swr2-musikstunde-20111212

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    Musikstunde mit Werner Klppelholz

    Die Moderne dauert schon 400 Jahre

    Mauricio Kagel, ein aus der Zeit gefallener Komponist

    SWR 2, 12. 12.16. 12. 2011, 9h0510h00

    I

    Indikativ

    Hier spricht Seine Knigliche Hoheit Prinz Bernhard der Niederlande:

    Der Erasmus-Preis wird verliehen an Mauricio Kagel, der gezeigt hat, dass wir uns nicht

    lnger durch konventionelle Formen der Wahrnehmung und Hrgewohnheiten fesseln lassen

    sollten, damit unser reiches musikalisches Erbe lebendig bleibt und nicht versteinert; der

    durch seine ungewhnlichen, immer hoch originellen Kompositionen neue Arten des Hrens

    aufgezeigt hat; der durch die Kombination von Musik mit Film, Tanz, Theater, Sprache das

    traditionelle Konzert in ein spektakulres Ereignis verwandelt hat; der nicht nur die

    gewachsenen Grenzen zwischen den Knsten berschreitet, sondern auch die Gegenwart

    mit der Vergangenheit verbindet und den kulturellen Horizont ber Europa hinaus erweitert

    hat; der schlielich Menschen ber die humane und soziale Bedeutung von Musik

    nachdenken lsst durch seine undogmatische Haltung und seine Rolle als Unruhestifter.

    Ziemlich viel Stoff also fr eine Musikstunden-Woche. Und dabei hat der Prinz das

    Wichtigste noch vergessen: Kagels Humor. Zehn Mrsche, um den Sieg zu verfehlen.

    Kagel: 10 Mrsche, um den Sieg zu verfehlen, Nr. 10 120

    Militrkapelle, Ltg. M. Kagel

    SP 87169 LC 6534

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    Das war der letzte der Zehn Mrsche, um den Sieg zu verfehlen von Mauricio Kagel . Der

    Komponist leitete eine Militrkapelle.

    Nahezu alles bei Kagel ist Musiktheater, auch wenn es oft unsichtbar bleibt. Diese Mrsche

    entstammen dem Hrspiel Der Tribun. Ein Diktator probt nchtens Volksreden auf dem

    Balkon seiner Residenz und stimuliert sich dabei mit Beifall von Tonband und eben

    Marschmusik, wenn auch mit solchen Stolpermrschen kein Blumentopf zu gewinnen ist.

    Kagels Satz Die Moderne dauert schon 400 Jahre meint: Gute Musik ist zeitlos, immer

    modern. Es gibt keinen Fortschritt im Laufe der Geschichte, nur einen Wandel der Sprache.

    Damit ist jede Chronologie aufgehoben. Kagel streift durch die Vergangenheit und es ist

    lehrreich, seinen Zwiegesprchen mit den verstorbenen Kollegen zu lauschen. Lieber

    Johannes Brahms, ich soll etwas zu Ihrem 140. Geburtstag schreiben. Was wrden Sie an

    meiner Stelle tun? (Mehr dazu am Donnerstag). Kagels Vater betrieb eine kleine

    Buchdruckerei und war der grte Bcherleser vor dem Herrn, was sich auf den Sohn

    vererbt hat. Er las alles ber Musik, was ihm in die Hnde fiel und ganz wichtig wurde ein

    Buch ber Monteverdi: Ein Kapitel ber den bergang vom Madrigal zur Oper interessierte

    mich besonders. Ich fand den Durchbruch von absoluter Musik zur Konkretion der Bhne,

    sozusagen den Sieg eines sinnlichen Visualisierungsdrangs, der im Madrigal stark

    vorhanden ist, so aufregend, dass ich bald nicht weiterlesen konnte und selbst Musik

    schreiben musste. Nachgerade fassungslos ist der junge Kagel bei dem Satz und glaubet

    dass der moderne Komponist auf den Fundamenten der Wahrheit arbeitet, aus Monteverdis

    Vorrede zum V. Madrigalbuch. Und der alte Kagel setzt dieses Zitat fort: Es gibt nicht nur

    eine musikalische Wahrheit, sondern gleichsam mehrere.Monteverdi spricht ihm aus dem

    Herzen, das bei Kagel besonders weit war und in dem nicht nur die Klassiker Platz fanden,

    sondern auch Walzer und Tango, Kuhreigen und Schweineorgel, Friedrich Hollnder und

    Georg Kreisler, Duke Ellington und John Coltrane. Erstaunlich fr einen sogenannten

    Avantgardisten, aber wie sagte Kagel schon frh ber diesen militrischen Ausdruck fr

    Vorhut: Egal, ob wir vorne hinken oder hinten, es hinken alle.

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    Monteverdi: V. Madrigalbuch, Cruda Amarili 317

    Concerto Italiano Rinaldo Alessandri

    OPS 30-166 LC 5718

    Das Concerto Italiano, geleitet von Rinaldo Alessandri, sang Cruda Amarili aus dem V.

    Madrigalbuch von Claudio Monteverdi. Sie war hart, die Dame Amarili, und so klingt es auch.

    Das ist keine Musik mehr, befand ein Zeitgenosse, der Kirchenmann Artusi aus Bologna. Der

    Herzog Gonzaga hingegen war begeistert.

    Geboren wird Mauricio Kagel am 24. Dezember 1931. Unter den Komponisten, die die

    Musikgeschichte nach 1950 geprgt haben und die Cage, Ligeti, Nono, Berio und

    Stockhausen heien, ist Kagel der Jngste. Freilich derjenige mit dem grten

    Traditionsbewusstsein, denn er hatte Glck. Die Heilige Ccilie whlte als Geburtsort

    Buenos Aires, wohin Kagels Eltern ausgewandert waren, um den Judenpogromen in der

    Sowjetunion nach der Oktoberrevolution zu entkommen. Whrend Europa in Schutt und

    Asche fiel, gelangte die Musik in Buenos Aires zu hoher Blte, dank der europischen

    Flchtlinge. Eines der tiefen Erlebnisse des zwlfjhrigen Kagel war die Auffhrung von

    Schostakowitschs Leningrader Sinfonie durch Jascha Horenstein. Meine Eltern und alle

    Geschwister gingen zum Konzert. Meine Mutter war wie in Trance, ich absolut begeistert.

    Dass es jemandem gelingt, den Horror des Krieges so einprgsam zu gestalten, war fr mich

    die Besttigung, dass Musik mein Herz am meisten berhren konnte. Ich hatte damals einen

    lteren Freund, der aus einer sozialistischen Familie stammte und mit Bewunderung alles

    ber die Sowjetunion sammelte. Er behauptete, vieles sei dort besser, gerechter, und vor

    allem die Menschen seien glcklicher. Zum Beweis zeigte er mir Bilder von Schostakowitsch,

    auch das berhmte Foto von ihm als Feuerwehrmann in Leningrad. Ich bemerkte: Wenn alle

    Menschen in der Sowjetunion so glcklich sind, warum sieht er so unglcklich aus? Damals

    wusste ich noch nichts von der stndigen Angst, in der er lebte, besonders schlimm nachts,

    als man abgeholt wurde. Das kann man in seiner Musik hren. Jene Werke, die er im Auftrag

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    der Partei schrieb, sind schwach. Das ehrt ihn.Hier kommt der Riesenmarsch aus

    Schostakowitschs VII. Sinfonie, komponiert 1941 im deutschen Artilleriefeuer auf Leningrad.

    Schostakowitsch: VII. Sinfonie, 1. Satz, 550 2230

    WDR Sinfonieorchester, Ltg. R. Barshai

    Brillant Classics 63244 Kein LC

    Das WDR Sinfonieorchester spieltegekrzt um Prolog und Epilogden ersten Satz der

    VII. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch. Der Dirigent war Rudolf Barshai.

    Kagels Musik liebende Mutter lie ihrem Sohn Klavierunterricht erteilen, zuerst durch eine

    Emigrantin aus St. Petersburg, zuletzt durch Vincenzo Scaramuzza, geboren bei Neapel und

    ber Karl Taussig ein Enkel-Schler von Liszt. Liszt, meint Kagel, hatte in Italien eine

    enorme Wirkung, die bis heute zu spren ist, zum Beispiel in Maurizio Pollini oderals

    GegenvirtuoseBenedetti Michelangeli. Die Kompositionvon Klaviermusik spielte in Italien

    seit Domenico Scarlatti keine bedeutende Rolle mehr. Schon Max Weber fragte sinngem:

    Wie soll es Kammermusik in Italien geben bei diesem heien Klima? (Er dachte wohl nur an

    den Sommer). Die Dynastie der Scarlattis stammt aus Neapel. Scaramuzza, in Kalabrien

    geboren, hat dort studiert, wo es eine starke Tradition der Musik fr Tasteninstrumente gab.

    Musikgeschichte besteht aus subkutanen Querverbindungen und unhrbaren

    Zusammenhngen. Manche Samenkrner sind langlebig.

    Die ber 500 Cembalo-Sonaten von Scarlattidie keine sind, sondern kurze, wrzige,

    geistvolle Studienkann man mehrmals in jeglicher Kombination hintereinander hren, ohne

    zu ermden; als wrden sie tatschlich eine klassische Sonate mit drei oder vier Stzen

    bilden.

    Scarlatti: Sonaten Kk 431433 1034

    Scott Ross, Cembalo

    Erato 2564620192 LC 04281

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    Scott Ross spielte drei Sonaten von Domenico Scarlatti, mit den Nummern 431 bis 433 im

    Kirkpatrick-Verzeichnis.

    Er litt, erzhlt Kagel ber seinen Klavierlehrerund den von Martha Argerich oder Bruno

    Leonardo Gelber, er litt an Schlaflosigkeit (die ich wahrscheinlich auch bei ihm gelernt

    habe), und statt spazieren zu gehen spielte er Billard bis spt in die Nacht. Einige

    ausgewhlte Studenten durften als Mitspieler von ihm stets geschlagen werden. Bei einer

    solchen Partie, die nach dem Ritual in ununterbrochener Stille ablief, sagte er pltzlich:

    brigens, ich glaube nicht, dass Du ein Pianist wirst. Mein Queue zitterte, ich erschrak und

    brachte kein Wort heraus. Du fragst zu viel.Tatschlich hatte ich immer wieder nach vielen

    Aspekten der Kompositionen gefragt, die eher die Machart betrafen als die pianistischen

    Details. Eigentlich wollte ich wissen, wie man Musik erfindet und nicht, wie man sie

    interpretiert. Der alte Klavierlehrer hatte - wie in einem Karambolagespiel zu drei Banden

    das Feld folgerichtig abgesteckt undtack-tack-tack - meinen Verstand getroffen. Er lieh mir

    die Taschenpartitur der I. Kammersinfonie von Schnberg. Ich war glcklich, durfte zu Hause

    am Klavier sitzen und das epochale Werk langsam entziffern. Meine Mutter schien etwas

    beunruhigt, die Anzahl der Tne pro Stunde hatte sich drastisch reduziert. Was bt er da?!

    Fortan beschreitet der junge Kagel noch andere Wege in die Musik. Er studiert Musiktheorie

    bei einem Wiener Emigranten und Schler von Anton Webern und erlernt weitere

    Instrumente, Cello, Klarinette und Orgel. Auf Empfehlung eines Lungenarztes kommt noch

    Gesang hinzu, denn er war an Tbc erkrankt und siehe da, das Singen lie ihn wieder

    gesunden. Zu Beginn verwandelt Kagel literarische Musikbeschreibungen in Tne, etwa eine

    Stelle aus dem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: a ls unter der zarten,

    lckenlos fhrenden Geigenstimme auf einmal der Klavierpart sich erhob, mit einem

    feuchten Pltschern, vielfarbig, in ungebrochenem Fluss, aber rhythmisiert wie das

    meergraue Wogen der vom Mondschein in eine weichere Tonart transponierten Brandung.

    Proust hatte dabei mehrere Stcke im Ohr, hauptschlich aber die Violinsonate von Csar

    Franck. Dora Schwarzberg und Martha Argerich mit dem ersten Satz.

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    Franck: Violinsonate, 1. Satz 652

    D. Schwarzberg, M. Argerich

    Avanti Classic 541470610232 Ohne LC

    Seit der frhen Monteverdi-Lektre pendelt Kagel zwischen dem sichtbaren und dem

    unsichtbaren Musiktheater. Whrend des ersten Jahrzehnts in Europa wird er bekannt durch

    das Instrumentale Theater. Grundlage dessen ist Kagels Umdeutung der Musikauffhrung:

    Seris kostmierte Interpreten erscheinen im Saal, verbeugen sich, rcken Notenpulte

    zurecht oder drehen an Klavierhockernfr ihn ist das alles bereits Theater. Doch Kagel

    komponiert nicht nur die sichtbare Dimension der Musik, sondern ebenfalls die nicht-

    klingenden Dimensionen wie Bewegung, Licht oder Bhnenbild. Die Himmelsmechanik

    beispielsweise besteht lediglich aus wechselnden Bhnenbildern mit Ansichten von

    Gestirnen oder Wetterlagen. Anders aber als in gewohnter Vorhersage treten hier

    Regenbogen und Schneegestber gleichzeitig auf, die Sonne zeigt sich auch nachts oder die

    Sterne beginnen bedenklich zu wackeln; hoffen wir, dass es mit der Klimaentwicklung so

    weit nicht kommen wird. Und Kagel entdeckt jede Menge Theater hinter den Kulissen der

    Musikauffhrung. Echte Bhnenarbeiter tragen Bhnenbilder und Requisiten von

    Opernproduktionen in einen Mbelwagen: Ein Kleiner, der immer gefhrlich mit berlangen

    Teilen jongliert, ein Groer, der stets nur ganz winzige Gegenstnde trgt oder ein Dicker,

    der alle drei Schritte stehen bleiben und sich den Schwei von der Stirn wischen muss;

    Umzug heit diese Kurzweil.

    Ein Charakteristikum Kagels ist das Denken sozusagen um die Ecke herum, die Komposition

    auf mehreren Ebenen. Ein, fr das Jahr 2000 durchaus realittsnahes Beispiel ist die

    Entfhrung im Konzertsaal. Eine Kantate nach Worten von Lichtenberg soll uraufgefhrt

    werden, was aber nur unvollstndig gelingt, da sich ein Teil des Chores und der Musiker in

    den Hnden von Kidnappern befindet. Die halten Kontakt zum Dirigenten ber ein Telefon,

    das neben dem Pult steht, wobei sich die Kidnapper-Befehle unauflslich mit den

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    Lichtenberg-Texten mischen. Das allererste solcher Werke ist Sur scne

    Kammermusikalisches Theaterstck, fr Sprecher, Snger, Mime und drei Instrumentalisten

    von 1960. Kagel montiert hier Ausschnitte aus Musikkritiken. Auch Regers bekannte

    Nachricht an einen Rezensenten wird angedeutet: Ich sitze im kleinsten Zimmer meines

    Hauses. Noch habe ich Ihre Kritik vor mir. Bald werde ich sie hinter mir haben. Die

    Meisterwerke der Musik sind zeitlos, meint Kagel, und die Verdammung des Neuen ist es

    ebenfalls. Die Texte von Sur scne entstammen allesamt dem 19. Jahrhundert.

    Kagel: Sur scne 0508 (Ende des Zitats) 508

    Alfred Feussner, Eduard Wollitz, Alfons Aloys, und Bernhard Kontarsky

    DMR 1016-18 LC 0761