem Ist-Zustand, zwischen Aus-sagemöglichkeiten und Aussagewert. Eberhard Lämmert hat sie pragmatisch als Signum beherrschter Literatur ausgewiesen.2 Um diese beherrschte Literatur und ihr Selbstverständnis wird es gehen.

Das Selbstverständnis hat, so wenig es von seinen Bedingun-gen selbst auch preisgeben mag, viel mit dem diktatorischen Kontext zu tun. In ihren mannigfaltigen, gerade auch poetolo-gischen Selbstthematisierungen wird eine »Spannung zwischen ›Gleichschaltungs‹-Anspruch und sozialem Protestpotential«3 nachvollziehbar, die Schnell schon der Literatur der inne-ren Emigration zugewiesen hat. Die Selbstverortungen später DDR-Literatur – auch, wo sie rein formale sind – bezeugen und reagieren auf ein ähnliches Spannungsverhältnis.

2 Vgl. Lämmert, Eberhard: Beherrschte Literatur. Vom Elend des Schreibens unter Diktaturen. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozia-lismus und DDR-Sozialismus. Hrsg. v. Günther Rüther. Paderborn 1997. S. 15–37, S. 26f.3 Schnell, Ralf: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschis-mus. Hamburg 1998, S. 121.

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Die Selbstthematisierungen sind höchst unterschiedlich. Hier steht dann nicht vornehmlich eine Vergleichbarkeit der Texte im Vordergrund. Im Fokus auf Verbindendes ist das Interesse immer eher kultur- denn literaturhistorischer Art. Die unter-schiedlichen Strategien haben einen gemeinsamen Problem-horizont und zeugen somit von der »zentripetalen Kraft des Gesamtsystems«,4 die Wrage für die Entwicklung der DDR-Literatur veranschlagt. Auch in der DDR werden also, wie Schnell für die Literatur während des Nationalsozialismus schreibt, »die Reaktionsformen selbst derjenigen«, die die Dik-tatur »bekämpften«,5 durch sie bestimmt.

Die Texte dahingehend zu lesen, ist in der Frage nach einem Schreiben, nach Selbstbildern der Literatur in der DDR ange-legt. Diese Zuspitzung auf eine Frage will dem einzelnen Text nicht restlos gerecht werden, sondern den gemeinsamen Pro-blemhorizont aller hier behandelten Texte herauskristallisieren.

Allein in ihrer Selbstbefragung werden die Texte tenden tiell zu artistischen Rückzugsgefechten; schon dadurch erscheinen sie als Krisensymptom.6 Zudem wird die Literatur stets latent als potentielle oder virtuelle behandelt. Gerade wo sie sich –

4 Wrage, Henning: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen. Heidelberg 2008, S. 25.5 Schnell: Dichtung in finsteren Zeiten, a.a.O., S. 121. Lämmert aktuali-siert die These, »daß Diktatur alle Kunst deformiert oder instrumentalisiert« auch für DDR-Literatur. Lämmert: Beherrschte Literatur, a.a.O., S. 36. Schon Emmerich erschien als »letzte Rache der Instanzen der Repression«, »daß es ihnen für lange Zeit gelingt, auch ihren Gegnern noch die Spielre-geln zu oktroyieren.« Emmerich, Wolfgang: Status melancholicus. Zur Trans-formation der Utopie in vier Jahrzehnten. In: Die andere deutsche Literatur. Aufsätze zur Literatur aus der DDR. Opladen 1994. S. 175–189, S. 182.6 Vgl. Schmeling, Manfred: Autothematische Dichtung als Konfrontation. Zur Systematik literarischer Selbstdarstellung. In: LiLi. Zeitschrift für Literatur-wissenschaft und Linguistik. Nr. 8/1978. S. 77 –97, S. 93.

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wie insbesondere mit Wolfs Suche nach einem weiblichen Aus-druck – prospektiv gibt, akzentuiert sie (noch) Abwesendes. So tun sich vielfältige Spannungsfelder auf, auch aus den Zusam-menhängen von Selbstbildern auf der einen und der ästheti-schen Praxis der Texte auf der anderen Seite. Wo, wie in Wolfs Kassandra-Vorlesungen, ein poetologischer Diskurs geführt wird, wird diese Spannung thematisch. Damit sind konkrete Fragen vorformuliert, die die hermeneutischen Analysen in den Vordergrund rücken: die nach Literaturentwürfen und ihrer Bedeutung, ihrer Funktion im Textzusammenhang und ihrer Übersetzung sowohl in eine ästhetische Praxis wie in eine poe-tologische Diskussion.

Mit dem Fokus auf Literaturbild und ästhetische Praxis stellt sich somit u.a. die Frage nach dem Preis, den es gekostet hat, einen zumal existentiell aufgeladenen literarischen Anspruch zu verteidigen. Im Vergleich mit der beherrschten Literatur zwi-schen 1933 und 1945 rechnet die DDR-Literatur die Verluste vor, thematisiert und demonstriert ihre Schwierigkeiten.

Christa Wolfs Was bleibt7 hat diesbezüglich die Frage subtil be-antwortet. In der Schilderung einer Lesung, in den vielen Fra-gen und Schwierigkeiten einer Autorschaftsfigur tritt ein Text nicht auf. Er bleibt auch bei der Lesung anonym. Was bleibt thematisiert das von Lämmert benannte Elend des Schreibens8 unter einer Diktatur, das die staatliche Einschränkung mit sei-nen Formen der Repression benennt, aber auch die paradoxale literarische Kommunikation in den wenigen verbleibenden Freiräumen. Nicht nur, dass das Schreiben mit Zweifeln über-

7 Wolf, Christa: Was bleibt. In: Sommerstück. Was bleibt. Werke Bd. 10. München 2001. S. 221–289.8 Lämmert: Beherrschte Literatur, a.a.O.

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häuft wird, auch das Publikum bei einer Lesung geht generös über den Text hinweg. Dass ein diktatorisches Bedingungsge-füge der Literatur nur bedingt zuträglich war, zeigt sich u.a. in dieser Unbestimmtheit, die weder Autorin, Erzählerin, noch das dargestellte Publikum aufheben; Was bleibt und mehr noch die Rezeption führten vor, dass Größe und Bedeutsamkeit von Literatur ohne sicht- resp. nachlesbares Fundament, damit fra-gil und spekulativ blieben.

Der Text als bleibende Leerstelle ist ein drastisches Bild, das hier problemlos stehen konnte, da nun Bedingungen der Lite-ratur in den Blick genommen wurden. In der Kritik – vielmehr am Zeitpunkt der Publikation denn an der Erzählung selbst – wurde das Fehlen eines solch systemkritischen Diskurses zuvor moniert. Damit begründete sich ein Werturteil, das vorherige Texte kaum weiter in den Blick zu nehmen gewillt war.

Schaut man jedoch auf die Texte, kündigt sich bei Wolf schon seit Nachdenken über Christa T. ein wenn schon nicht elendes, dann doch schwieriges Schreiben an. Die Selbstthema-tisierung war der DDR-Literatur also keinesfalls neu.

Christa Wolf datierte Was bleibt auf 1979/1989. Schon in den siebziger Jahren stehen in zahlreichen Texten Künstler und Künstlerfiguren im Zentrum, etwa in Anna Seghers Reisebe-gegnung (1973) und Wolfs Kein Ort. Nirgends (1977). Heym rückt in Collin (1979) und Die Schmähschrift oder Königin ge-gen Defoe (1970) Schriftstellerfiguren ins Zentrum, im König David Bericht (1972) einen Chronisten. Neben den Künstlern stehen verwandte Figuren. Monika Maron in Flugasche (1981) und Hermann Kant in Das Impressum (1972) wählen Journa-listen als Protagonisten. Christa T. aus Wolfs Nachdenken über Christa T. (bereits 1968) ist ebenso Germanistin wie der Prota-gonist in Günter de Bruyns Preisverleihung (1973). In Kunerts Gast aus England (1973) steht ein Verlagslektor im Vorder-

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grund. Schon diese Texte sind hintersinnige Aushandlungspro-zesse, die nach dem fragen, was Literatur unter den gegebenen Bedingungen leisten kann und soll. Die Einflüsse werden, zunächst personifiziert in Typen, geschichtsimmanent ausge-handelt. Noch in Collin wird das Verhältnis von Literatur und Politik personifiziert und zugespitzt als ein Wettlauf auf Leben und Tod dargestellt.

Diese Tendenz weist zurück bis in die sechziger Jahre und ist wohl symptomatisch für die Genese der DDR-Literatur. In Die Zeit der Kunst stellt Henning Wrage dar, wie der Bezug zum Kontext, zu den Versuchen »politischer Planbarkeit der Kultur«9 zu einer selbstreflexiven Wendung geführt hat. So ent-stehen vermehrt seit den siebziger Jahren essayistische Ausein-andersetzungen mit Fragen der Literatur; gerade die Essayistik, das hält unter anderem Böthig fest, avanciert zu einer für die späte DDR-Literatur symptomatischen ästhetischen Praxis.10 Aber auch die narrativen Selbstreferenzen in der Prosa einer »nachholende[n] Modernisierung«11 nehmen zu. Wolf wendet sich dem Erzählen selbst zu, was sich paradigmatisch schon in einem Titel wie Nachdenken über Christa T. äußert. Bei Volker Braun nehmen Kommentierung des Erzählens und Selbstzi-tationen unaufhörlich zu. Kaum ein Text entsteht, der nicht, wie im Hinze-Kunze-Roman, eine Ebene einblendet, in der es

9 Wrage: Die Zeit der Kunst, a.a.O., S. 359.10 Böthig schreibt zur späten DDR-Literatur: »In Anspruch und Realität war sie in weiten Teilen eine essayistische Poesie.« Böthig: Grammatik einer Landschaft, a.a.O., S. 72. Vgl. auch ausführlicher ebd., S. 13ff. und 91ff. Zur Signifikanz der Essayistik bei Wolf vgl. Theml, Katharina: Fortgesetzter Versuch. Zu einer Poetik des Essays in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Texten Christa Wolfs. Frankfurt am Main 2003. Zu Fühmann vgl. Krause, Stephan: Topographien des Unvollendbaren, a.a.O., S. 179ff.11 Emmerich, Wolfgang: Schicksale der Moderne in der DDR. In: Literari-sche Moderne. Begriff und Phänomen. Hrsg. v. Sabina Becker, Helmuth Kiesel und Robert Krause. Berlin, New York 2007. S. 419–434, S. 425.

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um das Schreiben, um Literatur und ihre Möglichkeiten selbst geht. Wolfgang Emmerich hat auch die »Unberatenheit« und Unsicherheit erzählerischer Perspektiven, eine »Entorganisie-rung und Desintegration«12 der Fabel, das »Eindringen reflexi-ver Momente«13 als Momente später DDR-Prosa beschrieben; so sei sie, das hält schon Emmerich summarisch fest, »beim ›stummen Vorsichhinsprechen‹ angekommen«.14

12 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin 2000, S. 286.13 Emmerich, Wolfgang: Der verlorene Faden. Probleme des Erzählens in den siebziger Jahren. In: Die andere deutsche Literatur, a.a.O. S. 46–78, S. 53.14 »[…] das Batt der westlichen Erzählliteratur treffend diagnostiziert hat.« Ebd., S. 49.

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